Bodhichitta und Bodhisattva-Verhalten

Vers 10 bis 17

Kurzer Rückblick

Nachdem Togme-Sangpo zunächst seine Ehrerbietung und das Versprechen geäußert hat, den Text zu verfassen, geht er die aufeinanderfolgenden Stufen der Motivation, den Lam-rim, durch. Er beginnt mit der Wertschätzung des kostbaren menschlichen Lebens und der Darlegung der Umstände, die am förderlichsten dafür sind, es sich zu Nutze zu machen. Wir erfahren, dass es von Vorteil ist, die Heimat zu verlassen und sich in Abgeschiedenheit zu begeben.

Sodann werden wir an Tod und Unbeständigkeit erinnert sowie daran, dass dieses kostbare menschliche Leben nicht ewig dauern wird. Das heißt: Wir haben in unserem Unterfangen, es uns zu Nutze zu machen, keine Zeit zu verlieren. Das heißt nicht, dass wir Fanatiker werden; in diesem Zusammenhang ist einer meiner bevorzugten Zen-Koans sehr sinnvoll: „Der Tod kann jederzeit kommen - entspannt dich. Um die Vorteile dieses Lebens voll und ganz zu nutzen, ist es notwendig, von irreführenden Freunden etwas Abstand zu nehmen und sich an spirituelle Freunde und vollständig qualifizierte spirituelle Meister zu halten.

Wir stellen fest, dass die sichere Richtung bzw. Zuflucht die Grundlage für den gesamten buddhistischen Weg ist. Wir schlagen in unserem Leben eine Richtung ein, die vom Dharma aufgezeigt wird und uns den wahren Beendigungen und denjenigen Geisteszuständen näher bringt, welche wahre Pfade sind. Diese sind vom Sangha der Aryas teilweise und von den Buddhas vollständig verwirklicht worden. Das ist die Richtung, in die wir gehen wollen.

Auf der anfänglichen Ebene der Motivation ist unser Ziel, eine Wiedergeburt in einem der besseren Bereiche zu erlangen, insbesondere eine Wiedergeburt mit einem kostbaren menschlichen Leben. Das ist das Sprungbrett, das von den drei Juwelen hervorgehoben wird, und das uns die beste Möglichkeit gibt, weiterhin nach Befreiung und Erleuchtung zu streben. Um zu gewährleisten, dass wir in zukünftigen Leben keine schlimmere Wiedergeburt erlangen, ist es notwendig, dass wir uns von destruktivem Verhalten zurückhalten.

Mit der mittleren Reichweite der Motivation arbeiten wir darauf hin, Befreiung von den immer wieder auftretenden Wiedergeburten zu erlangen, die wir zwanghaft annehmen. Ganz gleich, welche Art von Wiedergeburt wir erlangen - wenn sie unter der Macht von Karma und störenden Emotionen steht und jeder Moment davon mit mangelndem Gewahrsein und zwanghaftem karmischen Handeln verknüpft ist, wird sie nur weiteres Leiden hervorbringen. Das sind die Themen, mit denen wir uns bisher befasst haben.

Bodhichitta-Motivation entwickeln

Nun wenden wir uns der fortgeschrittenen Ebene der Motivation zu, nämlich mit Bodhichitta vollkommene Erleuchtung ins Auge zu fassen.

(10) Die Übung der Bodhisattvas ist, die altruistische Absicht von Bodhichitta zu entwickeln, die darauf abzielt, die unendlich vielen Lebewesen zu befreien, denn wozu soll unser eigenes Glück gut sein, wenn unsere Mütter, die uns seit anfangsloser Zeit geliebt haben, leiden?

Was genau ist Bodhichitta? Bodhichitta ist ein Geisteszustand, der durch Liebe, Mitgefühl und einen außergewöhnlichen Entschluss herbeigeführt wird. Liebe ist hier gekennzeichnet durch den Wunsch, dass jeder - und das heißt ausnahmslos jedes Lebewesen, nicht nur diejenigen, die wir mögen oder die uns nahestehen - glücklich sein möge und die Ursachen dafür besitzen möge. Mitgefühl beinhaltet den Wunsch, dass jeder frei von Leiden sein möge, und zwar nicht nur von gewöhnlichem Leiden, sondern auch von dem alles umfassenden Leiden von Samsara und dessen Ursachen. Zu diesem Wunsch gehört auch, eine gewisse Verantwortung zu übernehmen, anderen tatsächlich dabei zu helfen, ihr Leiden zu überwinden, doch dafür ist ein weiterer Schritt erforderlich: der außergewöhnliche Entschluss. Diese außergewöhnliche Entscheidung besteht darin, dass wir den festen Entschluss fassen, tatsächlich volle Verantwortung dafür zu übernehmen, anderen nicht nur vorläufig zu helfen, sondern auf dem ganzen Weg bis hin zur Erleuchtung. Das alles ist die Grundlage für Bodhichitta.

In der ersten Phase von Bodhichitta richten wir unsere Aufmerksamkeit auf alle Lebewesen, und zwar in der Absicht, Erleuchtung zu erreichen, damit wir ihnen helfen können, ebenfalls Erleuchtung zu erreichen. Folglich ist die hauptsächliche Phase von Bodhichitta auf unsere eigene individuelle Erleuchtung ausgerichtet, die noch nicht stattgefunden hat. Wir können unsere individuelle Erleuchtung, die noch nicht stattgefunden hat, auf der Grundlage ihrer gegenwärtig stattfindenden Ursachen schlussfolgern und sie diesen Ursachen zuschreiben, so wie wir eine noch nicht aufgeblühte Blume ihrer Grundlage, dem gegenwärtig vorhandenen Samen, zuschreiben können. Auf ähnliche Weise gilt: Wenn wir ein enormes Maß an Arbeit und Anstrengung aufbringen und zudem die Bedingungen für das Erreichen der Erleuchtung vorhanden sind, wird unserem Geisteskontinuum nicht mehr unsere noch nicht stattfindende Erleuchtung zuzuschreiben sein, sondern es wird dann unsere gegenwärtig stattfindende Erleuchtung sein.

Was ich gerade angesprochen habe, ist natürlich ein ziemlich komplizierter und subtiler Vorgang; deswegen müssen wir es mit der Terminologie 100%ig genau nehmen. Sonst ist es sehr schwierig, tatsächlich zu verstehen, was um alles in der Welt wir eigentlich tun sollen, wenn wir uns auf Bodhichitta konzentrieren. Worauf konzentrieren wir uns dabei? Was erscheint dann im Geist? Es ist unsere eigene individuelle zukünftige Erleuchtung. Aber diese findet noch nicht statt. Heißt das, dass sie deshalb etwas ist, was es nicht gibt, und dass wir uns somit auf etwas konzentrieren, das es nicht gibt? Das ist eine sehr knifflige Frage, und wenn wir nicht genau wissen, worauf wir uns konzentrieren sollen, wird es sehr schwierig, tatsächlich Bodhichitta zu entwickeln. Wie der morgige Tag ist auch unsere noch nicht stattfindende Erleuchtung noch nicht aufgetreten, kann aber stattfinden und wir können unsere Aufmerksamkeit darauf richten und Pläne machen. Warum kann sie stattfinden? Sie kann stattfinden, weil wir die Faktoren der Buddha-Natur besitzen.

Der entscheidende Punkt ist hier, dass wir uns nicht auf die Erleuchtung von Buddha Shakyamuni als unser Ziel ausrichten, denn das war seine Erleuchtung. Wir streben nicht nach Erleuchtung im Allgemeinen, als sei das ein großer Luftballon am Himmel und als würden wir alle dieselbe Sache dort draußen anstreben. So ist es nicht. Es handelt sich um unsere eigene individuelle Erleuchtung. Wir richten uns auf die Faktoren unserer Buddha-Natur aus, und dieser Grundlage können wir unsere eigene individuelle, noch nicht stattfindende Erleuchtung zuschreiben.

