Fragen zu Entwicklungsstadien und Tantra

Zuvor haben wir bereits über die Hindernisse gesprochen, die der Verbundenheit mit anderen entgegenstehen, sowie über die furchtbare Natur unseres Verhaltens. Gibt es irgendwelche Fragen dazu, oder Dinge, die ihr gern ansprechen würdet, bevor wir weitermachen?

Meine Frage bezieht sich auf Wissenschaftler, die beispielsweise vor Publikum über Tatsachen sprechen, welche jedoch negative Emotionen unter den Zuhörern hervorrufen. Ein extremes Beispiel wäre Giordano Bruno, der im sechzehnten Jahrhundert die Menschen verärgerte, als er über die Vorstellung von Sternen als weit entfernten Sonnen mit eigenen Planeten sprach, was sich später zwar als wahr herausstellte, wofür er aber dann auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Wäre es in diesem Fall eine konstruktive Verhaltensweise, wenn jemand etwas sagt, das zwar wahr ist, aber gleichzeitig vielleicht Wut bei manchen Menschen hervorruft, oder handelt es sich um ein Zwischending von konstruktivem und destruktivem Verhalten? 

Nun, das ist im Grunde eine komplexe Thematik, wenn wir das genauer analysieren. Auf der einen Seite haben wir die Definition einer destruktiven Verhaltensweise, also einer Art des Handelns, wie Sprechen oder Denken, die durch eine störende Emotion − wie Wut, Gier, Arroganz, Eifersucht oder Naivität − motiviert ist. Teilt die Person die Information aus Arroganz heraus mit, um zu zeigen wie schlau sie ist, wäre das destruktiv. Oder würde sie es tun, um die Menschen zu verärgern, wäre es ebenfalls destruktiv. 

Geht es jedoch um Naivität, die sowohl konstruktivem als auch destruktivem zwanghaften Verhalten zugrunde liegt, könnte sie eine gute Motivation gehabt haben, wie beispielsweise den Menschen zu helfen, sie anzuweisen und zu informieren. Aber auch wenn die Person nicht auf einem Ego-Trip war und zeigen wollte, wie schlau sie war, könnte es doch sein, dass sie naiv in Bezug darauf war, wie die Zuhörer darauf reagieren würden. Nicht zu unterscheiden, was für die Zuhörerschaft angemessen und was unangemessen wäre, ist Naivität. Vielleicht wusste die Person nicht, auf welcher Ebene die Zuhörer waren und wie sie erwidern würden, was oft der Fall ist. Die Menschen sind oft nicht bereit dafür, sich mit harten und trockenen Fakten, wie Statistiken, zu befassen. 

Mein Assistent liebt zum Beispiel Statistiken und egal worum es geht, beschreibt er Dinge oft ganz statistisch und anhand harter Fakten. Jede Entscheidung, die wir treffen, muss auf einer statistischen Analyse beruhen und ich gebe zu, dass ich oft meine Geduld mit ihm verliere, wenn er ständig die Statistik zu Rate zieht; zum Glück ist er gerade nicht hier. Und obwohl er vielleicht recht hat − ich überprüfe seine statistischen Berechnungen nicht − geht es darum, unseren Ärger zu analysieren, wenn wir zu den Zuhörern gehören. Das ist das Interessante. 

So könnte unser Unmut darin bestehen, es nicht hören zu wollen, weil es unsere eigenen Glaubensvorstellungen zerstört, die nur darin bestehen zu glauben, was wir selbst für richtig halten, was natürlich keine Grundlage ist. Außerdem gilt es die Tatsache in Betracht zu ziehen, dass nicht jeder auf einer rationalen Basis agiert, denn es gibt im Verhalten der Menschen auch eine emotionale, irrationale Basis, auch wenn die Menschen laut Statistik auf diese oder jene Weise handeln. Das Geschick des Redners besteht in diesem Fall darin, einen angemessenen Ton zu wählen und nicht etwas zu sagen: „Du hast ja keine Ahnung, denn laut Statistik verhält es sich völlig anders.“ Das würde natürlich Verärgerung und Unmut auf Seiten der Zuhörer hervorrufen, die dann mit einer sehr abwehrenden Haltung reagieren würden. Diese Art der Darstellung statistischer Fakten würde jeden wütend machen.

