Generationsprobleme in der Schüler-Lehrer Beziehung

Stufen von Lebenszyklen im heutigen Leben

In ihrem Buch „Neue Lebensphasen. Wie man aus seinem Alter das Beste machen kann“ (engl. „New Passages“) erklärt Gail Sheehy, dass die Stufen der menschlichen Lebenszyklen sich je nach Zugehörigkeit zur sozioökonomischen Gesellschaftsschicht und den jeweiligen Bedingungen der Zeit verändern. Mit dieser These hat sie ein neues Paradigma für die Lebenszyklen von heutzutage lebenden erwachsenen Kaukasus-Amerikanern entdeckt, die der Mittelschicht angehören oder recht wohlhabend sind, und die weiß, sozial mobil und gut ausgebildet sind. Das von ihr entdeckte Paradigma teilt sie in drei Stufen ein: In ein vorläufiges, das erste und das zweite Erwachsenenalter.

Sheehy hat dann die Art und Weise analysiert, in der jede der gegenwärtigen Generationen innerhalb dieser Gruppe diese drei Stufen durchlaufen hat. Ihre Aussage ist, dass wenn man das Verhalten der Menschen dieser sozioökonomischen Gesellschaftsschicht verstehen möchte, diese Menschen im Kontext ihrer jeweiligen Generation und ihrer jeweiligen Lebensstufe betrachten muss. Darüber hinaus behauptet sie, dass Kandier, Lateinamerikaner, Westeuropäer und Australier, die dieser mobilen Gesellschaftsschicht angehören, sich schnell einem ähnlichen dreistufigen Modell des Erwachsenseins annähren. In jedem Land werden jedoch kulturelle Faktoren dieses Entwicklungsmuster modifizieren, sobald dieses in Erscheinung tritt.

Die meisten spirituell Suchenden, die ein Dharma-Zentrum in den Vereinigten Staaten besuchen, gehören der von Sheehy unter­suchten sozialen Schicht an. Sheehys Schema liefert ein nützliches analytisches Werkzeug, mit dessen Hilfe man einige der Probleme besser verstehen kann, auf die die Menschen beim Aufbau einer Beziehung zu einem spirituellen Mentor gestoßen sind.

Die Stufe des vorläufigen Erwachsenenalters, ab einem Alter von etwa zwanzig Jahren, beschreibt eine verlängerte Adoleszenz, die durch Experimentieren charakterisiert ist, und die sich durch auszeichnet, dass man kein Interesse hat, sich einer Karriere oder Ehe zu verpflichten. Diese vorläufige Phase dauert das dritte Lebensjahrzehnt hindurch an. Diese Lebensphase hat die Tendenz eine Grundstimmung für den Rest des Lebens zu erzeugen. Das erste Erwachsenenalter dauert etwa von Dreißig bis Mitte Vierzig. In dieser Zeit beweist man sich selbst dadurch, dass man Karriere macht und/oder eine Familie gründet. Das zweite Erwachsenenalter beginnt dann Mitte Vierzig mit einer Phase des Experimentierens ähn­lich einer zweiten Adoleszenz, die bis etwa Fünfzig dauert. Während dieser Phase wird man häufig von seiner Partnerin oder seinem Partner verlassen oder zu einem vorgezogenen Ruhestand gezwungen. Auch die Kinder verlassen gewöhnlich in dieser Lebensphase das Haus. Es folgt eine Zeit der Meisterschaft, die bis Mitte sechzig dauert, und häufig mit einer neuen Karriere oder einem neuen Lebenspartner einhergeht. Man kann in dieser Phase eine neue Synthese des eigenen Lebens finden, die zu mehr Erfüllung führt. Nach dem fünfundsechzigsten Lebensjahr stellt sich eine Zeit der Integrität ein, in der man sich nichts mehr beweisen muss und die gefundene Synthese genießen kann.

Die Generation, die den Großteil der am tibetischen Buddhismus interessierten, spirituell Suchenden in den USA stellt, ist die Vietnam- oder Baby-Boomer-Generation, die zwischen Mitte der vierzi­ger und Mitte der fünfziger Jahre zur Welt kam. Eine kleinere Anzahl Interessierter entstammt der Ich-Generation, also der Zeit zwischen Mitte der fünfziger und Mitte der sechziger Jahre. Und eine noch geringere Anzahl Interessierter am tibetischen Buddhismus stammt aus der Generation X oder der gefährdeten Generation der von Mitte der sechziger Jahre bis etwa 1980 Geborenen.

