Vereinigung von Methode und Weisheit: Gelug und Nicht-Gelug

Andere Sprache

Sutra gemäß Gelug-Tradition

Methode und Weisheit als verbundenes Paar

Alle Mahayana-Systeme, sei es im Sutra- oder Tantrabereich, zielen auf die Vereinigung von Methode und Weisheit, um Erleuchtung zu erlangen. Hier werden wir nur darüber sprechen, wie man eine solche Vereinigung gemäß der Darstellung des Prasangika-Madhyamaka-Systems erreicht.

Auf der Sutra-Ebene ist die Methode der konventionelle Erleuchtungsgeist (kun-rdzob byang-sems, konventionelles Bodhichitta) und die Weisheit das unterscheidende Gewahrsein (shes-rab) der Leerheit (tib. stong-pa-nyid, Skt. shunyata, Leere). Die unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit wird auch tiefstes Bodhichitta (don-dam byang-sems) genannt. Als verbundenes Paar sind Methode und Weisheit hier also das verbundene Paar von konventionellem und tiefstem Bodhichitta.

  • Tsongkhapa erklärt, dass tiefstes Bodhichitta nicht das eigentliche Bodhichitta ist, denn sonst ergäbe sich die absurde Folgerung, dass nicht nur die unbegriffliche Wahrnehmung der Erleuchtung, sondern sogar die einer Vase das eigentliche Bodhichitta wäre.

Die beiden Arten von Bodhichitta sind die Grundlagen dafür, die Netzwerke positiver Kraft (bsod-nams-kyi tshogs) und tiefen Gewahrseins (ye-shes-kyi tshogs) (die Ansammlungen von Verdienst und Weisheit) zu stärken und zu erweitern. Diese beiden Netzwerke sind die herbeiführenden Ursachen (nyer-len-gyi rgyu) dafür, den Körper und den Geist eines Buddha zu verwirklichen.

  • Eine herbeiführende Ursache ist die Ursprungsquelle (rdzas, Ursprungssubstanz), die etwas als ihre Folge hervorbringt. Ein Same z.B. ist die herbeiführende Ursache für einen Sprössling.

Bei der Vereinigung von Methode und Weisheit, die wir mit Hilfe der Sutra-Systeme verwirklichen können, handelt es sich, genauer gesagt, um Methode und Weisheit als ein verbundenes Paar (thabs-shes zung-‘brel). Ein verbundenes Paar ist eine Art verbundener Untrennbarkeit (sbyor-bcas-kyi dbyer-med) zweier Phänomene; eines davon wird vor der Vereinigung des Paares erreicht und dann, während die Wahrnehmung des ersten beibehalten wird, wird das andere damit vereint.

  • Die Untrennbarkeit zweier Phänomene ist dadurch gekennzeichnet, dass wenn eines der Phänomene vorhanden ist, stets auch das andere vorhanden ist.
  • Die verbundene Untrennbarkeit, um die es hier geht, wird durch die Kraft der Meditation erreicht.

Verschiedene Arten, ein Objekt kognitiv zu erfassen

Konventionellen Bodhichitta ist, grob umrissen, auf die eigene, individuelle, zukünftige Erleuchtung ausgerichtet, und zwar begleitet von zweierlei Absicht (tib. ‘dun-pa): diese Erleuchtung zu erlangen und mittels dieser Errungenschaft allen Wesen zu nutzen.

Das unterscheidende Gewahrsein der Leerheit ist auf ein negierendes Phänomen gerichtet, das nichts bestätigt (med-dgag, nichtimplizierendes Negationsphänomen), nämlich auf die völlige Abwesenheit wahrhaft begründeter Existenz (bden-grub, wahre Existenz). Es erkennt auf entscheidende Weise, dass es solche Existenzweise nicht gibt. Nichts hat eine Existenz oder konventionelle Identität (tha-snyad-du yod-pa’i bdag), die kraft irgendwelcher definierender charakteristischer Merkmale (mtshan-nyid) begründet ist, welche inhärent in ihm zu finden sind.

Im Sutra haben die herbeiführenden Ursachen für Körper und Geist eines Buddhas verschiedene Arten, ihre Objekte (tib. ‘dzin-stangs) kognitiv zu erfassen.

Wenn eine Wahrnehmung ein Objekt kognitiv erfasst (tib. ‘dzin-pa), so bedeutet das, dass sie das Objekt aktiv und kontinuierlich erfasst, wann immer und solange sie andauert bzw. existiert. Hier handelt es sich um eine bestimmte Art und Weise, sich des Objektes gewahr zu sein, und zwar entweder um konventionelles Bodhichitta oder um unterscheidendes Gewahrsein der Leerheit.

Auf der grundlegendsten Ebene ist die Art, in der der Bewusstseinszustand von Bodhichitta seine Objekte kognitiv erfasst, charakterisiert durch die Absicht, etwas zu erreichen. Die Art, wie das unterscheidende Gewahrsein der Leerheit sein Objekt kognitiv erfasst, ist durch das Verständnis charakterisiert, dass es so ein Ding nicht gibt. Etwas tiefer gehend beschrieben, erfasst das konventionelle Bodhichitta sein Objekt, indem es eine Erscheinung dieses Objekts als wahrhaft existent hervorbringt und danach greift, dass das Objekt tatsächlich so existiert (gnas-tshul), wie es erscheint (snang-tshul). Das unbegriffliche unterscheidende Gewahrsein der Leerheit nimmt sein Objekt wahr, ohne eine Erscheinung wahrer Existenz des Objekts hervorzubringen und ohne nach dessen wahrer Existenz zu greifen. Die Arten, wie das konventionelle Bodhichitta und das unbegriffliche unterscheidende Gewahrsein der Leerheit ein Objekt kognitiv erfassen, sind also nicht nur unterschiedlich, sondern schließen sich gegenseitig aus (dngos-‘gal).

Im Allgemeinen kann eine Wahrnehmung ihre Objekte nur auf eine Art und Weise kognitiv erfassen. Genauer gesagt, sie kann ihre Objekte nicht auf zwei sich gegenseitig ausschließende Arten erfassen. Aufgrund dieser Einschränkung kann die Vereinigung von Methode und Weisheit als Vereinigung von konventionellem Bodhichitta und unterscheidendem Gewahrsein der Leerheit nur ein verbundenes Paar zweier individueller Wahrnehmungen sein. Um dies zu verstehen, wollen wir das konventionelle Bodhichitta und das unterscheidende Gewahrsein der Leerheit näher betrachten.

