Anstrebendes und Ausübendes Bodhichitta entwickeln

[Die Aufnahme des Teils zu Vers 10, der dieser Sitzung vorausging, ist verlorengegangen.]

(10) Mit einem Geist voller Liebe gegenüber allen begrenzten Wesen betrachte als nächstes ausnahmslos alle Wesen, die unter Geburt etc. in den drei schlechteren Bereichen sowie unter Tod, Übergang und so weiter leiden.

Kurzer Rückblick 

Wir haben über Liebe und Mitgefühl gesprochen. Mitgefühl ist die Geisteshaltung, mit der wir den Wunsch haben, alle mögen frei von Leiden sein, und Liebe ist die Geisteshaltung, mit der wir uns wünschen, alle mögen glücklich sein. Bevor wir diese zwei entwickeln können, ist es notwendig, uns in den verschiedenen Meditationen zu üben, um einen Zustand des Gleichmutes gegenüber allen zu erreichen. Auch ist es notwendig, sich in den verschiedenen Methoden des Gleichsetzens und Austauschens unserer Geisteshaltungen in Bezug auf uns selbst und andere zu üben.

Die siebenteilige Meditation über Ursache und Wirkung zum Entwickeln von Bodhichitta 

  • Das Entwickeln von Liebe und Mitgefühl beginnt mit Gleichmut. Durch diese spezielle Art des Gleichmutes werden Geisteshaltungen der Anziehung, Abneigung oder Gleichgültigkeit beseitigt, indem man eine unvoreingenommene Geisteshaltung gegenüber allen entwickelt.  
  • Der nächste Schritt besteht dann darin zu erkennen, dass alle Wesen in einem früheren Leben schon einmal unsere Mutter gewesen sind.  
  • Dann erinnern wir uns an ihre Güte. Wir können uns aber auch die Güte anderer vergegenwärtigen und uns an sie erinnern, auch wenn sie nicht unsere Mütter waren.  
  • Danach folgt dann der Schritt, darüber zu meditieren diese Güte zu erwidern.  

Zusammen sind das vier Schritte, obwohl nur drei in der siebenteiligen Meditation über Ursache und Wirkung auf den Gleichmut folgen. Um es noch einmal zu wiederholen: Wir haben Gleichmut oder eine unvoreingenommene Geisteshaltung; wir erkennen, dass alle unsere Mutter gewesen sind; wir erinnern uns an ihre Güte; und wir wünschen uns, diese Güte zu erwidern. 

  • Der fünfte Schritt besteht darin, die so genannte „herzerwärmende Liebe“ zu entwickeln. Es ist nicht notwendig, eine gesonderte Meditation zu machen, um diese Geisteshaltung der herzerwärmenden Liebe entstehen zu lassen. Haben wir gut über die vier Dinge meditiert, die mit dem Gleichmut vorangehen, werden wir ganz natürlich herzerwärmende Liebe entwickeln. Daher wird sie nicht als einer der sieben Teile dieser Reihenfolge gezählt. 

Was ist diese herzerwärmende Liebe? Sie ist eine Geisteshaltung, mit der wir andere wertschätzen und uns um sie sorgen, wenn ihnen etwas Schlimmes passieren würde. Wir benutzen den Begriff „Liebe“ ziemlich häufig, aber diese Art der herzerwärmenden Liebe ist etwas anders als die Liebe, die als Geisteshaltung definiert wird, mit der wir uns wünschen, alle mögen glücklich sein. Beiden liegt ein etwas unterschiedliches Gefühl zugrunde.  

  • Danach kommt die Geisteshaltung des Mitgefühls, mit der wir uns wünschen, alle mögen frei von Leiden sein.  
  • Darauf folgt dann das Entwickeln des so genannten „außergewöhnlichen Entschlusses“. Hierbei handelt es sich um die Geisteshaltung, mit der wir die Verantwortung übernehmen: „ich selbst werde alle von ihren Leiden trennen und ihnen Glück bringen.“  
  • Im Anschluss daran meditieren wir dann mit der erleuchtenden Motivation und der Bodhichitta-Ausrichtung selbst.   