Die spirituelle Lebensgeschichte der Baby-Boomer

Der charakteristische emotionale Grundton der Baby-Boomer-Generation liegt in dem Glauben, dass die Dinge vollkommen sein können. In einer Phase der verlängerten Adoleszenz, die dadurch gekennzeichnet ist, dass man sich jeder Form von Verpflichtung verweigert, und die von den späten sechziger Jahren bis weit in die siebziger Jahre hinein dauerte, experimentierten viele Mitglieder dieser Generation mit neuen, alternativen Lebensformen. Sehr häufig war ihr Verhalten von einer Haltung der Rebellion geprägt, die sich gegen die Einschränkungen durch ihre Eltern oder gegen den Druck des Vietnamkrieges richtete. Also rebellierten sie gegen die traditionelle Religion, gegen die Kultur und alle Werte, in die sie hineingeboren worden waren. In vielen Fällen führte diese Rebellion dazu, dass man den tibetischen Buddhismus besonders attraktiv fand.

Da es keine ernst zu nehmenden wirtschaftlichen Zwängen gab, konnte der Idealismus, der für junge Menschen in ihren Zwanzigern charakteristisch ist, zu einer romantischen Idealisierung der Tibeter, ihrer Kultur und des Buddhismus schlechthin überspringen. Diese Situation führte auch zu einer Romantisierung der tibetischen Meister, was dadurch noch verstärkt wurde, dass man relativ einfachen Zugang zu den Oberhäuptern der Übertragungslinien und den größten Lamas dieser Zeit, finden konnte. Unzulängliche Übersetzungen und kaum vorhandenes Lesematerial ließen Idealisierung und Fantasievorstellungen noch weiter ins Kraut schießen. Deshalb waren die Beziehungen, die die meisten der spirituell Suchenden zu Mentoren aufbauten, alles andere als realistisch. In den siebziger Jahren ging eine nicht geringe Anzahl von Menschen sogar unter dem berau­schenden Einfluss psychedelischer und anderer Drogen zu den Un­terweisungen.

Als in den achtziger Jahren das erste Erwachsenenalter der Baby-Boomer begann, wandelten sich die Angehörigen dieser Generation zu Leistungsträgern. Getrieben von dem dringenden Wunsch, von ihren buddhistischen Lehrern und Mitpraktizierenden anerkannt zu werden, versuchten viele sich dadurch zu beweisen, dass sie einhunderttausend Niederwerfungen machten, lange Meditationszeiten absolvierten und ausgedehnte Rituale (Skt. pujas) durchführten, an Ausbildungsprogrammen für Geshes teilnahmen oder ihren Mentoren hingebungsvoll dienten, indem sie Dharma-Zentren aufbauten oder betreuten. Der Geist ungezügelten, selbstsüchtigen Ehrgeizes, der für die achtziger Jahre in den USA so typisch war, fachte auch den „spirituellen Materialismus“ jener Tage an.

Weil die Baby-Boomer, die häufig über ein geringes Selbstwertgefühl verfügten, ihren eigenen Wert zu rechtfertigen suchten, verfielen sie nicht selten der Projektion, dass ihre Lehrer sie beurteilen würden. Viele Baby-Boomer hatten das unbewusste Gefühl, dass sie eine Leistung erbringen müssten, um ihren Selbstwert zu bestätigen und Anerkennung und Liebe zu verdienen. Einige dieser Baby-Boomer sahen sich auch in einer Art Wettkampf mit ihren Weggefährten. Sie waren der Meinung, dass sie die anderen Praktizierenden in ihrer Hingabe oder der Anzahl ihrer Niederwerfungen stets übertreffen müssten. Cliquen von Schülern sammelten sich um die meisten großen tibetischen Lehrer im Westen und bildeten einen „inneren Kreis” von Schülern. Die Beziehungen zwischen Schülern und Mentoren nahmen zunehmend eine ungesunde Färbung an.

