Die nichtallgemeinen an die Buddhafamilien bindenden Praktiken

Bei der Kalachakra-Initiation (Ermächtigung) werden die Bodhisattva-Gelübde, die tantrischen Gelübden und die allgemeinen bindenden Praktiken (tib. dam-tshig, Skt. samaya) abgelegt. Zusätzlich beinhaltet die Kalachakra-Initiation das Versprechen, sechs nicht allgemeine Praktiken beizubehalten, die enge Bindungen zu sechs Eigenschaften der Buddhafamilien erzeugen.

Genauso wie bei den neunzehn allgemeinen Versprechen erzeugen die ersten fünf Praktiken enge Bindungen zu den fünf Arten tiefen Gewahrseins, die durch die Buddha-Formen Akshobhya, Amoghasiddhi, Ratnasambhava, Amithaba und Vairochana repräsentiert werden. Diese fünf Praktiken sind der Reihe nach: das Nehmen eines Lebens, das Aussprechen unwahrer Worte, das Stehlen des Besitzes anderer, sich den Ehepartner eines anderen Menschen anzueignen und der Verzehr von Alkohol und Fleisch. Wie beim vierten Nebengelübde der Bodhisattvas, das die ethische Selbst-Disziplin betrifft, beziehen sich diese Praktiken darauf, niemals zu zögern eine destruktive körperliche oder sprachliche Handlungen auszuführen wenn Liebe und Mitgefühl ein solches Handeln erfordern und es keine Alternative gibt.

Dem Kalachakra ist allerdings die Darlegung einer sechsten Familieneigenschaft eigen: Die geistige Aktivität des klaren Lichts selbst, repräsentiert durch die Buddha-Form Vajrasattva. Sich nicht über die Sexualorgane von Frauen lustig zu machen erzeugt eine enge Bindung zu dieser Eigenschaft. Diese Bindung ist gleichbedeutend mit dem vierzehnten allgemeinen tantrischen Wurzelgelübde – Frauen nicht abzuwerten.

Kalachakra stellt zwei alternative Bedeutungen für jede der sechs bindenden Handlungen vor: explizit hinweisend (tib. drang-don) und implizit hingewiesen (tib. nges-don). Im Auslegungssystem von Guhyasamaja mit sechs alternativen Bedeutungen (tib. mtha’-drug) von Vajra-Ausdrücken, wird die explizit hinweisende Bedeutung definiert als die offensichtliche Bedeutung. Die explizit hinweisende Bedeutung weist auf etwas tieferes, verborgenes hin: nämlich auf die implizit hingewiesene Bedeutung. Hier werden wir die Erklärungen präsentieren, wie sie in der Gelug-Tradition gegeben werden.

Die explizit hinweisenden bindenden Praktiken

(1) Um uns eng mit der Vajra-Familie von Akshobya zu verbinden, Leben zu nehmen, bedeutet, ein gefährliches Wesen zu töten. Zum Beispiel ist es nötig, dass wir einen tollwütigen Hund, der Menschen beißt, töten, wenn unsere Motivation ausschließlich aus Mitgefühl besteht und es keinerlei andere Mittel gibt, um den von ihm verursachten Schaden zu beenden. Das ist ähnlich wie bei einem der Nebengelübde des Bodhisattvas, nämlich nicht zu zögern, eine destruktive Handlung zu begehen, wenn Liebe und Mitgefühl uns dazu auffordern.

Diese Art des Tötens erfordert das tiefe Gewahrsein der Realitätssphäre (tib. chos-dbyings ye-shes), damit man unterscheiden kann, was anzunehmen und was aufzugeben ist. Es bedarf ferner des spiegelgleichen tiefen Gewahrseins (tib. me-long lta-bu’i ye-shes), um den ganzen Umfang der Situation zu reflektieren. Ebenso erfordert es auch den selbstlosen Mut, als angehender Bodhisattva, zu akzeptieren, was auch immer an schmerzvollen Konsequenzen aus unserem Handeln folgen mag.