Es gibt zwei Arten, den Geist darin zu schulen, diese erleuchtete Geisteshaltung des Bodhichitta zu entwickeln. Der Vorgang, den wir gerade beschrieben haben, ist bekannt als die siebenteilige Meditation über Ursache und Wirkung. Es gibt jedoch auch noch eine andere Weise, dies zu üben.

Unsere geistigen Einstellungen uns selbst und anderen gegenüber gleichsetzen und austauschen 

Wir beginnen auf die gleiche Weise und gehen die ersten drei Schritte durch, bis wir uns an die Güte anderer erinnern, indem wir insbesondere an ihre Güte denken. Genauer gesagt tun wir das folgendermaßen:

  • Wir meditieren über Gleichmut;  
  • erkennen, dass alle schon einmal unsere Mutter gewesen sind;  
  • und erinnern uns an ihre Güte, genau wie in der vorangegangenen Meditation.  
  • Danach meditieren wir über das Gleichsetzen unserer Geisteshaltungen gegenüber uns selbst und anderen. Die Art des Gleichmutes, um den es hier geht, ist eine andere Weise des Gleichsetzens unserer Geisteshaltung, als im vorangegangenen Schritt. Hier versuchen wir eine Geisteshaltung zu entwickeln, mit der wir uns wünschen, allen gleichermaßen von Nutzen zu sein. Mit anderen Worten wünschen wir uns, nicht nur unseren Freuden zu nützen, sondern auch unseren Feinden. Wir versuchen, ein ebenbürtiges Interesse für alle zu entwickeln und wünschen uns, allen helfen zu können.  
  • An diesem Punkt meditieren wir über all die Mängel und Probleme in Bezug auf Selbstbezogenheit oder Egoismus.  
  • Der darauf folgende Schritt ist dann, darüber nachzudenken, dass alle Vorteile aus der Wertschätzung anderer erwachsen.  
  • Dann erkennen wir die Nachteile der Selbstbezogenheit oder des Egoismus und die Vorteile des Wertschätzens anderer und betrachten abwechselnd jeweils eines dieser Dinge bezüglich der zehn destruktiven und zehn konstruktiven Handlungen.  
  • Schließlich denken wir über den folgenden Punkt nach: „Bin ich wirklich in der Lage, meine Geisteshaltungen gegenüber mir und anderen auszutauschen?“ Wir sollten uns entschließen: „Ja“, wir sind in der Lage, das zu tun.   
  • Dann sollten wir die feste Entscheidung treffen, tatsächlich die Meditationen des Austauschens von uns selbst und anderen zu üben, welche die Mittel dafür sind, unsere Geisteshaltung zu ändern. Bislang bestand unsere Geisteshaltung darin, hauptsächlich nur an uns selbst und nicht an andere zu denken. Nun sollten wir nur an andere denken und darüber, wie wir ihnen nützen und unsere eigene selbstsüchtige Haltung vollkommen hinter uns lassen können. An diesem Punkt fassen wir den festen Entschluss: „Ich werde mich völlig dem Nutzen anderer verschreiben.“ 

Mitgefühl

Beruhend auf diesem festen Entschluss ist dann der nächste Schritt, wie zuvor über Mitgefühl zu meditieren. Mit anderen Worten meditieren wir über die Geisteshaltung, mit der wir uns wünschen, alle mögen von Leiden getrennt sein, was gut auf dem aufbaut, was wir vorher gemacht haben. Um dieses Mitgefühl zu entwickeln, sollten wir an ein Wesen denken, dass sich in einer furchtbar schwierigen oder schmerzhaften Situation befindet. So können wir beispielsweise daran denken, wie Wasserbüffel mancherorts in Asien getötet werden. Man tut es, indem man sie mit einer Holzkeule oder etwas ähnlichem zwölf oder dreizehn Mal auf den Kopf schlägt, bis die arme Kreatur endlich stirbt. Wir sollten an all das schreckliche Leid denken, das solch ein Tier durchgeht, wenn es getötet wird. 