Dies können wir uns durch das Bild eines Buddha vor Augen führen, aber es ist wichtig, dass wir wissen, wofür dieses Bild eigentlich steht. Die Zentrierung unserer Aufmerksamkeit auf unsere eigene, individuelle, noch nicht stattfindende Erleuchtung wird von zweierlei Absicht begleitet, nämlich der Absicht, sie zu erreichen, und der Absicht, dadurch, dass wir sie selbst erreichen, allen anderen zu helfen, sie ebenfalls zu erreichen. Das übersetze ich derzeit als „Bodhichitta-Motivation“, denn das ist es, was wir immer anstreben. Es ist unser Ziel im Leben Erleuchtung zu erreichen, um jedem auf die sinnvollste Weise nutzen zu können, indem wir ihm oder ihr helfen, gleichfalls Erleuchtung zu erreichen.

Wenn wir Bodhichitta im vollsten Sinne des Wortes entwickelt haben, wird es zu einem Zustand, der „mühelos“ genannt werden kann. Das heißt, dass wir nicht mehr all die Schritte durchlaufen müssen, um ihn aufzubauen und hervorzubringen. Mit anderen Worten: Wir haben im Handumdrehen das volle Bodhichitta mit all seinen charakteristischen Merkmalen, und zwar Tag und Nacht. Es spielt keine Rolle mehr, ob uns dieses Ziel gerade bewusst ist oder nicht. Alles in unserem Leben, alles was wir tun, sogar wenn wir schlafen, zielt darauf ab, Erleuchtung zu erreichen.

Unsere Absicht ist, zum Wohle aller - jedes einzelnen begrenzten Wesens - zu wirken, und wir zielen darauf ab, sie zu dem höchsten, vollständig entfalteten Zustand allumfassender Weisheit zu bringen, den es überhaupt gibt. Das ist ein unglaublich weit umfassender, unvorstellbarer Zustand des Geistes. Das ist es, was mit Mahayana – großes Fahrzeug des Geistes - gemeint ist. Es ist der Geisteszustand, der als Fahrzeug dient, uns zum höchsten Ziel zu bringen. Was wir anstreben, ist, dieses Ideal in unserem geistigen Kontinuum so zum Zentrum unseres Lebens zu machen, dass es, ganz gleich, ob wir uns seiner gerade bewusst sind oder nicht, unser Lebensziel ist.

Togme-Sangpo gibt in diesem Vers Hinweise darauf, wie man diese Bodhichitta-Motivation aufbaut. Er spricht davon, die unendlich vielen Lebewesen zu befreien, die unsere Mütter sind. Er stellt die rhetorischen Frage: „Denn wozu soll unser eigenes Glück gut sein, wenn unsere Mütter, die uns seit anfangsloser Zeit geliebt haben, leiden?“ Das ist ein Hinweis auf die siebenteilige Anweisung über Ursachen und Wirkungen, die zur Entwicklung von Bodhichitta dient.

Zuerst gilt es dabei Gleichmut zu entwickeln, sodass wir kein Ungleichgewicht im Geist haben, indem wir uns zu einigen Menschen hingezogen fühlen, anderen gegenüber Abneigung haben und den übrigen gleichgültig gegenüberstehen. Wir sind allen gegenüber aufgeschlossen; und das ist sehr wichtig, wenn wir Liebe und Mitgefühl im Sinne des Mahayana entwickeln wollen. Erinnern Sie sich daran, dass es hier nicht nur um Liebe und Mitgefühl für Menschen geht, die wir mögen, denn das ist nicht Liebe und Mitgefühl im Sinne des Mahayana, des „großen Fahrzeugs“. Was wir brauchen, sind allumfassende Liebe und Mitgefühl. Wenn im Sinne des Mahayana von „großer Liebe“ und „großem Mitgefühl“ die Rede ist, so bedeutet das, dass sie gleichermaßen auf alle gerichtet sind. Natürlich ist es ziemlich schwer, das zu empfinden, insbesondere da einige begrenzte Wesen ein Leben als Moskito führen. In diesem Zusammenhang ist es vonnöten, Wiedergeburt zu verstehen. Niemand existiert wahrhaft nur in der Lebensform, in der er oder sie gegenwärtig auftritt. Jeder ist ein individuelles geistiges Kontinuum, das durch zahllose Wiedergeburten verläuft, und zwar aufgrund des Karmas, das es ansammelt.

Jedes dieser geistigen Kontinua oder vielmehr jedes dieser Wesen ist in irgendeinem Leben unsere Mutter gewesen; deswegen nennt Togme-Sangpo die Lebewesen unsere Mütter. Der Grund dafür ist, dass es um eine unendliche Zeit geht, die Anzahl der Lebewesen aber endlich ist. Wenn man das mathematisch bedenkt, kann man den Beweis erbringen, dass es so sein muss – dass dann jedes Wesen irgendwann unsere Mutter gewesen sein muss.

Meine deutschen Schüler haben einen sehr schönen Beweis dafür im Stil der Prasangika-Argumentation aufgestellt. In der Prasangika-Philosophie wird mittels absurder Schlussfolgerungen argumentiert. Demgemäß lautete der aufgestellte Argumentationsverlauf: Jeder war meine Mutter, nicht nur aufgrund der anfangslosen Zeit und der endlichen Anzahl von Lebewesen, sondern der Hauptgrund, der hier angeführt wird ist: weil alle gleich sind. Wenn ein Wesen meine Mutter gewesen ist, nämlich in diesem Leben, so kann man demnach schlussfolgern, dass jeder in irgendeinem bestimmten Leben meine Mutter gewesen ist, denn alle sind gleich. Wenn das nicht der Fall wäre, dann würde gelten: Wenn ein bestimmtes Wesen niemals meine Mutter gewesen ist, dann war niemand jemals meine Mutter, einschließlich meiner Mutter in diesem Leben, weil ja alle gleich sind. - Das ist ein beispielhafter Prasangika-Beweis. Tibetern fällt es leicht, solche Beweise nachzuvollziehen, selbst wenn sie nicht jeden einzelnen Schritt darin durchgehen,. Ich habe dieses Beispiel eines Beweises einem Lehrer der Schule für Debatte in Dharamsala vorgelegt und er bestätigte, dass es sich um einen gültigen Beweis im Prasangika-Stil handelt.

Diese Annahme, dass jedes Wesen unserer Mutter war, spielt eine wichtige Rolle für den ersten Schritt der siebenteiligen Methode von Ursachen und Wirkungen zur Entwicklung von Bodhichitta:

(1) Erkennen, dass jedes Wesen wirklich unsere Mutter gewesen ist – es ist notwendig, zu dieser Überzeugung zu kommen. Sonst akzeptieren wir sie, ohne sie wirklich zu verstehen, und das ist keine stabile Grundlage. Wenn ein Wesen nicht meine Mutter war, dann war niemand je meine Mutter, denn sie sind alle gleich. Wenn also ein Wesen meine Mutter war, muss jedes Wesen meine Mutter gewesen sein, da sie ja alle gleich sind. Interessant, nicht wahr?

Die nächsten Punkte der siebenteiligen Methode sind:

(2) Sich die Güte in den Sinn rufen, die mütterliche Liebe ausmacht - das absolute Minimum davon ist, dass unsere Mutter uns zumindest nicht abgetrieben hat, als sie schwanger war. Ganz gleich, wie schwierig die Beziehung zu unserer Mutter sein mag, diese Güte war zumindest vorhanden. Die meisten von uns hätten als Neugeborene ohne die Hilfe unsere Mutter nicht überleben können.

