Klar erkennende oder stabilisierende Meditationszustände

Logische Durchdringung

Shamatha (tib. zhi-gnas, ruhiges Verweilen) ist ein still gewordener und zur Ruhe gekommener Geisteszustand. In der Shamatha-Meditation wird die stabilisierende Meditation (tib. jog-sgom, förmliche Meditation) betont. Vipashyana (tib. lhag-mthong, besondere Einsicht), ist ein außerordentlich wahrnehmungsfähiger Geisteszustand, der die klar erkennende Meditation (tib. dpyad-sgom, analytische Meditation) betont.

Wenn wir von dem Geisteszustand Vipashyana sprechen, ist die logische Durchdringung, dass es sich dabei um ein Zustand des vereinten Paares von Shamatha und Vipashyana (tib. zhi-lhag zung-‘brel) handelt. Es ist allerdings keine logische Durchdringung, dass er notwendigerweise sowohl stabilisierende als klar erkennende Meditationen beinhaltet.

Wir erreichen das vereinte Paar aus Shamatha und Vipashyana mit einem Pfadgeist der Anwendung (tib. sbyor-lam, Pfad der Vorbereitung), dem zweiten der fünf Arten von Pfadgeist (fünf Pfade). Mit diesem Pfadgeist hat das vereinte Paar gleichzeitig stabilisierende und klar erkennende Meditationsphasen, was sowohl während der Phase der vollkommenen Vertiefung (tib. mnyam-bzhag, meditatives Gleichgewicht) als auch während der Phase der nachfolgenden Verwirklichung (tib. rjes-thob, Post-Meditation) einer Meditationssitzung gilt.

Nach der Erklärung des Gelug-Prasangika-Systems hat das vereinte Paar von Shamatha und Vipashyana mit einem Pfadgeist des Sehens (tib. mthong-lam, Pfad des Sehens) und einem Pfadgeist des Gewöhnens (tib. sgom-lam, Pfad der Meditation) nur während der Phase der nachfolgenden Verwirklichung diese Kombination. Während der vollkommenen Vertiefung auf diesen beiden Pfaden, ist im vereinten Paar jedoch nur die stabilisierende Meditation vorhanden.

Wie sollen wir dies verstehen?

Schlussfolgernde und einfache Wahrnehmung

Nach der Gelug-Prasangika-Erklärung gilt:

  • Schlussfolgernde Wahrnehmung (tib. rjes-dpag) eines Objektes, beispielsweise der Leerheit, entsteht, indem man sich direkt auf einen Kette von Schlussfolgerungen stützt. Daher ist die schlussfolgernde Wahrnehmung immer eine begriffliche Wahrnehmung (tib. rtog-pa) ihres Objektes.
  • Einfache Wahrnehmung (tib. mngon-sum) eines Objekts entsteht ohne sich direkt auf eine Argumentationskette zu stützen, obwohl sie auf eine anfängliche Phase schlussfolgernder Wahrnehmung dieses Objektes folgen kann. Abhängig davon, ob die schlussfolgernde Wahrnehmung ihr Objekt durch eine begriffliche Kategorie (tib. spyi; Allgemeinbild, Allgemeinbegriff, Universalie) von ihm wahrnimmt oder nicht, kann das einfache (direkte) Gewahrsein entweder begrifflich oder unbegrifflich sein.

Die erscheinenden Objekte (tib. snang-yul) der begrifflichen Wahrnehmungen sind immer Erscheinungen wahrer Existenz. Mit Ausnahme der unbegrifflichen einfachen Wahrnehmung der Leerheit sind gemäß Gelug-Prasangika-Schule die erscheinenden Objekte aller anderen Formen unbegrifflicher einfacher Wahrnehmung ebenfalls Erscheinungen wahrer Existenz.

Subtile klar Erkennungsfähigkeit

Ein charakteristisches Merkmal der klar erkennende Meditation ist die subtile klar Erkennungsfähigkeit (tib. dpyod-pa, sorgfältiges Untersuchen). Subtile klar Erkennungsfähigkeit ist der Geistesfaktor, der die feinen Details der Erscheinung eines Objekts aktiv unterscheidet und versteht, nachdem er das Objekt sorgfältig untersucht hat. Die Erscheinungen, deren Details er beobachtet und unterscheidet, sind Erscheinungen wahrer Existenz (tib. bden-snang).