In ähnlicher Weise können wir daran denken, wie große Schildkröten an manchen Orten getötet werden, nämlich indem man ihnen das Fleisch abschneidet, während sie noch leben. Über diese Art des Leidens sollten wir nachdenken. Manche kleinen Meerestiere werden lebendig gekocht oder frittiert. Über diese Leiden, die sie erfahren, wenn sie so ins kochende Wasser geworfen werden, können wir nachdenken.  

Als nächstes sollten wir denken: „Ich habe all die destruktiven Handlungen begangen und all das negative karmische Potenzial aufgebaut, in solchen Situationen wiedergeboren zu werden und diese Art des Leidens zu erleben.“ Wir sollten uns zu Herzen nehmen, wie schrecklich das sein würde. Wie wäre es, sich wirklich in der Situation dieser Lebewesen zu befinden? 

Gleichermaßen sollten wir an unsere Mutter in diesem Leben denken, und daran, dass auch sie so viel negatives karmisches Potenzial durch ihre destruktiven Handlungen angesammelt hat. Wie wäre es, wenn sie solch eine Wiedergeburt haben würde und diese Art des Leidens durchgehen müsste? Wir sollten darüber nachdenken, wie sie diese Art des Leidens durchgehen muss. 

Werden wir uns zutiefst bewusst über die Erfahrung dieser Art des Leidens in Bezug auf unsere Mutter, sollten wir dann an unseren Vater denken. Nachdem wir uns darin geübt haben, können wir es ausweiten und an jemanden denken, der nicht mit uns verbunden, also ein Fremder ist, und schließlich machen wir die Übung mit einem Feind. Wir denken darüber nach, wie furchtbar es wäre, wenn er oder sie diese Art des schrecklichen Leidens erleben müsste. Danach sollten wir an alle Lebewesen denken und die Geisteshaltung entwickeln, es nicht auszuhalten, wenn irgendjemand solche Leiden durchgehen müsste. Auf diese Weise entwickeln wir Mitgefühl, die Geisteshaltung, mit der wir uns wünschen, alle mögen frei von Leiden sein.  

Liebe

Nachdem wir Mitgefühl entwickelt haben, sollten wir über Liebe meditieren, die Geisteshaltung, mit der wir uns wünschen, alle mögen glücklich sein. Jeder will glücklich sein, aber die meisten Menschen wissen nicht, wie sie sich selbst glücklich machen können. Manche Menschen suchen in materiellen Annehmlichkeiten und Reichtum nach Glück, und wenn sie diese Dinge nicht erreicht haben und sich nichts leisten können, gehen sie vielleicht los und stehlen etwas, mit dem Gedanken, dies würde ihnen Glück bescheren. Tatsächlich führt das jedoch nur zu großen Problemen, Schwierigkeiten und Leiden. 

Menschen gehen sogar los und morden, um glücklich zu sein, oder versuchen sich Vorteile gegenüber anderen zu verschaffen, um selbst ein angenehmes Leben zu führen. Keine dieser Methoden kann jedoch wirklich zu Glück führen. Wir sollten versuchen, diese Geisteshaltung der Liebe zu entwickeln, mit der wir uns Glück für alle wünschen.  

Die vier Unermesslichen

An diesem Punkt in unserer Meditation können wir über die „vier unermesslichen Geisteshaltungen“ meditieren. Jede Unermessliche hat vier Schritte. Mit dem unermesslichen Mitgefühl verhält es sich beispielsweise folgendermaßen: 

  • Zunächst entwickeln wir die „unermessliche Absicht“ uns zu wünschen: „Wie wunderbar wäre es, wenn alle frei von Leiden sein könnten“.  
  • Mit dem „unermesslichen Streben“ denken wir dann: „Mögen sie von ihren Leiden getrennt sein“.  
  • Dann kommt der „unermessliche außergewöhnliche Entschluss“: „Möge ich dies selbst bewirken und sie von ihren Leiden trennen.“  
  • Als Letztes geht es um die „unermessliche Bitte“, mit der wir vor uns einen Buddha oder ein Objekt der Zuflucht visualisieren und die Bitte vorbringen, sie mögen uns inspirieren, dies tatsächlich zu tun und alle von ihren Leiden zu befreien.  