(3) Diese Güte wertschätzen - normalerweise wird das „die Güte erwidern“ genannt, aber ich finde, das ist ein etwas zu gewichtiger Ausdruck in Hinblick auf die Schuldgefühle, die viele Menschen im Westen mit sich herumtragen. Eigentlich bedeutet der Begriff: „die Güte wertschätzen“ bzw. „dankbar sein“. Wenn wir wirklich die Güte zu schätzen wissen, die uns von allen erwiesen wurde, und wirklich dankbar dafür sind, empfinden wir natürlicherweise etwas, das „herzerwärmende Liebe“ genannt wird. Wann immer wir einem Wesen begegnen, wird unser Herz von Freude und Glück erfüllt, so als würden wir unser einziges Kind treffen; und wir fänden es furchtbar, wenn ihm etwas zustoßen würde.

(4) Liebe entwickeln – aufgrund der herzerwärmenden Liebe zu allen haben wir den Wunsch, dass sie alle glücklich sein mögen und die Ursachen dafür besitzen mögen.

(5) Mitgefühl entwickeln - ebenfalls beruhend auf herzerwärmender Liebe für alle haben wir den Wunsch, dass sie alle frei von Leiden und den Ursachen für Leiden sein mögen, und wir sind bereit, etwas dafür zu tun, dass es dazu kommt.

(6) Den außergewöhnlichen Entschluss fassen - die eindeutige Entscheidung treffen, Verantwortung dafür zu übernehmen, sie alle bis hin zur Erleuchtung zu bringen.

Basierend auf diesen sechs Ursachen erfolgt dann als Ergebnis der siebte Schritt:

(7) Bodhichitta entwickeln.

Wie Togme-Sangpo sagt: Wenn unsere Mütter, die uns seit anfangsloser Zeit geliebt haben, leiden, und da wir ja mit ausnahmslos allen Wesen in Verbindung und in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen - wozu soll unser eigenes Glück gut sein? Es gilt, das immer währende Glück der Befreiung und Erleuchtung, die wir mit der Buddhaschaft erreichen, dafür zu nutzen, es allen zugute kommen zu lassen, nicht nur an irgendeinem Swimmingpool zu sitzen und kühle Getränke zu schlürfen.

Unsere geistigen Einstellungen uns selbst und anderen gegenüber gleichsetzen und austauschen

Im nächsten Vers gibt Togme-Sangpo Hinweise auf die andere wesentliche Methode, die der Entwicklung von Bodhichitta bedient, nämlich: unsere geistigen Einstellungen uns selbst und anderen gegenüber zunächst auszugleichen und dann zu vertauschen.

(11) Die Übung der Bodhisattvas ist, unser persönliches Glück wahrhaftig gegen die Leiden der anderen Wesen einzutauschen, denn (all) unsere Leiden entstehen ausnahmslos aus der Begierde nach persönlichem Glück; vollkommene Erleuchtung hingegen entsteht aus der Absicht, anderen von Nutzen zu sein.

Auch hier ist es zunächst erforderlich, eine ebenmäßige Einstellung gegenüber allen anderen zu entwickeln. Diese Vorgehensweise beruht auf derselben Art von Gleichheit, die in der ersten Methode zur Entwicklung von Bodhichitta eine Rolle spielte, nämlich einer Ausgewogenheit in dem Sinne, dass wir uns nicht zu einigen Personen hingezogen fühlen und anderen Abneigung oder Gleichgültigkeit entgegenbringen. Auf dieser Grundlage gehen wir jedoch nun einen Schritt weiter: Wir setzen uns selbst und andere gleich. Das bedeutet hier, dass wir und alle anderen insofern gleich sind, als jeder, ganz gleich, was er tut, glücklich und nicht unglücklich sein möchte. Und wir alle haben gleichermaßen ein Recht darauf, glücklich und nicht unglücklich zu sein. Warum also sollte uns nur an unserem eigenen Glück gelegen sein? Shantideva bringt diesen Punkt in seinem Text „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ so zum Ausdruck:

(VIII.95) Wenn von mir genau wie von anderen Glück doch gleichermaßen erwünscht ist, - was ist an mir so Besonderes, dass ich nur um mein eigenes Glück bemüht bin?
(VIII.96) Und wenn Unglück genauso von mir wie von anderen gleichermaßen unerwünscht ist, - was ist an mir so Besonderes, dass ich mich nur um mich selbst kümmere?

Wenn wir auf diese Weise alle gleichsetzen, ist es so, wie Shantideva sehr schön erklärt, dass wir gewissermaßen alle eine Art lebendigen Körper bilden, so wie all unsere eigenen physischen Körperteile einen Gesamtkörper bilden. Shantideva schreibt:

(VIII.91) So, wie man für den Körper als Ganzes sorgt, obwohl er in viele Einzelteile wie Hände usw. unterteilt werden kann, so sind trotz aller Unterschiede zwischen den umherwandernden Wesen doch alle im Hinblick auf Glück und auf Leiden genauso wie ich, indem als sie alle glücklich sein möchten, und insofern [bilden sie] alle ein Ganzes.

Man kann nicht sagen, dass ein Teil des Körpers mehr Fürsorge bedarf als ein anderer oder dass es für einen Teil unseres Körpers wichtiger ist, schmerzfrei zu sein, als für einen anderen. In Bezug darauf sind sie alle gleich. Wir können also nicht sagen, dass ein Teil des Körpers, zum Beispiel eine Hand, sich nur um eine Hand zu kümmern bräuchte. Wenn der Fuß schmerzt, weil ein Dorn darin steckt, streckt sich ohne darüber nachzudenken sofort die Hand aus, um den Dorn herauszuziehen und dem Fuß Erleichterung zu verschaffen. Die gleiche Logik ist darauf übertragbar, warum es sinnvoll ist, dass wir uns um andere kümmern. Shantideva schreibt:

(VIII.99) Wenn jegliches Leiden, das jemand hat, nur von ihm selbst behandelt werden soll, warum sollte sich dann die Hand um das Leiden des Fußes kümmern, da es doch nicht ihr eigenes ist?
(VIII.100) Wenn man sagt, dass es unlogisch sei [dass das Leiden des Fußes die Hand nichts angeht] und [ihr Handeln] hier aufgrund eines Sinns für das [gesamte] Selbst unternommen wird, dann ist Ähnliches ebenso unlogisch hinsichtlich [des Ganzen, das aus] mir und anderen besteht; es ist also etwas, das ich ablegen sollte, so viel ich kann.

Der springende Punkt ist hier, was denn eigentlich die Grundlage für die Benennung „ich“ ist. Schreiben wir die Bezeichnung „ich“ nur unserer Hand als Grundlage dafür zu oder unseren ganzen Körper als Grundlage dafür? Schreiben wir die Bezeichnung „ich“ nur der eigenen Person als Grundlage dafür zu, oder können wir sie auf jeden als Grundlage dafür beziehen?

(VIII.92) Obwohl mein Schmerz nicht den Körpern der anderen weh tut, ist er als solcher der Schmerz eines „ich“, und weil man am „ich“ hängt“, unerträglich.
(VIII.93) Und ebenso gilt: Obwohl der Schmerz von anderen nicht mich heimsucht, ist er als solcher der Schmerz eines „ich“, und weil man am „ich“ hängt, unerträglich.

Shantideva erklärt: Momentan stützen wir unsere begriffliche Vorstellung von „ich“ auf eine Grundlage, die aus Teilen von anderen Körpern hervorgeht, etwas, das aus einer Samen- und einer Eizelle zweier anderer Menschen gewachsen ist. Es stammt nicht aus unserer eigenen Samen- oder Eizelle, nicht wahr?! Eigentlich kümmern wir uns also um etwas, das aus dem Körper anderer Menschen hervorgegangen ist - was macht es da für einen Unterschied zwischen dieser Art Fürsorge und der Fürsorge für einen anderen Körper, der ebenfalls aus dem Körper von anderen hervorgegangen ist? Was ist es für ein Unterschied, ob wir unsere eigene verschnupfte Nase abwischen oder die unseres Babys? Wir sind zu beidem bereit, wenn es notwendig ist. Und inwiefern unterscheidet sich das davon, einem Betrunkenen, der auf der Straße liegt, die Nase abzuwischen? Shantideva formuliert das so:

(VIII.111) Genauso, wie wir aus Gewohnheit hinsichtlich Tropfen von Samen und Blut, die anderen zugehörig sind, ein Verständnis von „ich“ entwickelt haben, obwohl es nicht als ein Ding existiert
(VIII.112) - warum könnten wir nicht genauso einen Körper, der jemand anderem zugehörig ist, als „ich“ auffassen? Es ist ja auch nicht schwierig, den eigenen Körper als anderen zugehörig darzustellen.