Daher besteht eine der großen Eigenschaften oder Qualitäten eines Buddhas darin, geschickte Methoden einzusetzen. Ein Buddha weiß, wie man Fakten in angemessener Dosierung anführt, je nachdem, was die Menschen aufnehmen können. Auch tut er es mit einer wunderschönen Stimme und Art der Erklärung, welche die Menschen nicht in eine Abwehrhaltung bringt. Das ist jedoch wirklich schwierig. Tatsachen zu präsentieren ist also weder konstruktiv noch destruktiv. Alles hängt von der Motivation und der Präsentation ab, also von den geschickten Mitteln, die angewandt werden.

Sie übersetzen den Begriff „Zuflucht“ für gewöhnlich mit „sicherer Ausrichtung“. Sind das Übersetzungen des gleichen Wortes und könnten Sie erläutern, wie es genau übersetzt wird?

Ich übersetze Zuflucht mit „sicherer Ausrichtung“ (engl.: „safe direction“) in erster Linie, weil das Wort diese Bedeutung hat. Hierbei handelt es sich nicht um die wörtliche Übersetzung. Das Wort selbst, „sarana“ im Sanskrit oder „kyab“ im Tibetischen bedeutet „Schutz“. Die Herausforderung ist, dass es sich in unseren Sprachen ziemlich merkwürdig anhört, wenn wir, im Zusammenhang, in dem es gebraucht wird, sagen: „ich richte mich auf den Schutz aus“. Für gewöhnlich sagen wir „ich nehme Zuflucht“ (engl.: „I go for refuge“), und im Englischen fand ich diesen Ausdruck immer etwas sonderbar. Ich weiß nicht wie es im Russischen ist. Für mich klang es immer so, als würde ich irgendwo hingehen, wie in ein Geschäft, um Milch zu kaufen. Das wäre dann ja praktisch so, als würde ich zum Buddha gehen, der mir dann etwas, nämlich die Zuflucht, gibt. Es ist jedoch keine passive Sache; die Zuflucht sollte keine passive Handlung sein. 

Darüber hinaus haben wir die kausale und die resultierende Zuflucht. Die kausale Zuflucht findet sich in jenen, die Erleuchtung erlangt haben − Buddha, Dharma und Sangha; sie haben sie für sich erlangt und geben eine sichere Richtung an. Und dann gibt es die resultierende Zuflucht, bei der wir, als normale Menschen „Zuflucht nehmen“, wenn wir Buddha, Dharma und Sangha verwirklichen wollen, was jedoch noch nicht stattgefunden hat. Unser Erlangen der Buddhaschaft hat noch nicht stattgefunden, aber das Noch-Nicht-Stattfinden existiert als ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage der Ursachen dafür. Diese Ursachen werden unsere Erleuchtung hervorrufen, wenn alle Bedingungen, sowie die geschaffene Stärke der Ursachen usw. vollständig sind, aber diese Ursachen haben das Potenzial, unsere Erleuchtung herbeizuführen.  Diese Ursachen beziehen sich auf unsere Faktoren der Buddha-Natur. Aus diesem Grund beginne ich immer mit Niederwerfungen zu jenen, die Erleuchtung erlangt haben, zu unserer zukünftigen Erleuchtung, die wir anstreben, und zu unserer Buddha-Natur, die uns ermöglicht, sie zu erlangen. Die Art der Zufluchtnahme und der Niederwerfungen beruht auf dieser Analyse der kausalen und resultierenden Zuflucht. 

Wie kann ich auf meine zukünftige Erleuchtung zugehen, die noch nicht stattgefunden hat, oder auf meine Faktoren der Buddha-Natur, ohne etwas dafür zu tun, sie zu erreichen und zu aktivieren? Werden sie mir selbst Schutz gewähren, ohne etwas tun zu müssen, indem ich mich einfach ihrer Macht unterwerfe? Sind sie meine Retter? Das hätte nichts mit Buddhismus zu tun. Es ergibt keinen Sinn, bei ihnen Zuflucht zu suchen, als wären sie unsere Retter. Bei der Zuflucht geht es, wie gesagt, um Schutz, und „ihre Richtung einzuschlagen“ scheint mit der richtigen Bedeutung besser zu funktionieren. 

Indem wir ihrer Richtung folgen, sorgen wir selbst für unseren Schutz. Das ist die Bedeutung des Wortes „Dharma“: etwas, das uns hilft zu vermeiden, uns selbst Leid zuzufügen. Es ist etwas, das uns dabei hilft, so, wie man auch vorsichtig beim Überqueren der Straße sein muss und in beide Richtungen schaut, um nicht von einem Auto angefahren zu werden. Das bedeutet das Wort „Dharma“ − es ist eine vorbeugende Maßnahme, um etwas zu vermeiden. Dharma kommt wörtlich von dem Sanskrit-Wort „Zurückhalten“, also zu vermeiden, dass etwas geschieht. 