Konventionelles Bodhichitta

Konventionelles Bodhichitta ist eine äußerst komplexe Wahrnehmung. Der Aspekt, worauf sie ausgerichtet ist (dmigs-rnam), beinhaltet:

  • unser geistiges Kontinuum,
  • diesem geistigen Kontinuum zugeschrieben: unsere noch nicht stattfindende Erleuchtung (ma-’ongs-pa’i byang-chub, zukünftige Erleuchtung),
  • unserer noch nicht stattfindenden Erleuchtung zugeschrieben: unser noch nicht stattfindendes Erlangen (ma-’ongs-pa’i thob­-pa) unserer zukünftigen Erleuchtung.

Innerhalb dieses komplexen Aspekts der Ausrichtung gibt es mehrere Teile (cha). Davon sind unsere Erleuchtung und unsere Erlangung der Erleuchtung bestätigende Phänomene (sgrub-pa). Ein bestätigendes Phänomen ist eines, das begrifflich auf die Weise erfasst wird (rtogs-pa), dass durch die Töne, die das Phänomen zum Ausdruck bringen, nicht explizit etwas ausgeschlossen wird, (dngos-su bcad-pa, explizit abtrennen, verwerfen, zurückweisen), was negiert werden soll (dgag-bya). Die Wörter, die „Erleuchtung“ und „Verwirklichung“ ausdrücken, enthalten keinerlei Wörter, die irgendetwas negieren oder abschneiden.

Diese beiden Bestandteile des Aspekts der Ausrichtung beim konventionellen Bodhichitta sind bestätigende Phänomene. Das bedeutet jedoch nicht, dass unsere zukünftige Erleuchtung eine gegenwärtig stattfindende Erleuchtung (da-lta-ba’i byang-chub) wäre und dass wir sie jetzt tatsächlich begreifen können, etwa so, wie wir unsere Hand vor Augen sehen können. Unsere noch nicht stattfindende Erleuchtung existiert zur Zeit als ein nicht-statisches (unbeständiges) Phänomen, das sich ständig, von Augenblick zu Augenblick, ändert, bis es sich in unsere gegenwärtig stattfindende Erleuchtung verwandelt. Es ist also wichtig, im Sinn zu behalten, dass jene gegenwärtig stattfindende Erleuchtung jetzt noch nicht existiert.

Auch Buddhas haben konventionelles Bodhichitta. In ihrem Fall ist der Aspekt der Ausrichtung allerdings einzig und allein ihre gegenwärtig stattfindende Erleuchtung.

Anstrebendes und ausübendes Bodhichitta

Es gibt zwei Stadien des konventionellen Bodhichittas; beide haben denselben Aspekt der Ausrichtung wie oben. Bei den Stadien handelt es sich um:

  • anstrebendes Bodhichitta (smon-sems),
  • ausübendes Bodhichitta (‘jug-sems).

Beide Stadien des Bodhichittas beinhalten zwei Absichten (‘dun-pa), die dieses als Arten von Nebengewahrsein (sems-byung, Geistesfaktoren) begleiten.

  • Die erste ist die Absicht, allen begrenzten Wesen zu nutzen, indem wir unsere noch nicht stattfindende, aber erreichbare Erleuchtung erlangen.
  • Im Falle des anstrebenden Bodhichittas ist die zweite Absicht, dass unser noch nicht stattfindendes Erreichen unserer noch nicht stattfindenden Erleuchtung ein gegenwärtiges Erreichen unserer gegenwärtig stattfindenden Erleuchtung entstehen lässt. Bei dieser Art von Absicht handelt es sich um ein Wünschen bzw. um ein Streben danach, dass das Verwirklichen oder Erreichen eines Ziels stattfindet.
  • Im Fall des ausübenden Bodhichittas ist die zweite Absicht, tatsächlich Anstrengungen zu unternehmen und sich in den Methoden zu üben, die bewirken, dass unser noch nicht stattfindendes Erlangen ein gegenwärtig stattfindendes Erlangen entstehen lässt. Diese Art von Absicht ist bekannt als „lebhaftes Interesse” (don-gnyer) daran, sich anzustrengen, um ein Ziel zu erreichen.
  • Bei Buddhas begleitet nur eine Absicht ihr konventionelles Bodhichitta: durch ihre gegenwärtig stattfindende Erleuchtung allen anderen zu helfen.

Mit dem Geisteszustand des ausübendem Bodhichitta legen wir die Bodhisattva-Gelübde ab. Im Kontext von Methode und Weisheit als verbundenes Paar ist die Methode das ausübende Bodhichitta.

Erarbeitetes und müheloses Bodhichitta

Konventionelles Bodhichitta – sei es anstrebend oder ausübend – kann entweder erarbeitet (rtsol-bcas) oder mühelos (rtsol-med) sein. Erarbeitetes Bodhichitta ist Bodhichitta, das hervorgebracht wird, indem wir mit großer Anstrengung darauf hinarbeiten. Dies geschieht in einer Reihe von Schritten, von denen jeder einen Argumentationsverlauf beinhaltet. Die Argumentationsprozesse können diejenigen sein, die man in der Anleitung von sieben Ursachen und einer Wirkung (rgyu-‘bras man-ngag bdun) verwendet, oder diejenigen, die als die Methode des Gleichsetzens und Austauschens unserer Einstellung gegenüber uns selbst und den anderen (bdag-gzhan mnyam-brje) bekannt sind.

Müheloses Bodhichitta tritt auf, ohne dass wir auf obige Weise darauf hinarbeiten müssen. Wenn wir es erreichen, erreichen wir einen Geisteszustand, der ein Mahayana-Pfad des Aufbauens (tshogs-lam, Pfad der Ansammlung) ist, der erste der fünf Arten von geistigen Pfaden (lam-lnga, fünf Pfade), die zur Erleuchtung führen. (Allgemein gesprochen ist der Geisteszustand eines Pfades eine Ebene oder ein Zustand des Geistes, der als Weg in Richtung Befreiung oder Erleuchtung dient.)

  • Die Lehrbuch-Tradition von Jetsunpa (rJe-btsun Chos-kyi rgyal-mtshan), der man in den Klöstern Sera Je (Se-ra Byas Grava-tshang) und Ganden Jangtse (dGa’-ldan Byang-rtse Grva-tshang) folgt, besagt, dass nur müheloses Bodhichitta das eigentliche Bodhichitta ist.
  • Die Lehrbuch-Tradition von Panchen (Pan-chen bSod-nams grags-pa), der man in den Klöstern Drepung Loseling (‘Bras-spungs Blo-gsal gling Grva-tshang) und Ganden Shartse (dGa’- ldan Shar-rtse Grva-tshang) folgt, besagt, dass sowohl das erarbeitete als auch das mühelose Bodhichitta eigentliches Bodhichitta sind.

Im Kontext von Methode und Weisheit als verbundenes Paar ist die Methode das mühelose, ausübende Bodhichitta.