(2) Um uns mit der Schwert-Familie von Amoghasiddhi zu verbinden, unwahre Worte auszusprechen bedeutet zu erklären, wie Dinge erscheinen, was nicht damit übereinstimmt, wie sie existieren. Technisch gesprochen bedeutet dies, die interpretierbare Ebene (tib. drang-don) der Lehre zu erklären, wenn dies hilfreich erscheint, und nicht die letztendliche Ebene (tib. nges-don) in Bezug auf Leerheit. In der alltäglichen Praxis, wenn wir beispielsweise jemandem dabei helfen, eine schwierige Entscheidung zu treffen, wie im Falle eines Hauskaufs, dann simplifizieren wir die zu bedenkenden Eckwerte, obwohl die Angelegenheit in Wirklichkeit bei weitem komplizierter ist. Derartige trügerische Worte auszusprechen erfordert das vollbringende tiefe Gewahrsein (tib. bya-grub ye-shes) davon, wie man verschiedene Ziele erreicht .

(3) Um uns mit der Juwelen-Familie von Ratnasambhava zu verbinden, den Besitz anderer zu stehlen bedeutet, Menschen, die mit ihren Besitztümern geizen, diese wegzunehmen, um ihnen dabei zu helfen, ihre Knauserigkeit zu überwinden, und um diese Güter denjenigen zu geben, die ihrer bedürfen. Ein Beispiel hierfür ist die Besteuerung der Reichen über die Luxusgüter, um dann das Geld zur Ernährung der Armen zu verwenden. Zu nehmen, was nicht frei gegeben wurde, ersteht aus dem gleichsetzenden Gewahrsein (tib . mnyam-nyid ye-shes) der Menschen in Not.

(4) Um sich mit der Lotus-Familie von Amitabha zu verbinden, sich den Lebenspartner von jemanden zu nehmen, bedeutet, dass man unter besonderen Umständen Menschen, die übermäßig an dem Partner anhaften, die Frau oder den Mann wegnimmt und zwar mit dem Ziel, ihnen dabei zu helfen, ihre Abhängigkeit zu überwinden. Diese Praktik der engen Bindung bedeutet nicht ausdrücklich, eine ehebrecherische Affäre zu haben. Auch einen Ehemann für ein paar Tage unter Beschlag zu nehmen, damit er uns beim Wohnungsumzug hilft, kann seiner anklammernden Frau helfen, sich mehr auf sich selbst zu verlassen. Jemand anderem seine Gattin oder ihren Gatten wegzunehmen gründet auf dem individualisierenden tiefen Gewahrsein (tib. sor-rtog ye shes), die eine bestimmte Person auswählt.

(5) Um sich eng mit der Rad-Familie von Vairochana zu verbinden, Alkohol und Fleisch zu verzehren bedeutet, sie ohne Anhaftung für spezielle Zwecke zu nutzen. Bestimmte Medikamente verwenden Alkohol als Basis und bestimmte Krankheiten, wie zum Beispiel Hepatitis, erfordern eine Ernährung, die Fleisch beinhaltet. Um wieder zu gesunden und um unseren Körper wieder für die Meditationspraxis und den Dienst a anderen zu stärken kann es notwendig sein, dass wir diese Substanzen zu uns nehmen, selbst wenn wir sie normalerweise vermeiden. Unter solchen Umständen Alkohol und Fleisch zu sich zu nehmen, erfordert ein spiegelgleiches tiefes Gewahrsein (tib. me-long lta-bu’i ye-shes) zur klaren Widerspiegelung unserer Situation und ein tiefes Gewahrsein der Realitätssphäre (tib. chos-dbyings ye-shes), um in Übereinstimmung mit den Tatsachen zu handeln.

(6) Um sich eng mit der Krummesser-Familie von Vajrasattva zu verbinden, sich nicht über die Sexualorgane von Frauen lustig zu machen. Die Glückseligkeit der Vereinigung, deren Entstehung von den weiblichen Sexualorganen abhängt, kann das glückselige Gewahrsein der Leerheit steigern und den Geist auf subtilere Ebenen bringen, sodass sich dieses glückselige Gewahrsein mit der geistigen Aktivität des klaren Lichts verbindet. (Auf diese Weise erzeugen wir eine enge Bindung an den Geist des klaren Lichts, wenn wir uns nicht über die weiblichen Sexualorgane lustig machen.)