Auf diese Weise hat jede der Meditationen über die vier unermesslichen Geisteshaltungen vier Schritte.

Wir führen diesen Vorgang in vier Schritten mit der unermesslichen Liebe fort, indem wir denken: 

  • „Wie wunderbar wäre es, wenn alle glücklich wären.“ 
  • „Mögen sie glücklich sein.“ 
  • „Möge ich selbst in der Lage sein, ihr Glücklichsein zu bewirken.“
  • Darauf bitten wir die visualisierten Buddhas oder Gurus vor uns: „Bitte inspiriert mich, dazu in der Lage zu sein und ihnen Glück zu bringen.“   

Wir setzen die vierteilige Meditation mit der unermesslichen Freude fort. Hier freuen wir uns darüber, wie wunderbar es wäre, wenn niemand jemals mit Leiden konfrontiert werden und stets glücklich sein würde. Wir folgen dem gleichen Ablauf:

  • Zunächst wünschen wir uns im Sinne der unermesslichen Absicht: „Wie schön wäre es, wenn niemand jemals leiden müsste und alle immer glücklich wären.“  
  • Dann haben wir das unermessliche Streben: „Mögen das für alle zutreffen.“  
  • Wie zuvor wird dies von dem unermesslichen außergewöhnlichen Entschluss gefolgt: „Möge ich bewirken, dass sie niemals von Glück getrennt sind.“  
  • Und zuletzt haben wir wieder die unermessliche Bitte, mit der wir die Gurus ersuchen uns zu inspirieren, dies tun zu können.  

Der letzte Schritt ist der unermessliche Gleichmut, der Wunsch, alle mögen frei von Anhaftung, Abneigung und Voreingenommenheit werden. Wir beginnen wieder folgendermaßen: 

  • „Wie wunderbar wäre es, wenn alle frei von Anhaftung, Abneigung und Voreingenommenheit wären.“
  • Dann: „Mögen sie immer frei von Anhaftung, Abneigung und Voreingenommenheit sein. Mögen sie Gleichmut haben.“ 
  • „Möge ich bewirken, dass sie stets unvoreingenommen sind.“ 
  • Gefolgt wird dies von der Bitte an die Gurus und Buddhas uns zu inspirieren, dazu in der Lage zu sein.   

Auf deise Weise haben wir die vier unermesslichen Geisteshaltungen: 

  • Unermessliches Mitgefühl; 
  • unermessliche Liebe; 
  • unermessliche Freude; 
  • und unermesslichen Gleichmut.  

Auf diese Weise meditieren wir über diese vier Unermesslichen, indem wir jeden, wie gerade beschrieben, in vier Teile einteilen. Somit gibt es genau genommen 16 Teile in dieser Meditation.  

Geben und Nehmen, Tonglen

Wir sollten uns nicht nur damit befassen, dass alle frei von ihren Leiden sind, sondern können auch weitere Meditationen üben und aktiv darüber nachdenken, die Leiden anderer auf uns zu nehmen. Wir stellen uns andere in schwierigen Situationen vor, in denen sie großes Leid erfahren. Dann sollten wir visualisieren, wie all ihr Leiden durch ihr linkes Nasenloch ausströmt, zu uns kommt und wir das Leid für sie annehmen. 

Wir können dies mit unserem Atemvorgang verbinden. Wenn wir einatmen, sollten wir uns vorstellen, wie wir all ihr Leid durch unser rechtes Nasenloch aufnehmen und es in uns einströmt. Auf diese Weise befreien wir sie von ihren Leiden und nehmen sie auf uns. Wenn wir all ihr Leiden beseitigt haben und es mit unserer Einatmung aufgenommen haben, stellen wir uns vor, wie wir ihnen verschiedene Dinge mit unserer Ausatmung geben, um ihnen von Nutzen zu sein. 