Die zweite Adoleszenz, den Beginn des zweiten Erwachsenenalters, erreichten die Baby-Boomer in den neunziger Jahren; zur gleichen Zeit gab es einige große Skandale und Kontroversen im Zusammenhang mit spirituellen Lehrern. Als das missbräuchliche Verhalten und die Streitereien einiger berühmter Mentoren ans Licht kamen, erlebten viele Baby-Boomer entweder eine große Enttäuschung oder sie leugneten die Sachverhalte einfach ab. Zu sehen, welche Unzulänglichkeiten dem tibetisch-buddhistischen System innewohnen, wie auch mitzuerleben, wie einige der sich in führenden Rollen befindlichen Stars dieses Systems in Misskredit gerieten, hatte eine äußerst traumatische Wirkung auf die Baby-Boomer. Die traumatische Wirkung kam dem Schock gleich, den man bekommt, wenn man erfährt, dass man selbst oder eine Weggefährte an Krebs erkrankt ist, oder wenn man erfährt, dass ein Elternteil an Alzheimer erkrankt ist.

Viele Baby-Boomer ließen das verkrampfte, falsche Selbstbild eines spirituellen Leistungsträgers fallen und wurden lasch in ihrer Meditationspraxis und in der Einhaltung von Praxisverpflichtungen. Sie distanzierten sich emotional von ihren noch lebenden oder bereits verstorbenen spirituellen Mentoren. Und ganz im Sinne der zweiten Adoleszenz begannen viele zu experimentieren und wandten sich der Psychologie und anderen Disziplinen zu, um Methoden für die Bewältigung ihrer Midlife-Crisis zu finden. Der für die neunziger Jahre so typische Zusammenbruch rigider Ordnungen, zeigte sich auch in der Suche nach neuen Modellen spiritueller Praxis.

Als sich die Baby-Boomer dann in den späten neunziger Jahren in das zweite Erwachsenenalter hinein entwickelten, entdeckten viele die verborgenen Werte wieder, die sie in ihrer spirituellen Leistungssucht im ersten Erwachsenenalter unterdrückt hatten. Sie entdeckten die Feinfühligkeit, die Intelligenz und die praktischen Qualitäten ihrer eigenen Kultur und erlangten durch Wiederentdeckung dieser positiven Aspekte ein besseres Selbstwertgefühl. Als die Baby-Boomer dann schließlich in die Lebensphase der Meisterschaft eintraten, gewannen einige von ihnen genügend Selbstvertrauen, um alle ihre Erfahrungen zu einer neuen Synthese zusammenzubringen. Sie haben Stufen innerer Reife erlangt, die sie dazu befähigten, in gesünderer Weise mit ihren spirituellen Mentoren in Beziehung zu treten und die es ihnen ermöglicht, in realistischer Weise an die eigene Meditationspraxis heranzugehen. Ob sie mit diesen Bemühungen Erfolg haben, hängt davon ab, wie empfänglich sie für die Inspiration durch ihre spirituellen Mentoren sind.

Die spirituelle Lebensgeschichte der Ich-Generation

Angehörige der Ich-Generation kamen im Laufe der achtziger Jahre als provisorische Erwachsene zum tibetischen Buddhismus. Den emotionalen Grundton ihrer Generation setzte der Wunsch, alles zu besitzen. Weil es scheinbar grenzenlose Möglichkeiten gab, schnell viel Geld zu verdienen, fühlten sich weniger Angehörige dieser Generation vom Buddhismus angezogen als in der Generation zuvor. Der Geist der achtziger Jahre in den Vereinigten Staaten unterstützte Gier und Professionalität. Junge Menschen mit Kapital, Talent und günstigem sozioökonomischem Hintergrund hatten das Gefühl, jede Anstrengung müsse von schnellem Erfolg gekrönt sein. Als Teil ihrer verlängerten Adoleszenz rebellierten viele Mitglieder der Ich-Generation gegen die impraktikable, von Hippie-Romantik geprägte Mentalität ihrer Eltern. Sie bemühten sich darum, Geld, Güter und Erfahrungen zu erwerben. Weil sie den Materialismus idealisierten, hatten viele von ihnen das Gefühl, Glück sei eine Ware, die man kaufen könne.