Begriffliche versus unbegriffliche Wahrnehmung

Begriffliche Wahrnehmung (rtog-bcas-kyi shes-pa) ist eine Wahrnehmung, die ihr Objekt mittels einer das Objekt darstellenden Idee (snang-ba, geistige Darstellung, geistige Repräsentation) sowie einer Hörkategorie (sgra-spyi, Hör-Allgemeines), einer Bedeutungs-/Objekt-Kategorie (don-spyi, Bedeutungs-Allgemeines) oder beider kognitiv erfasst. In einigen Fällen besteht das Medium der begrifflichen Wahrnehmung aus einer Idee und einem Begriff (rtog-pa, begriffliche Vorstellung), z.B. Raum (rnam-mkha’), statt aus einer Idee und einer Kategorie. Begriffliche Wahrnehmung erfolgt ausschließlich mit geistigem Bewusstsein (yid-kyi rnam-shes).

Unbegriffliche Wahrnehmung (rtog-med-pa’i shes-pa) erfasst ihr Objekt ohne den Filter einer Idee und einer Kategorie. Sie erfolgt in allen Fällen von Sinnesbewusstsein (dbang-gi rnam-shes) und in bestimmten Situationen auch mit geistigem Bewusstsein.

Vor der Erleuchtung ist konventionelles Bodhichitta immer eine begriffliche Wahrnehmung. Der Grund dafür ist, dass niemand außer Buddhas seinen Geist ohne das Medium einer die Erleuchtung darstellenden Idee und der Kategorie „Erleuchtung“ direkt auf die Erleuchtung richten kann. Dies gilt sowohl dann, wenn wir den Geist auf die derzeitig geschehende Erleuchtung eines Buddhas richten, als auch dann, wenn wir den Geist auf die noch nicht geschehende Erleuchtung von irgendjemand anderes als einem Buddha, einschliesslich unserer selbst, richten. Nur Buddhas nehmen die Erleuchtung auf unbegriffliche Weise wahr, da nur Buddhas die Erleuchtung direkt aus persönlicher Erfahrung kennen.

Das begriffliche Bodhichitta begreift tatsächlich noch nicht einmal unsere jetzt noch nicht stattfindende Erleuchtung.

  • Eine Wahrnehmung, sei sie begrifflich oder unbegrifflich, begreift ihr beteiligtes Objekt (‘jug-yul), wenn sie es korrekt und entschieden als „dieses“ und nicht „jenes“ bestimmt (nges-pa).
  • Beim Begreifen eines Objekts kann es sich entweder um explizites Begreifen (dngos-su rtogs-pa) oder um implizites Begreifen (shugs-la rtogs-pa) handeln, was davon abhängt, ob ein geistiger Aspekt (rnam-pa), der das begreifende Objekt repräsentiert, in der Wahrnehmung erscheint oder nicht. Ein geistiger Aspekt ist so etwas wie ein geistiges Hologramm; allerdings muss es sich nicht notwendigerweise um etwas Visuelles handeln.
  • Obwohl ein geistiger Aspekt, der unsere noch nicht geschehende Erleuchtung darstellt, im begrifflichen Bodhichitta erscheint – nämlich unsere Idee/Vorstellung unserer Erleuchtung – kann unsere begriffliche Wahrnehmung diese Erleuchtung nicht exakt und entschieden als „dieses“ und nicht „jenes“ bestimmen. Das liegt daran, dass nur ein allwissendes Gewahrsein (rnam-mkhyen) alle Qualitäten und Aspekte der Erleuchtung präzise und entschieden begreifen kann.

Schon lange vor dem Erreichen der Erleuchtung kann jedoch das unterscheidende Gewahrsein der Leerheit unbegrifflich sein. Es wird unbegrifflich, wenn man den geistigen Pfad des Sehens (mthong-lam) erreicht, den dritten der fünf Arten geistiger Pfade auf dem Weg zur Erleuchtung, und damit zu einem Arya wird. Außerdem kann sogar das begriffliche unterscheidende Gewahrsein der Leerheit die Leerheit entweder explizit oder implizit begreifen.

Im Kontext von Methode und Weisheit als verbundenes Paar ist die Weisheit das unbegriffliche unterscheidende Gewahrsein der Leerheit; allerdings muss das verbundene Paar zuerst mit begrifflichem unterscheidendem Gewahrsein erreicht werden.

Schlussfolgernde und einfache Wahrnehmung

Es gibt zwei gültige Arten, ein gültig erkennbares Objekt wahrzunehmen:

  • schlussfolgernde Wahrnehmung (rjes-dpag tshad-ma),
  • einfache Wahrnehmung (mngon-sum tshad-ma).

Gültige schlussfolgernde Wahrnehmung nimmt ihre beteiligten Objekte wahr, indem sie sich direkt auf einen Argumentationsverlauf (rtags, Argumentationskette) stützt. Sie ist immer begrifflich. Gültige einfache Wahrnehmung nimmt ihre beteiligten Objekte wahr, ohne sich direkt auf einen Argumentationsverlauf zu stützen. Sie kann entweder begrifflich oder unbegrifflich sein.

Wenn wir in einer Meditationssitzung erarbeitetes Bodhichitta hervorbringen, erfolgt dessen erster Augenblick mit schlussfolgernder Wahrnehmung. Ab dem zweiten Moment – und bis diese Episode erarbeiteten Bodhichittas endet – ist die Wahrnehmung des erarbeiteten Bodhichittas eine einfacher begriffliche Wahrnehmung. Der Grund dafür ist, dass jeder nachfolgende Moment von erarbeitetem Bodhichitta in dieser Episode nicht dadurch hervorgebracht wird, dass man sich direkt auf einen Argumentationsvorgang stützt.

Außer bei einen Buddha ist die Wahrnehmung mühelosen Bodhichittas immer eine einfache begriffliche Wahrnehmung.

Leerheit kann entweder mit schlussfolgernder Wahrnehmung oder aber mit begrifflicher oder unbegrifflicher einfacher Wahrnehmung wahrgenommen werden.

Im Kontext von Methode und Weisheit als verbundenes Paar ist die Methode das mühelose, ausübende Bodhichitta mit begrifflicher einfacher Wahrnehmung. Die Weisheit ist das unterscheidende Gewahrsein der Leerheit mit unbegrifflicher einfacher Wahrnehmung.

