Arten des Wahrnehmens, die für das Funktionieren geistiger Aktivität nicht unabdingbar sind

Zeitweise manifeste Geistesfaktoren

Wie das Primärbewusstsein, die fünf Arten des tiefen Gewahrseins und die zehn immer arbeitenden und bestimmenden Geistesfaktoren, so hat auch der Rest der Geistesfaktoren keinen Anfang. Obwohl sie dieselbe wesentliche Natur wie die zuvor erwähnten Weisen, sich etwas gewahr zu sein, haben, helfen sie der geistigen Aktivität nicht, ihre Funktion zu erfüllen. Obgleich diese übrigen Geistesfaktoren in unserem Geisteskontinuum vorhanden sind, sind sie lediglich zeitweise Teil einer manifesten Wahrnehmung. Zu anderen Zeiten sind sie schlafende Faktoren, und sie sind für das Funktionieren geistiger Aktivität nicht unabdingbar. 

Einige dieser zeitweise manifesten Geistesfaktoren gehören zu den wahren Ursachen von Leiden, wie die störenden Emotionen und Geisteshaltungen (tib. nyon-mongs, Skt. kleśa), z.B. Wut und Anhaftung, und können vollständig aus dem Geisteskontinuum entfernt werden, sodass sie nie wieder, weder in manifester noch in schlafender Form, auftreten. Andere, wie beispielsweise Liebe und Mitgefühl, verursachen aus eigener Kraft kein Leiden. Sie können sogar zur wahren Beendigung der wahren Ursachen des Leidens beitragen, können nicht vollständig aus dem Geisteskontinuum entfernt werden und haben daher kein Ende. Diese werden mit der Erlangung der Buddhaschaft in jedem Moment manifest. 

Daher ist es von entscheidender Bedeutung, diese beiden Arten von zeitweise manifesten Geistesfaktoren richtig zu identifizieren und zu unterscheiden:

  • wahre Ursachen des Leidens, die für immer beseitigt werden können; sowie
  • nutzbringende Faktoren, die niemals beseitigt werden und die entwickelt und zur Vollendung gebracht werden können.

Die Grundursache von Leid

Die Grundursache von Leid ist Unwissenheit (auch „Ignoranz“, tib. ma-rig-pa), welche in der Literatur des Abhidharma (die „Themen des Wissens“) von den indischen Meistern Vasubandhu und Asanga als „Nichtwissen“ definiert wurde; insbesondere das Nichtwissen in Bezug auf verhaltensbedingte Ursache und Wirkung oder in Bezug darauf, wie die Person existiert. 

  • Die Nicht-Prasangika-Lehrsysteme bezeichnen das Nichtwissen bezüglich dessen, wie die Person existiert, als „störende Unwissenheit“ (tib. ma-rig-pa nyon-mongs-can). Sie betrachten diese Art von Unwissenheit – eine wahre Ursache von Leid – als störende Emotion und damit als emotionalen Schleier (tib. nyon-sgrib). Arhats erlangen eine wahre Beendigung der emotionalen Schleier und damit der störenden Unwissenheit bei der Erlangung der Befreiung. 
  • Die Nicht-Prasangika-Lehrsysteme vertreten darüber hinaus eine „nicht störende Unwissenheit“ (tib. ma-rig-pa nyon-mongs-can min-pa), nämlich das Nichtwissen, wie alle Phänomene existieren. Sie betrachten diese Art von Unwissenheit nicht als störende Emotion und zählen sie nur zu den kognitiven Schleiern (tib. shes-sgrib). Somit sehen sie diese Unwissenheit nicht als eine wahre Ursache von Leiden. Buddhas erlangen jedoch eine wahre Beendigung der kognitiven Schleier und daher auch der nicht störenden Unwissenheit mit ihrer Erleuchtung.
  • Die Existenzweisen, die man mit den störenden und nicht störenden Arten von Gewahrsein nicht kennt, unterscheiden sich laut den Nicht-Prasangika-Systemen voneinander.

Tsongkhapa folgt jedoch in seinen Erklärungen des Prasangika-Systems der Darstellung der Unwissenheit in der Literatur des Pramana („gültige Wahrnehmung“). Er versteht Unwissenheit als „verkehrtes“ Wissen und behauptet, dass die aufgrund von Unwissenheit verkehrt wahrgenommene Existenzweise der Person und die verkehrt wahrgenommene Existenzweise der Phänomene dieselben sind. Unwissenheit ist also immer eine störende Emotion, und folglich zählt die Unwissenheit bezüglich dessen, wie die Person und alle Phänomene existieren, als emotionaler Schleier und wahre Ursache des Leidens. 