Die implizit hingewiesenen bindenden Praktiken

Die sechs implizit hingewiesenen bindenden Praktiken des Nehmens eines Lebens usw. sind spezielle Methoden, die mit den Yogas der Vollständigkeitsstufe (tib. rdzogs-rim) des „Kalachakra-Tantra“ kultiviert werden und im zentralen Energiekanal bei den sechs Haupt-Chakren angewendet werden. Diese Praktiken helfen dabei, die subtilen Energiewinde an diesen Chakren aufzulösen und ein unwandelbares glückseliges Gewahrsein (tib. mi-‘gyur-ba’i bde-ba) der Leerheit mittels der geistigen Aktivität des klaren Lichts zu erlangen. Da die sechs Chakren von den sechs Buddha-Formen repräsentiert werden, erzeugen diese Praktiken mit jedem einzelnen enge Bindungen.

(1) Um sich eng mit der Vajra-Familie von Akshobhya zu verbinden, Leben zu nehmen heißt, am Scheitel-Chakra die weißen subtilen kreativen Tropfen (tib. thig-le, weißes Bodhichitta), zu binden, die die Grundlage für das Erfahren des glückseligen Gewahrseins sind und so den Energie-Winden der orgastischen Entladung das Leben zu nehmen.

(2) Um sich eng mit der Schwert-Familie von Amoghasiddhi zu verbinden unwahre Worte zu sprechen heißt, auf der Ebenen des Herz-Chakras das falsche Wort des kurzen Vokals a (das Präfix im Sanskrit für eine Negation) auszusprechen, welches daraufhin verursacht, dass die Energie-Winde in den zentralen Kanal eintreten.

(3) Um sich eng mit der Juwelen-Familie von Ratnasambhava zu verbinden, den Reichtum anderer zu stehlen, bedeutet auf der Ebene des Kehl-Chakras, das wunscherfüllende Juwel des unwandelbaren Tropfen zu stehlen, da er wie die Buddhaschaft, nicht von anderen gegeben wird.

(4) Um sich eng mit der Lotus-Familie von Amitabha zu verbinden, den Ehepartner eines anderen zu nehmen bedeutet auf der Ebene des Stirn-Chakras, sich die große Siegel (Mahamudra)-Frau der unwandelbaren Glückseligkeit anzueignen, welche die herausragendsten aller Aspekte besitzt (wie beispielsweise die leere Form).

(5) Um sich eng mit der Rad-Familie von Vairochana zu verbinden, Alkohol und Fleisch zu verzehren bedeutet, auf der Ebene des Nabel-Chakras, die Energie-Winde des Körpers zu binden, und indem man das innere Feuer des tummo mit ihnen entfacht, die unwandelbare große Glückseligkeit und Leerheit zu erfahren, ohne orgastische Entladung.

(6) Um sich eng mit der Krummmesser-Familie von Vajrasattva zu verbinden, die Sexualorgane der Frauen nicht herabzuwürdigen bedeutet, mit der Siegelpartnerin (Skt. mudra) Freude zu erfahren, um unwandelbares glückseliges Gewahrsein von Leerheit zu erzeugen, während man jedoch das weiße Bodhichitta im pubischen Chakra bindet, so dass es nicht zur orgastischen Entladung kommt.

Varianten der nicht allgemeinen bindenden Praktiken im Guhyasamaja Tantra

Die Ermächtigung in Guhyasamaja umfasst ein Versprechen, vier spezielle bindende Praktiken einzuhalten, die Varianten der ersten vier implizit hingewiesenen bindenden Praktiken des Kalachakras sind.

(1) Leben zu nehmen bedeutet den Energiewinden das Leben zu nehmen, indem man veranlasst, dass sie in den zentralen Energiekanal eintreten, dort verweilen und sich auflösen.

(2) Unwahre Worte zu sprechen bedeutet über Leerheit zu sprechen, welche nicht mit der unmöglichen Art, in der alles zu existieren scheint, dass heißt mit wahrer Existenz, übereinstimmt.

(3) Den Besitz anderer zu stehlen (Nicht-Gegebenes zu nehmen) heißt Buddhaschaft zu nehmen, ohne dass sie einem gegeben wurde. Erleuchtung kann einem von niemandem gegeben werden, wir müssen sie selber erreichen.

(4) Sich den Ehepartner eines anderen anzueignen, heißt sich selbst in intimer Weise mit der Leerheit aller Phänomene vertraut zu machen. Der Begriff Ehepartner bezieht sich auf Leerheit.

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