Das Greifen nach wahrer Existenz in der begrifflichen und unbegrifflichen Wahrnehmung

Begriffliche Wahrnehmung bringt außerdem immer eine Erscheinung wahrer Existenz (bden-snang) als Existenzweise ihres erscheinenden Objekts hervor und nimmt diese wahr. Die begriffliche Wahrnehmung beinhaltet zudem auch das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz (bden-‘dzin, Greifen nach wahrer Existenz). Es gibt allerdings zwei Ausnahmefälle:

  • die begriffliche Wahrnehmung, die explizit die Leerheit begreift und im letzten Moment des Geisteszustands auf dem Pfad der Anwendung (sbyor-lam, Pfad der Vorbereitung) stattfindet, unmittelbar vor Erreichen des geistigen Pfades des Sehens,
  • die begriffliche Wahrnehmung eines Arhats (befreites Wesen, „Feindzerstörers“).

Das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz erfasst sein Objekt mit einer fehlerhaften Betrachtung (tshul-min yid-la byed-pa). Es gibt der Art, wie sein Objekt zu existieren scheint, seine Aufmerksamkeit auf eine Weise, die nicht dessen tatsächlicher Existenzweise entspricht. Es hält also fälschlich die Erscheinungsweise für die Existenzweise. Einfacher ausgedrückt: Das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz glaubt, dass sein Objekt tatsächlich in der unmöglichen Existenzweise existiert, in der es zu existieren scheint – nämlich mit tatsächlicher wahrer Existenz.

Die Gelug-Tradition vertritt als einzige den Standpunkt, dass auch die unbegriffliche Wahrnehmung – außer im Falle der unbegrifflichen Wahrnehmung der Leerheit – die Erscheinung wahrer Existenz hervorbringt. Das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz tritt während der unbegrifflichen Wahrnehmung allerdings nicht manifest (mngon-gyur) auf. Dieser Punkt wird weiter unten erklärt werden.

Da konventionelles Bodhichitta begrifflich ist, beinhaltet es immer sowohl das Hervorbringen der Erscheinung von scheinbar wahrer Existenz als auch das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz. Die begriffliche Wahrnehmung der Leerheit hat dieselben beiden Eigenschaften. Die unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit bringt jedoch keine Erscheinung wahrer Existenz hervor und beinhaltet auch kein manifestes Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz.

Im verbundenen Paar von Methode und Weisheit beinhaltet die Methode das Hervorbringen von Erscheinungen sowie das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz, während die Weisheit keines von beiden beinhaltet.

Hauptgewahrsein versus Nebengewahrsein

Konventionelles Bodhichitta ist ein Hauptgewahrsein (gtso-sems). Es ist nicht etwa ein Nebengewahrsein (sems-byung, Geistesfaktor), das Teil eines anderen Hauptgewahrseins ist.

Das, was in einer Wahrnehmung als Hauptgewahrsein bezeichnet wird, setzt sich aus einem Primärbewusstseins (rnam-shes) und dessen begleitenden Formen von Nebengewahrsein zusammen. Es ist das, was in der Wahrnehmung vorherrscht und die Art der stattfindenden Wahrnehmung charakterisiert.

Das Primärbewusstsein in einer Wahrnehmung nimmt lediglich die Wesensart (ngo-bo essentielle Natur) seines Objekts wahr, mit anderen Worten, was für eine Art von Phänomen es ist. Im Fall des konventionellen Bodhichittas ist das Primärbewusstsein das geistige Bewusstsein, und es nimmt sein Objekt, die Erleuchtung, einfach nur als Erleuchtung wahr.

Ein Nebengewahrsein begleitet und unterstützt das Primärbewusstsein beim Wahrnehmen seines Objektes, wie z.B. im Falle von Absicht und Konzentration. Oder es gibt der Wahrnehmung den Beigeschmack einer Emotion oder einer Empfindung, wie z.B. im Falle von Anhaftung oder Nicht-Anhaftung. Das Primärbewusstsein und die begleitenden Formen von Nebengewahrsein in einer Wahrnehmung sind kongruent (mtshungs-ldan). Das bedeutet, dass sie fünf Dinge gemeinsam haben, zum Beispiel denselben Ausrichtungsaspekt.

Einige der Formen von Nebengewahrsein, die zusätzlich zur Absicht das ausübende konventionelle Bodhichitta begleiten, sind:

  • Ehrlichkeit (bsam-pa),
  • Fehlen von Scheinheiligkeit ( g.yo-med),
  • Fehlen von Vortäuschung (sgyu-med),
  • Nicht-Anhaftung (ma-chags-pa),
  • freudige Ausdauer (brtson-‘grus).

Liebe (byams-pa), Mitgefühl (snying-rje) und außergewöhnlicher Entschluss (lhag-bsam) sind ebenfalls Formen von Nebengewahrsein. Man zwar im Allgemeinen sagen, dass es sich dabei nicht nur um Stadien im Entwicklungsprozess des konventionellen Bodhichittas handelt, sondern dass sie Bodhichitta auch begleiten, aber sie sind nicht kongruent mit Bodhichitta. Tatsächlich sind sie nicht einmal Teil derselben Wahrnehmung wie Bodhichitta.

Bodhichitta tritt in einer Wahrnehmung mit dem geistigen Bewusstsein auf, während Liebe, Mitgefühl und der außergewöhnliche Entschluss in gleichzeitigen, aber separaten Wahrnehmungen auftreten, jede davon ebenfalls mit geistiger Wahrnehmung. Der Grund dafür ist, dass diese drei Formen von Nebengewahrsein jeweils verschiedene Ausrichtungsaspekte haben sowie jeweils verschieden Arten, ihre Objekte kognitiv zu erfassen.

  • Mitgefühl z.B., und insbesondere großes Mitgefühl (snying-rje chen-po), ist begrifflich auf alle begrenzten Wesen und auf das Leiden aller begrenzten Wesen gerichtet. Wie das konventionelle Bodhichitta begreift auch das Mitgefühl – außer demjenigen im Geist eines Buddha – seinen Ausrichtungsaspekt nicht. Es nimmt nicht alle beschränkten Wesen und all ihre Leiden wahr, denn außer im allwissenden Gewahrsein (rnam-mkhyen) eines Buddhas ist es unmöglich, dass alle begrenzten Wesen und all ihre Leiden tatsächlich in einer Wahrnehmung erscheinen und exakt mit Bestimmtheit als „dieses“ und nicht „jenes“ festgestellt werden.
  • Die Art und Weise, wie großes Mitgefühl seine Objekte kognitiv erfasst, ist mit dem Wunsch, dass die Leiden aller begrenzten Wesen von ihnen genommen werden und dass alle begrenzten Wesen von ihren Leiden befreit werden.

Unterscheidendes Gewahrsein ist ebenfalls ein Nebengewahrsein. Wenn das unterscheidende Gewahrsein der Leerheit unbegrifflich ist, so bedeutet das, dass die Wahrnehmung, die es begleitet, unbegrifflich ist. Außer bei Buddhas ist das Bewusstsein einer Wahrnehmung, die von unterscheidendem Gewahrsein begleitet wird, immer das geistige Bewusstsein; es kann sich nicht um Sinnesbewusstsein handeln. Der eigentliche Faktor Weisheit ist hier also ein Hauptgewahrsein, welches aus dem geistigen Bewusstsein in Begleitung von unterscheidendem Gewahrsein der Leerheit besteht.