Aus diesem Grund benutze ich im Englischen den Ausdruck „go in the direction“ („eine Richtung einschlagen“). Außerdem ist es eine sichere und positive Richtung; sie ist sicher in dem Sinne, dass sie uns davon abhält, noch mehr Leid herbeizuführen. Ich benutze diese neue Terminologie beruhend auf meinen Erfahrungen, dass viele Leute dazu neigen, im Studium des Dharma in Bezug auf die Fachausdrücke eine bestimmte Ebene zu erreichen und viele von ihnen gehen dann nicht weiter und erforschen, was diese Begriffe wirklich bedeuten. Mein Assistent würde dazu dann natürlich sagen: „Nun, wie sieht das statistisch gesehen aus?“ Mir stehen dazu jedoch keine Statistiken zur Verfügung; ich habe einfach dieses Gefühl. Ich gebe also zu, dass ich beruhend auf meiner eigenen Erfahrung und den wenigen Menschen, mit denen ich mich unterhalten habe, denke, dass sie nicht weiter nachforschen. Ich habe keine Daten, die das belegen und es ist schon richtig, danach zu fragen, aber trotz allem denke ich so. 

Manchmal habe ich das Gefühl, dass alles gut ist − mit der Familie, bei der Arbeit und so weiter. Dann fühlt man sich, als wäre man ganz oben und weiß, dass es nun nur noch den Weg nach unten gibt. Was würden Sie jemandem empfehlen, der weiß, dass es nur noch bergab geht? 

Nun, wenn man etwas erreicht hat, muss das nicht unbedingt heißen, dass es nun nur noch bergab geht. Betrachten wir beispielsweise den Pfad zur Erleuchtung oder einen Pfad zur Befreiung, so führt er zu einem Zustand, der, wenn man ihn einmal erreicht hat, stabil bleibt und von dem man nicht mehr herabfällt. Mit diesem Erlangen kommen wir zu einer wahren Beendigung, der dritten edlen Wahrheit, der wahren Beendigung all der Ursachen des Zurückfallens, und daher gibt es keine Möglichkeit der Rückwärtsbewegung. Es ist recht schwierig, zu dieser Überzeugung zu gelangen, da sie darauf aufbaut, die natürliche Reinheit des Geistes zu verstehen, der nicht von Natur aus durch die Ursachen dieser Probleme befleckt oder verunreinigt ist. 

Eines der Gelübde auf dem Pfad besteht darin, sich nie mit dem eigenen Verständnis zufrieden zu geben. Es ist notwendig, immer weiter zu gehen, bis hin zur Befreiung und Erleuchtung, damit wir uns für immer aus Samsara befreien. Wir wollen dies wegen den Eigenschaften von Samsara tun, der unkontrollierbar sich wiederholenden Existenz und den sich ständig ändernden Höhen und Tiefen unserer Umstände. Das kann für lange Zeit wirklich gut laufen und wir meinen schon, unsere Wut überwunden zu haben, bis dann plötzlich jemand in unser Leben tritt, der uns unglaublich auf die Nerven geht. Und völlig überraschend, nach vielen Jahren der Dharma-Praxis, fangen wir dann an, auf diese Person wütend zu werden. Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich sagen, dass so etwas passiert. Die einzige Möglichkeit damit umzugehen, wird in den Acht Versen des Geistestrainings beschrieben, also diese Person als etwas Kostbares zu betrachten, als jemanden, der in unser Leben getreten ist, um uns etwas zu lehren. Und obwohl wir schon dachten, wir hätten eine gewisse Ebene erreicht, wird uns klar, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben. Ein gutes Beispiel ist mein Statistiker, der all meine Glaubensvorstellungen, Richtlinien und alles, was ich tat, statistisch untermauern musste, wo es doch bei mir keine Statistiken, sondern nur meine Meinung gab. Das hat mich sehr genervt, aber es war auch ausgesprochen hilfreich, da er ein großer Lehrer für mich war.

Gibt es Beispiele von Menschen, die diesen Geisteszustand erreicht haben und durch niemanden mehr aus der Ruhe gebracht zu werden? Gibt es in unserer heutigen Welt solche Leute?