Wie Shantideva sagt, gilt es Leiden zu beseitigen, nicht weil es mein Leiden oder dein Leiden ist, sondern Leiden ist einfach deshalb zu beseitigen, weil es Leiden ist und schmerzt. Shantideva betont, dass Leiden niemandem gehört. Genauso, wie ich mich auf der Grundlage dieses einzelnen Körpers um „mich“ kümmern kann, kann ich mich auch auf der Grundlage aller anderen Körper um „mich“ kümmern.

(VIII.102) Indem Leiden ohne Besitzer ist, ist alles Leiden ohne Unterschied; es ist zu beseitigen, einfach weil es Leiden ist. Warum sollten in Bezug darauf feste Einschränkungen bestehen?
(VIII.94) Das Leiden anderer ist also etwas, das durch mich zu beseitigen ist, einfach, weil es Leiden ist, wie das Leiden eines „Ich“; und andere sind Wesen, denen durch mich zu helfen ist, wie dem Körper eines „Ich“.

Wenn wir uns in der Praxis des „Tonglen“ – d.h. „Geben und Nehmen“ - üben, die im Text mit den Worten „unser persönliches Glück gegen die Leiden der anderen Wesen einzutauschen“ angedeutet wird, bedeutet das, dass wir ihr Leiden annehmen, als wäre es unseres, und ihnen unser Glück zukommen lassen, als würden wir uns selbst Glück zukommen lassen. Wenn wir bei dieser Praxis kein Verständnis der Leerheit haben und nicht verstehen, was es mit der geistigen Zuschreibung eines konventionellen „Ich“ auf sich hat, bekommen wir große Probleme. In welche Schwierigkeiten geraten wir dann? Es handelt sich um das Problem, dass dann unsere gesamte Praxis auf der falschen Vorstellung beruht, dass wir ein festes, unabhängiges, wahrhaft begründetes „Ich“ wären. Infolgedessen haben wir dann die fixe Idee, ein Märtyrer zu sein, der das Leiden der ganze Welt auf sich nehmen muss, in der Vorstellung: „Ich werde alle retten“, und das kann zu riesigen Ängsten führen, weil wir gleichzeitig denken: „Ich will aber natürlich nicht den Schmerz fühlen, den du fühlst, während du an Krebs stirbst.“ In dem Fall denken wir im Sinne eines sehr festen „Ich“, das von allen anderen getrennt ist, und wir wollen ganz bestimmt nicht das Leiden von jemandem haben, der gerade stirbt. Wenn wir hingegen die Leerheit des „Ich“ verstehen und an alle im Sinne eines erweiterten konventionellen „ich“ denken, dann wird dieser Austausch der Einstellung gegenüber sich selbst und anderen ziemlich einfach und durchaus plausibel. Er ist nur dann angsterregend, wenn wir im Sinne eines festen „Ich“ denken. Das ist ein sehr wichtiger Punkt im Hinblick auf diese Übung, in der man die Einstellung in Bezug auf sich selbst und andere vertauscht.

Warum ist es sinnvoll, alle anderen und ihr Glück im Sinn zu haben und nicht nur uns selbst und unser eigenes Glück? Togme-Sangpo sagt: weil „(all) unsere Leiden ausnahmslos aus der Begierde nach persönlichem Glück entstehen“. Wenn wir schädlich handeln, tun wir das eigentlich aus dem Grund, dass wir unser eigenes, persönliches Glück begehren. Zum Beispiel: „Es passt mir nicht, dass dieser Käfer um mich herumschwirrt. Das bereitet mir Unbehagen und ich will mich wohlfühlen, ohne dass er da ist. Der ist keine hinnehmbare Lebensform.“ Deswegen entschließen wir uns, ihn zu töten, basierend auf den selbstsüchtigen Vorstellungen hinsichtlich unseres eigenen Nutzens. Noch ein Beispiel für ausschließliches Denken an das persönliche Glück: Man will etwas haben, das jemand anders besitzt, und deswegen stiehlt man es. Oder: Wir wollen unsere persönliches Glück und gehen eine Affäre mit jemandem ein, der in einer festen Partnerschaft steckt. Oder wir wollen, dass etwas nach unserem Willen geht und lügen deswegen. – Auf diese Weise können wir alle zehn schädlichen Handlungen durchgehen. Es ist nicht schwer zu erkennen, wie sie beruhend darauf zustande kommen, dass wir nur unser eigenes Glück wollen und uns um das der anderen nicht scheren.

Selbst wenn wir konstruktiv handeln und dies nur beruhend auf dem Wunsch nach unserem eigenen, persönlichen Glück tun, setzt das ebenfalls nur unser Samsara fort. Zum Beispiel wenn wir nett zu jemandem sind, weil wir wollen, dass er oder sie uns mag, oder weil wir das Gefühl haben wollen, gebraucht zu werden, unentbehrlich zu sein usw. auch das ist einfach der Wunsch nach unserem eigenen, persönlichen Glück. In der buddhistischen Terminologie nennt man eine „selbstbezogene Einstellung“.

Die nächste Zeile erklärt, dass „vollkommene Erleuchtung hingegen aus der Absicht entsteht, anderen von Nutzen zu sein.“ Wenn wir uns davon zurückhalten, destruktiv zu handeln, also z.B. den Käfer zu erschlagen, so tun wir es, weil wir auch an das Wohl des Käfers denken. Wenn wir davon absehen, jemandem etwas zu stehlen, dann ebenfalls deswegen, weil wir auch an dessen Wohl und nicht nur an unseres denken. So können wir die zehn konstruktiven Handlungen durchgehen. Sie alle beruhen darauf, dass man an das Glück der anderen denkt, nicht an das eigene, und davon ausgehend schreiten wir fort bis hin zur Geisteshaltung des Bodhichitta. Wie wird man zum Buddha? Aufgrund von Bodhichitta. Bodhichitta beruht darauf, dass man an andere denkt.

Um die beiden Methoden zur Entwicklung von Bodhichitta noch einmal kurz zusammenzufassen: Das System der siebenteiligen Anweisung über Ursachen und Wirkung wird davon ausgehend geübt, dass wir jeden als unsere Mutter betrachten. Und des Weiteren gibt es die Methode, die Einstellung gegenüber sich selbst und anderen auszutauschen. Sobald wir mit Hilfe dieser beiden Methoden Bodhichitta entwickelt haben, haben wir die Geisteshaltung des anstrebenden Bodhichitta erlangt. Wir streben an, zum Wohle aller Erleuchtung zu erreichen. Darüber hinaus schreiten wir fort zur Geisteshaltung des ausübenden Bodhichitta, mit der wir die Bodhisattva-Gelübde ablegen und uns tatsächlich in den Verhaltensweisen üben, die uns zur Erleuchtung bringen werden.

