Kommentar zu "Die drei Hauptaspekte des Pfades" – Der Dalai Lama

Tsongkhapa erklärt, dass Entsagung, Bodhichitta und korrekte Sicht der Leerheit (Leere) die drei geistigen Pfade sind, die unerlässlich sind, um Erleuchtung zu erreichen, sei es im Sutra- oder im Tantra-Fahrzeug des Geistes.

Einleitung

Da wir uns hier an einem besonderen Ort befinden, müssen wir eine besondere Motivation in uns entstehen lassen: die Bodhichitta-Ausrichtung, für das Wohl aller Wesen die Erleuchtung zu erlangen. Diese muss vollkommen ehrlich sein. Buddha selbst erlangte seine Erleuchtung durch die Kraft seiner reinen Bodhichitta-Ausrichtung. All seine Qualitäten und Verwirklichungen waren von dieser zur Erleuchtung führenden Ursache abhängig. Um die selbe Verwirklichung zu erlangen, müssen wir darum beten, dass wir selbst so sehr wie möglich einen solchen Geist entwickeln und ihn stets wachsen lassen.

In den letzten Tagen haben wir durch diese Lehren bereits eine gewisse positive Kraft (Verdienst) aufgebaut. Fahren wir heute fort mit „Die Drei Hauptaspekten des Pfades“ von Je Tsongkhapa. Die „Drei“ bezieht sich auf Entsagung, Bodhichitta und die korrekte Sicht der Leerheit.

Entsagung basiert auf der Haltung, mit der wir unseren Geist vollkommen von allen Wünschen nach Samsara, der unkontrollierbar wiederkehrenden Existenz, abwenden. Unser Erreichen der Befreiung hängt davon ab, dass wir eine solche Entsagung haben. Bodhichitta ist die Geisteshaltung oder Absicht, die Erleuchtung erlangen zu wollen, um allen beschränkten Wesen (fühlenden Wesen) Gutes zu tun. Die korrekte Sicht der Leerheit ist die Verwirklichung der tatsächlich andauernden Natur der Realität.

Was die korrekte Sicht oder das korrekte Verständnis der Leerheit, der nicht-inhärenten Existenz, angeht: wenn sie von einem Geist der Entsagung verwirklicht wird, bewirkt sie die Befreiung. Sie bringt die Befreiung, indem sie die Schleier eliminiert, die die Befreiung verhindern, nämlich die störenden Emotionen und Einstellungen – die geistigen Faktoren, die uns in der zwanghaften Existenz des Samsara gefangen halten. Wenn das Verständnis der korrekten Sicht der Leerheit von einem Geist mit Bodhichitta aufrechterhalten wird, eliminiert es außerdem die Schleier, die alles Wissbare betreffen und die die Allwissenheit verhindern – nämlich die geistigen Gewohnheiten, nach wahrer und inhärenter Existenz zu greifen. Ihre Beseitigung bewirkt die Verwirklichung der Erleuchtung. Eine korrekte Sicht der Leerheit ist also das wichtigste Gegenmittel, das die beiden Arten von Schleiern überwindet, und sie wird entweder durch die Entsagung oder sowohl durch Entsagung als auch durch Bodhichitta unterstützt.

Die Lehren des Hinayana beinhalten Entsagung und die korrekte Sicht der Leerheit, um ihr Ziel, die Befreiung, zu erreichen. Der Mahayana fügt dem das Bodhichitta hinzu, um alle Schleier vollkommen zu eliminieren. So enthalten die drei hauptsächlichen Aspekte des Pfades – Entsagung, Bodhichitta und Leerheit – die Essenz aller Lehren des Hinayana und des Mahayana.

Unsere berühmten Tantras, die tiefgründige Themen wie die feinstofflichen Körper, die Energiewinde, Energiekanäle und Energietropfen enthalten, haben die selben drei Hauptaspekte des Pfades – Entsagung, eine extrem starke Bodhichitta-Ausrichtung und ein vollständiges Verständnis der Leerheit, wie sie von Nagarjuna und seinen beiden spirituellen Söhnen gelehrt wird – zur Grundlage. Zusätzlich hierzu setzen wir im Tantra unseren Stolz oder unsere Würde auf das Potential dessen, was wir durch die feinstofflichen Winde und das Bewusstsein erreichen können. In dieser Weise bewahren wir entweder die Würde eines Formkörpers oder die des Tiefenbewusstsein-Dharmakörpers eines Buddhas, oder beider. Obwohl wir zum Zeitpunkt des Übens diese Buddha-Körper nicht tatsächlich besitzen, werden wir doch aufgrund unserer starken Bodhichitta-Ausrichtung, den Zustand der Erleuchtung zum Wohl aller beschränkten Wesen zu erlangen, schrittweise dazu fähig, sie zu verwirklichen. Wir können sie durch die Praktiken des Bewahrens der Würde dieser Buddhakörper verwirklichen.

So sind die drei Hauptaspekte des Pfades die Grundlage der vollständigen Pfade des Sutra und des Tantra. In jedem Fall müssen wir immer versuchen, eine kombinierte Praxis von Methode und Weisheit anzuwenden, indem wir versuchen, anderen zu helfen, positive Kraft aufzubauen, und so weiter.