Menschen dieser Generation, die dem spirituellen Pfad folgten, widmeten sich häufig ihrer spirituellen Praxis mit genau dieser narzisstischen Ausrichtung. Sie machten sich daran, „Verdienste zu sammeln“, und zwar mit der gleichen Haltung, mit der sie auch Schallplatten und Designerkleidung sammelten. Viele von ihnen hatten die unrealistische Erwartung, dass sie alles erreichen und haben könnten, ohne sich dafür emotional verpflichten zu müssen und – der Anrufbeantworter ist ein gutes Symbol dafür – ohne dafür ein enge persönliche Beziehung eingehen zu müssen. Natürlich übertrugen sie diese Geisteshaltungen auch auf die Beziehungen zu ihren spirituellen Mentoren. Sie idealisierten ihre Lehrer und benutzten sie lediglich als ein Mittel, um spirituell voran zu kommen und um mehr Ver­dienst zu sammeln, ohne ihnen aber je wirklich ihr Herz zu öffnen.

Die Ich-Generation wurde dann, als sie sich in den neunziger Jahren im ersten Erwachsenenalter befand, mit den Skandalen und Kontroversen der spirituellen Szene konfrontiert. Viele Angehörige dieser Generation fühlten schmerzlich desillusioniert und fühlten sich all dessen beraubt, was sie im Bereich der Spiritualität hatten erreichen wollen. Sie wandten sich desillusioniert anderen Bereichen zu, wollten im Geschäftsleben erfolgreich sein oder eine Familie aufbauen. Andere waren zutiefst erbost und widmeten sich inbrünstig der Aufgabe, die missbräuchlich agierenden Mentoren zu Fall zu bringen. Diejenigen von ihnen, die ihre spirituelle Praxis beibehielten, folgten dem Zeitgeist der neunziger Jahre und verwarfen rigide Modelle. Viele Angehörige dieser Generation distanzierten sich aber emotional immer weiter von ihren Mentoren und kamen nur noch selten und unregelmäßig in die Dharma-Zentren.

Der spirituelle Pfad der Generation X

Nur sehr wenige Angehörige der Generation X fanden in ihrer verlängerten Adoleszenz und ihrem vorläufigen Erwachsenenalter in den neunziger Jahren zum spirituellen Pfad. Verschiedene Faktoren haben dazu beigetragen, dass sich die Dinge so entwickelt haben. AIDS, Arbeitslosigkeit und Unweltkatastrophen ließen eine sichere Zukunft fraglich erscheinen. Führungspersönlichkeiten aus allen Bereichen der Gesellschaft waren in Lügen und Skandale verstrickt. Folglich fanden es die meisten Angehörigen dieser Generation nicht möglich, zu irgendjemandem oder in irgendetwas Vertrauen zu entwickeln, besonders nicht zu Menschen in so genannten Respektspositionen. Viele Angehörige dieser Generation resignierten und erwarteten schließlich, dass alles und jeder sie sowieso enttäuschen werde, wie es vielleicht schon ihre Eltern getan hatten, als sie sich scheiden ließen oder sie in der Kindertagesstätte absetzten, ohne sich je wirklich Zeit für sie zu nehmen. Als sie von den Skandalen und Kontroversen unter den buddhistischen Lehrern hörten, dachten sie: „Was habt ihr denn erwartet?“ Und natürlicher Weise empfanden die meisten Angehörigen dieser Generation wenig Anreiz, eine Beziehung zu einem spirituellen Mentor aufzubauen, und sie hatten auch kein Bedürfnis danach, eine solche Beziehung zu begründen.

In Übereinstimmung mit dem Zeitgeist der neunziger Jahre, wie auch im Einklang mit der Geisteshaltung einer verlängerten Adoleszenz, rebellierten die Mitglieder der Generation X gegen alle festgelegten, rigiden Modelle. Viele von ihnen nahmen eine „Mir-doch-egal“-Haltung der Gleichgültigkeit ein, die auch den Grundton für diese Generation setzte. Alles war irgendwie OK; nichts zählte wirklich. Viele betrachteten eine idealistische Einstellung als sinnlos und auch als nutzlos. Sie experimentierten mit allem, ohne sich je zu verpflichten, denn jede Verpflichtung musste ja unvermeidlich zu Enttäuschung führen. Manche von ihnen konnten nur noch aus sicherer Entfernung kommunizieren, etwa per E-Mail oder indem sie Fantasie-Identitäten annahmen und sich in Chat-Räume begaben. Auf diese Weise konnten sie dann einfach den Computer abschalten oder nicht mehr antworten, wenn irgendjemand sie enttäuscht hatte.