In Anlehnung an die Literatur des Madhyamaka (der „mittlere Weg“) definiert Tsongkhapa Unwissenheit im Kontext des Prasangika-Verständnisses des Greifens nach wahrhaft begründeter Existenz (tib. bden-par ’dzin-pa). Er unternimmt die folgende Analyse:

  • Das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz ist ein emotionaler Schleier und damit die wahre Ursache von Leid in Samsara („unkontrollierbarer sich wiederholende Wiedergeburt“ oder „zyklische Existenz“).
  • Die ständigen Gewohnheiten (tib. bag-chags) des Greifens nach wahrhaft begründeter Existenz sind kognitive Schleier und deshalb die wahre Ursache dessen, was den allwissenden Zustand der Erleuchtung verhindert.

Um zu verstehen, wie es zur wahren Beendigung der wahren Ursachen des Leids und des begrenzten Gewahrseins kommen kann, ist es wichtig, das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz zu erklären, wie Tsongkhapa es in seiner Interpretation des Prasangika-Lehrsystems dargestellt hat.

Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz

Die konventionelle Existenz und tatsächliche Natur erkennbarer Phänomene

Das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz ist weder ein Primärbewusstsein noch ein Geistesfaktor. Es hat dieselbe wesentliche Natur wie alle anderen Arten von geistiger Aktivität, begleitet unsere Wahrnehmung und fügt dem Objekt der Wahrnehmung, die es begleitet, geistige Fabrikation hinzu. Das, was es hinzufügt, ist etwas auf Seiten des Objektes Auffindbares, das aus eigener Kraft oder in Verbindung mit der geistigen Zuschreibung von Kategorien oder der Bezeichnung mit Worten begründet, dass das Objekt konventionell existiert. Das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz bezieht sich also nicht darauf, was ein gewisses Objekt der Wahrnehmung auf konventioneller Ebene ist, sondern darauf, wie es sein kann, dass es konventionell als das existiert, was es ist.

Wie bereits erwähnt, besitzt jedes erkennbare Phänomen als konventionelles Objekt (tib. tha-snyad-pa) mit individuellen definierenden charakteristischen Merkmalen (tib. mtshan-nyid), die es von allem anderen unterscheiden, eine eigene wesentliche Natur. Im Prasangika-System ist die konventionelle Existenz eines erkennbaren Phänomens mit einer individuellen Identitätsnatur (tib. bdag-nyid) als „dieses“ oder „jenes“ lediglich kraft einer geistigen Zuschreibung mit den Kategorien „dieses“ oder „jenes“ durch konzeptuelle Wahrnehmung oder auch in Verbindung mit der Bezeichnung mit den Worten „dieses“ oder jenes“ begründet. Auf der Seite eines Objekts ist nichts auffindbar, was es aus eigener Kraft oder in Verbindung mit geistiger Zuschreibung oder Bezeichnung als „dieses“ oder „jenes“ begründen könnte.

Alles, was wir sagen können, ist, dass erkennbare Phänomene konventionell insofern existieren, als sie Bezugsobjekt der Bezeichnung (tib. btags-chos) der Kategorien sind, mit denen die Grundlage für die Bezeichnung (tib. gdags-gzhi) geistig bezeichnet wird, und auch insofern, als sie die bezeichneten Objekte der Worte sind, mit denen die Grundlage für ihre Bezeichnung bezeichnet wird.

  • Man beachte, dass die konventionelle Existenz erkennbarer Objekte lediglich durch geistige Zuschreibung und Bezeichnung begründet, postuliert oder dargelegt (tib. bzhag-pa) wird. Geistige Zuschreibung und Bezeichnung etablieren (tib. sgrub-pa) die Existenz konventioneller Objekte nicht. Sie bewirken deren Existenz nicht. 
  • Obwohl Kategorien und Worte verfälschende Hinzufügungen sind, durch die konzeptuelle Wahrnehmung konventionelle Objekte erkennt, sind die konventionellen Objekte selbst nicht solche Hinzufügungen.

Wenn wir zum Beispiel fragen, wie sich die Tatsache erklären lässt, dass es so etwas wie einen Tisch gibt, können wir lediglich sagen, dass es einen solchen Tisch nur aufgrund von Konventionen gibt. Die Kategorie „Tisch“ und das Wort „Tisch“, bei denen es sich lediglich um hinzugefügte Konventionen handelt, beziehen sich dann auf etwas, wenn ein Gegenstand mit einer flachen, von Beinen getragenen Oberfläche geistig in die Kategorie „Tisch“ eingeordnet und als „Tisch“ bezeichnet wird. Die Kategorie und das Wort beziehen sich weder auf ein „Nichts“ noch auf ein auffindbares „inhaltsloses Etwas”, das als irgendetwas bezeichnet bzw. benannt werden kann. 