Zunächst sollten wir uns vorstellen, wie wir ihnen eine kostbare menschliche Wiedergeburt als Arbeitsgrundlage dafür geben, praktizieren zu können. Wir sollten dann an all das positive Potenzial denken – all diese konstruktiven Wurzeln der konstruktiven Handlungen, die wir ausgeführt haben –, das dazu heranreifen würde, in der Zukunft eine kostbare menschliche Wiedergeburt zu haben, und stellen uns vor, wie all das durch unsere Nasenlöcher beim Ausatmen ausströmt und für diese anderen Wesen heranreift. 

Als nächstes sollten wir uns vorstellen, ihnen einen perfekten Wohnort zu geben, wo sie alles haben werden, was für ihre Dharma-Praxis förderlich ist. Wiederum sollten wir uns gedanklich auf die Wurzeln der konstruktiven Handlungen beziehen, die wir selbst ausgeführt haben und die dazu heranreifen würden, einen perfekten Wohnort zu haben. Wir stellen uns vor, dass wir diese Dinge aussenden und den anderen Wesen geben, damit sie für sie heranreifen. Wir sollten uns auch vorstellen, all die Möglichkeiten und Objekte an die Orte zu senden, an denen sie leben, die förderlich für ihre Praxis sein werden. 

Als nächstes sollten wir uns in unserer Visualisierung vorstellen, ihnen unsere Dharma-Lehrer und all deren Lehren über die verschiedenen Praktiken zu schicken. Wir stellen uns vor, dass all die Wurzeln von unseren konstruktiven Handlungen, die in uns zu unseren eigenen Verwirklichungen der Entsagung, einer erleuchtenden Bodhichitta-Motivation, der Leerheit und allen anderen Dharma-Themen heranreifen würden, in all diesen anderen Wesen heranreifen, damit sie diese Verwirklichungen machen können. Kurzum sollten wir uns wünschen und üben, dass die Leiden aller in uns heranreifen und all unser Glück und alle guten Dingen in ihnen zur Reife kommen.  

Der große Lama Kalu Rinpoche beschrieb einen alten Mann aus dem Gebiet von Kham, von dem er stammte, der diese Praxis-Form für jemanden ausführte, der eine schlimme Wunde am Kopf hatte und schwer krank war. Er führte diese Praxis aus und wünschte sich: „Möge diese Krankheit mich befallen“ und war tatsächlich in der Lage, diese Krankheit auf sich zu nehmen und die andere Person zu heilen.  

Wir haben also die Geisteshaltung des Mitgefühls, den Wunsch, alle mögen frei von ihren Leiden sein; die Geisteshaltung der Liebe, mit der wir uns wünschen, alle mögen glücklich sein; und zusätzlich dazu den außergewöhnlichen Entschluss: „Ich werde es auf mich selbst nehmen, ihr Glück zu bewirken und sie von ihren Leiden zu befreien.“ Denken wir darüber nach, wer die Fähigkeit hat, dies zu tun: allen Glück zu bringen und sie von Leiden zu befreien, so können wir sehen, dass wir selbst momentan nicht über diese Fähigkeit verfügen und nur ein Buddha sie hat. Aus diesem Grund sollten wir den starken Wunsch entwickeln: „Ich muss selbst den erleuchteten Zustand eines Buddhas erlangen, um tatsächlich dazu in der Lage zu sein.“ Solch eine Geisteshaltung oder so ein Motiv wird als die „erleuchtende Bodhichitta-Motivation“ bezeichnet.  

Die erleuchtende Bodhichitta-Motivation 

Es gibt zwei Dinge, die mit der Entwicklung dieser erleuchtenden Bodhichitta-Motivation verbunden sind: 

  • die Absicht, allen Lebewesen zu nutzen; 
  • und um dies tun zu können, die Absicht daran zu arbeiten, den erleuchteten Zustand eines Buddhas zu erlangen.  

Sich nur zu wünschen, den erleuchteten Zustand eines Buddhas zu erlangen, ist für Bodhichitta nicht genug. Bodhichitta muss mit der Absicht verbunden sein, mit der wir uns wünschen Erleuchtung zu erlangen, um allen Wesen nutzen zu können. 

