Gleichmut gegenüber Aspekten von Körper und Persönlichkeit

Rückblick

Wir sind die verschiedenen Stadien der Entwicklung von Gleichmut durchgegangen, und zwar Gleichmut insbesondere uns selbst gegenüber. Das ist eine Art von Gleichmut, mit der wir eine ausgewogene Einstellung gegenüber uns selbst haben: frei von Abneigung (einer negativen Einstellung), frei von Anhaften (Überbetonung unserer selbst) und frei von törichter Einstellung (Naivität, indem wir uns selbst ignorieren). Wir haben uns unsere Einstellung gegenüber uns selbst im Zusammenhang mit verschiedenen Ereignissen angeschaut, in Bezug darauf, was wir in unserem Leben getan haben oder was uns widerfahren ist, und dann in Zusammenhang damit, wie wir uns selbst betrachtet haben und wie wir mit uns umgegangen sind. Die letzte Variante, die ich erkunden möchte, steht im Zusammenhang mit verschiedenen Aspekten unseres Körpers und unserer Persönlichkeit.

Gleichmut in Bezug auf verschiedene Aspekte unseres Körpers und unserer Persönlichkeit entwickeln

Für die meisten von uns gibt es wohl bestimmte Aspekte, die wir an uns nicht mögen, eventuell sogar hassen. Ich glaube, im Englischen verwenden wir das Wort „hassen“ etwas lockerer als hier in Russland. Auf Englisch kann man sagen: „Ich hasse meine Füße; sie sind hässlich.“ Auf Russisch klingt das vielleicht etwas seltsam. Jedenfalls kann es sein, dass uns etwas an unserem Körper wirklich missfällt bzw. dass wir es hassen, zum Beispiel dass wir klein oder dick sind oder bestimmte Teile unseres Körpers unproportioniert sind.

Es mag auch Aspekte unserer Persönlichkeit geben, die wir an uns nicht recht mögen, zum Beispiel, dass wir schüchtern sind. Natürlich ist es normal und gesund, Mängel beheben zu wollen, aber hier ist die Rede davon, aufgrund von etwas, das wir für einen Persönlichkeitsdefekt halten, eine wirklich sehr negative Haltung uns selbst gegenüber einzunehmen.

Es gibt auch Aspekte an uns, die uns sehr gefallen und an denen wir hängen. Das könnte unser gutes Aussehen sein oder unsere Intelligenz. Und es gibt andere Aspekte an uns, die wir ignorieren und gar nicht für bedeutsam halten, zum Beispiel, dass es uns leichtfällt, uns mit jemandem zu unterhalten.

Lasst uns versuchen, gegenüber all diesen Aspekten unseres Körpers und unserer Persönlichkeit Gleichmut zu erlangen.

An Aspekte denken, die wir nicht mögen

Denkt zuerst an Aspekte von euch, die ihr nicht mögt oder, stärker noch, die ihr als richtig schlimm empfindet. „Ich bin schwach; ich bin nicht stark genug“, „Ich bin zu dick“, „Ich bin jähzornig“, „Ich bin nicht gerade intelligent“, „Ich bin faul“ – oder was immer es sein mag. Wir denken vor allem an Dinge, für die wir uns niedermachen, aufgrund derer wir uns schlecht fühlen. Und behaltet im Sinn, dass man, wie gesagt, durchaus eine gesunde Haltung einnehmen kann, um Unzulänglichkeiten zu beheben. Das ist etwas anderes.

Wir überlegen: „Warum empfinde ich mich aufgrund dieser Unzulänglichkeiten so negativ?“ Wohlgemerkt, bei manchen dieser Unzulänglichkeiten kann es sich um tatsächliche Defizite oder auch um eingebildete Mängel handeln. Aber auf jeden Fall übertreiben wir ihre Wichtigkeit, nicht wahr?