Die wenigen Angehörigen der Generation X, die Dharma-Zentren besuchten, brachten diese häufig diese Einstellung mit. Viele von ihnen fanden in sehr großen buddhistischen Organisationen, in denen der Hauptlama nur selten zu Besuch kam, oder gar schon verstorben war, eine ihnen vertraute Atmosphäre. Ein Zentrum fern vom Hauptlama und unter der Ersatzfürsorge weniger qualifizierter Junior-Lehrer, erinnerte sie vielleicht unbewusst an ihre Zeit in einer Kindertagesstätte, weit weg von ihren viel beschäftigten Eltern. Wie in der Tagesstätte hatten sie auch im Zentrum das Gefühl, tun und lassen zu können, was immer sie wollten. Da die Hauptlamas sie ja ohnehin ignorieren würden und die anwesenden spirituellen Lehrer nicht ihre wahren Lamas waren, gab es auch keinen Grund, sich für eine tiefe Beziehung zu öffnen.

Diejenigen von ihnen, die ihr Herz und ihren Geist dennoch öffneten, projizierten aus ihrem Unbewussten auf ihre Hauptlamas häufig Bilder von völlig strukturierten, verlässlichen Menschen. Sie idealisierten die Oberhäupter, taten dies aber aus einem sicheren emotionalen Abstand. Und in Bezug auf strukturierte Dharma-Praxis entwickelten sie manchmal auch fanatische und engstirnige Tendenzen. Unfähig ihre eigenen unbewussten Qualitäten zu erkennen und zu integrieren, behielten viele eine Haltung der Gleichgültigkeit bei, die sich auch auf andere Aspekte ihres Lebens bezog.

Probleme des vorläufigen Erwachsenenalters vermeiden

Jede Generation erlebt die Stufen des Erwachsenenalters leicht unterschiedlich, abhängig von der jeweiligen Kultur- und Zeitströmung. Dennoch zeichnet sich die grundlegende Struktur jeder Stufe durch eine spezielle Form ungesunder Beziehungen zu einem spirituellen Lehrer aus. Verschiedene Elemente der Guru-Meditation der Sutra-Ebene zeigen Methoden zur Vermeidung oder Überwindung dieser Gefahren.

Das vorläufige Erwachsenenalter beinhaltet vor allem das Problem der Idealisierung und Romantisierung eines spirituellen Meisters, gepaart mit Unverbindlichkeit und emotionaler Distanz. Wenn Ideali­sierung und die typisch westliche Form der Verwirrung zusammen­wirken, erleben die Schülerinnen und Schüler vor allem ein geringes Selbstwertgefühl als einen Teil ihrer bewussten Persönlichkeit, was dazu führt, dass sie eine ideale Vollkommenheit auf den Lehrer projizieren. Die romantische Idealisierung eines Mentors – insbesondere wenn diese damit verbunden ist, dass man den Lehrer als einen Buddha betrachtet – führt häufig zur Übertreibung seiner tatsächlich vorhandenen guten Qualitäten bis hin zu dem Punkt, wo man ihm positive Merkmale andichtet, die er überhaupt nicht besitzt. Diese Idealisierung kann auch damit verbunden sein, dass man die tatsächlich vorhandenen Unzulänglichkeiten und Fehler des Lehrers leugnet.

Wenn man den Mentor auf ein unerreichbar hohes Podest stellt, kann man ihn aus einer sicheren emotionalen Distanz heraus vergöttern. Mit anderen Worten, weil die Emotion der Vergötterung ihre Aufmerksamkeit – ähnlich wie im Zustand romantischer Verliebtheit – auf ein übermenschliches Objekt lenkt, wird sie als intensiv und aufregend empfunden. Allerdings fehlt ihr die tiefgründigere und entspanntere Intimität, die dann zustande kommt, wenn man jemanden trotz seiner Fehler akzeptiert. Obwohl auch persönliche Faktoren eine Rolle spielen, kommt emotionale Distanz doch häufig daher, dass man lieber mit einer Fantasiefigur umgeht als mit einem wirklichen Menschen. Schließlich ist die Beziehung zu einer personifizierten Fantasie der Vollkommenheit sicherer, als wenn man das Risiko eingeht, enttäuscht zu werden, wenn man den Umgang mit einem wirklichen Lehrer wählt, der sowohl starke als auch schwache Seiten hat.