Dann richten wir unsere Geisteshaltungen der Liebe und des Mitgefühls auf alle Wesen, mit der Bodhichitta-Absicht, sie durch unser Erlangen der Erleuchtung von Leiden zu befreien und glücklich zu machen. Der Aspekt, um den es bei diesem Geisteszustand bezüglich des Mitgefühls geht, ist der Wunsch, andere mögen frei von Leiden sein. Weil der Geist darauf abzielt, alle Lebewesen als sein Objekt zu nehmen, ist der Nutzen des Entwickelns solch einer Geisteshaltung so groß, wie die unbegrenzte Anzahl der Wesen, die es gibt. 

Wird die Praxis so ausgeführt, sind die positiven Eigenschaften des Entwickelns dieser Geisteshaltung äußerst weitreichend. Entwickeln wir diesen Wunsch in Bezug auf ein anderes Wesen – möge diese Person frei von ihren Kopfschmerzen sein – so ist dies ausgesprochen nützlich. Beziehen wir uns jedoch gedanklich nicht nur auf ein anderes Wesen, sondern auf alle Wesen, ist es noch viel mächtiger und nützlicher. 

Die Stufe des Versprechens des anstrebenden Bodhichittas 

Atisha fährt fort:

(11) Erzeuge dann, verbunden mit dem Wunsch, alle umherwandernden Wesen mögen von den Erfahrungen des Schmerzes, von Leiden und von den Ursachen des Leidens frei sein, das Bodhichitta des Versprechens, mit dem du niemals wieder umkehren wirst.

Bei allem, worüber wir bis jetzt gesprochen haben, ging es um die so genannte „Stufe des anstrebenden Bodhichittas“. Haben wir diese bloße Wunschebene des anstrebenden Bodhichittas entwickelt, ist es notwendig, sie weiter zu vertiefen, indem wir sie immer wieder erzeugen. Ebenfalls sollten wir die Geisteshaltung haben: „Ich werde diese erleuchtende Bodhichitta-Motivation, diese Absicht Erleuchtung zum Wohle anderer zu erlangen, niemals aufgeben. Ich werde sie nicht aufgeben, bis ich tatsächlich Erleuchtung erlangt habe.“ 

Das ist die Stufe des Versprechens des anstrebenden Bodhichittas, auf der wir versprechen und uns verpflichten, diesen Bodhichitta-Geist zu beschützen und ihn nicht aufzugeben, bis wir tatsächlich Erleuchtung erlangt haben. 

Das ist die Bedeutung, wenn es im Text heißt: erzeuge das Bodhichitta des Versprechens, mit dem du niemals wieder umkehren wirst.

Die Vorteile des Entwickelns von Bodhichitta 

Die Entwicklung von Bodhichitta hat viele große Vorzüge und Atisha erwähnt dies hier im Text: 

(12) Die Vorzüge, die sich daraus ergeben, eine solche anstrebende Geisteshaltung zu entwickeln, wurden von Maitreya ausführlich in seinem Werk „Das Sutra, das sich wie ein Baumstamm ausbreitet“ erläutert worden. 

Das „Sutra, das sich wie ein Baumstamm ausbreitet“ (tib. sDong-po bkod-pa’i mdo, Skt. Gandavyuka Sutra) beschreibt die Vorzüge des Entwickelns von Bodhichitta an mehr als 200 Beispielen. Im „Kompendium von Schulungen“ (tib. bSlab-btus, Skt. Shikshasamucchaya), beschreibt Shantideva an 16 Beispielen oder Analogien die Vorzüge des Entwickelns dieser erleuchtenden Bodhichitta-Motivation. Würden wir anfangen, all die Vorzüge aufzuzählen, gäbe es kein Ende; befragt also in der Zukunft viele gute Geshes dazu und lernt etwas darüber, da es für die Praxis eines jeden von großem Vorteil wäre.  

Atisha bezieht sich auf diesen Punkt wie folgt:   

(13) Wenn du dieses Sutra gelesen oder von deinem Guru etwas darüber gehört hast, und dir der grenzenlosen Vorteile des vollständigen Bodhichittas bewusst geworden bist, entwickle diese Geisteshaltung immer wieder, um sie stabil zu machen.