Im Kontext von Methode und Weisheit als verbundenes Paar ist die Methode das Hauptgewahrsein einer begrifflichen Wahrnehmung, während die Weisheit ein Nebengewahrsein in einer unbegrifflichen Wahrnehmung ist. Allerdings sind sowohl die Methode als auch die Weisheit Wahrnehmungen, deren Primärbewusstsein das geistige Bewusstsein ist.

Begriffliche und unbegriffliche Weisheit

Es gibt drei Ebenen von unterscheidendem Gewahrsein der Leerheit:

  • unterscheidendes Gewahrsein, das aus dem Hören entsteht (thos-byung shes-rab),
  • unterscheidendes Gewahrsein, das aus der Kontemplation entsteht (bsam-byung shes-rab),
  • unterscheidendes Gewahrsein, das aus der Meditation entsteht (sgom-byung shes-rab).

Alle drei erfolgen mit dem geistigen Bewusstsein. Doch nur die ersten beiden entstehen in Wahrnehmungen, die sich auf die geistige Sinneskraft (yid-kyi dbang-po) als vorherrschende Bedingung (bdag-rkyen) stützen. Sie entstehen also beide nur in geistigen Wahrnehmungen (yid-kyi shes-pa). Die geistige Sinneskraft einer Wahrnehmung ist der unmittelbar vorhergehende Moment der Wahrnehmung. Geistige Wahrnehmung kann begrifflich oder unbegrifflich sein.

Das unterscheidende Gewahrsein, das aus der Meditation entsteht, tritt in denjenigen Wahrnehmungen auf, die sich auf die Kraft der Verbindung von Shamatha (zhi-gnas; ruhiges Verweilen, geistige Ruhe) und Vipashyana (lhag-mthong, besondere Einsicht) als vorherrschender Bedingungen stützen. Shamatha ist ein gelassener, stiller und zur Ruhe gekommener Geisteszustand, während Vipashyana ein außergewöhnlich wahrnehmungsfähiger Zustand ist. Wenn solche Wahrnehmungen unbegrifflich sind und entweder die subtile Unbeständigkeit der Phänomene oder die Leerheit wahrnehmen, werden sie unbegriffliche yogische Wahrnehmungen (rnal-‘byor-gyi shes-pa) genannt.

Das unterscheidende Gewahrsein der Leerheit kann entweder eine schlussfolgernde Wahrnehmung oder aber eine begriffliche oder unbegriffliche einfache Wahrnehmungder Leerheit begleiten. Eine unbegriffliche einfache Wahrnehmung der Leerheit kann also entweder mit geistiger Wahrnehmung oder mit yogischer Wahrnehmung stattfinden, je nachdem, ob die unbegriffliche Wahrnehmung mit der Verbindung von Shamatha und Vipashyana erfolgt oder nicht.

Im verbundenen Paar von Methode und Weisheit ist die Methode eine begriffliche einfache geistige Wahrnehmung, während die Weisheit eine unbegriffliche einfache yogische Wahrnehmung ist.

Manifeste und unterschwellige Wahrnehmung

Wahrnehmung kann entweder manifest (mngon-gyur-ba) oder unterschwellig (bag-la nya, unterbewusst) sein. Dieser Unterschied hängt mit der Tatsache zusammen, dass sowohl das Bewusstsein (rnam-shes) als auch die Person (gang-zag) ununterbrochen Objekte kognitiv erfassen. Es ist nicht so, dass nur das Sehbewusstsein einen Hund sieht – auch die Person sieht einen Hund. Doch nur das Bewusstsein bringt kognitive Erscheinungen hervor.

In einer manifesten Wahrnehmung, die ein Objekt explizit begreift, bringt das Bewusstsein einen geistigen Aspekt hervor, der das Objekt darstellt. Das kognitive Objekt erscheint durch diesen Aspekt sowohl der Person als auch dem Bewusstsein der manifesten Wahrnehmung. Sowohl die Person als auch das manifeste Bewusstsein erfassen das Objekt kognitiv, beide nehmen es wahr bzw. sie „wissen“ darum. Die manifeste Wahrnehmung, die ein Objekt implizit begreift, ist eine Wahrnehmung, die im Zusammenhang mit einer manifesten Wahrnehmung mit explizitem Begreifen stattfindet.

Auch in einer unterschwelligen Wahrnehmung bringt das Bewusstsein einen geistigen Aspekt hervor, der ein kognitives Objekt darstellt. Das kognitive Objekt erscheint durch diesen geistigen Aspekt nur dem Bewusstsein der unterschwelligen Wahrnehmung und nur dieses Bewusstsein nimmt es wahr. Der Person erscheint das kognitive Objekt der unterschwelligen Wahrnehmung nicht; es wird von der Person nicht wahrgenommen. Ebenso wenig erscheint es dem Gewahrsein der manifesten Wahrnehmung, die gleichzeitig stattfindet und die unterschwellige Wahrnehmung überlagert, und es wird von dieser manifesten Wahrnehmung auch nicht wahrgenommen. Wenn wir schlafen, nimmt beispielsweise unser Hörbewusstsein unterschwellig wahr, dass der Wecker tickt, doch unser manifestes geistiges Bewusstsein hört das Ticken ebenso wenig wie wir. Aber nur weil die ganze Zeit über die unterschwellige Wahrnehmung des Geräusches der Uhr besteht, können wir das Weckerklingeln hören und aufwachen.

Sowohl die begriffliche als auch die unbegriffliche Wahrnehmung mit Begreifen der Leerheit sind immer manifeste Wahrnehmungen. Wenn eine begriffliche geistige Wahrnehmung der Leerheit manifest ist, kann sie die Leerheit entweder explizit oder implizit begreifen. Die unbegriffliche yogische Wahrnehmung kann Leerheit nur explizit begreifen.

Sobald wir müheloses Bodhichitta entwickelt haben und solange wir Bodhichitta nicht aufgeben, bleibt müheloses Bodhichitta kontinuierlich manifest, (mngon-gyur), außer während der unbegrifflichen yogischen Wahrnehmung der Leerheit. Wir werden diese Ausnahme weiter unten besprechen.

Gleichzeitige manifeste Wahrnehmungen

Mehrere Wahrnehmungen mit verschiedenen Objekten können gleichzeitig stattfinden. Man kann z.B. während des Essens den Anblick einer Person sehen, die mit uns spricht, und gleichzeitig ihre Stimme hören und die Speisen schmecken. Alle drei Wahrnehmungen sind gleichzeitig manifest. Es können sogar zwei Wahrnehmungen gleichzeitig manifest sein, von denen die eine unbegrifflich und die andere begrifflich ist, z.B. wenn wir die Seite eines Buches sehen, das wir lesen, während wir an etwas anderes denken.