Bodhisattva-Verhalten: mit Schädigungen umgehen

Bodhisattva-Verhalten umfasst viele verschiedene Aspekte, aber einer der wichtigsten davon ist, wie wir mit Schädigungen umgehen, die uns treffen. Die grundlegende Methode, die Togme-Sangpo für den Umgang mit Schädigungen und Schwierigkeiten beschreibt, ist „Tonglen“, Geben und Nehmen. Das ist eine der grundlegendsten Arten, missliche Umstände in förderliche umzuwandeln, und ein Thema, das in den Texten zur Schulung der Geisteshaltung (lojong) ausführlich behandelt wird. Togme-Sangpo hat, wie Sie sich vielleicht erinnnern, eine Erläuterung zu Geshe Chekawa’s „Schulung der Geisteshaltung in sieben Punkten“ geschrieben, und folglich finden wir in den Versen hier viele Punkte, die nicht nur Ähnlichkeiten mit jenem Text aufweisen, sondern auch mit Langri-Tangpas „Schulung der Geisteshaltung in acht Versen“, auf der die sieben Punkte beruhen.

(12) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn jemand unter dem Einfluss großer Begierde unsere Reichtümer stiehlt oder andere dazu veranlasst, ihm dennoch unseren Körper, unsere Ressourcen und unsere konstruktiven Handlungen aus allen drei Zeiten zu widmen.

Wenn wir wirklich mit Bodhichitta darauf abzielen, jeden zur Erleuchtung zu bringen, zum höchstmöglichen Zustand, und vollkommen bereit sind, ihnen all dieses Glück zu schenken, dann haben wir es ihnen damit gewissermaßen gegeben. Es mag sein, dass wir es ihnen gegenwärtig nicht physisch zukommen lassen haben, aber im Geist haben wir ihnen alles gegeben, was man überhaupt geben kann. Wenn uns also jemand etwas wegnehmen bzw. etwas stehlen würde oder andere dazu veranlasst, wie Togme-Sangpo sagt, weil er unter dem Einfluss großer Begierde steht, dann hat er nur etwas genommen, was ihm bereits gehört.

Shantideva äußert sich ähnlich, wenn er schreibt:

(III.12ab) Nachdem ich meinen Körper all jenen überlassen habe, die einen begrenzten Körper besitzen, um mit ihm zu tun, was sie gerne tun möchten,
(III.14ab) Lass sie mit (meinem) Körper tun, was sie wollen, solange es ihnen selbst nicht schadet;

Wenn sie also etwas von uns nehmen, ist das ganz in Ordnung, weil wir es ihnen geistig ja bereits zukommen lassen haben. Wir widmen ihnen auch alles andere. Wir widmen ihnen, wie Togme-Sangpo sagt, unseren Körper, unsere Ressourcen und unsere konstruktiven Handlungen aus allen drei Zeiten. „Widmen“ bedeutet hier, beispielsweise zu denken: „Sie haben mein Geld gestohlen – oder meinen Computer oder was auch immer –, und ich hoffe, Sie haben Freude daran. Ich möchte, dass Sie glücklich sind, also hoffe ich, dass dies Sie glücklich macht.“ Wir nehmen ihnen alles ab, was an leidvollen Konsequenzen aus dieser Handlung hervorgehen mag, und lassen ihnen stattdessen nur Glück zukommen.

Hier werden wir wieder daran erinnert, was Togme-Sangpo bereits zuvor erwähnt hat, nämlich dass alles Unglücklichsein und Leiden daher kommt, dass man nur an sich selbst denkt, und dass alles Glück daraus hervorgeht, dass man an das Glück der anderen denkt. Als ich in Indien, in Dharamsala lebte, hatte ich einen Garten mit Blumen darin, und eines Tages kamen die Kinder des Ortes und pflückten sämtliche Blumen. Da ich ein samsarischer Mensch bin, wurde ich ärgerlich und wollte hinausgehen und sie anschreien und verjagen. Aber dann versuchte ich mir diese Ratschläge in Erinnerung zu rufen - wenn ich in meinen Meditationssitzungen und Übungen immer sage „Mögen alle glücklich sein, möge jeder Erleuchtung erreichen“ und ihnen dann nicht einmal ein paar Blumen gönne, ist das völlig absurd. Sich darüber aufzuregen und unglücklich zu sein, weil sie die Blumen pflückten, beruhte ganz und gar darauf, nur an mich zu denken. Es waren meine Blumen und ich wollte den Anblick selbst genießen. Aber wenn ich dachte „Möget ihr Freude an diesen Blumen haben“, dann waren das Gedanken an das Glück von anderen und sie brachten mir tatsächlich inneren Frieden.

Erinnern Sie sich an den Punkt, wo es darum geht, die Einstellung sich selbst und anderen gegenüber gleichzusetzen und auszutauschen: Was macht es denn für einen Unterschied, ob ich Freude daran habe oder sie? Also widmen wir ihnen noch mehr Glück ausgehend von unserem Körper, unseren Ressourcen und unseren konstruktiven Handlungen aus allen drei Zeiten, d.h. aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

All diese Verse, in denen es um Schädigungen geht, sollen uns dabei helfen, nicht ärgerlich zu werden. Ein Bodhisattva wird auf niemanden ärgerlich, denn Ärger beinhaltet im Grunde, dass wir wünschen, die andere Person möge unglücklich sein. Wir wollen sie am liebsten loswerden und wollen verhindern, was sie gerade tut. Zu wollen, dass jemand unglücklich ist, ist eindeutig das Gegenteil des Wunsches, dass er glücklich sein mögen, nicht wahr? Somit macht Ärger, wie es heißt, die positive Kraft zunichte, die durch unsere konstruktiven Handlungen aufgebaut wurde. „Zunichte machen“ heißt hier, dass er unsere positive Kraft außerordentlich schwächt, sodass es länger dauert, bis sie zur Reife kommt, und das Resultat, dass sie hervorbringt, geringer sein wird. Deswegen ist es erforderlich, Geduld zu entwickeln. Wenn wir Geduld haben, werden wir nicht ärgerlich, und eine der besten Arten, dies zu üben, ist die Praxis des „Tonglen“, des Gebens und Nehmens.

(13) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn jemand uns den Kopf abschlägt, obwohl wir überhaupt nichts falsch gemacht haben, dennoch die schlimmen Folgen seiner Handlung mit der Kraft des Mitgefühls auf uns zu nehmen.

Hier wird eine äußerst extremes Beispiel angeführt, nämlich dass jemand uns den Kopf abschlägt, aber der Punkt, der diesem Beispiel zu entnehmen ist, lautet: Selbst wenn jemand uns schwerwiegenden Schaden zufügt, und selbst wenn wir gar nichts dafür können, werden wir trotzdem nicht ärgerlich. Vielmehr versuchen wir, Tonglen zu üben und an all die schlimmen Folgen und Leiden denken, die diese Person als Resultat ihrer Handlung, uns den Kopf abzuschlagen - oder was auch immer sie uns für einen Schaden zugefügt hat - erleben muss. Wir üben uns in Tonglen, indem wir aufgrund der Kraft des Mitgefühls diese Folgen selbst auf uns nehmen, während wir ihnen wünschen, völlig frei von Leiden zu sein.

Sehr interessant ist es, sich die Lehren über Karma daraufhin anzuschauen, welche Faktoren das Reifen von Karma verstärken. In den Lehren finden wir eine ganze Liste solcher Faktoren, die die Folgen verschlimmern. Der wörtliche Ausdruck dafür lautet, dass sie dann „schwerer“ sind. Einer der Faktoren, die die Schwere des Karmas beeinflussen, hat damit zu tun, wie viel Leiden eine schädliche Handlung für denjenigen bewirkt, dem sie zugefügt wird. Wenn sie ein enormes Ausmaß an Leid erzeugt, sind die karmischen Folgen schlimmer. Wenn sie nicht so viel Leiden erzeugt, sind die Folgen nicht so schwerwiegend. Das Beispiel, das dafür meistens genannt wird, ist der Unterschied zwischen den Folgen davon, dass man jemanden langsam zu Tode foltert, und davon, dass man jemanden schnell und augenblicklich tötet.