Die erste Phase einer unterscheidenden Meditation kann die schlussfolgernde Wahrnehmung mit verbalem Denken (das immer begrifflich ist) implizieren. Wenn westliche Übersetzungen für die „klar erkennende Meditation“ den Begriff der analytischen Meditation benutzen, dann vermittelt dies den Eindruck, dass diese erste Phase der Meditation, die schlussfolgernde Wahrnehmung, die einzige Phase ist. Allerdings ist ein Zustand des Vipashyana, ob er direkt von einer Kette an Schlussfolgerungen induziert wird oder nicht, eine bloße Wahrnehmung seines Objekts. Als solcher kann er aus der Sicht der Gelug-Prasangika-Darstellung entweder eine begrifliche oder eine unbegriffliche Wahrnehmung dieses Objekts sein.

  • Wenn das erscheinende Objekt des Vipashyana-Zustandes eine Erscheinung wahrer Existenz ist, wird das Vipashyana von einem Geistesfaktor subtilen Unterscheidungsvermögen begleitet und somit beinhaltet er klar klar erkennendeMeditation.
  • Wenn dem Vipashyana-Zustand ein erscheinendes Objekts fehlt, das als wirklich existent erscheint, dann wird der Vipashyana-Zustand nicht von der subtilen Unterscheidungsfähigkeit begleitet und beinhaltet daher keine klar klar erkennende Meditation. Trotzdem beinhaltet der Vipashyana-Zustand ein volles Verständnis und ein tiefes Gewahrsein (tib. ye-shes) seines Objektes.

Der Pfadgeist der Anwendung, der Pfadgeist des Sehens und der Pfadgeist des Gewöhnens

Nach der Gelug-Prasangika-Erklärung sind mit einem Pfadgeist der Anwendung die Zustände des Vipashyana (womit das vereinte Paar von Vipashyana und Shamatha gemeint ist) sowohl in der vollkommen versenkten Wahrnehmung der Leerheit als auch während der Wahrnehmung der nachfolgenden Verwirklichung, dass alle Erscheinungen wie eine Illusion sind, begriffliche einfache Wahrnehmungen. Bevor man einen Pfadgeist der Anwendung verwirklicht, beginnt alles begrifflicheAusrichten der Aufmerksamkeit auf Leerheit, sogar mit Shamatha, mit einer Anfangsphase der schlussfolgernde Wahrnehmung, die sich direkt auf einen Argumentationskette stützt. Hier ist die begriffliche Vipashyana-Wahrnehmung von Leerheit lediglich eine einfache Wahrnehmung, die sich nicht direkt auf eine Argumentationskette zu stützen braucht. In anderen Worten brauchen wir nicht zuerst einen Reihe von Schlussfolgerungen durchzugehen um sich der Leerheit zu vergewissern (also Gewissheit in Bezug auf das eigene Verständnis zu erlangen). Trotzdem: sowohl während der vollkommenen Versenkung als während der nachfolgenden Verwirklichung sind die erscheinenden Objekte Erscheinungen wahrer Existenz. Demzufolge beinhalten beide Wahrnehmungsformen eine Kombination aus unterscheidender und stabilisierender Meditation.

Mit dem Pfadgeist des Sehens und dem Pfadgeist des Gewöhnens sind die Vipashyana-Zustände während der Wahrnehmung von Leerheit in der vollkommenen Versenkung unbegrifflichee einfache Wahrnehmungen, deren Objekte keine Erscheinungen wahrer Existenz sind. Daher beinhalten diese vereinten Paare von Shamatha und Vipashyana nur stabilisierende Meditation und keine klar erkennende Meditation, denn wenn es sich um klar erkennende Meditation handeln würde, dann müsste das Objekt der Meditation eine Erscheinung wahrer Existenz sein.

Während der Phasen der nachfolgenden Verwirklichung des Pfadgeist des Sehens und des Pfadgeist des Gewöhnens handelt es sich bei den Vipashyana-Zuständen um unbegriffliche einfache Wahrnehmungen, deren Objekte Erscheinungen wahrer Existenz sind. Die vereinten Paare von Shamatha und Vipashyana beinhalten hier sowohl die stabilisierende als auch die klar erkennende Meditation, verbunden mit der subtilen Unterscheidung, dass die Erscheinungen wahrer Existenz wie eine Illusion sind.

Zusammenfassung

Gemäß der Gelug-Prasangika-Schule gilt:

  • Klar erkennende (analytische) Meditation kann begriffliches verbales Denken mit einschließen, braucht dies aber nicht zu tun.
  • Das kombinierte Paar aus Shamatha und Vipashyana, auch wenn es unbegrifflich ist, kann die unbegriffliche klar erkennende Mediation mit einschließen, braucht dies aber nicht zu tun.

Aufgrund dieser Punkte ist der Übersetzungsbegriff klar erkennende Mediation möglicherweise weniger verwirrend als analytische Meditation.

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