Während mehrere Wahrnehmungen gleichzeitig stattfinden, können allerdings die Formen von Nebengewahrsein, die sie begleiten, unterschiedlich stark sein. Besonders stark variieren Aufmerksamkeit (yid-la byed-pa, geistiges Aufnehmen), Vergegenwärtigung (dran-pa) und geistige Fixierung (ting-nge-‘dzin, Konzentration).

  • Aufmerksamkeit befasst sich auf spezielle Weise mit dem kognitiven Objekt.
  • Vergegenwärtigung hält das geistige Erfassen (‘dzin-cha) des Objekts aufrecht und verhindert damit, dass es als Objekt der Wahrnehmung verlorengeht. Sie ist so etwas wie „geistiger Klebstoff.“
  • Geistige Fixierung hält das geistige Verweilen (gnas-cha) beim Objekt aufrecht.

Während einer manifesten begrifflichen Wahrnehmung der Leerheit kann weiterhin manifestes müheloses Bodhichitta vorhanden sein sowie auch manifeste Liebe und Mitgefühl, obwohl dies alles separate begriffliche Wahrnehmungen sind. Die manifeste begriffliche Wahrnehmung der Leerheit kann sogar mit vertiefter Konzentration (ting-nge-‘dzin, Skt. samadhi) einhergehen.

Vertiefte Konzentration auf ein kognitives Objekt ist einfach eine geistige Fixierung, die frei von jeglicher geistigen Abschweifung (rnam-g.yeng), geistiger Flatterhaftigkeit (rgod-pa, mental agitation) und geistiger Trägheit (bying-ba) ist. Deshalb schließt vertiefte Konzentration auf ein Objekt nicht die manifeste Wahrnehmung eines anderen Objekts aus. Sie schließt lediglich aus, dass man dadurch abgelenkt wird.

Das mühelose Bodhichitta, das während der vertieften Konzentration auf die Leerheit manifest ist, wird von sehr schwacher Aufmerksamkeit, Vergegenwärtigung und geistiger Fixierung begleitet; es bleibt aber dennoch manifest. Wir verlieren nie unsere Absicht, zum Wohle aller die Erleuchtung zu erlangen. Wie es der große indische Meister Shantideva erklärte: Wenn müheloses Bodhichitta einmal entwickelt wurde, bleibt es tatsächlich sogar dann manifest, wenn wir schlafen oder betrunken sind, und baut fortwährend positive Kraft (bsod-nams, Verdienst) auf.

Gleichzeitige manifeste und unterschwellige Wahrnehmungen

Anders als das mühelose Bodhichitta bleibt die Wahrnehmung der Leerheit, solange wir nicht Erleuchtung erlangt haben, nicht ununterbrochen manifest. Während einer manifesten vertieften Konzentration auf müheloses Bodhichitta ist es unmöglich, gleichzeitig eine manifeste Wahrnehmung der Leerheit zu haben, weder begrifflich noch unbegrifflich. Desgleichen ist es unmöglich, während einer manifesten unbegrifflichen yogischen Wahrnehmung der Leerheit gleichzeitig eine manifeste Wahrnehmung mühelosen Bodhichittas zu haben.

In der Gelug-Tradition gibt es zwei Arten, Methode und Weisheit in diesen Situationen als verbundenes Paar zu erklären, nämlich entweder gemäß der Lehrbuch-Tradition von Jetsunpa oder derjenigen von Panchen.

  • Die Erklärung von Jetsunpa zu diesem Punkt wird auch von den späteren Gelug-Lehrbuch-Traditionen von Tendarwa (mKhas-grub bsTan-pa dar-rgyas) und Künkyen (Kun-mkhyen ‘Jam-dbyangs bzhad-pa rdo-rje II, dKon-mchog ‘jigs-med dbang-po) akzeptiert. Der ersteren folgt das Kloster Sera Me (Se-ra sMad) und der letzteren das Kloster Drepung Gomang (tib. ‘Bras-spungs sGo-smang).

Gemäß Jetsunpa wird erklärt, dass die begriffliche oder unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit während der manifesten vertieften Konzentration auf müheloses Bodhichitta nur auf unterschwellige Weise stattfinden kann. Auf ähnliche Weise setzt sich müheloses Bodhichitta während einer manifesten unbegrifflichen yogischen Wahrnehmung der Leerheit ununterbrochen fort, aber nur unterschwellig.

Gemäß Panchen wird erklärt, dass unterscheidendes Gewahrsein der Leerheit während einer manifesten vertieften Konzentration auf müheloses Bodhichitta nur als Tendenz (sa-bon, Samen) gleichzeitig vorhanden sein kann. Auf ähnliche Weise kann während einer manifesten unbegrifflichen yogischen Wahrnehmung der Leerheit müheloses Bodhichitta nur in Form einer Tendenz gleichzeitig vorhanden sein.

  • Eine Tendenz für eine Art von Gewahrsein – die einem geistigen Kontinuum zugeschrieben wird - ist das Vermächtnis vorhergehenden manifesten Auftretens dieses Gewahrseins. Genauer gesagt ist eine Tendenz diejenige Art von Latenz (bag-chags), die ein manifestes Auftreten dieses Gewahrseins nur zeitweise, in Abständen (re-‘ga’-ba), hervorruft.
  • Wie die unterschwellige Wahrnehmung wird auch die Tendenz als ein schlummernder Faktor (bag-la nyal) angesehen. Aber sie ist keine Gewahrseinsart (shes-pa). Sie ist eine nicht mit den Kategorien Form oder Bewusstsein kongruente Einflussvariable (ldan-min ‘du-byed) – ein nicht-statisches Phänomen, das weder physisch (gzugs, Form) noch Gewahrsein ist.

Es wird erklärt: Wenn Weisheit als Tendenz mit manifester Methode verbunden ist, wird die Methode durch die Stärke (stobs) des unmittelbar vorhergehenden Moments manifester Weisheit getragen. Denn jener Moment manifester Weisheit wirkt als unmittelbar vorhergehende Bedingung (de-ma-thag rkyen) für das Entstehen des unmittelbar darauf folgenden Moments von Methode. Ähnlich gilt: Wenn Methode als Tendenz mit manifester Weisheit verbunden ist, wird die Weisheit durch die Stärke des unmittelbar vorhergehenden Moments manifester Methode getragen.