Wenn man seine Aufmerksamkeit in der Guru-Meditation der Sutra-Ebene auf die guten Qualitäten eines Lehrers richtet, so hat dieser Vorgang nichts mit romantischer Idealisierung zu tun. Bei der Guru-Meditation richtet man seine Aufmerksamkeit auf die tatsächlich vorhandenen Qualitäten des Lehrers, ohne diese glorifizieren zu oder etwas hinzuzufügen. Darüber hinaus erkennt man in der Guru-Meditation die Fehler des Lehrers an, wobei man diese Fehler ebenfalls nicht künstlich aufbläst oder erfundene Aspekte hinzufügt. Das Prinzip, weder Aspekte hinzuzufügen, noch Aspekte zu leugnen, gilt auch, wenn es darum geht zu erkennen, dass der Mentor als Buddha fungiert oder dass er ein Buddha ist. In beiden Fällen erkennt man mittels einer reinen Vision, die positiven Merkmale eines Mentors als Buddha-Qualitäten, bezeichnet die positiven Qualitäten des Mentors als Buddha-Qualitäten und erkennt, dass sie ihren Ausgangspunkt in der Buddha-Natur haben. Dieser Prozess funktioniert auch, ohne dass man die konventionell existierenden Vorzüge und Unzulänglichkeiten des Lehrers widerlegen müsste. Kurz gesagt hilft es einem, die durch Romantisierung geschaffene Distanz dadurch zu unterbinden, dass man von den tatsächlich vorhandenen Qualitäten eines Mentors überzeugt ist und seine wirklich wertschätzt Güte wertschätzt. Diese Überzeugung und Wertschätzung ermöglichen es einem dann, eine tiefer gehende emotionale Beziehung zum Lehrer aufzubauen.

Um die Probleme, die aus der Idealisierung entstehen, in den Griff zu bekommen, kann es hilfreich sein, die Methoden der Dekonstruktion zu verwenden, die man in der Guru-Meditation der Sutra-Ebene im Umgang mit den Unzulänglichkeiten eines Mentors verwendet. Nachdem man eine realistische Sichtweise der Schwachpunkte eines Mentors entwickelt hat, vergegenwärtigt man sich seine guten Qualitäten und seine Güte, und versucht, zwischen Projektion und Wirklichkeit zu unterscheiden. Projektionen abzustreifen, ist deshalb immer ein schwieriges Unterfangen, weil unser Geist die Projektionen so erscheinen lässt, als wären sie wahr, und weil wir auch daran glauben, dass diese Projektionen auf Tatsachen beruhen würden. Der Prozess des Abbaus von Projektionen erfordert, dass man mit dem Mentor eingehende Erfahrungen aus erster Hand sammelt und dass man eine gründliche Selbstbeobachtung durchführt. Haben wir dann die konventionell unrichtigen Projektionen aufgeklärt und beseitigt, richtigen wir unsere Aufmerksamkeit auf die konventionell akkuraten Charaktereigenschaften unseres Lehrers, die wir als leer davon betrachten, als ein inhärentes Wunder zu existieren. Dadurch werden wir dann schließlich geneigt sein, unsere Aufmerksamkeit mit Überzeugung und Wertschätzung auf die Eigenschaften unseres Lehrers zu lenken.

Ein solcher Prozess kann uns dabei helfen, Klarheit über unseren Mentor zu gewinnen. Ebenso kann dieser Prozess unsere Überzeugung von den guten Qualitäten unseres Mentors stärken, und zwar indem wir die abhängig entstehende Natur dieser guten Qualitäten begreifen und indem wir das Vertrauen entwickeln, dass auch wir diese guten Qualitäten verwirklichen können. Und wenn wir unsere Verwirrung erst einmal überwunden haben, kann sich die Tendenz zur Idealisierung sogar als ein Vorteil erweisen. Weil die Neigung zur Idealisierung dazu führt, dass man zu jemandem aufschaut, kann sie uns dabei behilflich sein, aus den tatsächlich vorhandenen guten Qualitäten und der Güte unseres Mentors Inspiration zu schöpfen. Der unbewusst ablaufende Mechanismus, mit dem wir uns vor bestimmten Emotionen schützen wollen, kann uns helfen, uns bewusste von allen unreifen Gefühlen zu distanzieren oder uns gar nicht erst auf unreife Beziehungen einzulassen. In dieser Weise können wir dem Ratschlag aus der Lojong-Praxis der Kadam-Tradition folgen, potenziell negative Umstände in positive Umstände zu verwandeln.