Auf das Beispiel bezogen, dass „uns jemand den Kopf abschlägt“, bedeutet das: Wenn jemand uns umbringt, etwa wenn wir in einer ethnischen Säuberungsaktion erschossen werden oder dergleichen, und wir wütend sind und schlimm leiden, sind die Folgen für die ausführende Person erheblich schwerwiegender. Wenn jemand uns den Kopf abschlägt, so ist das etwas, das eigentlich ziemlich schnell geht. Doch um auf den vorigen Vers zurückzukommen, in dem es darum ging, dass jemand uns etwas stiehlt: In dem Fall ist es gut möglich, dass wir sehr ärgerlich werden, tiefen Groll hegen und noch lange darunter leiden und daran denken. Vielleicht schmieden wir Pläne, wie wir es der anderen Person heimzahlen können, und aufgrund all der störenden Emotionen ist das Resultat nicht nur, dass wir jetzt und in Zukunft mehr leiden werden, sondern auch die karmischen Konsequenzen für die andere Person wiegen schwerer. Und was ist, wenn wir nicht ärgerlich werden? Wenn wir stattdessen mitfühlend an diese andere Person denken, möchten wir, dass die Folgen ihrer Handlung so gering wie möglich bleiben. Aufgrund unseres Mitgefühls für sie ändert sich dann die gesamte Situation, und zwar nicht nur für uns selbst, sondern auch für die andere Person.

Deswegen spielt es eine große Rolle, dass wir loslassen, wenn jemand uns etwas antut. Es mag zum Beispiel sein, dass jemand sich Geld von uns geliehen hat und es nicht zurückzahlt - es gibt Situationen, in denen jemand es uns nie zurückgeben wird. Lassen Sie die Sache fallen! Eine solche Haltung unterscheidet sich ziemlich von der westlichen Vorstellung von Vergebung, die oft eine Art distanziert Überlegenheit beinhaltet – „Na gut, ich verzeihe dir, du armes Ding“. So etwas beruht auf einer bestimmten Vorstellung von Schuld, nämlich der Vorstellung, dass die andere Person schuldig ist und wir ihr die Schuld erlassen. Es beinhaltet, dass man der anderen Person eine wahre Identität als „die Schuldige“ gibt, der wir die Schuld gnädig erlassen. Hier hingegen sehen wir aufgrund von Mitgefühl, dass, je mehr wir uns ärgern und aufregen, die andere Person nur umso mehr Leid erfahren wird.

Weil wir möchten, dass sie glücklich ist, werden wir nicht ärgerlich. Wir wünschen ihr nur noch mehr Glück.

Auch wenn wir noch keine Bodhisattvas sind, können dies sehr hilfreiche Richtlinien sein, die wir versuchen können, umzusetzen, soviel es uns möglich ist.

(14) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn jemand in tausend, Millionen, Milliarden von Welten vielerlei Unrühmliches über uns verbreitet, als Erwiderung liebevoll von seinen guten Eigenschaften zu sprechen.

Wenn andere uns unschöne Dinge sagen, uns anschreien, uns beleidigen usw., empfiehlt es sich, nicht mit abscheulichen Äußerungen darauf zu antworten. Wenn wir andere ständig kritisieren und hässliche Dinge über sie sagen, werden die Leute eine sehr niedrige Meinung von uns haben und uns nicht trauen, wenn wir ihnen helfen wollen, weil sie sich fragen, was wir wohl über sie erzählten. Deshalb schrieb Langri-Tangpa in seiner „Schulung der Geisteshaltung in acht Versen“:

(5) Wenn andere mich aus Neid ungerecht behandeln, beschimpfen, verleumden und dergleichen, möge ich Niederlagen akzeptieren und anderen den Sieg überlassen.

Shantideva weist überdies darauf hin, dass jeder irgendwelchen guten Qualitäten hat. In vielen Versen hebt er hervor: Wenn wir möchten, dass andere sich über unsere guten Eigenschaften freuen, warum wollen wir uns dann nicht über die guten Eigenschaften von anderen freuen? Alle empfinden ja in dieser Hinsicht ähnlich. Er schrieb:

(VI.79) Wenn jemand deine guten Qualitäten herausstreicht wünscht du dir auch, dass andere sich darüber freuen; wenn jedoch die guten Qualitäten anderer herausgestellt werden, möchtest du dich daran nicht erfreuen.
(VI.80) Nachdem du eine Bodhichitta-Motivation entfaltet hast, indem du allen begrenzten Wesen Glück wünschst, warum wirst du dann stattdessen ärgerlich, wenn sie von ganz alleine ein wenig Glück finden?

Wenn wir uns über das Glück und die guten Eigenschaften anderer freuen, werden wir in der Tat mehr Glück gewinnen. Was kommt dabei heraus, wenn wir ihnen gegenüber ablehnend sind und ihre guten Eigenschaften abstreiten? Wir fühlen uns am Ende selbst unglücklich. In was für einem Geisteszustand befinden wir uns, wenn wir andere bemängeln? Es ist ein recht unglücklicher Geisteszustand. Sich über die guten Eigenschaften anderer zu freuen, so gering diese auch sein mögen, ist mit Sicherheit ein glücklicherer Geisteszustand. Und andere haben auch etwas davon. Sie gewinnen Vertrauen zu uns und respektieren uns, und dadurch sind wir besser imstande, ihnen zu helfen. Andere haben mehr Vertrauen zu uns und sind uns gegenüber aufgeschlossener.

Angesichts der negativen Propaganda seitens der Chinesen über Seine Heiligkeit den Dalai Lama ist er selbst das beste Beispiel für diese Empfehlung. Die Chinesen verbreiten so viele verächtliche Aussagen über ihn überall auf der Welt, und obwohl ihre Aussagen nicht wahr sind, tadelt seine Heiligkeit sie nicht und äußert keine hässlichen Worte über die schrecklichen Gepflogenheiten der chinesischen Regierung. Er spricht vielmehr von den positiven Dingen, die China Tibet zu bieten hat und leugnet diese nicht. Auf diese Weise ist er offen für Verhandlungen mit ihnen. Das ist eine ganz andere Haltung als diejenige, die terroristische Straftaten prägt, oder diejenige von Rebellenbewegungen, die die Regierung bloß als verabscheuenswert hinstellen und einfach nur versuchen, sie zu vernichten.

Der wesentliche Punkt hier ist der Rat, nicht über die negativen Eigenschaften anderer zu reden, selbst wenn sie sich negativ über uns äußern, sondern vielmehr ihre guten Eigenschaften zu betonen, und zwar aus einer Haltung der Liebe, also in dem Wunsch, dass sie glücklich sein mögen. Jeder hat gute Eigenschaften, und folglich freuen wir uns über das Glück, dass sie aufgrund ihrer guten Eigenschaften erfahren. Wenn wir es nicht einmal ertragen können, dass eine einzige Person anderen etwas Negatives über uns erzählt, wie könnten wir dann jemals das ertragen, was Seine Heiligkeit aushält – die verleumderischen Aussagen einer ganzen Nation! Das allein spricht wirklich Bände über das Bodhisattva-Verhalten Seiner Heiligkeit des Dalai Lama, nicht wahr?

(15) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn uns jemand öffentlich bloßstellt und schlecht über uns redet, uns voller Achtung vor ihm zu verneigen und unterscheidend festzustellen, dass [die Person unser] spiritueller Lehrer ist.

Langri-Tangpa nennt die Analogie des Lehrers auf ganz ähnliche Weise:

(6) Selbst wenn jemand, dem ich geholfen habe und in den ich große Erwartungen setze, mir völlig ungerechtfertigt schaden würde, möge ich sie oder ihn als vortrefflichen Lehrer ansehen.