Allgemeines Tantra in der Darstellung der Gelug-Tradition

Buddha-Gestalten als Methode im allgemeinen Tantra

Ganz gleich, ob wir Sutra oder Tantra praktizieren – wenn wir das mühelose konventionelle Bodhichitta als Methode betrachten, kann ein verbundenes Paar von Methode und Weisheit nur verwirklicht werden

  • mit Methode und Weisheit als getrennten Wahrnehmungen
  • oder auch – gemäß der Erklärung von Panchen – wenn entweder Weisheit oder Methode lediglich in Form einer Tendenz vorhanden sind.

Müheloses konventionelles Bodhichitta und die unbegriffliche yogische Wahrnehmung der Leerheit sind die hauptsächlichen Faktoren für den Aufbau und die Stärkung der beiden Netzwerke, welche die herbeiführenden Ursachen für den Körper und den Geist eines Buddhas sind, aber hier stoßen wir auf einen problematischen Punkt. Der erleuchtende Körper und der erleuchtende Geist eines Buddhas haben dieselbe Wesensnatur (ngo-bo gcig, dieselbe essentielle Natur). Das heißt, dass sie zwei Tatsachen bezüglich eines im Wesen identischen Phänomens sind, nämlich eines Buddhas. Bei einem Buddha treten Weisheit und Methode in jedem Moment manifester Wahrnehmung gleichzeitig auf. Ein effizienteres Mittel, um die Qualitäten von Körper und Geist eines Buddhas in sich selbst zu entwickeln, wäre also ein Mittel, dass die Möglichkeit bietet, die herbeiführenden Ursachen dafür ebenfalls im Rahmen einer einzigen manifesten Wahrnehmung gleichzeitig zu entwickeln.

Konventionelles Bodhichitta und die Leerheit des konventionellen Bodhichittas sind zwei Tatsachen bezüglich desselben Phänomens und haben dieselbe essentielle Natur. Wie wir jedoch gesehen haben, ist es nicht möglich, sich im Rahmen einer einzigen Wahrnehmung darin zu üben, beide zu entwickeln, denn als Gewahrseinsarten haben beide verschiedene Arten, ihr Objekt kognitiv zu erfassen, die sich gegenseitig ausschließen.

Es ist jedoch möglich, sich darin zu üben, die Ausrichtung auf einen Körper und auf die Leerheit des Körpers im Rahmen einer einzigen Wahrnehmung zu entwickeln. Es sind allerdings nicht unsere gewöhnlichen Körper, die sich in den erleuchtenden Körper eines Buddhas verwandeln. Wir können mit unseren gewöhnlichen Körpern, die überaus eingeschränkt sind, nicht allen so umfassend nutzen, wie es ein Buddha tut. Eine passendere Ursache für das Erreichen eines erleuchtenden Buddhakörpers mit all seinen außergewöhnlichen Eigenschaften ist der Körper einer Buddha-Gestalt (yi-dam, tantrische Gottheit). Aufgrund ihrer zahlreichen Vorteile stellen wir uns vor, dass wir in Form einer solchen Gestalt auftreten und allen Wesen nutzen, in derselben Weise, wie es bei dem erleuchtenden Körper eines Buddhas der Fall ist. Deshalb wird im Tantra zusätzlich zum konventionellen Bodhichitta die Form unserer selbst als Buddha-Gestalt als Methode erlärt.

Im Tantra wird also der Schwerpunkt darauf gelegt, das verbunden Paar von Methode und Weisheit zu verwirklichen, indem als Methode die Visualisierung einer Buddha-Gestalt als die Form geübt wird, in der unsere geistigen Kontinua die Erscheinung unseres Körpers entstehen lassen. Dementsprechend ist die Weisheit im Tantra das unterscheidende Gewahrsein der Leerheit unserer selbst als Buddha-Gestalt. Es handelt sich nicht einfach um die Leerheit unserer selbst im Sinne der Aggregate (phung-po, Skt. skandha), die unseren gewöhnlichen Körper und Geist bilden.

Um zu verstehen, wie wir üben können, in einer einzigen Wahrnehmung uns selbst als eine Buddha-Gestalt zu visualisieren und auf deren Leerheit auszurichten, ist es erforderlich, die beiden Wahrheiten (bden-pa gnyis) zu verstehen.

Die beiden Wahrheiten

Die beiden Wahrheiten sind zwei untrennbare Tatsachen bezüglich desselben Phänomens. Sie haben also dieselbe essentielle Natur. Beide sind wahr und auf untrennbare Weise zutreffend, ungeachtet dessen, ob sie von einem Moment des Geistes gleichzeitig wahrgenommen werden.

  • Die oberflächliche Wahrheit (kun-rdzob bden-pa, relative Wahrheit, konventionelle Wahrheit) bezüglich eines Phänomens ist, wie es erscheint: sowohl das, was es konventionell zu sein scheint, als auch, wie es konventionell zu existieren scheint.
  • Die tiefste Wahrheit (don-dam bden-pa, letztendliche Wahrheit) bezüglich desselben Phänomens ist, wie es tatsächlich existiert.

Ungeachtet dieser groben Formulierung ist jedoch zu beachten: Es ist nicht so, dass ein Phänomen und seine beiden Wahrheiten unabhängig voneinander existieren. Ein Phänomen und die beiden darauf bezogenen Wahrheiten entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit (rten-‘brel, abhängiges Entstehen) und gleichzeitig miteinander – wie z.B. eine Vase und die Form der Vase.

Wir können also die beiden Wahrheiten so beschreiben, dass die tiefste Wahrheit eine Leerheit (die völlige Abwesenheit einer unmöglichen Existenzweise von etwas) und die oberflächliche Wahrheit die Grundlage für diese Leerheit (stong-gzhi) ist. Dementsprechend ist im Tantra die oberflächliche Wahrheit die Erscheinung unserer eigenen Form als eine Buddha-Gestalt und die tiefste Wahrheit die Leerheit dieser Buddha-Gestalt. Die Ausrichtung auf diese oberflächliche Wahrheit ist Methode und die Ausrichtung auf diese tiefste Wahrheit ist Weisheit.

Die Wahrnehmung der Leerheit in der völligen Vertiefung und in der nachfolgenden Phase des Erlangens

Eine völlige Vertiefung (mnyam-bzhag, meditative Ausgewogenheit) ist ein Geisteszustand, in dem Shamatha und Vipashyana miteinander verbunden sind und in dem sich die vertiefte Konzentration ganz und gar auf eine Leerheit richtet, die wie Raum ist (nam-mkha’ lta-bu’i stong-pa-nyid, raumgleiche Leerheit).