Nun, Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt, dass er sich noch immer ärgert. Und ich glaube, er ist wahrscheinlich der höchstentwickelte Mensch in der heutigen Welt. Er sagt jedoch, dass er sich nur für einige Sekunden ärgert und dann darüber hinwegkommt. Vielleicht ist das auch die Richtung, die wir anstreben sollten: den Ärger nicht zu lange andauern zu lassen und ihn schließlich immer schneller zu überwinden. 

Denkt einmal darüber nach; es ergibt ziemlich viel Sinn. Seit anfangsloser Zeit − also seit einer sehr langen Zeit, praktisch schon immer − haben wir die Gewohnheiten der Unwissenheit, der Wut und so weiter geschaffen. Das sind wirklich feste Gewohnheiten, die nun ziemlich stark sind. Aber wie stark sind unsere Gewohnheiten der Geduld, der Liebe und Weisheit auf der anderen Seite? Im Vergleich zur anfangslosen Wut und Unwissenheit sind sie ziemlich schwach. Mit all unserer Praxis − womit wir wieder zurück zur Neuroplastizität kommen − versuchen wir, immer stärkere positive Gewohnheiten zu schaffen und die negativen zu schwächen. Uns der Negativen jedoch völlig zu entledigen ist sehr schwer. Alles, was wir tun können, ist, sie allmählich immer mehr zu schwächen und die positiven Gewohnheiten immer weiter zu stärken. Das ist ein allmählicher Prozess. 

Am Anfang ist es hilfreich zu versuchen, die Umstände und Bedingungen zu vermeiden, welche die negativen Gewohnheiten aktivieren. Aus diesem Grund sagt Togmey Zangpo in den „37 Bodhisattva Praktiken“, dass es gut ist, den Ort, an dem man gelebt hat oder aufgewachsen ist, und Wut oder Anhaftung entwickelt, zu verlassen, wenn es zu schwierig dort für uns ist. Auf diese Weise vermeiden wir Umstände, welche diese negativen Muster auslösen.  Dann arbeiten wir daran, positive Gewohnheiten zu stärken. Diese unkontrollierbar sich wiederholenden Muster werden sich natürlich überall manifestieren, aber an einem neuen Ort haben wir trotzdem die Möglichkeit, mehr Betonung auf dem Entwickeln positiver Gewohnheiten zu legen. Erreichen wir jedoch eine stabile Ebene, sollten wir wieder in die herausfordernden Situationen zurückkehren. Dann können wir prüfen, wie viel Fortschritt wir tatsächlich gemacht haben. Außerdem ist es uns wichtig, Herausforderungen zu bekommen, denn sie zeigen uns, woran wir noch arbeiten müssen. Das erfordert natürlich jede Menge Mut. Die Tibeter übersetzen den Begriff „Bodhisattva“, indem sie dem Wort eine Silbe hinzufügen, die „Held“ oder „der Mutige“ bedeutet. 

Es erfordert viel Mut, sich mit den eigenen störenden Emotionen und destruktiven Verhaltensweisen auseinanderzusetzen, anstatt einfach zufrieden zu sein, wenn wir sie ein wenig unter Kontrolle gebracht haben; wir sollten wirklich Ausdauer haben und tiefer gehen. Das Wort für Ausdauer im Sanskrit, „virya“ bezieht sich auf „vira“, was „Held“ bedeutet. Es ist auch mit unserem englischen Wort „virile“ oder dem deutschen Wort „viril“ verwandt, wie in „virile, männliche Stärke“. Grundsätzlich erfordert es heroischen Mut weiterzumachen und nicht aufzugeben. Gebt also nicht auf! Und nur weil die Dinge gut für uns laufen, heißt das nicht, dass niemand mehr in unser Leben kommt und uns erneut herausfordert. Wenn Herausforderungen kommen, sollten wir sie willkommen heißen. 

Ich habe eine Frage in Bezug auf Sutra und Tantra. Sutra ist der Pfad der Ursachen und Tantra der Pfad der Resultate. In gewisser Hinsicht ist es möglich, Erleuchtung durch die Sutra-Praxis zu erreichen, was drei lange Weltzeitalter dauert. Gleichzeitig wird jedoch in Lama Tsongkhapas Werken gesagt, das es durch die Tantra-Praxis möglich ist, Erleuchtung in drei Jahren und drei Mondphasen zu erlangen, und dass es ohne Tantra unmöglich ist, Erleuchtung zu erlangen. Wie kann man das verstehen? 