Wir denken nun: „Jeder hat Schwachpunkte. Aber jeder hat auch Stärken. Ich habe ein paar Stärken. Es ist nicht so, dass alles an mir schrecklich ist. Wenn man genau darüber nachdenkt, wird klar, dass eigentlich nur ein Buddha ausschließlich gute Eigenschaften hat. Jeder andere hat ein paar Schwachpunkte – was erwarte ich also von mir? Und jeder hat auch ein paar Stärken. Es gibt niemanden, der überhaupt keine Pluspunkte hat. Es ist also kein Drama, dass ich Schwachpunkte habe, das ist nichts Besonderes. Folglich werde ich mich bloß wegen dieser schwachen Eigenschaften nicht niedermachen oder hassen. Ich werde ihnen gegenüber eine ausgewogene Haltung einnehmen und so gut wie möglich daran arbeiten, sie zu verbessern. Aber ich bin nicht grundsätzlich ein schlechter Mensch, bloß weil ich nicht sonderlich gut Fußball spielen kann“ – oder was auch immer der Schwachpunkt sein mag. Eigentlich ist das eine ziemlich absurde Vorstellung, wenn man mal darüber nachdenkt – es ist doch lächerlich zu denken: „Ich bin ein schlechter Mensch, weil ich nicht gut in Mathematik bin“.

Dann versuchen wir, diese Schwachpunkte an uns mit Gleichmut zu betrachten, ohne ihretwegen ein so schlechtes oder negatives Gefühl zu haben. Auf dieser Grundlage können wir diesen Unzulänglichkeiten gegenüber objektiver sein, ohne sie zu übertreiben, sie nicht wahrhaben zu wollen oder zu bagatellisieren.

„Das sind die Punkte, an denen ich arbeiten muss. Jeder hat ein paar Punkte, die verbesserungsbedürftig sind; und dies sind zur Zeit also meine. In einer anderen Phase meines Lebens mag das anders sein.“

[Pause zum Üben]

An Aspekte denken, an denen wir hängen

Nun denken wir an Aspekte, die uns an uns sehr gefallen, Aspekte, an denen wir sehr hängen und die uns veranlassen zu denken, dass wir einfach großartig sind – falls wir solche an uns erkennen können.

Manche Menschen stecken so tief in ihrem niedrigen Selbstwertgefühl, dass sie nicht einmal irgendwelche guten Eigenschaften erkennen, die sie haben, geschweige denn das Gefühl hätten, deshalb „bin ich eben wunderbar“. Wenn das bei uns der Fall ist, müssen wir versuchen, objektiver zu sein. Je mehr wir an dem ersten Schritt arbeiten, nämlich unsere Schwachpunkte nicht zu übertreiben, und erkennen, dass niemanden nur aus Unzulänglichkeiten besteht – jeder hat Schwachpunkte! -, mit anderen Worten, je mehr wir imstande sind, unseren Schwachpunkten gegenüber Gleichmut zu entwickeln, umso leichter wird es sein, die Stärken, die wir haben, anzuerkennen.

Sobald wir einige unserer Stärken identifizieren, untersuchen wir die Einstellung, die wir ihnen gegenüber haben. Bilden wir uns etwas darauf ein? „Sich etwas einbilden“ heißt hier, dass wir uns deshalb für schlichtweg wundervoll halten. „Ich bin besser als alle anderen.“ Das kann sich auf gutes Aussehen beziehen, oder darauf, dass wir so eine tolle, mitfühlende, liebevolle Person sind. Es kann sich auf unsere finanzielle Situation beziehen – auf alles, worauf wir uns etwas einbilden.

Aber wenn wir es uns genau überlegen, merken wir, dass wir natürlich auch Schwächen haben. Was also ist so besonders an den guten Eigenschaften? Was macht sie realer als die Schwachpunkte? Daher beschließen wir, dass wir nicht so arrogant sein und uns auf diese Stärken oder guten Eigenschaften an uns etwas einbilden werden: „Sie sind keine große Besonderheit; ich akzeptiere sie einfach.“

[Pause zum Üben]

So, wie wir unsere Schwächen als das akzeptieren, woran wir arbeiten müssen, so akzeptieren wir unsere Stärken als etwas, das wir einsetzen können, Fähigkeiten, die wir zum Einsatz bringen können, um die Unzulänglichkeiten zu überwinden und zu verbessern. Statt aufgrund dieser Stärken das Gefühl zu haben: „Ich bin durch und durch super“, verwendet sie einfach. Wir setzen sie dafür ein, uns weiterzuentwickeln. Wir nutzen sie, um anderen zu helfen. Wozu sind diese positiven Eigenschaften gut, wenn wir sie nicht auf förderliche Weise zur Anwendung bringen, ohne jedoch deshalb zu denken: „Was bin ich doch für ein wunderbarer Mensch!“