Dieser spezifische Text ist recht kurz, nur ein paar Verse lang. Ich habe ihn als erstes mit Tagtra Rinpoche studiert und dann mit vielen anderen, einschließlich Trijang Dorjechang. Wir müssen eine korrekte Motivation ins uns entstehen lassen, um diesen Lehren zuzuhören. Wenn wir ein freundliches Herz als unsere Motivation bestimmen, ist dies die Quelle allen Glücks. Wenn wir ein solches Herz nicht haben und stattdessen stolz, anmaßend und so weiter sind, bringt dies nur Unglück und Unwohlsein. Die Wirkung in künftigen Leben, ob wir entweder eine kultivierte, liebenswerte Person sind, oder aber ein raues, rohes Wesen, wird sich aufgrund unseres Verhaltens in diesem Leben zeigen. Selbst wenn wir die Existenz zukünftiger Leben nicht akzeptieren – wenn wir jetzt ein gutes Herz haben oder aber rau und roh sind, wird uns das entweder Glück oder Unglück bringen.

Eine gütige, liebenswürdige Person sein

Das wichtigste ist unser tägliches Verhalten. Auch wenn es so etwas wie zukünftige Leben nicht gäbe, schadet es nicht, freundlich zu sein; es ist für unser tägliches Leben hilfreich. Wenn es zukünftige Leben gibt, wird es uns umso mehr von Nutzen sein, wenn wir liebenswerte, gütige Menschen sind. Seihen Sie daher freundlich und gütig zueinander und nicht nur in der Theorie. Wir müssen dies in Bezug auf die tatsächlichen Menschen und die tatsächlichen Situationen tun, denen wir in unserem täglichen Leben begegnen. Dies ist die Essenz des Dharma und es ist nicht schwierig, ihr zu folgen. Es ist nicht etwas, das wir in einem Geschäft kaufen gehen, sondern eher etwas, das wir selbst praktizieren.

Nehmen Sie zum Beispiel die Chinesen. Sie sind angemessene Objekte unseres Mitgefühls. Sie wissen nicht, was richtig und was falsch ist; sie kennen nicht die Konsequenzen ihrer Handlungen, daher müssen wir ihnen gegenüber Mitgefühl haben. Sie selbst, wir alle, müssen versuchen, gütig und fein zu sein. Schaut euch Menschen an, die Chang (Bier) und Alkohol trinken – dies ist eine sehr schlechte Sitte. Sie werden betrunken, rau, roh, unhöflich und verursachen viel Störung. Buddha sagte, dass wir als Konsequenz des Alkoholkonsums oft zahlreiche destruktive Handlungen mit Körper, Rede und Geist vollziehen. Daher ist es überhaupt nicht gut, Alkohol zu trinken.

Dasselbe gilt für das Rauchen. Obwohl Buddha es nicht speziell verbot und die Lehren des Buddha seine Nachteile nicht spezifisch nennen, können wir den Äußerungen westlicher Ärzte entnehmen, dass es extrem gefährlich für unsere Gesundheit ist. Wenn es für das Rauchen einen speziellen Grund gäbe, so wäre es in Ordnung. Doch wenn es keinen gibt, was meistens der Fall ist, dann ist es am besten, es nicht zu tun. Dasselbe gilt für das Tabakschnupfen und so weiter: es ist am besten, diese Dinge überhaupt nicht zu benutzen.

Wenn man so diese rohen Gewohnheiten aufgibt, wird man zunehmend eine gütigere Person, kultivierter und feiner. Je mehr wir dies tun können, desto besser. Wenn wir andere Gentlemen oder Damen sehen, sollten wir uns an ihrem Beispiel erfreuen und selbst versuchen, so freundlich und kultiviert, wie wir nur können, zu werden. Verstehen Sie das? Achten Sie mehr und mehr darauf, freundlich, kultiviert und voller Liebe zu sein und ein warmes Herz zu haben. Betrachten sie die Nachteile davon, roh zu sein, harsch zu sein, egoistisch und rau zu sein. Wir sollten uns selbst stets an sie erinnern. Wenn wir ein gütiges Herz haben, bringt dies Freude, Glück, Gesundheit und Geistesfrieden. Dies hilft mir sehr in meinem eigenen Denken. Wir sind alle gleich: wir alle wollen Glück; daher müssen wir alle das selbe tun: freundlich und gütig sein.

Sehen Sie sich diejenigen an, die aus Tibet hierher kommen. Sie reden nicht in einem fort über all die Schwierigkeiten, die sie in diesen letzten zwanzig Jahren hatten. Sie sagen nicht, wie lächerlich wir sind, und sind nicht voller Selbstmitleid. Sie kommen vielmehr mit einem Interesse am Dharma hierher. Wir Tibeter, die hier gelebt haben, sollten ebenfalls keinen Groll gegen die Chinesen hegen. Wir sollten uns dessen bewusst sein, wie viel Glück wir gehabt haben, in Indien zu sein und das Dharma praktizieren zu können. Ich weiß von vielen, die durch die Chinesen unterdrückt wurden, die gefangengehalten wurden, und die, da ihnen jegliche Form buddhistischer Schulung fehlte, wahnsinnig vor Hass und vor Wut wurden. Es ist also äußerst wichtig, nicht auf diese Weise wütend zu werden, sondern kultiviert zu sein und zu versuchen, ein gutes Herz zu entwickeln. Es macht einen enormen Unterschied im Augenblick unseres Todes.

Nehmen Sie Hitler als Beispiel. Obwohl er während seines Lebens so mächtig war, übermannte ihn sein Hass und als er starb, war er so verzweifelt und unglücklich, dass er Gift nahm und sich selbst tötete. In ähnlicher Weise starb Stalin in einem Zustand großer Angst und Mao Zedong verschied unter sehr schwierigen Umständen. Daher ist es wichtig, freundlich zu sein und unser ganzes Leben lang ein warmes Herz zu haben. Wenn wir dann sterben, können wir es mit einem friedlichen Geist tun.