Dazu muss ich sagen, dass es hier im Buddhismus ein Problem mit den einzelnen Gruppierungen gibt, denn in jedem der Lehrsysteme wird behauptet: „Durch unser Verständnis werdet ihr Erleuchtung erlangen.“ Im nächsten Lehrsystem wird dann verkündet, dass es noch tiefgründiger ist – nicht auf statistischer Grundlage, sondern beruhend auf der Vorstellung, dass es tiefgründiger ist. Dort wird dann gesagt: „Nun, mit dem anderen System kann man nicht wirklich den ganzen Weg gehen, denn er ist nur eine Stufe auf dem Weg. Um jedoch tiefer zu gehen, benötigt man dies“, also ihr Verständnis. Im Buddhismus haben wir diese Lehrsysteme und sogar innerhalb des Mahayana-Lehrsystems gibt es Sutra und Tantra. Im Tantra gibt es verschiedene Tantra-Klassen und im Mahayana behauptet jeder, dass man durch ihre „Ebene des Verständnisses“ Erleuchtung erlangen kann, weshalb ich sie als eine Art inneres Sektierertum bezeichne. 

Es ist wirklich schwierig, diese Lehren statistisch zu betrachten. Mein lieber Assistent hat mich nun dazu gebracht, an Statistiken zu glauben. Aber wo sind die Statistiker, die sagen: „Im Chittamatra-Verständnis können wir nur so weit gehen und wenn wir weiter gehen wollen, brauchen wir Madhyamaka?“ Hat Tsongkhapa seine Schlussfolgerungen statistisch begründet oder bauen sie nur auf Logik und Erfahrung? Ich weiß es nicht. 

Shantideva weist zum Beispiel darauf hin, dass in den Hinayana-Systemen davon die Rede ist, durch das Verständnis der Unbeständigkeit und der vier edlen Wahrheiten Befreiung erlangen zu können. Er gibt zu bedenken, dass man durch das Verständnis frei von den groben störenden Emotionen wird, jedoch einige subtile noch immer da sind. Das ist einer der Tests: zu sehen, ob uns ein Verständnis zu Befreiung geführt hat.Wir sollten uns selbst prüfen, ob wir wirklich eine wahre Beendigung der störenden Emotionen erlangt haben, oder ob noch immer etwas davon da ist. 

Bezüglich Sutra und Tantra bestand Tsongkhapas Prasangika-Sichtweise darin, keinen Unterschied zwischen diesen beiden zu sehen. Tsongkhapa war unglaublich revolutionär und seine Sichtweise, die völlig anders war als die aller anderen, wurde zur Gelugpa-Sichtweise des Prasangika. Tatsächlich ist die Sicht genau die gleiche, um Befreiung oder Erleuchtung zu erlangen. Niemand hatte das zuvor behauptet; er brachte jedoch zum Ausdruck, dass wir genau das gleiche Verständnis benötigen, um auf den Sutra- und Tantra-Pfaden sowohl Befreiung als auch Erleuchtung zu erlangen. 

Was die Notwendigkeit für Tantra betrifft, so sprach er über Anuttarayoga-Tantra, die höchste Tantra-Klasse, und nicht über andere Tantra-Klassen. Laut Tsongkhapa ist es, sobald wir die zehnte Bhumi, die zehnte Bodhisattva-Stufe kurz vor der Erleuchtung, erreicht haben, notwendig, Zugang zum Geist des klaren Lichts mit unserer nichtkonzeptuellen Wahrnehmung der Leerheit zu finden, um von der subtilsten Ebene der Schleier frei zu werden, die Allwissenheit verhindert. Dafür benötigen wir die Anuttarayoga-Methoden. 

Auch hier habe ich keine Ahnung, ob es Statistiken gibt, die all das belegen. Was die Theorie betrifft, ergibt es jedoch einen Sinn. Wird Erleuchtung automatisch geschehen? Müssen wir tatsächlich Anuttarayoga-Methoden praktizieren, um die Erlangung der Erleuchtung zu bewirken. Auch das weiß ich nicht. 

Kedrup Je, einer der Schüler Tsongkhapas, machte einen wichtigen Punkt, indem er sagte, dass all die Anuttarayoga-Tantra-Systeme sich darin gleichen und zur Erleuchtung führen zu können. Es ist nicht so, dass eines besser als das andere ist oder dass uns eines eine bessere Erleuchtung beschert als das andere, trotz der Tatsache, dass sie alle behaupten, der König aller Tantras und die Besten zu sein. Sie machen solche Behauptungen, um die Menschen zu ermutigen, aber das heißt nicht, dass ein System besser als das andere wäre und zum Beispiel Kalachakra besser als Guhyasamaja ist. 

