Das Aggregat der Formen physischer Phänomene

Von den fünf Aggregat-Faktoren der Erfahrung (tib. phung-po lnga, Skt. pancaskandha), umfasst das Aggregat der Formen physischer Phänomene (tib. gzugs-kyi phung-po):

  • Sinnesobjekte (tib. ‘dod-yon, begehrenswerte Sinnesobjekte), und
  • körperliche Sensoren der Wahrnehmung (tib. dbang-po, Skt. indriya, Sinneskräfte)

Die Lehrsysteme des Vaibhashika, Chittamatra und Madhyamaka, jedoch nicht jene des Sautrantika, umfassen ebenfalls:

  • Formen physischer Phänomene, die (ausschließlich) bei den kognitiven Anregern enthalten sind, die (alle) Phänomene sind (tib. yid-kyi skye-mched-kyi gzugs).

Sinnesobjekte 

Sinnesobjekte können sowohl von der Sinneswahrnehmung als auch von der geistigen Wahrnehmung erkannt werden. Sie umschließen:

  • Objekte des Sehens (tib. gzugs),
  • Geräusche (tib. sgra),
  • Gerüche (tib. dri),
  • Geschmäcker (tib. ro),
  • taktile Empfindungen und andere Körperempfindungen (tib. reg-bya).

Objekte des Sehens sind solche, die von gewöhnlichen menschlichen Augen gesehen werden können und solche, die nicht auf diese Weise gesehen werden können, wie die Körper von Geistern, Göttern sowie die von Höllen- und Bardo-Wesen. In westlichen Begriffen umfassen sie also auch die Teile des Lichtspektrums, die dem menschlichen Auge unsichtbar sind, wie Infrarot und Ultraviolett. 

Objekte des Sehens umfassen auch die offenbarenden Formen (tib. rig-byed-kyi gzugs) konstruktiver und destruktiver Handlungen des Körpers. In der Vaibhashika-Schule bezeichnet man sie als Form des Körpers beim Durchführen vorbereitender, tatsächlicher und nachfolgender Methoden der Ausführung von Handlungen, wie dem Heranpirschen an das Reh, das Abgeben des Schusses, der es tötet, sowie das Abhäuten, Kochen und Essen des Fleisches. In den Schulen des Sautrantika, Chittamatra und Madhyamaka werden diese offenbarenden Formen des Körpers als die sichtbare Bewegung des Körpers während dieser drei Phasen erklärt. Vaibhashika, Sautrantika-Svatantrika und Prasangika erklären offenbarende Formen als eine Art karmischer Impulse, während Sautrantika, Chittamatra und Yogachara-Svatantrika sie nicht als karmisch betrachten.

Die Gelug-Prasangika-Schule ordnet den Sinnesobjekten auch Luftspiegelungen, von Zauberern geschaffene Illusionen und Bilder zu, die bei einer gestörten Sicht erscheinen, wie wenn zum Beispiel eine schielende Person zwei Monde sieht.

Genauer gesagt umfassen Objekte des Sehens Farben und Formen. Die Grundfarben sind Blau, Gelb, Rot und Weiß, während die Farben der Wolken, des Rauches, des Staubes, des Nebels, des Schattens, der Sonne, des Funkelns von Edelsteinen und der Dunkelheit Nebenfarben sind. Zu den Formen gehören lange, kurze, flache, gebogene, hohe, niedrige, gleichmäßige und ungleichmäßige Formen.

In ähnlicher Weise sind Töne solche, die von gewöhnlichen menschlichen Ohren wahrgenommen werden können und solche, für die dies nicht gilt, wie Töne mit einer hohen Frequenz, die von Hunden gehört werden können. Sie umschließen sowohl Töne, die Informationen vermitteln, wie Rede, als auch nichtkommunikative Töne, wie das Geräusch des Windes. Außerdem umfassen sie die offenbarenden Formen konstruktiver und destruktiver Handlungen der Rede, die in den verschiedenen Lehrsystemen auf ähnliche Weise wie die Handlungen des Körpers beschrieben werden.

Taktile und andere körperliche Empfindungen umfassen vier kausale: fest, flüssig, Hitze und Wind (Bewegung); und sieben resultierende: weich, hart, schwer, leicht, kalt, Hunger und Durst.

Obwohl die Texte bezüglich dieses Punktes nicht klar sind, ist es am wahrscheinlichsten, dass Sambhogakayas (tib. longs-sku, Körper vollen Gebrauchs) eines Buddhas und Illusionskörper (tib. sgyu-lus), die auf der Vollständigkeitsstufe (tib. rdzogs-rim) des Anuttarayoga-Tantra erlangt werden, unter den Objekten des Sehens mit eingeschlossen werden müssten, da sie für das Sehbewusstsein der Arya-Bodhisattvas sichtbar sind.