In allen Ländern, die ich bereist habe, lehre ich genau denselben Punkt. Ob ich im Westen oder in der Sowjetunion bin, empfehle ich allen, ein gütiges Herz zu haben, in unparteiischer Weise freundlich zu allen zu sein: seihen Sie allen gegenüber in der gleichen Weise voller Liebe. Wann immer ich an verschiedene Orte gehe, sehe ich Menschen zahlreicher verschiedener Rassen, Farben, Nationalitäten und Religionen und ich denke, das wir alle Menschen sind. Wenn wir uns die Zeit nehmen, mit ihnen zu sprechen, so machen wir die Entdeckung, dass jeder die selben grundlegenden menschlichen Werte hat. Jeder möchte glücklich sein und niemand möchte leiden. Daher müssen wir alle versuchen, freundlich zu sein und ein gutes Herz zu haben.

Verstehen Sie das? Was ich sage ist nicht schwierig zu verstehen, oder? Können Sie mir folgen? Seihen Sie gütige Menschen. Sie sind hierher nach Bodh Gaya gekommen und haben vom Dalai Lama Dharmalehren empfangen. Dies ist meine Hauptbotschaft, seihen Sie gütige Menschen. Und nun spitzen Sie Ihre Ohren wie Hasen und lauschen Sie den Lehren über „Die drei Hauptaspekte des Pfades“ von Je Tsongkhapa.

Spezielle Eigenschaften des Textes

Tsongkhapa wurde in Amdo geboren und ging in die zentralen tibetischen Provinzen von U und Tsang, um dort mit zahlreichen Lehrern zu studieren. Er studierte sowohl das Sutra als auch das Tantra und er erreichte vollkommene Verwirklichung. Er schrieb achtzehn Bände von Lehren, die hervorragend sind, indem er auf ein weites Spektrum von Quellen aus den verschiedenen indischen Texten und Kommentaren zurückgriff. Diesen spezifischen Text widmete er einem seiner engsten Schüler, Ngawang-Dragpa (tib: Ngag-dbang grags-pa).

Es besteht ein leichter Unterschied zwischen Tsongkhapas Lehrstil in diesen „Drei Hauptaspekten des Pfades“ und im „Lam-rim“ oder „Stufenpfad“. Hier, im Ersten, erscheint die Erklärung der Entsagung in zwei Teilen. Der erste besteht darin, sich von unserer Besessenheit für dieses Leben zu befreien, indem wir uns an unsere kostbare menschliche Wiedergeburt und an die Vergänglichkeit erinnern. Der zweite besteht darin, dass wir uns von unserer Besessenheit für zukünftige Leben befreien, indem wir uns an die leidvolle Natur des gesamten Samsara erinnern. Das Einschlagen der Sicheren Richtung (Zuflucht) wird wenig betont. Im Lam-rim dagegen werden drei Ebenen von Motivation besprochen. Da die Grundlage für die höheren Ebenen darin besteht, ein Mensch mit einer Anfängermotivation zu sein, kommt zuerst das Entwickeln des Interesses für den Nutzen zukünftiger Leben und innerhalb dieses Kontexts sind die Lehren zum Einschlagen der Sicheren Richtung enthalten. Es besteht also ein leichter Unterschied, nicht wahr?

Beginnen wir mit dem Text.

Verse der Lobpreisung, Versprechen, eine Belehrung zu verfassen und Aufforderung, gut zuzuhören

Ich verneige mich vor meinen erhebenden, unfehlbaren Lamas.

Der Begriff erhebend und unfehlbar ist auf Tibetisch „jetsun“ (rje-btsun). Er hat die Konnotation von jemandem, der allen Dingen des Samsara den Rücken zugekehrt und sich vollkommen der Befreiung zugewendet hat. „Lama“ bedeutet eine höhere Person, in dem Sinne einer Person, die sowohl Bodhichitta als auch ein korrektes Verständnis der Leerheit hat, welches ihn oder sie zu einem höheren oder höchsten Zustand der Erleuchtung führt. Hier bezieht sich erhebende, fehlerlose Lamas auf die Gurus von Tsongkhapa, die ihm den Lam-rim lehrten, und besonders auf seinen ungewöhnlichen Lehrer, Manjushri.

Als nächstes kommt der Vers des Versprechens eine Belehrung zu verfassen.

(1) Nach bestem Vermögen will ich versuchen zu erklären: die essentielle Bedeutung aller schriftlichen Äußerungen der Triumphierenden, den Pfad, der von den heiligen Nachkommen der Siegreichen gepriesen wird, die Furt für die Glücklichen, die sich nach der Befreiung sehnen.

Die essentielle Bedeutung aller schriftlichen Äußerungen der Triumphierenden bezieht sich auf die Entsagung. Den Pfad, der von den heiligen Nachkommen der Siegreichen gepriesen wird, in anderen Worten, der von den Bodhisattvas gepriesen wird, bezieht sich auf die Bodhichitta. Die Furt für die Glücklichen, die sich nach der Befreiung sehnen ist das Verständnis der Leerheit, das zur Befreiung führt. So kündigt der Autor im Versprechen eine Belehrung zu verfassen an, dass er diese drei Hauptaspekte des Pfades erklären wird. Nach bestem Vermögen bedeutet, dass er dies in der knappmöglichsten Form tun wird.