Kommen wir zurück zum Thema Sutra und zu dem Punkt, den ich bereits vorher gemacht habe, nämlich dass wir seit anfangsloser Zeit diese negativen Gewohnheiten und kaum Kraft für die positiven haben. Auch wenn wir ein korrektes intellektuelles Verständnis der Leerheit bekommen, wird uns das allein nicht befreien. Wir können nicht einmal eine nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit erlangen, die nur auf intellektuellem Verständnis beruht, sondern brauchen ein hohes Maß an positiver Kraft als Grundlage, die durch unsere Entwicklung von Entsagung, Bodhichitta und so weiter kommt. Vergleichen wir unsere anfangslose Ansammlung negativer Gewohnheiten mit den wenigen Stunden der Meditation über positive Gewohnheiten, ist es ganz klar, dass wir die negativen nicht so leicht loswerden. 

Denken wir einmal darüber nach, ergibt es tatsächlich einen Sinn, dass wir drei Zillionen von Zeitaltern brauchen werden, um positive Kraft für positive Gewohnheiten aufzubauen, denn im Vergleich dazu, wie viel Zeit wir damit verbracht haben, deren negative Kraft anzusammeln, handelt es sich nur um eine kurze Zeit, um unsere negativen Gewohnheiten zu überwinden. Es geht nicht darum, wie viel positive Kraft wir brauchen, sondern vielmehr um die Tatsache, dass ein unbegreifliches Maß an positiver Kraft erforderlich ist. Betrachten wir diesen Prozess so, als würden wir „Verdienste“ ansammeln, klingt das, als ginge es um Punkte, die man braucht, um das Spiel zu gewinnen. Positive Kraft ist das, was wir benötigen, um negative Kraft zu überwinden und auszumerzen. Wir haben sie seit anfangslosen Zeiten aufgebaut. Wie sollen wir sie sonst loswerden? Es ist überheblich zu denken: „Gut, ich habe 100.000 Niederwerfungen gemacht und werde nun nie wieder wütend werden.“ Das ist doch recht anmaßend, auch wenn wir die Niederwerfungen fehlerfrei ausgeführt haben. 

Mein Punkt ist, dass es großen Mut braucht, sich zu verpflichten immer positive Kraft aufzubauen – nun, vielleicht nicht für immer, aber für drei Zillionen von Zeitaltern. Wir sollten nicht naiv sein. Wenn wir denken, wir können mit Anuttarayoga-Tantra in einem Leben Erleuchtung erlangen, meinen wir vielleicht, dass es ja dann nicht so schwer sein kann. Dieses Erlangen wird jedoch nicht einfach so passieren und es wird nicht in diesem Leben stattfinden, wenn wir nicht schon ein unfassbar hohes Maß an positiver Kraft in früheren Leben aufgebaut haben, um dann in diesem Leben die letzten Schritte zu gehen. Ja, wir können es, wie im Kalachakra erwähnt, in drei Jahren und drei Mondphasen erreichen, aber das ist symbolisch. Diese Ebene des klaren Lichtes des Geistes mit nichtkonzeptueller Wahrnehmung der Leerheit zu erreichen ist keine einfache Aufgabe. Dafür benötigen wir enorm viel positive Kraft. Ja, wir können Ngöndro, die vorbereitende Praxis, machen, aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein, was das Maß an positiver Kraft betrifft, die wir brauchen, um diese anfangslosen negativen Gewohnheiten zu überwinden. 

Was muss man also während dieser drei Jahre und drei Mondphasen tun?

In den Kalachakra-Texten wird gesagt: „Man kann in nur drei Jahren und drei Mondphasen durch Anuttarayoga-Tantra Erleuchtung erlangen.“ Was bedeutet das? In anderen Tantras wird dies ebenfalls behauptet, aber die Anzahl wird deswegen gegeben, weil es aus dem Kalachakra stammt. Im Laufe eines Tages wechselt der Fluss des Atems zwölf Mal zwischen dem rechten und dem linken Nasenloch. Wenn er von einem Nasenloch zum anderen wechselt, geht ein Atemzug, der so genannte Atem des tiefen Gewahrseins, in den Zentralkanal. Gehen wir von einer Lebensspanne von einhundert Jahren aus, wäre die Anzahl von Atemzügen, die in dieser Zeit in den Zentralkanal gehen, 21.600. Nehmen wir diese Anzahl – im Kalachakra liebt man den Zusammenhang zwischen all diesen Zahlen – und sammeln, wenn wir einmal die nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit mit einem Geist des klaren Lichts erlangt haben, 21.600 Tropfen der so genannten „unveränderlichen Glückseligkeit“ mit solch einem Geist in unserem Zentralkanal an, erlangen wir Erleuchtung. 