Dies bezieht sich auf den Punkt, dass wir immer wieder über die erleuchtende Motivation meditieren sollten. Solche eine erleuchtende Motivation in unserem geistigen Kontinuum zu entwickeln, bringt Vorzüge, die kein Ende haben; sie sind endlos, unergründlich. 

Ein Beispiel dieser Vorzüge, welches wir kurz anführen können, wäre: Wenn solch eine Motivation eine physische Form hätte, so wäre der Raum des gesamten Universums nicht groß genug, um sie zu umfassen. Sie wäre zu groß, um im Universum Platz zu haben und würde dieses Maß überschreiten. 

Ein anderes Beispiel ist, sich so viele Buddhas wie Sandkörner auf dem Grund und an den Stränden aller Ozeane vorzustellen. Würden wir jedem dieser Buddhas Opfergaben mit kostbaren Juwelen darbringen, die ganze Universen füllten, könnte sich das positive Potenzial, das daraus entstünde, sich nicht mit dem positiven Potenzial messen, welches wir durch das Entwickeln der erleuchtenden Bodhichitta-Motivation bekämen. 

Im Text heißt es:

(14) Die positiv Kraft (des Bodhichittas) wird ausführlich im „Sutra, das von Viradatta erbeten wurde" dargestellt. Da sie dort lediglich in drei Versen zusammengefasst ist, möchte ich diese hier zitieren: 
(15) „Wenn die positive Kraft von Bodhichitta eine Form besäße, würde sie den gesamten Raum vollständig ausfüllen, und sogar darüber hinausgehen.
(16) Selbst wenn jemand die Buddha-Felder, deren Anzahl den Sandkörnern am Ganges gleicht, mit Juwelen vollständig füllen und sie den Beschützern der Welt darbringen würde,
(17) so wäre doch die Gabe von jemandem, der seine Handflächen aneinanderlegt und seinen Geist auf Bodhichitta ausrichtet, wesentlich edelherziger; sie wäre endlos.“

Darüber hinaus ist es äußerst wichtig, solch eine erleuchtende Motivation, wenn wir sie erst einmal entwickelt haben, auszuweiten und anwachsen zu lassen. Dafür müssen wir noch viel mehr positives Potenzial schaffen, was wir mit den vier Schulungen tun, damit unsere Entwicklung von Bodhichitta in diesem Leben nicht nachlässt. 

  • Um unsere Bodhichitta-Motivation zu vertiefen, erinnern wir uns erstens an die Vorzüge solch einer Geisteshaltung. 
  • Zweitens bekräftigen wir unsere Entwicklung dieser Motivation, indem wir sie jeden Morgen und jeden Abend dreimal hervorbringen.  
  • Drittens sollten wir den Drei Juwelen so viele Opfergaben wie möglich darbringen. Dabei kann es sich um das Darbringen eines einzelnen Glases mit Wasser, wie beim Opfern von Wasserschalen, handeln, dem Darbringen eines Räucherstäbchens oder sogar einer einzigen Blume. Wir können auch unseren Eltern, verschiedenen Mitgliedern der monastischen Gemeinschaft, des Sangha, Opfergaben darbringen und ihnen Speisen, Getränke oder ähnliches anbieten. Auch das ist ungemein hilfreich. Außerdem ist es von Nutzen, den unsichtbaren Wesen, die sich um uns befinden, Gaben in der Form von Keksstückchen und ähnlichem darzubringen. Wir sollten auch den Armen und Bedürftigen helfen, sowie jenen, die krank sind. Sogar Zucker für die Ameisen auf den Boden zu streuen ist enorm hilfreich.  
  • Der vierte Punkt ist, dass wir bei niemandem die Hoffnung aufgeben sollten. Wir sollten nicht zu dem Entschluss kommen, uns um irgendein Wesen nicht mehr zu kümmern und es aufzugeben.  

Diese vier sind die Schulungen, auf die sich Atisha im nächsten Vers bezieht: 

(18) Nachdem man die Stufen des anstrebenden Bodhichittas entwickelt hat, sollte man sie ständig durch zahlreiche Bemühungen vertiefen; und um sie sich in diesem und in anderen Leben stets zu vergegenwärtigen, gilt es, auch die Übungen, die in den Texten erklärt werden, sorgfältig zu wahren.