(2) Hör zu mit einem klaren (Geist), O Glücklicher, dessen Geist dem Pfad, der den Siegreichen erfreut, folgen will indem er den Freuden der zwanghaften Existenz unverhaftet ist und der du darauf brennst, deinem Leben der Ruhepause und der bereichernden Faktoren Bedeutung zu verleihen.

Dies ist die Bitte, gut zuzuhören. Sie zeigt uns die Art von Motivation, die wir haben müssen, um diesen Lehren zuzuhören. Der Pfad, der den Siegreichen erfreut ist ein Pfad, der fehlerlos und vollständig ist, in dem nichts fehlt. Wenn wir einem solchen fehlerlosen und vollständigen Pfad folgen, erfreut dies die Buddhas.

Die Verbindung zwischen den Drei Pfaden

Die eigentliche Erklärung des Hauptkorpus des Textes ist in drei geteilt: die Erklärungen der Entsagung, des Bodhichitta und der korrekten Sicht der Leerheit. Diese drei stellen graduelle Stadien des Verstehens dar.

Je stärker unsere Entsagung gegenüber den sogenannten guten Dingen des Samsara ist, desto stärker wird unser Mitgefühl für andere sein. In indischen Bahnhöfen beispielsweise sehen wir Blinde, Menschen, denen ein Gliedmaß fehlt, Bettler und so weiter, und es ist relativ einfach, Mitgefühl für sie zu entwickeln. Doch wenn wir keine Entsagung haben und wir beispielsweise in eine große Stadt kommen, werden wir, statt Mitgefühl zu empfinden, einfach nur eifersüchtig auf die Dinge sein, die wir sehen, oder stolz sein auf das, was wir haben. Dagegen wenn wir mit der Entsagung vertraut sind, mit der Idee, dass die sogenannte guten Dinge von Samsara letztendlich bedeutungslos sind, dann wird unser erster Gedanke, wenn wir an einen Ort wie etwa New York kommen, und all diese Menschen sehen, instinktiv einer des Mitgefühls sein.

Entsagung hat zwei Blickrichtung. Einerseits sehen wir mit einer solchen Geisteshaltung hinab auf das Leiden von Samsara, ohne uns dafür zu interessieren, und empfinden Ekel und den Wunsch, uns davon vollkommen zu befreien. Andererseits schauen wir zur Befreiung empor und wünschen uns, sie zu erreichen. Je stärker diese zweifache Haltung ist, desto stärker wird unsere Bodhichitta-Ausrichtung sein, die ebenfalls zwei Blickrichtungen hat, sowohl nach oben als auch nach unten. Wenn wir dann auf dieser Grundlage eine korrekte Sicht der Leerheit haben, werden wir dazu in der Lage sein, entweder die Befreiung oder die Erleuchtung zu erlangen.

Die korrekte Sicht wird in den Begriffen der zwei Wahrheiten ausgedrückt, die sich aus dem Vier Edlen Wahrheiten ergeben. Der Buddha, der unsere Quelle der sicheren Richtung ist, lehrte den Dharma mit seiner Sprache. Spezifischer lehrte er die Vier Edlen Wahrheiten und die Zwei Wahrheiten, die untrügerisch sind. Sie sind nie falsch.

Daher ist es wichtig, sie zu verstehen und sie zu verwirklichen. Haben wird das Bodhichitta, so bringt uns ein Verständnis der Leerheit den allwissenden Zustand eines Buddha. Haben wir bloß die Entsagung, so bringt sie uns die Befreiung. Hier, im Text, bezieht sich die Diskussion zuerst auf die Entsagung.

Entsagung

(3) Sich sehr für die angenehmen Früchte des Ozeans zwanghafter Existenz zu interessierenund ohne reine Entsagung zu sein: dies ist keine Methode, um den Frieden (der Befreiung zu erreichen) – tatsächlich werden die beschränkten Wesen vollkommen gefesselt von der Anhaftung, für die Dinge, die sich in zwanghaften Situationen finden – bemühe dich deshalb als erstes um Entsagung.

Die Formulierung reine Entsagung wird hier benutzt. Die Entsagung muss in dem Sinne rein sein, dass man vollkommen frei von jedem Interesse an den Herrlichkeiten oder den so genannten guten Dingen des Samsara ist. Wenn uns eine solche reine Entsagung fehlt und wir vollkommen besessen von weltlichen Sorgen sind, gibt es keine Möglichkeit, die Befreiung zu erlangen. Wenn wir Begierde und Anhaftung haben, dann werden wir es nicht schaffen, das sich unkontrollierbar wiederholende Wiedergeborenwerden an der Wurzel auszureißen, gleichgültig, wie viel positives Karma wir haben mögen. Daher müssen wir die Entsagung entwickeln. Wie kann man sie entwickeln?

(4) Indem du deinen Geist daran gewöhnst, dass es keine Zeit zu verschwenden gibt wo ein Leben der Ruhepause und bereichernden Faktoren so schwer zu finden ist, wende dich ab von deiner Besessenheit mit den Erscheinungen dieses Lebens. Indem du immer und immer wieder an die Probleme der sich wiederholenden Wiedergeburt denkst und daran, dass (die Gesetze) der Ursachen und Wirkungen des Verhaltens nie trügerisch sind, wende dich ab von deiner Besessenheit mit den Erscheinungen der zukünftigen (Leben).