Die Nummer entspricht also dieser Anzahl von Atemzügen des tiefen Gewahrseins. Nehmen wir diese Anzahl von Augenblicken der so genannten Atemzüge des tiefen Gewahrseins und würden sie alle aneinanderreihen, als würden sie jeden Augenblick stattfinden, würde das drei Jahre und drei Mondphasen ergeben. Aufgrund dieser Symmetrie wird gesagt, man kann Erleuchtung durch Anuttarayoga-Tantra innerhalb von drei Jahren und drei Mondphasen erlangen – was jedoch nicht wörtlich zu nehmen ist. Ja, würden wir 21.600 Tropfen der unveränderlichen Glückseligkeit drei Jahre und drei Mondphasen aufeinanderfolgend ansammeln, würden wir Erleuchtung erlangen, jedoch erst nachdem wir den Geist des klaren Lichts mit nichtkonzeptueller Wahrnehmung der Leerheit erlangt haben.

Es ist notwendig zu verstehen, was all diese Nummern bedeuten und warum es sie gibt. Dann können wir erkennen, dass wir auf jeden Fall viel Arbeit hineinstecken müssen. Im System des Guhyasamaja-Anuttarayoga-Tantra wird jedoch gesagt, dass wir, wenn wir die Ebene des so genannten „isolierten Geistes“ erreichen, automatisch zur Prasangika-Sichtweise wechseln, wenn wir Anuttarayoga-Tantra mit einer Chittamatra-Sichtweise praktiziert haben. Das liegt daran, dass es durch unsere Praxis so offensichtlich werden wird, dass die Existenz von Dingen nur durch geistiges Bezeichnen begründet werden kann. Durch unsere Praxis werden wir automatisch zu dieser Verwirklichung kommen und unsere Sichtweise wird sich im Grunde von selbst ändern. 

Ich frage mich, an welchem Punkt der Vollendungsstufe wir beginnen müssten, wenn wir die zehnte Bhumi durch Sutra-Methoden erreichen und erkennen, dass wir zum Erlangen der Erleuchtung einen Geist des klaren Lichts mit nichtkonzeptueller Wahrnehmung benötigen, den wir schon haben? Oder müssten wir zur Erzeugungsstufe zurückkehren, um die Ursachen zum Erlangen der Formkörper eines Buddhas zu schaffen? Ich weiß es nicht. Das sind Fragen, die man am besten Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama oder einer ähnlichen Person stellt. 

Aus der Prasangika-Sichtweise müsste ein Shravaka-Arhat beispielsweise zum Pfad des Sehens zurückkehren, wenn er, nachdem er ein Arhat geworden ist, auf dem Bodhisattva-Pfad weitergehen will. Wie ist es mit einem Bodhisattva der zehnten Bhumi-Sutra-Ebene, der sich dem Anuttarayoga-Tantra zuwendet, um diese subtilsten der subtilen Schleier loszuwerden, die Allwissenheit verhindern? 

Hier bin ich recht weit in ziemlich fortgeschrittene theoretische Darstellungen abgeschweift, aber um wieder zu unserer praktischen Erfahrung zurückzukehren, stellt sich die Frage: Wo beginnen wir mit unserer Tantra-Praxis? Wie weit müssen wir auf dem Sutra-Pfad sein? Das ist doch die eigentliche Frage, nicht wahr? Wir könnten warten, bis wir im Sutra sehr weit fortgeschritten sind, bevor wir damit beginnen, aber wo genau ist dieser Punkt? Wir sollten vermeiden, uns übereilt dem Tantra zuzuwenden, bevor wir eine gute Sutra-Grundlage haben. Das sind wirklich wichtige Fragen. 