Der fünfte Ratschlag ist, dass wir uns von den vier Arten des trüben Verhaltens lösen sollten, um unsere Bodhichitta-Motivation und Ausrichtung in zukünftigen Leben nicht zu verlieren.

  • Die erste dieser trüben – wörtlich „schwarzen“ – Handlungen wäre, unsere Eltern, Lehrer, spirituellen Meister oder Gurus mit Absicht zu verwirren oder zu täuschen.  
  • Die Zweite ist, anderweitige Motivationen als die erleuchtende Bodhichitta-Motivation zu haben. Hier geht es mit anderen Worten darum, andere Motivationen als den außergewöhnlichen Entschluss zu haben und gegenüber anderen überheblich und trügerisch zu sein.  
  • Die Dritte ist, andere dazu zu bringen, die konstruktiven Handlungen, die sie ausgeführt haben, zu bereuen.
  • Und die Vierte ist, einen Bodhisattva zu kritisieren oder schlechte Dinge über ihn zu sagen.   

Die Gegenmittel dafür sind ihre Gegensätze, die vier strahlenden – wörtlich „weißen“ – Handlungen. 

  • Was die Erste betrifft, so sollten wir niemals unsere Eltern, Lehrer und spirituellen Meister täuschen, verwirren oder belügen.  
  • Die Zweite ist, niemals überheblich oder trügerisch gegenüber anderen zu sein, sondern vielmehr zu versuchen, alle stets als unsere Lehrer zu sehen.  
  • Das Gegenteil davon, andere dazu zu bringen, ihre konstruktiven Handlungen, die sie ausgeführt haben, zu bereuen, besteht darin zu versuchen, sie auf den Weg zu führen, Liebe, Mitgefühl und die erleuchtende Bodhichitta-Motivation zu entwickeln.  
  • Die Vierte ist, alle in einer reinen Erscheinung zu sehen. Anders ausgedrückt sollten wir andere niemals kritisieren oder schlechte Dinge über sie sagen.  

Wenn wir diesem Rat und dieser Art der Schulung folgen, wird unsere Entwicklung dieser erleuchtenden Bodhichitta-Motivation nicht nur in diesem, sondern auch in zukünftigen Leben nicht abnehmen. 

Die Stufe des ausübenden Bodhichittas 

Es ist nicht genug, einfach über die Stufe des anstrebenden Bodhichittas zu verfügen. Wir müssen auch die so genannte „Stufe des ausübenden Bodhichittas“ haben, auf der wir tatsächlich die Übungen ausführen, die uns zur Erleuchtung führen werden. Was wir bisher beschrieben haben, ist lediglich die Stufe des anstrebenden Bodhichittas.  

Was ist nun diese Stufe des ausübenden Bodhichittas? Es ist die Geisteshaltung, dass es nicht genügt, lediglich den Wunsch zu haben, die erleuchtete Ebene eines Buddhas zu erlangen, um anderen nützen zu können. Vielmehr denken wir: „Ich muss die Übungen tatsächlich ausführen, die mich auf diese Ebene bringen.“ Hierbei handelt es sich vor allem um die Praxis der sechs weitreichenden Geisteshaltungen – die sechs Paramitas oder die sechs Vollkommenheiten. Sich mit diesen Praktiken zu befassen, nennt man die „Stufe des ausübenden Bodhichittas“. 

Würden wir beispielsweise darüber nachdenken, nach Indien zu reisen, wären all unsere Gedanken und Absichten im Hinblick auf dieses Ziel vergleichbar mit der Stufe des anstrebenden Bodhichitta. Sich jedoch nur zu wünschen oder anzustreben, nach Indien zu reisen, reicht nicht aus, um auch dort anzukommen. Was wir tun müssen, ist, uns um die Tickets und das Visa zu kümmern, Reisevorbereitungen zu treffen usw. All diese verschiedenen Aktivitäten auszuführen, wäre vergleichbar mit der Stufe des ausübenden Bodhichitta.   

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