Wir müssen an die kostbare menschliche Wiedergeburt denken, die wir erlangt haben, mit ihrer Ruhepause und Ausstattungen, und ebenfalls an die Tatsache, dass wir sie verlieren werden, da sie unbeständig ist, und daran, dass der Tod mit Sicherheit kommen wird. Auf diese Weise werden wir einsehen, wie selten die Gelegenheit ist, die wir jetzt haben, und dass wir es uns nicht erlauben können, Zeit zu verlieren. Dies ist die Art, in der wir unser Interesse davon abwenden, nur an diesem Leben interessiert zu sein. Die Freiheiten und die Ausstattungen und die Lehren über die Unbeständigkeit und den Tod haben wir bereits in den letzten Tagen in dem Text „Die Siebenunddreißig Praktiken der Bodhisattvas“ besprochen.

Was Tod und Vergänglichkeit angeht, gibt es verschiedene Punkte, über die man meditieren kann, wie z.B. die Tatsache, dass der Tod sicher ist, während der Zeitpunkt an dem er kommen wird, vollkommen unsicher ist. Der Tod kann jeden Augenblick kommen, und wenn er kommt, hilft einem außer dem Dharma nichts. Wenn wir nicht jetzt etwas in Bezug auf unseren kommenden Tod und unserer zukünftigen Leben tun, ist dies überhaupt nicht gut. Je mehr wir in dieser Weise an den Tod denken, desto schwächer wird unsere Besessenheit nur mit diesem Leben werden.

Als nächstes müssen wir an die Unfehlbarkeit der Gesetze von Ursache und Wirkung des Verhaltens, der Gesetze von Karma, denken. Die Ursachen und Wirkungen des Verhaltens in allen Details zu verstehen ist eines der schwierigsten Themen. Doch in einer einfachen Form gilt: von Gutem kommt Gutes, von Schlechtem kommt Schlechtes – Karma ist gewiss. Aus konstruktiven Handlungen ergibt sich mit Sicherheit Glück. Aus destruktiven Handlungen ergibt sich mit Sicherheit früher oder später Leiden.

Wenn wir daher die Ursachen für Leiden in unserem geistigen Kontinuum beherbergen, wie können wir dann glücklich ruhen und entspannt sein? Es ist wie eine Zeitbombe: es ist nur eine Frage der Zeit, und dann wird sie mit Sicherheit explodieren. Wenn wir diese Ursache nicht beseitigen, können wir uns nie friedlich ausruhen. Wenn wir in dieser Weise gründlich über die Ursachen und Wirkungen unseres Verhaltens nachdenken, entwickeln wir einen starken Wunsch danach, all die Ursachen unseres Leidens zu beseitigen.

Zu verschiedenen Zeiten erfahren wir das Leiden des Geborenwerdens, des Todes, des Alterns und der Krankheit. Wie viel Medizin wir auch einnehmen mögen, wir können uns nicht vom hohen Alter heilen und wir können nicht vollkommen verhindern, dass wir krank werden. Die Leiden der Geburt, der Krankheit, des hohen Alters und des Todes haben ihre Ursachen darin, dass wir Körper besitzen, die Geburt, Krankheit, hohes Alter und Tod durchlaufen. Unsere Körper sind Netzwerke befleckter (verunreinigter) Aggregate. In anderen Worten erhalten wir sie befleckt mit Karma und störenden Emotionen und Geisteshaltungen. Wenn wir uns nicht selbst von ihren tiefsten Ursachen befreien, werden wir immer leiden.

Unsere Körper sind Netzwerke von in Konflikt stehenden, widersprüchlichen Kräften. Man betrachte beispielsweise die Kräfte der Hitze und der Kälte im Körper. Wenn wir Fieber haben, nehmen wir eine kühlende Medizin; nehmen wir zu viel davon, erkranken wir an einer Krankheit vom kalten Typ. Wenn wir eine wärmende Medizin nehmen, um uns von dieser Unterkühlung zu heilen, und zuviel davon nehmen, dann stören wir das Gleichgewicht wieder in die andere Richtung und erkranken an einer Hitzekrankheit. Nur wenn die warmen und kalten Kräfte in unserem Körper in Balance sind, kann man zeitweise sagen, dass wir gesund sind. Dies hält jedoch nie lange an. Die Gesundheit ist sehr instabil und bei der leichtesten Störung wird das Gleichgewicht gestört. Hierauf wies Aryadeva in seinen „Vierhundert Versen“ (tib. „bZhi-brgya-pa“, Skt. „Catuhshataka“) hin. Dort erklärte er, dass der Körper ein Behälter widersprüchlicher, gegenseitig antagonistischer Kräfte ist; daher kann er nur Probleme und Leiden hervorbringen.

Wir denken, dieser Körper sei so wunderschön. Doch wir müssen ihn in unserem Geist sezieren und jeden Teil einzeln betrachten, wie etwa den Kopf oder ein Haar mit einer kleinen Verdickung an seinem Ende. Betrachten Sie ein Ohr, betrachten Sie ein Auge nur für sich selbst, betrachten Sie ein Stück Haut, ein Herz, eine Lunge. Wenn sie einzeln auf dem Tisch liegen würden, wären sie alle Ekel erregend und überhaupt nicht hübsch. Das selbe gilt für die Substanzen, die aus diesem Körper hervorgehen – Urin, Kot, Nasenschleim und so weiter. Wir sehen diese auf dem Boden, wenn wir umhergehen und wir halten uns die Nase zu, um uns vor ihrem Gestank zu schützen. Wo kamen diese unangenehmen Substanzen her? Sie sind nicht aus dem Boden gewachsen; sie kamen aus unserem Körper.