All das bringt uns zurück zum Lam-rim. Wir könnten den Lam-rim auf traditionelle Weise studieren und keine Vorstellung davon habe, was als nächstes kommt. Wir würden einfach mit der Beginner-Ebene anfangen und nichts über die mittlere oder fortgeschrittene Ebene wissen. Heutzutage stehen uns jedoch zu viele Informationen zur Verfügung; die meisten von uns haben etwas über den Lam-rim gelesen und wissen, was die Möglichkeiten des Pfades sind. Aus diesem Grund können wir dann überlegen: „Gut, ich steuere die fortgeschrittene Stufe an, mir geht es um Mahayana. Aber was ist nun die Bedeutung dieser anfänglichen Ebene, die ich gerade durchgehe? Welchen Nutzen hat sie, um die fortgeschrittene Ebene, um Mahayana, zu erreichen?“ Indem wir dies in Betracht ziehen, halten wir uns stets den restlichen Pfad vor Augen. Um anderen hilfreich zu sein – was mein Ansatz hier ist – müssen wir damit aufhören, destruktiv zu handeln. Wir tun es also nicht nur, weil diese Handlungsweise uns selbst schadet, sondern weil es anderen von Nutzen ist, wenn wir destruktives Handeln unterlassen. Dieses Ziel halten wir uns vor Augen.  

Wenn wir die Tantra-Praxis anstreben, weil sie so berühmt ist, was ist dann ihre wahre Bedeutung, ihre Essenz; besonders in Bezug auf den Anuttarayoga-Tantra, die höchste Klasse? Geht es darum, sich selbst mit vielen Armen visualisieren zu können? Was damit? Ist dies das letztendliche Ziel all unserer Übungen? Nein! Die Essenz des Anuttarayoga-Tantra ist das Transformieren der Prozesse von Tod, Bardo und Wiedergeburt, um in ähnlicher Weise Zugang zum Geist des klaren Lichts zu bekommen, und auch, um daraus den Formkörper eines Buddha zu entwickeln – anstatt die Formen von Bardo und Wiedergeburt – die Sambhogakaya- und Nirmanakaya-Formen. Das ist im Wesentlichen die Essenz dessen, worum es beim Tantra geht.

Haben wir eine Vorstellung vom gesamten Pfad – was wir bereits von Beginn an anstreben – beginnen wir mit der anfänglichen Ebene des Lam-rim. Glauben wir jedoch nicht an die Wiedergeburt und beginnen nicht damit, dies wirklich und ernsthaft in Betracht zu ziehen, ergibt die Transformation von Tod, Bardo und Wiedergeburt überhaupt keinen Sinn. Wir müssen also wirklich beginnen, über all das nachzudenken und zu untersuchen, worum es bei der Wiedergeburt geht. Handeln wir dann destruktiv, verstehen wir mit dieser anfänglichen Ebene, dass wir eine schlechtere Wiedergeburt haben werden, was wir nicht wollen. Vielmehr geht es uns darum, diese ganze Sache loszuwerden, sie zu transformieren. Von Anfang an üben wir also mit diesem Ziel vor Augen, womit wir im Tantra tatsächlich arbeiten werden.

Wollen wir lediglich die Dinge in diesem Leben verbessern – was wahrscheinlich die meisten von uns anfangs im Sinn haben – wird sich unser Interesse am Dharma darum drehen, unser Leben etwas besser zu machen. Dieses Ziel ist völlig in Ordnung, denn hierbei handelt es sich um das, was ich als „Dharma-light“ bezeichne. Dafür benötigen wir kein Tantra. Mit diesem Ziel sind wir geistig nicht wirklich in der Lage zu wissen, was wir da tun, wenn wir etwas visualisieren, und ganz leicht wird das Ganze dann einfach zu einer Flucht in ein Land der Fantasie. 

Mit der Herangehensweise des Dharma-light beginnen wir ganz realistisch, indem wir denken: „Ich möchte im Dharma das finden, was für mich in diesem Leben nützlich sein könnte.“ Das ist wunderbar. Der Dharma hat diesbezüglich enorm viel zu bieten. Interessieren wir uns jedoch für Tantra, muss unsere Herangehensweise an den Dharma eine andere sein. Es geht dann um „den echten Dharma“ und damit um die Wiedergeburt und all die anderen Dinge, die mit Tantra verbunden sind. Wollen wir uns mit Tantra beschäftigen, sollten wir es ernsthaft tun, wie mein Lehrer Serkong Rinpoche zu sage pflegte. Es ist kein Spiel, wir sollten es ernst nehmen und ganz am Anfang beginnen. Im Wesentlichen sollten wir wissen, auf was wir uns da einlassen. 

Es tut mir leid, da habe ich wohl etwas weit ausgeholt. Das hatte nichts mit Statistik zu tun, sondern nur damit, dass ich dachte, es könnte von Nutzen und irgendwie hilfreich sein. Lasst uns eine Pause machen, bevor es mit unserer Diskussion weitergeht.

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