Leerheit-Formen (tib. stong-gzugs), die man auf den ersten beiden Stufen der Kalachakra-Vollständigkeitsstufe erreicht, wären also auch Objekte des Sehens, da sie dem erhöhten Gewahrsein (tib. mngon-shes, gesteigertes Gewahrsein, außersinnliche Wahrnehmung) des Sehbewusstseins sichtbar sind. Diese Klassifizierung ist allerdings problematisch. In dem Text „Ein Schatzhaus spezieller Themen des Wissens“ (tib. Chos mngon-pa’i mdzod, Skt. Abhidharmakosha) erklärt Vasubandhu, dass man auf der Grundlage von Sinnesbewusstsein erhöhtes Gewahrsein haben kann. In dem Text „Eine Anthologie spezieller Themen des Wissens“ (tib. Chos mngon-pa kun-las btus-pa, Skt. Abhidharmasamuccaya) erklärt Asanga allerdings, dass das erhöhte Gewahrsein auf geistigem Bewusstsein basiert, dass auf besonderen Kräften der Sensoren der Augen (den photosensiblen Zellen der Augen) beruht.

Körperliche Wahrnehmungssensoren 

Die körperlichen Sensoren der Wahrnehmung sind die dominanten Bedingungen (tib. bdag-rkyen) für ihre jeweiligen spezifischen Arten von Sinnesbewusstsein. Sie umschließen:

  • die photosensiblen Zellen der Augen (tib. mig-gi dbang-po),
  • die geräuschempfindlichen Zellen der Ohren (tib. rna’i dbang-po),
  • die geruchsempfindlichen Zellen der Nase (tib. sna’i dbang-po),
  • die geschmacksempfindlichen Zellen der Zunge (tib. lce’i dbang-po),
  • die Zellen des Körpers, die empfindlich auf körperliche Wahrnehmungen sind (tib. lus-kyi dbang-po).

Formen physischer Phänomene, die ausschließlich zu kognitiven Anregern gehören, die alle Phänomene sind 

Formen physischer Phänomene, die ausschließlich zu kognitiven Anregern gehören, die alle Phänomene sind, können von der Sinneswahrnehmung nicht erkannt werden, sondern nur von der nichtkonzeptuellen oder konzeptuellen geistigen Wahrnehmung. Genau genommen können sie nicht zu den fünf äußeren kognitiven Anregern, welche sich auf die fünf Arten von Sinnesobjekten beziehen, gezählt werden, da solche Formen physischer Phänomene sowohl Objekte für das sensorische als auch für das geistige Bewusstsein sein können. 

Diese Formen der physischen Phänomene umschließen laut Chittamatra und Madhyamaka:

  • Formen physischer Phänomene, die aus dem stammen, was angesammelt wurde (tib. bsdus-pa-las gyur-pa'i gzugs), wie etwa Atome und subatomare Teilchen, die auf das geistige Dekonstruieren grober materieller Objekte zurückzuführen sind;
  • Formen physischer Phänomene, die offene Räume sind (tib. mngon-par skabs yod-pa'i gzugs), wie astronomische Entfernungen zwischen Sternen und mikroskopische Distanzen zwischen Atomen;
  • Formen physischer Phänomene, die daraus entstehen, sie korrekt empfangen zu haben (tib. yang-dag-par blangs-pa-las byung-ba'i gzugs), wie die nicht-offenbarenden Formen (tib. rnam-par rig-byed ma-yin-pa’i gzugs) der Gelübde; 
  • Formen physischer Phänomene, die vollkommen imaginär sind (tib. kun-brtags-pa'i gzugs), wie Sinnesobjekte in Träumen und konzeptuell implizierte Objekte (tib. zhen-yul) bestimmter konzeptueller Wahrnehmungen, wie Knochen, die konzeptuell impliziert sind, wenn man sich vorstellt, wie der Boden mit Knochen übersät ist, aber ohne sie tatsächlich zu erscheinen zu lassen, oder Avalokiteshvara, der impliziert ist, wenn wir Avalokiteshvara konzeptuell visualisieren;
  • Formen physischer Phänomene, die aus meditativer Kraft entstehen (tib. dbang-‘byor-pa'i gzugs), wie das Feuer oder die Skelette, die durch die Kraft vertiefter Konzentration (tib. ting-nge-‘dzin, Skt. samadhi) erscheinen oder wahrgenommen werden.

In den Systemen des Sautrantika-Svatantrika und des Prasangika betrachtet man nicht-offenbarende Formen von Gelübden als karmische Impulse, während man sie in jenen des Chittamatra und des Yogachara-Svatantrika nicht als karmisch ansieht. Laut Vaibhashika umfassen Formen physischer Phänomene, die nur zu den kognitiven Anregern gehören, die alle Phänomene sind, nur Formen physischer Phänomene, die daraus entstehen, sie korrekt empfangen zu haben – also Gelübde – und dort werden sie als karmische Impulse betrachtet. Im Sautrantika akzeptiert man nicht die Existenz von Formen physischer Phänomene, die ausschließlich zu den kognitiven Anregern gehören, die alle Phänomene sind. Somit wird im Sautrantika widerlegt, dass Gelübde nichtoffenbarende Formen sind.

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