An Aspekte denken, die wir ignorieren

Das Dritte, worauf wir uns konzentrieren, sind Aspekte an uns, die wir zu ignorieren neigen, die wir meist vergessen, weil wir sie eigentlich nicht für bedeutsam halten, was immer sie sein mögen. „Ich bin gut darin, mein Haus in Ordnung zu halten. Ich halte es sauber und gut in Schuss.“ Wir denken vielleicht, das wäre etwas Geringfügiges („na und – was ist das schon?“). Oder: „Ich bin ein guter Autofahrer.“ Oder: „Ich bin sehr begeisterungsfähig, ich habe eine Menge Elan.“

Wenn wir anfangen, uns selbst im Hinblick auf all die verschiedenen Qualitäten und Aspekte zu erkunden, die wir haben, kann es hilfreich sein, eine Liste aufzustellen: „Was sind meine Stärken? Was sind meine Schwachpunkte? Welches sind die Punkte an mir, die ich eigentlich nie als bedeutsam ansehe?“ Verschafft euch einen Überblick. Schreibt die Punkte auf. Das kann sehr interessant sein. „Ich bin sehr sorgfältig.“ Oder: „Ich bin sehr höflich.“ Das sind Punkte, die wir möglicherweise bagatellisieren.

Bei diesen Dingen, die wir zu ignorieren neigen oder für unbedeutend halten, muss es sich nicht unbedingt um gute Eigenschaften handeln; es können auch Nachteile sein. „Ich esse immer zu schnell. Das bewirkt, dass die anderen am Tisch sich unwohl fühlen, weil ich immer viel früher fertig bin als sie.“ Oder: „Ich esse immer zu langsam. Alle anderen sind schon fertig und ich stochere immer noch in meinem Essen herum. Alle sind schon ziemlich ungeduldig und langweilen sich, weil sie es unhöflich finden, vom Tisch aufzustehen, und alle müssen auf mich warten: ‚Nun komm schon, iss endlich fertig.“ Manche Leute legen tatsächlich beim Essen zwischendurch ihre Gabel oder ihren Löffel nieder, und man denkt: „Ach du liebe Güte, wann nehmen die jetzt ihr Besteck wieder auf und essen endlich weiter?“ Vielleicht verhalten wir uns auch so. Wir sind uns nicht einmal dessen bewusst, dass das misslich für die anderen ist, die mit uns am Tisch sitzen. Wenn wir alleine essen, ist es egal, wie schnell oder langsam wir essen; ich spreche hier von Situationen, in denen man mit anderen zusammen zu Tisch sitzt.

Das sind Kleinigkeiten, aber manchmal sind sie im Zusammenhang mit anderen nicht unerheblich, während wir selbst sie ignorieren. Mir fallen ziemlich viele Beispiele ein, die wir meist gar nicht in Betracht ziehen. Ich denke zum Beispiel an Leute, die nicht laut genug sprechen. Wenn man nicht laut genug spricht, nehmen andere einen nicht richtig ernst. Sie können dann nicht recht hören, was man eigentlich sagt, und machen sich gar nicht erst die Mühe, darauf zu achtzugeben. Und es gibt natürlich auch Leute, die zu laut reden.

Nun überlegen wir: „Warum ignoriere ich diese Aspekte? Warum meine ich, dass sie nicht auch ein Teil von mir sind? Sie sind genauso Aspekte von mir wie diejenigen, die ich zur Kenntnis nehme – die Stärken und die Schwachpunkte -; es gibt also keinen Grund, sie zu ignorieren.

[Pause zum Üben]

An Beispiele aller drei Aspekte denken

Am Ende müssen wir uns all diese Aspekte unserer selbst vor Augen führen – unsere Persönlichkeit, unseren Körper, unsere Gewohnheiten usw. – und dem Ganzen gegenüber ein objektives Gefühl entwickeln, ohne uns von einigen Aspekten abgestoßen, von anderen angezogen zu fühlen und noch andere zu ignorieren. Wir tun das, indem wir repräsentative Beispiele auswählen: einen Punkt, den wir als wirklich schlimm empfinden, einen, den wir großartig finden, und einen, den wir zu ignorieren neigen. Dann schauen wir uns diese drei Aspekte an und versuchen, sie ohne Abneigung, Anziehung oder Gleichgültigkeit zu betrachten. Seid einfach allen dreien gegenüber offen.