Probleme des ersten Erwachsenenalters vermeiden

Das charakteristische psychologische Merkmal des ersten Erwachsenenalters ist der Drang, sich zu etablieren. Geht dieser Drang mit Verwirrung, die durch ein geringes Selbstwertgefühl erzeugt wird, mit Übertragung und mit einer Übertreibung der guten Eigenschaften eines Lehrers einher, kommt es leicht dazu, dass man glaubt, man müsse andauernd zwanghaft seinen eigenen Wert unter Beweis stellen. Man fühlt sich unbewusst dazu genötigt, etwas leisten zu müssen, um auf diese Weise eine urteilende Vaterfigur zufrieden zu stellen und Akzeptanz und Zustimmung zu erfahren.

Wie schon bei der neurotischen Form des vorläufigen Erwachsenenalters, so schreibt man auch bei diesem Syndrom dem Lehrer frei ausgedachte gute Eigenschaften zu. In diesem Fall besteht die grundlegende Verblendung darin, dass wir den Lehrer für eine Art Richter halten, der unseren Wert beurteilt. Dieser Irrtum rührt nicht selten daher, dass wir unbewusst die Eigenschaften des höchsten Richters, nämlich von Gott, heranziehen, wenn wir zu erkennen versu­chen, dass der Mentor ein Buddha ist. Wenn wir unrichtige konventionelle Wahrheiten, die wir in Bezug auf unseren Mentor für wahr halten, auflösen, wie wir das in der Guru-Meditation üben, so kann uns dabei helfen, das Problem zu lindern. Es wäre ebenfalls hilfreich, wenn wir mit all den unrichtigen Wahrnehmungen, die wir in Bezug auf uns selbst haben, aufräumen würden, wie zum Beispiel mir der Vorstellung, dass wir nichts wert seien. Ist unser Drang, einen festen Platz im Leben zu finden, erst einmal von derlei Verwirrung befreit, kann uns dieser Drang sogar dabei unterstützen, dass wir die Inspiration, die wir durch den Mentor erfahren, in eine Richtung kanalisieren, bei der wir wirklich Fortschritt auf unserem spirituellen Weg machen.

Probleme des zweiten Erwachsenenalters vermeiden

Die Phase der zweiten Adoleszenz, mit der das zweite Erwachsenenalter beginnt, bringt gewöhnlicher Weise mit sich, dass man die eigenen bisherigen Verhaltensmuster neu bewertet. In dieser Phase werfen wir überholte, nicht mehr funktionierende Elemente über Bord und experimentieren mit neuen Modellen. Wenn unser Umgang mit unserem spirituellen Mentor zuvor ungesunde Züge aufgewiesen hat oder wir gravierende Fehler in seinem Verhal­ten gefunden haben, so kann es nun leicht passieren, dass wir nicht nur unseren Mentor verlassen, sondern den ganzen spirituellen Pfad als solchen aufgeben. Wenn wir allerdings die Ursachen des ungesunden Verhaltens in der Beziehung zu unserem Lehrer richtig identifizieren, können wir die Unrichtigkeiten korrigieren und über das unbefriedigende Niveau unserer Praxis hinauswachsen, auf dem wir möglicherweise stehen geblieben sind.

Während der Phase der Meisterschaft im zweiten Erwachsenenalter bringen Menschen gewöhnlich auch das Erbe ihrer Vergangenheit zu einer neuen Synthese. Wenn wir dauernd auf den Fehlern und Unzulänglichkeiten unseres Mentors herumgeritten sind, laufen wir Gefahr, gerade diese negativen Aspekte loyal zu übernehmen und sie an die nächste Generation weiterzugeben. Das geschieht ganz unabhängig davon, ob wir uns von der Beziehung zu unserem Mentor bereits losgesagt haben oder nicht. So sind wir vielleicht emotional unaufrichtig gegenüber jüngeren Schülern. Vielleicht geben wir vor, über gute Eigenschaften zu verfügen, die wir überhaupt nicht besitzen.