Wie kann unser Körper sauber sein, wenn er bloß eine Quelle des Schmutzes ist? Unser Körper entstand aus den Spermien und Eiern unserer Eltern. Wenn wir diese Substanzen nähmen, sie auf einen Tisch vor uns platzierten und sie anschauten, würde sich jeder übel fühlen. Wir haften so stark an ihnen, weil sie die Quelle der physischen Substanz unseres Körpers werden, doch in sich selbst gesehen sind sie ekelerregend. Wenn wir zum Beispiel vierzig Jahre lang gelebt haben, denken Sie einerseits an das ganze Essen, das wir in diesen vierzig langen Jahren zu uns genommen haben und denken Sie andererseits an all die Fäkalien und an all den Urin, in die unser Körper sie verwandelt hat. Wenn unser Körper solch eine Arbeit verrichtet – wie kann er dann rein sein?

Wir müssen daher unsere Anhaftung an einen solchen Körper aufgeben. Er ist aus Karma und störenden Emotionen und Verhaltensweisen entstanden, die bloß Leiden produzieren. Wenn wir das Karma und die störenden Emotionen aufbrauchen oder eliminieren, werden wir nie wieder befleckte Aggregate annehmen oder leiden. Störende Emotionen und Verhaltensweisen entstehen aus einem Denken voller Vorurteile und Fehlauffassungen, die sich alle aus der Unwissenheit ergeben, die darin besteht, dass man die Dinge als inhärent existierend ansieht. Wenn uns klar wird, dass alles bar einer solchen Existenz ist, lösen sich unsere störenden Emotionen und Verhaltensweisen auf. Sie lösen sich in der Sphäre der Leerheit auf. Daher ist dies, was wir brauchen.

(5) Wenn du, indem du dich in dieser Weise gewöhnst, nie, nicht einmal einen Augenblick, einen Geist in dir entstehen lässt, der nach dem Glitzerwerk des wiederkehrenden Samsara greift, und du die Haltung entwickelst, die sich Tag und Nacht immer stark nach der Befreiung sehnt, dann hast du die Entsagung erzeugt.

Daher müssen wir die Entsagung entwickeln. Als nächstes brauchen wir eine Bodhichitta-Ausrichtung.

Bodhichitta

(6) Doch selbst diese Entsagung wird nicht zur Ursache für die Schönheiten und die Seeligkeit eines unvergleichlich reinen Zustandes (der Erleuchtung), wenn sie nicht von der Entwicklung einer reinen Bodhichitta-Ausrichtung begleitet wird. Deshalb erzeugen die Verstandbegabten eine höchste Bodhichitta-Ausrichtung.

Wie wir zuvor gesagt haben, können wir die Erleuchtung nicht erlangen, wenn wir kein Bodhichitta haben.

(7) Davongetragen von den Strömen der vier gewaltigen Flüsse, gebunden von den straffen Fesseln des schwer abwendbaren Karma, in das mit Maschendraht bewehrte Loch des Greifens nach wahrer Identität geworfen, völlig eingehüllt in die pechschwarze Finsternis der Unwissenheit,
(8) Unaufhörlich geplagt von den drei Arten des Leidens ein Leben nach dem anderen, in der unendlichen zwanghaften Existenz – nachdem du an die Bedingungen deiner Mütter gedacht hast, die sich in derartigen Situation wiederfinden, entwickle eine höchste Absicht des Bodhichitta.

Davongetragen von den Strömen der vier gewaltigen Flüsse, bezieht sich auf die vier Leiden der Geburt, des Todes, des hohen Alters und der Krankheit. Wir sind mit den straffen Fesseln der negativen Kraft unserer destruktiven karmischen Handlungen gebunden, und diese negativen Kräfte werden mit Gewissheit eines Tages reifen. Wir stecken in einem mit Maschendraht bewehrten Loch der Unbewusstheit, und in der pechschwarzen Finsternis des Nicht-Sehens der wahren Natur der Realität. Sowohl Personen als auch Phänomene scheinen inhärent zu existieren, tun dies aber überhaupt nicht.

Wir haben ein Kontinuum von ständig sich verändernden Aggregatfaktoren und das bloße „Ich“ ist etwas, das auf die Grundlage dieses sich wandelnden Kontinuums etikettiert wird. Allerdings greifen wir aus Unbewusstheit nach diesem „Ich“, das auf ein Netzwerk sich wandelnder Phänomene etikettiert wird, und wir denken fälschlicherweise, es sei andauernd, statisch, und man könne es als ein inhärent wirkliches „Ich“ finden. Die Finsternis dieser Unwissenheit verursacht, dass wir ein enormes Ausmaß an negativer Energie ansammeln. Diese negative Kraft wirft uns in das mit Maschendraht bewehrte Loch des Karma, wo wir durch die Fesseln dieses Karmas und unser störenden Emotionen und Verhaltensweisen gebunden werden. Hieraus folgt natürlich, dass wir, ein Leben nach dem anderen die drei Leiden erfahren, wie es hier gesagt wird. Es handelt sich um das Leiden des Leidens, das Leiden der Veränderung und das Allumfassende Leiden. Da dies ebenfalls die Bedingung all unserer Mütter ist, müssen wir daran arbeiten, ihnen zu helfen, indem wir eine Bodhichitta-Ausrichtung entwickeln.

Das Folgende betrifft die Leerheit.

Eine korrekte Sicht der Leerheit

(9) Doch selbst wenn du die Gewohnheit der Entsagung und der Bodhichitta-Ausrichtung entwickelt hast, und dir doch das unterscheidende Gewahrsein fehlt, dass die verweilende Natur der Realität erkennt, wirst du nicht in der Lage dazu sein, die Wurzel deiner zwanghaften Existenz zu durchtrennen. Bemühe dich daher in den Methoden, mit denen man das Verständnis des abhängigen Entstehens verwirklichen kann.