[Pause zum Üben]

Wir versuchen, diese drei Qualitäten von uns mit Gleichmut, mit einem ruhigen Geist und mit der gleichen Haltung allen dreien gegenüber zu betrachten. Wir nehmen uns selbst gegenüber eine akzeptierende Haltung ein. Auf dieser Grundlage finden wir das konventionelle „Ich“. Das heißt nicht, dass wir selbstgefällig sind und nichts tun, um an uns zu arbeiten. Wir akzeptieren, wie gesagt, dass dies tatsächlich das ist, woran wir zu arbeiten haben und womit wir zu arbeiten haben, aber ohne die Vorstellung, dass es irgendwo da oben eine Macht gäbe, die uns diese Karten zugeteilt hat – wie in einem Kartenspiel – und dass das Karten wären, mit denen wir nun das Spiel durchstehen müssten. Damit würden wir unser Leben zu einem bizarren Schicksal machen – in dem uns Karten zugeteilt werden, in dem jemand anders das Spiel bestimmt und das Leben bloß ein Spiel ist. So ist es nicht. „Ich habe schlechte Karten ausgeteilt bekommen, aber ich werde trotzdem versuchen, damit zu gewinnen“ – ich muss sagen, das ist eine ziemlich verschrobene Art, das Leben zu betrachten. Damit schiebt man die Verantwortung dafür jemand anderem zu. Wir müssen nicht eine komplette Geschichte daraus machen – dass wir ein Spiel spielen, mit jemandem, der die Karten austeilt usw. Vielmehr ist es ganz einfach: „Das ist die Wirklichkeit. Das ist es, was ich habe.“

Das Problem in dieser Analogie vom Kartenspiel ist, dass man sich einerseits vorstellt, „ich“ wäre eine separate Entität und all die Aspekte meines Lebens wären Karten, getrennt von mir, und noch wieder etwas anderes – eine höhere Macht oder ein unpersönliches Schicksal – hätte mir diese Karten zugeteilt. Das ist eine sehr befremdliche Art, unser Leben zu betrachten. Wenn wir dieser Ansicht sind und dem buddhistischen Weg folgen, haben wir insofern ein großes Problem, als wir völlig verdrehen, was unter Entsagung zu verstehen ist, denn wir verstehen sie dann so, als würde da ein wahres, festes „Ich“ sagen: „Ich will dieses Spiel nicht mehr spielen. Es ist dumm“ – so, als könnten wir die Karten hinwerfen und immer noch ein festes „Ich“ sein und die Einstellung beibehalten „Ich bin großartig, und ich muss dieses dumme Spiel jetzt nicht mehr mitspielen“. Dann ist die Ursache des Problems immer noch da, eben diese Vorstellung vom falschen „Ich“, das nun unabhängig von einem blöden Kartenspiel ist.

Nun wollen wir uns rückbesinnen und versuchen, all diese verschiedenen Aspekte zu betrachten - nicht als etwas von uns Verschiedenes, nicht wie eine Handvoll Karten, sondern mit dem Verständnis, dass das, was „ich“ bedeutet, auf all diesen Aspekten beruht. Und was ich hier zudem für sehr wichtig halte, ist, diese verschiedenen Aspekte unserer selbst – die Basis für die Bezeichnung „ich“ – nicht als fragmentierte Einzelteile zu betrachten, so als wäre jedes einzeln in Plastik verpackt oder wie in einem Malbuch mit einer dicken festen Linie umgeben, sodass man die eine Fläche grün und eine andere gelb ausmalen kann. Wenn wir diese Einstellung gegenüber den verschiedenen Aspekten unserer Persönlichkeit haben, bekommen wir wirklich Probleme im Sinne einer gespaltenen Persönlichkeit und damit, dass die Teile überhaupt nicht integriert sind. Was erforderlich ist, ist zu erkennen, dass all diese verschiedenen Aspekte miteinander in Wechselwirkung stehen. Wir sind etwas Ganzheitliches. Wir bestehen nicht aus solchen getrennten Bruchstücken oder kleinen Einzelteilen wie in einem Malbuch und zusätzlich einem „ich“, das getrennt vom Malbuch existiert.