Jedes Phänomen hat auch eine tatsächliche Natur (tib. chos-nyid), die sich auf dessen Leerheit bezieht – die völlige Abwesenheit einer auf irgendeine unmögliche Weise begründeten Existenz. Dies ist seine tatsächliche Selbstnatur (tib. rang-bzhin). Unmöglich ist, dass es bei der Analyse etwas Auffindbares – eine Selbstnatur – auf der Seite des Objekts, sagen wir eines Tisches, gibt, das es aus eigener Kraft heraus als Tisch begründet oder konventionell existieren lässt, oder dies tut, wenn diese auffindbare Selbstnatur geistig als „die Natur, ein Tisch zu sein“ bezeichnet wird.

Eine solche auffindbare Selbstnatur, die wir vielleicht besser als „selbst-begründende Natur“ oder „Seele“ (tib. bdag, Skt. ātman, deutsch: „Selbst“) bezeichnen sollten, existiert laut dem Gelug-Prasangika überhaupt nicht. Solange wir jedoch nichtkonzeptuell in die Leerheit einer solchen unmöglichen Existenzweise vertieft sind (tib. mnyam-bzhag), erscheint es, als ob alles eine solche selbst-begründende Natur hätte, und wir glauben, alles „existiere wahrhaft“, da es eine solche Natur aufweist. Eine solche Erscheinung und ein solcher Glaube an wahrhaft begründete Existenz sind verfälschende Hinzufügungen, die von unseren ständigen Gewohnheiten des Greifens nach wahrhaft begründeter Existenz im Geiste erzeugt werden.

Im Kontext des Gelug-Prasangika ist wahrhaft begründete Existenz daher gleichbedeutend mit:

  • in sich selbst begründeter Existenz (auch „inhärente Existenz“, tib. rang-bzhin-gyis grub-pa);
  • Existenz, die kraft der eigenen wesentlichen Natur von etwas begründet ist (tib. rang-gi ngo-bos grub-pa);
  • Existenz, die von der eigenen Seite eines Phänomens her begründet ist (tib. rang-gi ngos-nas grub-pa);
  • dem Hervorbringen einer Erscheinung wahrhaft begründeter Existenz (tib. bden-snang ’dzin-pa) und dem Erkennen, dass es nur eine Erscheinung ist;
  • dem Hervorbringen der Erscheinung wahrhaft begründeter Existenz (tib. bden-grub ’dzin-pa) und dem Erkennen, dass es sich dabei tatsächlich um wahrhaft begründete Existenz handelt.

Die zwei Aspekte des Greifens nach wahrhaft begründeter Existenz

Das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz hat zwei Aspekte:

  • Das Hervorbringen einer Erscheinung wahrhaft begründeter Existenz (tib. bden-snang ’dzin-pa) und das Erkennen, dass es sich dabei lediglich um eine Erscheinung handelt.
  • Das Hervorbringen der Erscheinung wahrhaft begründeter Existenz (tib. bden-grub ’dzin-pa) und dem Erkennen, dass es sich dabei tatsächlich um wahrhaft begründete Existenz handelt.

Beide Aspekte dieses Greifens fügen dem wahrgenommen Objekt also eine gewisse Form von geistiger Fabrikation hinzu.

  • Im ersten Fall handelt es sich bei der verfälschenden Hinzufügung lediglich um eine Erscheinung einer selbst-begründenden Natur. Das, was erscheint, ist jedoch nur eine geistige Repräsentation einer selbst-begründenden Natur, denn selbst-begründende Naturen existieren überhaupt nicht.
  • Im zweiten Fall handelt es sich bei der verfälschenden Hinzufügung um die der Existenz (tib. yod-pa) dieser selbst-begründenden Natur. Mit anderen Worten wird durch das Greifen hinzugefügt, dass es tatsächlich eine selbst-begründende Natur gibt, die auf der Seite des Objekts zu finden ist und dem entspricht, was erscheint. Auf diese Weise wird dadurch die geistige Repräsentation einer selbst-begründenden Natur auf verkehrte Weise wahrgenommen. Anstatt sie als illusionsgleich zu erkennen – als eine Illusion, die der „Realität“ lediglich zu entsprechend scheint, es aber nicht tut –, wird dadurch wahrgenommen, dass diese Illusion tatsächlich der „Realität“ entspricht. Gemäß Tsongkhapa ist dieser Aspekt des Greifens nach wahrhaft begründeter Existenz gleichbedeutend mit Unwissenheit.

Lasst uns den ersten Fall „Wahrnehmung wahrhaft begründeter Existenz” nennen und den zweiten Fall „Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz“.