Die Hauptaussage des Tsongkhapa ist: Das Verständnis der Leerheit muss als Verständnis des Abhängigen Entstehens entstehen und das Verständnis des Abhängigen Entstehens als Verständnis der Leerheit entstehen. So müssen wir uns in den Methoden bemühen, mit denen man Leerheit als Abhängiges Entstehen erkennt. Wie kann man dies tun?

(10) Jeder, der erkannt hat, dass (die Gesetzmäßigkeit) von Ursache und Wirkung des Verhaltens in Bezug auf alle Phänomene von Samsara und Nirvana niemals eine Täuschung ist und die Stützhilfen der eigenen (Kognitionen), die auf (inhärente Existenz) abzielen, worin auch immer diese bestanden, hat auseinanderbrechen lassen, dieser oder diese hat den Pfad betreten, der die Buddhas erfreut.

Alle Phänomene von Samsara und Nirvana entstehen durch Ursache und Wirkung. Dies ist nie fehlerhaft, nie falsch. Wenn wir dies verstehen und zusätzlich dazu die unterschwellige, tragende Stütze (unseres Zielens auf die inhärente Existenz) auseinanderfallen lassen, dann haben wir den Pfad, der die Buddhas erfreut, betreten. Wenn wir die Leerheit verstehen, werden wir nicht länger Kognitionen haben, die auf die inhärente Existenz abzielen. Auf diese Weise wird die Grundlage auf der diese falschen Kognitionen entstehen – die sie stützenden Basis, die in unserem Haften an der inhärenten Existenz besteht – auseinandergefallen oder verschwunden sein.

(11) Erscheinungen sind nicht trügerische abhängige Entstehungen und Leerheit ist von allen Behauptungen (unmöglicher Existenzweisen) getrennt. Solange dir diese beiden Einsichten getrennt erscheinen, hast du noch nicht die Absicht des Fähigen verwirklicht.

Wenn wir die Leerheit verstehen, erkennen wir, dass es nichts gibt, auf das wir mit dem Finger zeigen können und von dem wir sagen können, dies sei dieses Objekt. Alle Dinge sind in der letzten Analyse undefinierbar. Und doch sehen wir andererseits, dass die Dinge bloße Erscheinungen sind. Wenn man denkt, dies seien zwei vollkommen verschiedene, unverbundene Erkenntnisse – dass die Dinge einerseits undefinierbar und andererseits doch nur Erscheinungen sind – ist dies nicht die Absicht des Buddha in Bezug auf die Leerheit und die Zwei Wahrheiten.

(12) Doch wenn nicht abwechselnd sondern zugleich deine Gewissheit, die auf der bloßen Ansicht des nicht trügerischen abhängigen Entstehens basiert, all die Weisen, in denen du Objekte (als inhärent existierend) ansiehst, auseinanderfallen lässt, dann hast du die Erkenntnis der korrekten Sicht verwirklicht.

Wir müssen daher erkennen, dass weil die Dinge in Abhängigkeit entstehen – da Erscheinungen in ihrer Entstehung von Ursachen und Umständen abhängen – sind sie leer von inhärenter Existenz; sie sind leer von unabhängiger Existenz. Die Ursache dafür, dass sie in Abhängigkeit von Ursachen und Umständen entstehen ist einfach, dass sie leer von einer unabhängigen Existenz sind. Je stärker also unsere Einsicht und unsere Überzeugung sind, dass die Dinge von Ursachen und Umständen abhängen, desto stärker werden unsere Einsicht und unsere Überzeugung davon sein, dass die Dinge leer von einer unabhängigen, inhärenten Existenz sind; und vice versa. Wenn man diese beiden in dieser Weise gleichzeitig, in Verbindung miteinander versteht, so bedeutet dies, dass wir die korrekte Analyse der Leerheit abgeschlossen haben.

(13) Wenn du darüber hinaus weißt, dass die Erscheinung das Extrem der Existenz eliminiert, und die Leerheit das Extrem der Nicht-Existenz, und wie die Leerheit als Ursache und Wirkung aufgeht, dann wirst du niemals von Sichtweisen, die an Extremen haften, davon gerissen werden.

Man findet oft Erklärungen darüber, dass die Tatsche der Erscheinung das Extrem der vollständigen Nichtexistenz eliminiert – die Dinge sind nicht vollständig Nichtexistent, da sie erscheinen. Und die Tatsache der Leerheit eliminiert das Extrem der inhärenten Existenz – die Dinge existieren nicht in inhärenter Weise, da sie leer von einer solchen unmöglichen Existenzweise sind.

Hier finden wir allerdings eine gegenteilige Art von Behauptung. Die Tatsache der Erscheinung eliminiert das Extrem der inhärenten Existenz. Dies ist so, da die Dinge leer einer inhärenten Existenz sein müssen, um zu erscheinen. Es muss sich bei ihnen um Phänomene handeln, die in Abhängigkeit entstehen. Daher eliminiert die Tatsache, dass sie erscheinen, die Möglichkeit, dass sie in inhärenter Weise existieren.

Außerdem eliminiert die Tatsache der Leerheit das Extrem totaler Nichtexistenz. Die Tatsache, dass etwas leer von inhärenter Existenz ist, bedeutet, dass es durch abhängiges Entstehen erscheinen kann: es kann unmöglich vollkommen nichtexistent sein. Daher eliminiert die Tatsache der Leerheit das Extrem der vollständigen Nichtexistenz.