[Pause zum Üben]

Diese bildlichen Vorstellungen und Analogien sind vielleicht nicht völlig exakt, aber sie sind recht hilfreich, um uns darauf zu besinnen, dass es töricht ist, wenn wir uns so verhalten, als hätten wir Karten in der Hand und würden ein Spiel spielen oder als hätten wir ein Malbuch vor uns. In der buddhistischen Terminologie würden wir sagen, dass wir zwar verschiedene Aspekte unserer selbst begrifflich auseinanderhalten können – das ist ein begrifflicher Vorgang –, aber in Wirklichkeit hängt alles miteinander zusammen. Das ist tatsächlich sehr tiefgründig, wenn wir darüber gründlich nachdenken und es verstehen.

Abschließende Übung zum Gleichmut

Am Ende dieses ersten Schrittes – der den Gleichmut betrifft  und der vermutlich der längste Schritt ist, denn er besteht aus den meisten Teilen – kommen wir zu folgendem Schluss: Wir haben eine sehr breite Basis für die Zuschreibung des konventionellen „Ich“. Wir haben all die verschiedenen Ereignisse und Dinge, die wir in unserem Leben getan haben bzw. die uns widerfahren sind: mal Misserfolge, mal Erfolge, mal Fehler, manchmal haben wir unsere Sache gut gemacht und manchmal ist nichts Besonderes passiert. Wir haben eine Menge verschiedener Phasen erlebt, in denen wir glücklich oder unglücklich waren. Wir haben uns in ganz unterschiedlichen Stimmungen befunden. Und wir haben verschiedene Aspekte unserer selbst – unserer Persönlichkeit, unseres Körpers – alles Mögliche, was unser Leben ausmacht. All dem wird die Bezeichnung „ich“ zugeschrieben. All das ist die Basis für die Bezeichnung „ich“. Und all das steht in gegenseitiger Wechselbeziehung. Dabei haben wir noch nicht einmal all die anderen Dinge in Betracht gezogen, die auch daran beteiligt sind: unsere Beziehungen zu anderen Menschen usw. Aber all das ist jedenfalls die Basis für die Bezeichnung „ich“, die sich von Augenblick zu Augenblick ändert. Wir können nicht Aspekte unseres Lebens herausgreifen und auswählen und sie dann für „mich“ halten, und andere rauswerfen. Etwa: „Das hier gefällt mir außerordentlich; das da mag ich ganz und gar nicht; und jenes ist unwichtig“ – so, als würden wir Gemüse kaufen: Man schaut sich ein Haufen Kohlköpfe an, entscheidet: „Dieser ist nicht gut“, und wirft ihn weg. Und dieser hier, „oh, der sieht wirklich gut aus“, den nehmen wir. Und die anderen würdigen wir keines Blickes.

Lasst uns also versuchen, all diese Aspekte unseres Lebens mit Gleichmut zu betrachten: Wir lassen uns weder davon anziehen noch abstoßen noch ignorieren wir sie – nicht wie auf dem Gemüsemarkt. Das bedeutet, dass wir ruhig, offen, im Frieden mit uns bleiben und sie alle akzeptieren; und das ist dann die Basis dafür, mit all dem etwas Konstruktives anzufangen. Es ist nicht die Basis dafür, sich einfach zurückzulehnen und untätig zu bleiben.

[Pause zum Üben]

Wichtig ist – obwohl das vermutlich ein etwas weitergehender Schritt ist –, das Gefühl der Dualität zu überwinden, etwa dass „ich“ im Frieden mit „mir“ bin, dass „ich“ „mich“ akzeptiere, so als wären da zwei „ich“. Wenn wir allzu sehr in einem unglücklichen Geisteszustand versunken sind, mag es zwar einen gewissen Nutzen haben, vorübergehend auf diese dualistische Weise zu denken, um mit solchen Problemen umzugehen; aber letztlich müssen wir diese dualistische Art, in der wir an uns denken, überwinden und sozusagen nur im Sinne des konventionellen „Ich“ und der Basis für das konventionellen „Ich“ mit uns im Frieden sein. „Ich“ ist die Bezeichnung, die dieser Basis zugeschrieben wird. Es ist nichts, was davon getrennt wäre. Es gibt kein „Ich“, das getrennt von meinem Leben ist, oder? Allerdings fühlt es sich manchmal so an, nicht wahr? „Mein Leben gefällt mir nicht“ – als wäre da ein „Ich“, das verschieden von meinem Leben ist. Das ist schwer zu verstehen. Aber wenn wir zumindest schon einmal das Gefühl bekommen: „Das ist doch ziemlich seltsam, zu denken, es gäbe ein „Ich“, das verschieden von meinem Leben ist“, dann beginnen wir uns in die richtige Richtung zu bewegen und einem korrekten Verständnis anzunähern.