Das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz, welches äquivalent zu Unwissenheit ist, ist von zweierlei Art:

  • Doktrinär bedingtes Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz (auch „künstliches Greifen“, tib. bden-’dzin kun-btags) – das Greifen, welches durch das Studium und Akzeptieren der Existenz einer selbst-begründenden Natur, wie von Nicht-Prasangika-Lehrsystem vertreten wird, erlernt wurde.
  • Automatisch erscheinendes Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz (oder „innewohnendes Greifen“, tib. bden-’dzin lhan-skyes) – das Greifen, das natürlich auftritt, ohne erlernt werden zu müssen.

Manifeste und schlafende Wahrnehmung in Bezug auf das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz

Die Wahrnehmung von und das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz sind trotzdem Arten geistiger Aktivität. Sie haben beide die wesentliche Natur, lediglich die Erscheinung eines kognitiven Objekts entstehen zu lassen und sich dabei kognitiv mit diesem Objekt auseinanderzusetzen. Beide entstehen aus einer ständigen Gewohnheit (tib. bag-chags) des Greifens nach wahrhaft begründeter Existenz und nicht aus einer karmischen Tendenz (tib. sa-bon). Sie treten auf manifeste Weise auf, allerdings nur zeitweise. Zu anderen Zeiten verweilen sie als schlafende Faktoren. 

  • Eine Tendenz, die sich von einer ständigen Gewohnheit unterscheidet, führt manchmal zu dem, wozu sie tendiert, und manchmal auch zu gar nichts; je nachdem, welche Bedingungen für ihr Entstehen gegeben sind. Ein Beispiel hierfür ist die Tendenz zu Wut.
  • Eine ständige Gewohnheit bringt streng genommen das hervor, dem man sich gewohnheitsmäßig, ohne Unterbrechung der Kontinuität, widmet.

Es gibt zwei auseinandergehende Meinungen darüber, wie Wahrnehmung und das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz in inaktiver Weise auftreten, wenn beide nicht gleichzeitig manifest sind: 

(1) In den Textbüchern von Panchen Sönam Dragpa (1478–1554), verwendet in den Klöstern Ganden Shartse und Drepung Loseling, wird Folgendes vertreten:

  • Während der nichtkonzeptuellen völligen Vertiefung (auch „meditative Ausgewogenheit“, tib. mnyam-bzhag) in die raumgleiche Leerheit führt die ständige Gewohnheit des Greifens nach wahrhaft begründeter Existenz weder zur manifesten Wahrnehmung einer Erscheinung wahrhaft begründeter Existenz noch zum manifesten Greifen danach. Sowohl die Wahrnehmung als auch das Greifen verweilen inaktiv in der Form einer ständigen Gewohnheit.
  • Während der Wahrnehmung der nichtkonzeptuellen nachfolgenden Erlangung (auch „Nachmeditation“, tib. rjes-thob) der illusionsgleichen Leerheit lässt die ständige Gewohnheit nur die manifeste Wahrnehmung einer Erscheinung wahrhaft begründeter Existenz entstehen. In diesem Fall verweilt das Greifen in schlafendem Zustand als ständige Gewohnheit.
  • Solange die wahre Beendigung des Greifens und/oder der Wahrnehmung wahrhaft begründeter Existenz nicht eingetreten ist, setzt das Greifen und/oder die Wahrnehmung nach dem Ende ihrer inaktiven Phase wieder ein.
  • Trotz ihrer inaktiven Phase werden die Gewohnheiten als „ständig“ betrachtet. Sie sind Zuschreibungen auf der Grundlage des bloßen Ichs, wobei es sich um eine Zuschreibung auf der Grundlage des geistigen Kontinuums handelt.

(2) In den Textbüchern von Jetsün Chökyi Gyaltsen (1469–1544), welche in den Klöstern Sera Je und Ganden Jangtse verwendet werden, und ebenso in jenen von Künkhyen Jamyang Shepa Ngawang Tsöndrü (1648–1721/22), verwendet in Drepung Gomang, wird Folgendes vertreten: 