Wenn andere uns kritisieren, unsere Mängel aufdecken usw., erweisen sie uns im Grunde einen großen Dienst, indem sie uns unsere Fehler aufzeigen, sodass wir sie korrigieren können. Wenn wir überlegen, was eigentlich einen guten Freund ausmacht, so gehört dazu auch, dass er oder sie uns sagt, dass wir uns töricht benehmen, wenn dies der Fall ist. Wenn ein Lehrer in der Schule nicht unsere Fehler und Mängel aufzeigen, sondern immer nur sagen würde: „Oh, das hast du aber gut gemacht!“, würden wir nie etwas lernen und verbessern können. Insofern ist jemand, der unsere Fehler enthüllt, wirklich wie ein spiritueller Lehrer, der uns hilft, unsere Unzulänglichkeiten zu erkennen und zu korrigieren.

Wenn das, was andere über uns sagen, nicht stimmt, gibt uns das Gelegenheit, zu überprüfen, ob es nicht doch einen Funken Wahrheit enthält. Selbst wenn sie uns inmitten einer Versammlung zahlreicher Menschen bloßstellen und unsere Fehler enthüllen, ist es hilfreich, sie dennoch als unsere Lehrer zu betrachten. Wenn wir anderen wirklich von Nutzen sein wollen, ist es entscheidend, unsere Fehler und Unzulänglichkeiten nicht zu verbergen oder vorzugeben, wir hätten bestimmte Qualitäten, wenn das nicht der Fall ist. Jemand, der unsere Fehler vor einer Gruppe von Menschen aufzeigt, gibt uns Gelegenheit, ihnen gegenüber aufrichtig zu sein.

Wenn wir zum Beispiel selbst Lehrer sind und jemand aus der Klasse uns korrigiert, können wir uns, statt betreten zu reagieren, bedanken, dass er darauf hinweist. Man braucht nicht zu denken: „Oh, das ist ja schrecklich – was werden die Leute jetzt von mir denken?“ Man kann vielmehr einfach sagen: „Danke. Da habe ich mich vertan“ bzw. „das war ein Fehler“. Infolgedessen werden die Leute in der Klasse uns mehr respektieren. Wenn Seine Heiligkeit der Dalai Lama lehrt, verspricht er sich manchmal und sagt etwas Verkehrtes. Dann merkt er es und lacht und sagt: „Ich habe gerade etwas Verkehrtes gesagt.“ So einfach ist das. Er macht keine große Sache daraus; er hat nicht das Gefühl: „Ach, ich bin ja schrecklich.“

Wenn davon die Rede ist, „unterscheidend festzustellen, dass jemand unser spiritueller Lehrer ist“, wird das Wort „unterscheiden“ oft als „erkennen“ übersetzt. Aber „unterscheiden“ bedeutet, dass man ein bestimmtes Merkmal oder eine Besonderheit von etwas oder jemanden erkennt und dieses unterscheidende Merkmal spezifiziert. Die betreffende Person hat vielleicht viele Charakteristika, die sie zu diesem oder jenem machen, aber eine der Besonderheiten, die wir unterscheiden können, ist, dass sie in dem Moment, in dem sie auf unsere Fehler hinweist, als unser Lehrer fungiert. Deshalb ist das eine korrekte Unterscheidung, denn sie hat dieses charakteristische Merkmal, dass sie uns hilft, etwas zu lernen.

(16) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn jemand, um den wir uns gekümmert und den wir geschätzt haben wie unser eigenes Kind, uns nun feindselig gegenübertritt, ihm besondere Zuneigung zu schenken, wie eine Mutter ihrem Kind, wenn es von Krankheit heimgesucht wird.

Stellen Sie sich vor, es ist spät am Abend und Sie sagen Ihrem kleinen Kind, dass es Zeit ist, ins Bett zu gehen, aber es regt sich furchtbar auf und schreit: „Ich hasse dich!“. Glauben Sie dann dem Kind und regen sich daraufhin ebenfalls auf? Denken Sie: „O weh, mein Kind liebt mich nicht mehr“? Nein, wohl eher nicht; die Zuneigung leidet darunter nicht und man denkt weiterhin an das Wohlergehen des Kindes. Man schaltet den Fernseher ab und schickt das Kind ins Bett. Oder wenn unser Säugling krank ist und die ganze Nacht schreit, werden wir dann wütend auf das Baby und halten es für unseren Feind, weil es unseren Schlaf stört? Nein, unsere Zuneigung und Liebe für das Baby nehmen eher noch zu.

Das gleiche gilt für jemanden, um den wir uns gekümmert haben und dem wir sehr geholfen haben, der aber dann anfängt, uns schlecht zu behandeln, wütend auf uns wird und uns nun feindselig gegenübertritt. In dem Moment ist es sehr hilfreich, ihn so zu betrachten wie unser krankes Kind, denn er ist ja tatsächlich unwohl aufgrund irgendeines emotionalen Aufruhrs.

(17) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn uns jemand aus Arroganz beleidigend behandelt, sei er gleichgestellt oder unterlegen, voller Achtung vor ihm das Haupt zu neigen wie vor unserem spirituellen Meister.

Wenn andere uns aus Arroganz beleidigend behandeln, insbesondere, wenn sie uns gleichgestellt oder in irgendeiner Hinsicht unterlegen sind, ist es wichtig, nicht ebenfalls arrogant zu sein und sie daraufhin selbst anzuschreien. Das erinnert an all die Lehren, die Shantideva darüber schrieb, wie man mit Arroganz und Missgunst umgehen kann. Er schlägt vor: Wenn wir jemandem gegenüber Arroganz empfinden, versuchen wir das vom Blickwinkel der unterlegenen Person zu betrachten. Was meinen wir, was für ein Mensch wir aus ihrer Sicht sind? Wir haben alle guten Bedingungen im Leben, aber wir teilen nichts mit ihr und blicken obendrein noch auf sie herab. Das verschafft uns natürlich ein sehr unangenehmes Gefühl:

(VIII.141) Diesem dort wird Respekt erwiesen, mir aber nicht; ich bin nicht so reich wie er. Er wird gerühmt, doch ich werde herabgesetzt; er hat Glück, doch ich habe Leid.
(VIII.142) Ich tue all die Arbeit, während er ein bequemes Leben hat. Er gilt in der Welt als überlegen, während ich als gering gelte, als hätte ich keinerlei gute Eigenschaften.
(VIII.143) Doch wie könnte die Arbeit getan werden von jemandem, der keine Qualitäten hat? Also hat jeder von uns Qualitäten! Außerdem gibt es wahrlich auch solche, denen dieser dort unterlegen ist, und solche, denen ich überlegen bin.
(VIII.144) So etwas wie das Nachlassen meiner ethischen Disziplin und Einstellung ist zurückzuführen auf störende Emotionen, nicht darauf, dass ich sie unter Kontrolle habe. Ich bedarf der Heilung, so gut es irgend geht; ich bin sogar bereit, etwaige Schmerzen auf mich zu nehmen, die damit verbunden sind.
(VIII.145) Aber dieser dort behandelt mich nicht als jemanden, der der Heilung bedarf - warum blickt er auch noch auf mich herab?

Das ist die Art von Unterweisung, die Shantideva im Zusammenhang mit dem Rat gibt, den eigenen Blickwinkel mit dem der anderen zu vertauschen. Selbst wenn jemand in einer unterlegenen Position uns beleidigen und sich uns gegenüber arrogant verhalten würde, ist es wichtig, sich diese Empfehlungen in Erinnerung zu rufen und nicht selbst gleichermaßen zu reagieren. Es wird geraten, voller Achtung vor ihm das Haupt zu neigen wie vor unserem spirituellen Meister. Mit anderen Worten: Statt überheblich auf ihn herabzublicken, bringen wir ihm Achtung entgegen, wie wir es unserem spirituellen Meister gegenüber tun würden, denn es ist wiederum so, dass diese Person uns etwas lehrt; sie lehrt uns, nicht arrogant zu sein.