Dies ist Tsongkhapas besondere Darstellungsweise und sie stimmt mit Chone Rinpoches (tib. Co-ne Rin-po-che) Kommentar zu Tsongkhapas „Lobpreisungen des abhängigen Entstehens“ (tib. „rTen-‘brel bstod-pa“) überein. So hält uns die Einsicht, dass die Dinge leer von inhärenter Existenz sind, da sie in Abhängigkeit entstehen, und dass sie in Abhängigkeit entstehen, da sie leer von inhärenter Existenz sind, davon zurück, in die beiden Extreme zu fallen, die darin bestehen, an wahrer, inhärenter Existenz oder an vollkommener Nichtexistenz zu haften.

Als nächstes kommt der Ansporn zum Praktizieren.

Ansporn zum Praktizieren

(14) Hast du so die Punkte dieser Drei Hauptaspekte des Pfades, so wie sie sind, verstanden, begieb’ dich in die Einsamkeit und, indem du die Kraft der freudigen Ausdauer entfachst, vollende rasch das uralte Ziel, mein Sohn.

Wenn wir ein Verständnis von Entsagung, Bodhichitta und Leerheit gewonnen haben, durch die Kraft des Hörens von korrekter Belehrungen über diese Themen, und dann über sie nachdenken und sie analysieren, bis wir von ihre Bedeutung überzeugt sind, müssen wir dann in der Einsamkeit leben und uns vollkommen konzentriert daran machen, über sie zu meditieren und sie zu verwirklichen. Dies müssen wir mit einer großen, freudigen Ausdauer tun, wie es die berühmten Meister der Vergangenheit getan haben, wie etwa der wohlbekannte Milarepa (tib. Mi-la Ras-pa), der große Gyalwa Ensapa (tib. rGyal-ba dBen-sa-pa) und seine spirituellen Söhne, Kedrub Sanggye-Yeshe (tib. mKhas-grub Sangs-rgyas ye-shes) und so weiter. Dann können wir das uralte Ziel der Erleuchtung erreichen. „Mein Sohn” bezieht sich hier auf Tsongkhapas engen Schüler Ngawang-Dragpa, denn wir zuvor erwähnt haben.

Abschließende Bemerkungen über das Nichtsektierertum

Dies beendet den Kurzkommentar zu „Die Drei Hauptaspekte des Pfades“. Es handelt sich um einen sehr wichtigen Text, der die Essenz des gesamten Sutra-Pfades und das Herz des gesamten Tantra-Pfades in sich beinhaltet. Die Lehren über die Leerheit sind etwas schwierig, nicht war? Wenn wir nicht mit den Fachbegriffen vertraut sind, dann kann es an den Stellen verwirrend werden, an denen von der Rechten Sicht, von den Zwei Wahrheiten, von der Leerheit und so weiter die Rede ist. Die vier Schulen des indischen Buddhismus mit ihren philosophischen Lehren zu den Sutren definieren und verteidigen diese Begriffe jeweils in eigener Weise, und auch die vier Klassen des Tantra tun dies in unterschiedlicher Weise. Ferner gibt es in den vier verschiedenen Traditionen des tibetischen Buddhismus unterschiedliche Weisen, sie in ihren spezifischen Kontexten und Systemen zu definieren.

Wir müssen versuchen, sie alle zu verstehen, damit wir die Implikationen der Begriffe ihrem Kontext entsprechend kennen und wir nicht verwirrt werden. Wenn man nur ein System kennt, und dann die anderen einfach deshalb kritisiert, weil sie anders sind und wir sie nicht in ihren eigenen Begriffen verstehen ist äußerst destruktiv. Wie Nagarjuna in „Die kostbare Girlande“ (tib. „Rin-chen ’phreng-ba“, Skt: „Ratnavali“) und Shantideva in „Éintritt in das Verhalten eines Bodhisattva“ (tib. „sPyod-’jug“, Skt. „Bodhisattvacharya-avatara“) gesagt haben, ist es unter solchen Umständen am besten, den Gleichmut zu bewahren und nichts zu sagen.

Selbst innerhalb der Lehren einer Tradition, der Gelug-Tradition, beispielsweise, gibt es die Darstellungen des Leerheitsverständnisses entsprechend dem Sutra und entsprechend dem Tantra. Was das Objekt, die Leerheit angeht, gibt es im Sutra und im Tantra keinen Unterschied bezüglich der Subtilität. Der Unterschied liegt im Geist, der die Leerheit versteht. Außerdem gibt es sowohl im Sutra als auch im Tantra unterschiedliche Definitionen und Erklärungen über die konventionelle und über die tiefste Wahrheit und über die Weise, wie man über die beiden meditieren sollte. Selbst innerhalb der Anuttarayoga-Klasse des Tantra unterscheiden sich die verschiedenen Systeme. So sind beispielsweise die Methoden, die im Guhyasamaja-System beschrieben werden, recht verschieden von denen in den Kalachakra-Lehren. Außerdem findet man Unterschiede in der Weise, stabilisierende Meditation (förmliche Meditation) und unterscheidende Meditation (analytische Meditation) zu machen. Wenn wir nicht all diese Systeme studiert haben, werden wir äußerst verwirrt werden.

Kurz gesagt, wenn wir nichts über ein bestimmtes System wissen, sollten wir nichts darüber sagen und es sicherlich nicht kritisieren. Nur auf einer nicht-sektiererischen Grundlage werden wir dazu in der Lage sein, die volle Ausdehnung der Lehren des Buddha zu verstehen.

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