  • Während der nichtkonzeptuellen völligen Vertiefung in raumgleiche Leerheit lässt die ständige Gewohnheit des Greifens nach wahrhaft begründeter Existenz ebenfalls weder eine manifeste Wahrnehmung einer Erscheinung wahrhaft begründeter Existenz noch das Greifen nach ihr entstehen. Gleichzeitig mit der nichtkonzeptuellen völligen Vertiefung bringt die ständige Gewohnheit jedoch eine konzeptuelle unterschwellige Wahrnehmung von und das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz hervor. In der unterschwelligen Wahrnehmung (tib. bag-la nyal) findet eine verfälschende Hinzufügung einer Erscheinung wahrhaft begründeter Existenz statt, aber nur das Bewusstsein – nicht die Person – nimmt diese wahr und greift nach ihr.
  • Während der Wahrnehmung der nichtkonzeptuellen nachfolgenden Erlangung der illusionsgleichen Leerheit lässt die ständige Gewohnheit lediglich eine manifeste Wahrnehmung einer Erscheinung wahrhaft begründeter Existenz entstehen. Gleichzeitig führt sie auch zu konzeptuellem unterschwelligen Greifen.
  • Die ständigen Gewohnheiten sind eine Zuschreibung auf der Grundlage der Kontinuität des Greifens nach einer wahrhaft begründeten Existenz, und sie sind entweder manifest oder unterschwellig. Sie werden nicht dem bloßen Ich zugeschrieben, welches selbst eine Zuschreibung auf Grundlage des geistigen Kontinuums ist.

Unabhängig davon, welcher Darstellung des inaktiven Greifens wir folgen, hängt die Variable, ob die Wahrnehmung und das Greifen manifeste oder schlafende Faktoren sind, davon ab, ob unsere geistige Aktivität eine der folgenden Arten von Wahrnehmung ist:

  • konzeptuelle Wahrnehmung;
  • nichtkonzeptuelle Sinneswahrnehmung;
  • nichtkonzeptuelle völlige Vertiefung in die raumgleiche Leerheit, wobei die Leerheit auf manifeste Weise erscheint und direkt wahrgenommen wird, während die Grundlage der Leerheit nicht manifest erscheint;
  • nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der nachfolgenden Erlangung, wobei die Grundlage für die Leerheit erscheint, während deren Leerheit nicht erscheint, sondern indirekt wahrgenommen. 

Darüber hinaus hängt der Grad ihres Auftretens auch davon ab, zu welcher der folgenden Klassen wir gehören:

  • gewöhnliche Wesen (tib. so-so’i skye-bo) – diejenigen, die noch keine nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit erlangt haben;
  • Aryas (tib. ’phags-pa) – diejenigen, die eine nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit erlangt haben und somit eine wahre Beendigung des doktrinär bedingten Greifens nach wahrhaft begründeter Existenz erlangt haben;
  • Arhats (tib. dgra-bcom-pa) – diejenigen, die von der unkontrolliert wiederkehrenden Wiedergeburt, Samsara, befreit sind und somit eine wahre Beendigung des automatisch auftretenden Greifens erlangt haben;
  • Buddhas (tib. sangs-rgyas) – erleuchtete Wesen, die eine wahre Beendigung des Hervorbringens und Wahrnehmens einer Erscheinung wahrhaft begründeter Existenz erlangt haben.

Für gewöhnliche Wesen gilt:

  • Während konzeptueller Wahrnehmung, einschließlich jener der Leerheit, sind die Wahrnehmung von wahrhaft begründeter Existenz und sowohl das doktrinär bedingte als auch das automatisch auftretende Greifen nach ihr manifest.
  • Bei nichtkonzeptueller Wahrnehmung ist die Wahrnehmung manifest, aber keine der beiden Arten des Greifens. Eine Kombination dieser beiden Arten verweilt jedoch als schlafender Faktor.

Für Aryas vor der Erlangung der Befreiung als Arhat gilt:

  • Während konzeptueller Wahrnehmung sind die Wahrnehmung von wahrhaft begründeter Existenz und automatisch auftretendes Greifen nach ihr manifest.
  • Während nichtkonzeptueller Sinneswahrnehmung ist die Wahrnehmung manifest, nicht aber das Greifen. Automatisch auftretendes Greifen verweilt als schlafender Faktor.
  • Während nichtkonzeptueller völliger Vertiefung in raumgleiche Leerheit ist weder die Wahrnehmung noch das Greifen manifest. Eine Kombination aus der Wahrnehmung wahrhaft begründeter Existenz und automatisch auftretendem Greifen ist als schlafender Faktor vorhanden.
  • Während der nichtkonzeptuellen Wahrnehmung der nachfolgenden Erlangung der illusionsgleichen Leerheit ist die Wahrnehmung einer Erscheinung wahrhaft begründeter Existenz manifest, und das automatisch auftretende Greifen verweilt als schlafender Faktor.

Für Arhats vor der Erlangung der Erleuchtung gilt:

  • Während konzeptueller Wahrnehmung, nichtkonzeptueller Sinneswahrnehmung und der nichtkonzeptuellen Wahrnehmung der nachfolgenden Erlangung der illusionsgleichen Leerheit ist die Wahrnehmung wahrhaft begründeter Existenz manifest.
  • Während nichtkonzeptueller völliger Vertiefung in raumgleiche Leerheit ist die Wahrnehmung nicht manifest, sondern ein schlafender Faktor.