Ungeachtet dessen, ob Menschen, die niedriger gestellt sind als wir, oder Gleichgestellte uns beleidigen oder nicht - wichtig ist, ihnen gegenüber eine Einstellung zu wahren, mit der wir sie respektieren. In Abhängigkeit von ihnen werden wir schließlich Erleuchtung erreichen und damit die Fähigkeit, zahllosen anderen zu helfen. Angebracht ist der Gedanke: „Aufgrund meines Mitgefühls für sie, aufgrund meiner Liebe für sie und aufgrund der Hilfe, die ich ihnen erweise, werde ich Erleuchtung erlangen und anderen von Nutzen sein können. Deswegen ist es unbedingt angemessen, ihnen gegenüber respektvoll zu sein.“

Was den Vorgang betrifft, Inspiration zum Erreichen der Erleuchtung zu gewinnen, ist es so, dass Inspiration aus zwei Richtungen kommt - sowohl von oben als auch von unten. Von oben geht sie von den drei Juwelen und unseren spirituellen Meistern aus, indem diese uns durch ihr Beispiel inspirieren. Doch genauso gewinnen wir Inspiration von den begrenzten Wesen, den so genannten „fühlenden Wesen“, welche leiden, denn dadurch, dass wir ihnen begegnen, werden wir von Liebe und Mitgefühl inspiriert, Erleuchtung zu erlangen, damit wir ihnen helfen können.

Shantideva weist darauf hin, dass alle begrenzten Wesen und die Buddhas insofern gleich sind, als wir basierend auf ihrer Güte Erleuchtung erreichen können. Deswegen fragt Shantideva: Warum sollten wir nur den spirituellen Meistern und den Buddhas Respekt erweisen und nicht all den leidenden, begrenzten Wesen? Er schreibt:

(VI. 113) Wenn das Erlangen der Dharma-(Verwirklichungen) eines Buddhas gleichermaßen den begrenzten Wesen und den Siegreichen zu verdanken ist, warum empfinde ich dann für die begrenzten Wesen nicht die gleiche Wertschätzung wie für die Siegreichen?

Fragen

Ist es ein erster Schritt im Umgang mit Ärger, in dem Moment, wenn wir merken, dass er in uns aufsteigt, die Situation zu verlassen, um uns zu beruhigen, und dann später daran zu arbeiten, ihn allmählich zu beseitigen?

Ja, das ist tatsächlich ein sinnvoller Schritt, und er stimmt damit überein, was Togme-Sangpo in dem Zusammenhang rät, dass ein Bodhisattva seine Heimat verlassen sollte, wo Ärger, Anhaftung und Naivität einen dermaßen stark beeinträchtigen. Eine Situation zu verlassen, in der wir nicht imstande sind, unseren Ärger angemessen zu zügeln, ist ganz ähnlich zu verstehen. Es ist empfehlenswert, dass wir uns beruhigen und unsere Fassung wiedergewinnen. Auch die andere Person wird vermutlich aufgeregt und ärgerlich sein, sodass sie wahrscheinlich nicht sehr empfänglich dafür ist, sich zu beruhigen und Frieden zu schließen. Wir müssen warten, bis sie sich ebenfalls beruhigt hat und wir uns beide in einem Geisteszustand befinden, der einer Konfliktlösung förderlicher ist.

Ich bin etwas verwirrt im Hinblick darauf, dass in Vers 17 auf unterlegene bzw. untergeordnete Menschen Bezug genommen wird, denn es war ja davon die Rede, dass alle völlig gleich sind. Was bedeutet es in diesem Zusammenhang, dass jemand unterlegen ist?

Es stimmt, dass alle insofern gleich sind, als ein jeder glücklich sein möchte und niemand unglücklich. Und jeder hat gleichermaßen ein Recht darauf, das zu verwirklichen. Jeder war gleichermaßen gut zu uns, beispielsweise als er oder sie unsere Mutter war. Wie Shantideva hervorhebt, sind die Buddhas und alle begrenzten Wesen gleichermaßen gut zu uns und verdienen deshalb gleichermaßen Respekt. Shantideva weist jedoch ausdrücklich darauf hin, dass die begrenzten Wesen nicht in jeder Hinsicht gleich sind. Was die guten Eigenschaften betrifft - Liebe, Mitgefühl, Weisheit usw. -, so sind diejenigen der Buddhas unvorstellbar weit ausgedehnt und umfassend. Shantideva betont, dass die Wesen lediglich hinsichtlich der Tatsache gleich sind, dass wir in Abhängigkeit von ihnen Erleuchtung erreichen werden, nämlich in Abhängigkeit von den Buddhas, indem diese das Vorbild dafür darstellen, was wir erreichen wollen, und in Abhängigkeit von den begrenzten Wesen als denjenigen, für die wir es erreichen wollen.

Im achten Kapitel seines Werkes, in dem es um geistige Stabilität geht, spricht Shantideva im Zusammenhang mit dem Austausch der Einstellung gegenüber sich selbst und anderen von Wesen, die uns überlegen sind, solchen, die uns gleichgestellt sind, und solchen, die uns unterlegen sind. Gegenüber denjenigen, die uns unterlegen sind, beispielsweise Leuten, die weniger Geld haben als wir, ist es notwendig, Arroganz abzulegen. Gegenüber denjenigen, die uns gleichgestellt sind, gilt es, aggressives Konkurrenzverhalten abzulegen. Auch in dieser Situation können wir Geld als Beispiel nennen, denn es kann sein, dass wir das Gefühl haben, wir müssten mit ihnen wetteifern, um mehr Geld zu verdienen als sie. Und gegenüber denjenigen, die uns überlegen sind oder mehr Geld haben als wir, müssen wir Eifersucht und Missgunst ablegen. Tatsächlich wird diese ganze Vorstellung von überlegen, gleichgestellt und unterlegen auf einer sehr konventionellen Ebene angeführt und bezieht sich normalerweise auf Qualitäten wie Reichtum, Macht, Status, körperliche Stärke, Schönheit usw.

Geht es in Vers 12, in dem die Handlung des Stehlens erwähnt wird, nur um das Karma derjenigen Person, die uns etwas wegnimmt, oder auch um unser eigenes Karma im Zusammenhang damit, ob wir auf die eine oder andere Weise darauf reagieren, was jene tut?

Shantideva sagt, dass es aufgrund von uns dazu kommt, dass die andere Person negative Folgen schafft, weil sie uns etwas stiehlt. Wenn wir ihr gegenüber, d.h. aufgrund von dieser Person, Geduld entwickeln, sorgen wir dafür, dass Glück entsteht. Die andere Person erschafft aufgrund von uns ihr eigenes Leiden, und wir erschaffen aufgrund von ihr Glück. Warum sollten wir ihnen also noch mehr Leiden verschaffen, indem wir wütend auf sie sind? Aufgrund von uns wird sie eine schlimmere Wiedergeburt haben; aufgrund von ihr werden wir Erleuchtung erreichen. Da ist es doch eindeutig widersinnig, ihnen etwas Schlechtes zu wünschen, nicht wahr? Warum also ärgerlich auf sie werden?

Wir können die Situation auch noch auf andere Weise betrachten, nämlich so wie es der Text „Das Rad der scharfen Waffen“, ein weiterer Text für die Schulung der Geisteshaltung, nahelegt. Mit dieser Methode erkennen wir, dass wir es sind, die in der Vergangenheit negative Handlungen begangen haben und anderen etwas weggenommen haben, und nun kommt dieses Karma zu uns zurück. Diese Betrachtungsweise ist eine weitere Möglichkeit, die Situation zu transformieren. Um es zu wiederholen: Wenn uns jemand etwas stiehlt, können wir daran denken, dass damit unsere eigenen negativen karmischen Potenziale reifen, oder wir können daran denken, positives karmisches Potenzial aufzubauen, indem wir nicht wütend auf ihn werden.





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