Ein ähnlicher Irrtum tritt auf, wenn wir das Gefühl haben: „Mein Leben ist außer Kontrolle geraten“, so als gäbe es ein „Ich“, das von diesem Leben verschieden ist und es unter seine Kontrolle bringen könnte. Das ist auch eine ziemlich seltsame Vorstellung. Es gibt nur all die aufeinander folgenden Ereignisse, eines nach dem andern, und auf dieser Basis „mich“. Aber nicht etwas, das davon getrennt wäre und sich von Feld zu Feld bewegt, wie in einem Brettspiel für Kinder, indem man würfelt und dann eine kleine Figur ein paar Schritte weiterbewegt. Ich bitte euch – so ist das Leben doch nicht! Bitte denkt darüber nach.

[Pause zum Üben]

Fragen

Kommen wir jetzt zu den Fragen. Es ist besser, nicht zu schnell mit diesen Übungen vorzugehen, weil dabei eine Menge Emotionen und Reaktionen auftreten können. Deshalb ist es gut, nicht zu viel auf einmal in einer Sitzung unterbringen zu wollen.

Rücksicht auf andere nehmen

Mir scheint, dass in dem Beispiel mit dem Essen ein heikler Punkt angesprochen wurde, Es mag sein, dass manchen Leuten die, wie ich esse, nicht behagt, aber ich kann dabei doch nicht die Wünsche anderer zufriedenstellen. Wenn ich aber denke, dass ich anderen nicht auf die Nerven gehen sollte, ist es dann nicht besser, gar nicht erst mit ihnen essen zu gehen? Was bedeutet es hinsichtlich unserer Gewohnheiten, auf das Behagen oder Unbehagen andere Menschen zu achten?

Ich meine nicht, dass wir wegen unserer Essgewohnheiten vermeiden sollten, mit anderen essen zu gehen; aber andererseits halte ich es für wichtig, Rücksicht zu nehmen, wenn wir anderen zusammen sind, weil unser Verhalten sie beeinflusst. Wir sollten nicht meinen, dass sie das nicht beeinträchtigt. Ich denke da an ein paar Beispiele meiner Bekannten, die sehr langsame Esser sind und trotzdem sehr rücksichtsvoll gegenüber den anderen, die mit ihnen am Tisch sitzen. Wir treffen uns mit einer Gruppe zum Essen, und diese Person teilt den anderen mit: „Wisst ihr, ich esse wirklich sehr langsam. Ihr braucht nicht zu warten, bis ich fertig bin. Wenn ihr zurück zur Arbeit müsst oder zu anderen Vorhaben, dann ist das völlig in Ordnung“ Das ist ein rücksichtsvolles Verhalten. Die Bekannte kann so langsam essen, wie sie möchte, und der Rest der Gruppe fühlt sich nicht verpflichtet, sitzen zu bleiben und zu warten, bis sie fertig ist. Oder wenn man ein sehr schneller Esser ist, kann man das den anderen auch sagen: „Ich bin nun mal ein sehr schneller Esser. Bitte lasst euch davon nicht stören. Nehmt euch ruhig Zeit. Es ist nicht so, dass ich es eilig hätte, ich esse eben einfach so.“

Mit anderen Worten, es gibt Möglichkeiten, sich rücksichtsvoll zu verhalten, ohne dass wir dabei bestimmte Gewohnheiten, die wir haben, aufgeben müssen. Es ist der Mangel an Rücksichtnahme, der hier das eigentliche Problem darstellt. Wenn man mit einer Reisegruppe unterwegs ist und die Gruppe aufbrechen muss, um einen Zug zu erreichen – oder wenn man mit seiner Familie zusammen ist, alle so weit sind, ins Auto zu steigen und loszufahren, und man noch nicht mit dem Essen fertig ist, könnte man auch sagen: „Ich schaffe mein Essen jetzt nicht. Lasst es mich einpacken und mitnehmen; ich werde es später aufessen.“ Es gibt durchaus Möglichkeiten, rücksichtsvoll zu sein.