Für Buddhas gilt:

  • Ihre geistige Aktivität lässt niemals eine Erscheinung wahrhaft begründeter Existenz entstehen, nicht einmal in schlafender Form. Außerdem haben sie keine konzeptuelle Wahrnehmung mehr.
  • Die nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit, ohne Unterscheidung in Phasen völliger Vertiefung und nachfolgender Erlangung, ist konstant.
  • Im Gegensatz zu denjenigen, die noch nicht erleuchtet sind, erscheint die Grundlage der Leerheit, d.h. alle gültig erkennbaren Phänomene, gleichzeitig mit dieser nichtkonzeptuellen Wahrnehmung. Daher sind Buddhas allwissend.

Die wahre Beendigung der Wahrnehmung von und des Greifens nach wahrhaft begründeter Existenz

Eine wahre Beendigung der Wahrnehmung von und des Greifens nach wahrhaft begründeter Existenz kann erlangt werden, so dass keines von beiden jemals wieder auftaucht. Eine wahre Beendigung von beidem kann aus dem Grund erreicht werden, da es einen umkehrenden Gegenfaktor (tib. bzlog-phyogs) gibt, welcher die Unwissenheit abwenden kann. Dabei handelt es sich um das unterscheidende Gewahrsein (tib. shes-rab), das der sich gegenseitig ausschließende widersprüchliche Faktor (tib. ’gal-zla) der Unwissenheit ist.

Genauer gesagt kann die geistige Aktivität für immer aufhören, zwei Schichten von verfälschender Hinzufügung hervorzubringen und wahrzunehmen, wenn sie ein erkennbares Objekt entstehen lässt und wahrnimmt. Bei den beiden Hinzufügungen handelt es sich, wie bereits erwähnt, um eine geistige Repräsentation einer selbst-begründenden Natur, welche die wesentliche Natur des Objekts als ein erkennbares konventionelles Objekt und die Existenz einer tatsächlichen selbst-begründenden Natur festlegt. Die geistige Aktivität kann damit immer wieder aufhören, da die Unwissenheit, welche die Existenz einer selbst-begründenden Natur auf der Seite der erkennbaren Objekte verfälschend hinzufügt, durch korrektes unterscheidendes Gewahrsein, der Gegenfaktor zu dieser Unwissenheit, für immer umgekehrt werden kann. 

Tsongkhapa erklärt, dass das unterscheidende Gewahrsein, der sich gegenseitig ausschließende Faktor der Unwissenheit, weder bloß das unterscheidende Gewahrsein von Nichtexistenz bzw. völliger Abwesenheit (tib. med-pa) einer selbst-begründenden Natur ist, noch einfach das unterscheidende Gewahrsein von etwas anderem in Bezug auf eine solche Natur oder erkennbare Objekte. Das korrekte unterscheidende Gewahrsein ist hier das der Leerheit, welche nicht nur mit dem abhängigen Entstehen (tib. rten-’brel ’byung-ba) vereinbar ist, sondern dieses auch unterstützt, und zwar lediglich in Bezug auf geistige Zuschreibung. 

Daher darf man nicht nur die Leerheit allein mit unterscheidendem Gewahrsein betrachten, und genauso auch nicht nur das abhängige Entstehen für sich selbst. Das korrekte unterscheidende Gewahrsein der Leerheit, welches Unwissenheit für immer abwenden kann, ist das unterscheidende Gewahrsein der Leerheit untrennbar vom abhängigen Entstehen.

Obwohl das korrekte unterscheidende Gewahrsein der Leerheit, welche untrennbar vom abhängigen Entstehen ist, für sich genommen als Gegenkraft (tib. gnyen-po) zur Unwissenheit darüber, wie alles existiert, wirken kann, kann es nicht als obliterierende Gegenkraft (tib. gnod-pa’i gnyen-po) fungieren, die eine wahre Beendigung dieser Unwissenheit bewirkt, wenn sie nicht von den folgenden Faktoren begleitet wird:

  • Überzeugung von der ursprünglichen Reinheit der geistigen Aktivität und der Möglichkeit, wahre Beendigungen der Unwissenheit zu erlangen basierend auf der festen Ausrichtung der Vergegenwärtigung (tib. dran-pa nyer-bzhag, Skt. smṛtyupasthāna, Pali: satipaṭṭhāna) in der geistigen Aktivität im Sinne von wahren Beendigungen;
  • Inspiration (auch „Segen”, tib. byin-rlabs), die aus der festen Überzeugung von den guten Qualitäten der eigenen spirituellen Lehrer und der außergewöhnlichen Gottheiten (auch „Buddha-Gestalten“, tib. lhag-pa’i lha) erlangt wurde, welche mit der Entwicklung des unterscheidenden Gewahrseins der Leerheit verbunden sind, wie z.B. Manjushri;
  • mühelose (tib. rtsol-med) Entschlossenheit, frei zu sein, d.h. Entsagung – oder sowohl Entsagung also auch eine mühelose Bodhichitta-Motivation – sodass die Netzwerke positiver Kraft und tiefen Gewahrseins zu reinen aufbauenden Netzwerken werden, die zur Erlangung von Befreiung oder Erleuchtung beitragen, ja nach Motivation und Widmung, anstatt zu Samsara bildenden Netzwerken zu werden, die lediglich unsere samsarische Situation verbessern. „Mühelos“ bedeutet, ohne sich auf eine Argumentationslinie stützen zu müssen. Bevor wir die tatsächlichen reinen aufbauenden Netzwerke und somit den Pfadgeist des Aufbauens (auch „Pfad der Ansammlung“, tib. tshogs-lam) erlangen, können wir originalgetreue aufbauende Netzwerke haben.
  • ein still gewordener und zur Ruhe gekommener Geist (auch „ruhiges Verweilen“, tib. zhi-gnas);
  • ein Geisteszustand von außergewöhnlicher Wahrnehmungsfähigkeit (auch „besondere Einsicht“, tib. lhag-mthong), der per Definition ein kombinierter Zustand von Shamatha und Vipashyana ist;
  • ein nichtkonzeptueller kombinierter Zustand von Shamatha und Vipashyana;
  • positive Kraft, die über eine Dauer von einer Zillionen (oder „unzählige”, tib. grangs-med) Äonen angesammelt wurde, um eine wahre Beendigung der doktrinär bedingten Unwissenheit und deren Tendenzen zu erlangen; die positive Kraft – angesammelt über dieselbe Zeitdauer – für die wahre Beendigung der automatisch erscheinenden Unwissenheit; und ebenso die positive Kraft aus einer Zillionen Äonen, um die wahre Beendigung der ständigen Gewohnheiten der Unwissenheit zu erlangen. 

Nicht-Buddhisten können ebenso den Zustand des Shamatha erreichen, wobei sie sich mit unterscheidendem Gewahrsein auf ein korrektes Verständnis der Leerheit konzentrieren. Durch deren Methoden kann man jedoch keinen Zustand erreichen, in dem Shamatha und Vipashyana kombiniert sind, geschweige denn einen nichtkonzeptuellen kombinierten Zustand dieser beiden, da ihnen die anderen begleitenden Faktoren fehlen, die dafür notwendig sind, dass ihr korrektes Verständnis als obliterierende Gegenkraft funktionieren kann.

Die wahre Beendigung von störenden Emotionen und Geisteshaltungen

Wenn Unwissenheit wahrhaft beendet wird, werden auch die störenden Emotionen und Geisteshaltungen, die sich daraus ergeben, wahrhaft beendet – sie werden nie wieder in unserer geistigen Aktivität auftauchen. Daher sind Unwissenheit sowie störende Emotionen und Geisteshaltungen flüchtige Makel und für das Funktionieren geistiger Aktivität nicht unabdingbar.

Störende, destruktive Emotionen wie Wut und Hass schließen sich mit konstruktiven Emotionen wie Liebe gegenseitig aus. Da störende Emotionen jedoch nicht Teil der innewohnenden Natur geistiger Aktivität sind und durch eine wahre Beendigung der Unwissenheit für immer beseitigt werden können, können störende Emotionen konstruktive Emotionen zwar vorübergehend blockieren, aber nicht für immer verdrängen. Daher sind auch positive, konstruktive Emotionen wie Liebe, Mitgefühl, Geduld usw. mit der innewohnenden Natur der geistigen Aktivität konform und vereinbar. Sie haben nicht nur keinen Anfang, sondern können auch kein Ende haben.

Die fünf Arten tiefen Gewahrseins und die störenden Emotionen

Wenn die fünf Arten tiefen Gewahrseins von Unwissenheit begleitet werden, unterstützen sie fünf der störenden Emotionen. Wenn die Unwissenheit und die störenden Emotionen zu einem Ende kommen, geht das zugrunde liegende tiefe Gewahrsein ohne Ende weiter. Es kann von positiven Emotionen wie Liebe und Mitgefühl begleitet werden, da auch diese kein Ende haben. 