Darüber hinaus können Schüler im zweiten Erwachsenenalter auch regredieren und auf frühere Entwicklungsstufen in ihrem Verhalten zurückfallen. So entwickeln sie etwa einen intensiven Ehrgeiz, um jüngere Praktizierende zu übertreffen, und sie distanzieren sich möglicherweise emotional von jeder freiwilligen Verpflichtung, den jüngeren Schülern Hilfe anzubieten. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit in angemessener Weise auf die guten Eigenschaften unseres Mentors ausrichten, finden wir vielleicht zu einer ganz neue Synthese unserer Qualitäten, die das gesamte positive Erbe unserer bisherigen Entwicklung beinhaltet. Den vollen Nutzen aus dieser Phase unseres Lebens können wir dadurch ziehen, dass wir die nächste Generation ermutigen und fördern.

Menschen im zweiten Erwachsenenalter können provisorische Erwachsene inspirieren

Wenn Schüler im zweiten Erwachsenenalter ihre alten Muster aufgeben haben und für sich zu einer neuen Synthese ihrer bisherigen Erfahrungen gefunden haben, wenden sie sich dann möglicherweise hauptsächlich nach innen oder nach außen. Wenn diese Schüler sich beispielsweise hauptsächlich ihrem Inneren zuwenden, können sie ihre Aufmerksamkeit dabei in zweierlei Weise auf die eigene Meditationspraxis als eine Quelle von Glück richten: entweder in einer narzisstischen Manier oder in einer ausgewogenen Art und Weise. Wenden sie sich eher nach außen, können sie vielleicht Befriedigung in der Erfüllung der Bedürfnisse anderer Menschen suchen, und wieder ist dies entweder auf erstickende, unterdrückende Weise oder auf eine fördernde, ermutigende Weise möglich. So können sie zum Beispiel ein Dharma-Zentrum einfach dominieren oder sie können der nächsten Generation als eine Ressource an Erfahrung und eine Quelle der Anregung dienen, und auf diese Weise etwas für die Weiterentwicklung des Zentrums tun.

In dieser von Skandalen, Kontroversen, Gewalt an Schulen, Aids und anderem Unheil geprägten Zeit neigen die Menschen dazu, allem und jedem von vorneherein zu misstrauen. Das heißt, dass auch Menschen, die einem spirituellen Pfad folgen, ganz natürlicher Weise vorsichtig sind und spirituellen Lehrern nicht auf Anhieb vertrauen. Einerseits ist es eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme, einen Lehrer erst einmal eingehend und kritisch zu prüfen, bevor man eine Beziehung zu ihm aufbaut. Diese Vorsichtsmaßnahmen können einen vor Enttäuschungen, Schikanierungen oder sogar vor verschiednen Formen von Missbrauch bewahren. Andererseits verhindern ein morbider Skeptizismus und Paranoia aber auch, dass die Menschen Inspiration durch einen qualifizierten Lehrer erfahren können, die sie unerlässlicher Weise dazu benötigen, um eine ernsthafte Form der Dharma-Praxis in Schwung zu bringen und aufrecht zu erhalten.

Die für das vorläufige Erwachsenenalter typische Zögerlichkeit in Sachen Selbstverpflichtung, kann als weitere emotionale Blockade wirken und erschweren, dass man sich in den gegenwärtig schwierigen Zeiten gegenüber einem spirituellen Lehrer öffnet. Die spirituell Älteren des zweiten Erwachsenenalters können den jüngeren Suchenden aber dabei helfen, ihre Blockaden zu überwinden und Vertrauen zu finden, indem sie selbst zu einer Quelle der Inspiration werden.

Um die jüngere Generation inspirieren zu können, müssen die Schüler im zweiten Erwachsenenalter keine Gurus werden. Stattdessen können sie als ein zusätzliches unterstützendes Vergrößerungsglas dienen, um so die Inspiration, die sie selbst von den großen Meistern erhalten haben, in den Brennpunkt zu bringen. Für heutzutage lebende Anfänger sind viele dieser großen Meister nicht mehr persönlich greifbar, entweder weil sie in umfassender Weise international aktiv sind oder weil sie bereits verstorben sind. Die Schüler im zweiten Erwachsenenalter können sich mit Hilfe der Guru-Meditation der Sutra-Ebene auf die guten Eigenschaften dieser Meister konzentrieren, um Inspiration zu finden, und dann können sie das positive Erbe durch ihr eigenes Beispiel weitergeben. Damit verhindern sie, unbewusst negative Hinterlassenschaften der Vernachlässigung und des Missbrauchs weiterzuvererben, indem sie spirituellen Narzissmus ausagieren oder ein Dharma-Zentrum auf erdrückende Weise dominieren.

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