Ein anderes Beispiel: Einigen meiner Verwandten gefällt es nicht, dass ich mich mit Buddhismus befasse und dass ich jetzt hier bin; ich kann sie also nicht zufriedenstellen. Oder jemandem missfällt die Art, wie ich mich kleide, oder mein Haarschnitt.

Was in solchen Situationen hilfreich ist, ist, sich ins Gedächtnis zu rufen. „Als der Buddha lebte, mochte ihn auch nicht jeder. Was erwarte ich also für mich? Dass jeder mich mag und jedem gefällt, was ich tue?“ Natürlich können wir nicht jeden zufriedenstellen. Und was die Verwandten betrifft, denen es nicht gefällt, dass du an buddhistischen Veranstaltungen teilnimmst – du musst es ihnen ja nicht erzählen. Du bist nicht verpflichtet, haarklein Auskunft darüber zu geben, wo du hingehst. Du brauchst nicht zu lügen, aber du könntest sagen: „Ich gehe zu einem Treffen mit Freunden.“ Es gibt Möglichkeiten, zu vermeiden, dass man andere vor den Kopf stößt, aber wir brauchen keineswegs jedermanns Zustimmung. Die hatte Buddha auch nicht; warum sollten wir sie haben?

Das „Ich“, das Entscheidungen für uns trifft

Ich möchte um noch um etwas mehr Erklärung dazu bitten, was es heißt, dass es kein „Ich“ gibt, welches gleichsam wie auf einem Brettspiel die Figuren von einem Feld zum anderen bewegt. Wenn ich plane, was ich am Abend tue, und zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen kann, dann ist da so eine Art Gefühl von jemandem, der diese Entscheidung trifft. Man kann vielleicht sagen, dass es so etwas wie Willenskraft ist.

Ja, es gibt definitiv Willenskraft und das Fällen von Entscheidungen, ganz bestimmt, aber das Problem ist, welche Vorstellung wir davon haben. Es ist nicht so, dass es ein getrenntes „Ich“ gäbe, das von unserem Leben Abstand hält und die Entscheidung trifft.

Worum es hier geht, ist: Gibt es eine Wesenheit – „mich“ – getrennt von dem „Ich“, das tatsächlich damit beschäftigt ist, die Dinge zu tun? Es gibt diesen beurteilenden Aspekt, den wir manchmal haben, der sich so anfühlt, als gäbe es ein „Ich“, das sich zurücklehnt und urteilt und in Gang setzt, was ich tue, so als wäre da noch ein anderes „Ich“, welches eine Figur auf dem Spielbrett ist und durch das Leben bewegt wird. Im Verlauf des Lebens finden natürlich Entscheidungen statt. Es gibt Willenskraft, und es gibt Absichten. All das ist Teil eines jeden Moments. Wenn man fragt: „Wer trifft die Entscheidung?“, so lautet die Antwort: Ich treffe die Entscheidung, nicht jemand anders. Was wir hier vermeiden wollen, ist das Gefühl der Getrenntheit oder Entfremdung vom Leben und diesen Geschehnissen, als wären wir etwas Erhabenes, das davon getrennt ist und ein Spiel spielt. Es ist kein Spiel. Ganz einfach ausgedrückt: Man tut es einfach. Man geht durchs Leben und man tut etwas. Man trifft Entscheidungen usw. ohne dabei das Gefühl zu haben „Ach, was soll ich jetzt tun?“ und „Oh, ich war wirklich schrecklich“ oder „Hey, das war echt gut; ich bin zwei Felder vorgerückt. Ich habe zweimal die Sechs gewürfelt, ich bin zwölf Schritte vorgerückt. Großartig! Toll!“ Wir leben einfach unser Leben ohne solche Gedanken oder Gefühle.

Es gibt hier einen ganz subtilen Unterschied. Er ist subtil, aber was wir erkennen müssen, ist dieses Gefühl oder diese Vorstellung, dass ein Teil von mir der Richter oder der Aufpasser ist und ein Teil von mir das Opfer, das vor Gericht steht und irgendwie gehandhabt und überwacht werden muss – „Ich muss mich unter Kontrolle haben, sonst mache ich Fehler“ – so als gäbe es zwei „Ichs“. Übt stattdessen einfach Selbstdisziplin, ohne euch aufzuspalten, abzutrennen, diese Spaltung vorzunehmen. Fasst einfach einen Entschluss und führt ihn dann durch.

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