  • Durch spiegelgleiches tiefes Gewahrsein (tib. me-long lta-bu’i ye-shes) werden grundlegende Informationen über das Objekt, zum Beispiel eine Person, aufgenommen. Durch die begleitende Unwissenheit weiß man nicht, was diese Informationen sind oder bedeuten, und so kommt es zu Naivität bzgl. der Person. Wenn Unwissenheit und Naivität zu einem Ende kommen, werden durch das zugrunde liegende spiegelgleiche tiefe Gewahrsein weiterhin ohne ein Ende Informationen aufgenommen. 
  • Durch das gleichsetzende tiefe Gewahrsein (tib. mnyam-nyid ye-shes) werden mehrere Objekte auf gleiche Weise wahrgenommen. Durch die begleitende Unwissenheit wird die Gleichheit dieser Objekte untereinander nicht erkannt, wie beispielsweise die Gleichheit von uns selbst und anderen. Und so entstehen Arroganz und Stolz, mit denen wir meinen, besser als andere zu sein; oder es entsteht Geiz, mit dem wir nicht mit anderen teilen wollen. Wenn die Unwissenheit und der Stolz oder die Arroganz zu einem Ende kommen, nimmt man durch das zugrunde liegende gleichsetzende tiefe Gewahrsein weiterhin alle Wesen gleich wahr, ohne ein Ende.
  • Durch das individualisierende tiefe Gewahrsein (tib. sor-rtog ye-shes) werden zum Beispiel einzelne Personen als einzigartige Objekte der Wahrnehmung spezifiziert. Mit der begleitenden Unwissenheit weiß man nicht, dass jeder Mensch lediglich ein Individuum ist. Wenn man die guten Eigenschaften einer Person konzeptuell übertreibt und deren Mängel konzeptuell leugnet oder herunterspielt, entstehen sehnsüchtiges Verlangen und Anhaftung an die Person. Wenn die Unwissenheit, das sehnsüchtige Verlangen und die Anhaftung aufhören, nimmt man durch das zugrunde liegende individualisierende tiefe Gewahrsein die Personen weiterhin lediglich als einzigartige Individuen wahr.
  • Durch das vollbringende tiefe Gewahrsein (tib. bya-grub ye-shes) nimmt man sein Objekt nicht nur im Sinne des Erreichens eines Zwecks wahr, sondern auch im Vollbringen, wie beispielsweise bei einer erfolgreichen Person. Mit der begleitenden Unwissenheit weiß man nicht, dass man ebenfalls zu etwas Ähnlichem in der Lage ist, und so entsteht Eifersucht. Kommen Unwissenheit und Eifersucht zu einem Ende, nimmt man durch das zugrunde liegende vollbringende tiefe Gewahrsein weiterhin Personen, die zum Beispiel konstruktive Ziele erreicht haben, ohne Ende wahr und dies kann von niemals endender Freude darüber begleitet sein.
  • Durch das tiefe Gewahrsein der Realitätssphäre (tib. chos-dbyings ye-shes) nimmt man die wesentliche Natur seines Objektes, zum Beispiel einer Person, als so und nicht so wahr. Durch die begleitende Unwissenheit weiß man nicht, dass sie so und nicht so ist, und so entsteht Wut auf die Person, da sie nicht so ist, wie wir sie uns wünschen. Wenn Unwissenheit und Wut zu einem Ende kommen, fährt man mit dem zugrunde liegenden tiefen Gewahrsein der Realitätssphäre fort, die Person als so und nicht so wahrzunehmen, und das ebenso ohne ein Ende.

Das Ende konzeptueller Wahrnehmung

Konzeptuelle Wahrnehmung wird nicht als emotionaler oder kognitiver Schleier betrachtet. Sie verhindert die Erlangung der Befreiung oder Erleuchtung nicht und wird auch nicht als Beispiel für wahres Leid betrachtet. Tatsächlich ist konzeptuelle Wahrnehmung für die Erlangung der Erleuchtung notwendig, da Bodhichitta vor der Erleuchtung nur konzeptuell erzeugt werden kann. Das liegt daran, dass wir uns, solange wir noch kein Buddha sind, nur konzeptuell durch die Kategorie „Erleuchtung” auf unsere noch nicht eingetretene Erleuchtung konzentrieren können. Wir sind noch nicht dazu in der Lage, Bodhichitta auf nichtkonzeptuelle Weise wahrzunehmen; nur Buddhas können das.

Da durch die konzeptuelle Wahrnehmung dem Objekt jedoch eine Erscheinung wahrhaft begründeter Existenz verfälschend hinzufügt wird, erreichen wir, sobald wir eine wahre Beendigung der Projektion und der Wahrnehmung von wahrhaft begründeter Existenz erlangt haben, auch das Ende aller konzeptueller Wahrnehmung.

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