  • Die völlige Vertiefung während des Pfades der Anwendung ist ein begrifflicher Geisteszustand.
  • Die völligen Vertiefungen während des Pfades des Sehens (mthong-lam) und des Sich-Gewöhnens (sgom-lam, Pfad der Meditation) sind unbegrifflich Zustände, und es sind die völligen Vertiefungen eines Aryas.
  • Eine nachfolgende Phase des Erlangens (rjes-thob, nachfolgende Verwirklichung, Nach-Meditation) ist ein Geisteszustand, in dem Shamatha und Vipashyana miteinander verbunden sind und in dem sich die vertiefte Konzentration ganz und gar auf eine Leerheit richtet, die wie eine Illusion ist (sgyu-ma lta-bu’i stong-pa-nyid, illusionsgleiche Leerheit).
  • Die nachfolgende Phase des Erlangens kann begrifflich oder unbegrifflich sein, je nachdem, zu welchem Pfad der Geisteszustand gehört, und entsprechend denselben Kriterien, die für die völlige Vertiefung gelten. Doch selbst, wenn die nachfolgende Phase des Erlangens unbegrifflich ist, kann darauf wieder eine begriffliche Phase folgen.
  • Die Wahrnehmung in der nachfolgenden Phase des Erlangens tritt nur unmittelbar nach der Wahrnehmung in der völligen Vertiefung auf. Daher ist sie eine einfache unbegriffliche oder begriffliche Wahrnehmung, keine schlussfolgernde Wahrnehmung. Denn die Wahrnehmung der Leerheit in der nachfolgenden Phase des Erlangens entsteht nicht dadurch, dass man sich direkt auf einen Argumentationsvorgang stützt.

Die unbegriffliche völlige Vertiefung erfolgt mit yogischer Wahrnehmung. Die begriffliche völlige Vertiefung sowie die begriffliche und die unbegriffliche nachfolgende Phase des Erlangens erfolgen mit geistiger Wahrnehmung.

Die Wahrnehmung der beiden Wahrheiten im Gewahrsein der völligen Vertiefung und der nachfolgenden Phase des Erlangens

Im allgemeinen Tantra begreift die begriffliche Wahrnehmung der Leerheit in der völligen Vertiefung explizit die Leerheit und implizit die Grundlage für diese Leerheit (die Form unserer selbst als Buddha-Gestalt). Sowohl die begriffliche als auch die unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit in der nachfolgenden Phase des Erlangens begreifen explizit die Form unserer selbst als Buddha-Gestalt und implizit ihre Leerheit. Alle drei Wahrnehmungen bringen Erscheinungen wahrer Existenz der Objekte hervor, die sie explizit begreifen. Die begrifflichen Formen dieser Wahrnehmungen greifen auch nach ihren beteiligten Objekten, als hätten diese wahrhaft begründete Existenz.

Die Wahrnehmung der Leerheit in der unbegrifflichen völligen Vertiefung begreift explizit die Leerheit, aber sie begreift nicht die Form unserer selbst als Buddha-Gestalt, nicht einmal implizit. Sie bringt weder die Erscheinung wahrer Existenz der Leerheit hervor, noch greift sie nach wahrhaft begründeter Existenz der Leerheit.

  • Die beiden Wahrheiten bezüglich der Form unserer selbst als Buddha-Gestalt sind auch während der Wahrnehmung der Leerheit dieser Form in der völligen Vertiefung immer noch untrennbar. Die Wahrnehmung ist hier in etwa vergleichbar mit der Situation, wenn wir im Erdgeschoss eines Hauses sitzen und durch das Fenster sehen, wie jemand vorbeigeht. Obwohl nur die obere Hälfte des Körpers der Person vorbeizugehen scheint, bedeutet das nicht, dass der untere Teil fehlt. Die Beschränkung liegt an der Perspektive, nicht auf Seiten des Körpers der Person.
  • Selbst bei einem Arya in der unbegrifflichen völligen Vertiefung ist die Wahrnehmung der Leerheit also immer noch die eines limitierten Geistes, eines begrenzten Wesens (sems-can, fühlendes Wesen).

Der Lehrbuch-Tradition von Jetsunpa zufolge finden gleichzeitig mit dieser manifesten unbegrifflichen Wahrnehmung der Leerheit in der völligen Vertiefung mehrere unterschwellige Wahrnehmungen statt. Dazu gehören die unterschwellige Wahrnehmung der Form unserer selbst als Buddha-Gestalt, unterschwelliges konventionelles Bodhichitta und unterschwelliges Mitgefühl. All diese unterschwelligen Wahrnehmungen bringen Erscheinungen wahrer Existenz ihrer beteiligten Objekte hervor und greifen nach wahrhaft begründeter Existenz dieser Objekte. Diese unterschwelligen Wahrnehmungen beinhalten jedoch kein Begreifen ihrer beteiligten Objekte.

  • Die Tradition von Jetsunpa vertritt sogar den Standpunkt, dass die unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit in der völligen Vertiefung, während sie explizit die Leerheit begreift, implizit die völlige Vertiefung begreift, obwohl sie kein implizites Begreifen von irgendetwas anderem beinhaltet.

Die Lehrbuch-Tradition von Panchen akzeptiert weder, dass gleichzeitig mit der manifestem unbegrifflichen Wahrnehmung der Leerheit in der völligen Vertiefung eine unterschwellige Wahrnehmung vorhanden ist, noch, dass irgendetwas implizit begriffen wird. Während dieser manifesten Wahrnehmung setzen sich das Greifen nach wahrer Existenz, konventionelles Bodhichitta und Mitgefühl lediglich als Latenzen (bag-chags, Gewohnheiten) fort. Es ist keine Wahrnehmung der Form unserer selbst als Buddha-Gestalt vorhanden, nicht einmal als unterschwellige Wahrnehmung, die separat von der manifesten völligen Vertiefung vorhanden wäre.

Das verbundene Paar von Methode und Weisheit während der Wahrnehmung der Leerheit in der unbegrifflichen völligen Vertiefung

Das tasächliche verbundene Paar von Methode und Weisheit, das als herbeiführende Ursache für Körper und Geist eines Buddhas erforderlich ist, ist der Körper einer Buddha-Gestalt, der gleichzeitig mit einem manifesten expliziten Begreifen der Leerheit erscheint. Aber das, worauf wir aus sind, nämlich dass der Körper der Buddha-Gestalt, als Grundlage für die Leerheit, durch dieselbe manifeste Wahrnehmung begriffen wird, die auch unbegriffliches explizites Begreifen der Leerheit dieses Körpers beinhaltet, ist im allgemeinen Tantra nicht möglich. Dieser Körper kann noch nicht einmal implizit durch dieselbe manifeste unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit begriffen werden, geschweige denn explizit.

  • Unter dem Gesichtspunkt, dass es unmöglich ist, ein verbundenes Paar von Methode und Weisheit als beteiligte Objekte einer einzigen manifesten yogischen Wahrnehmung zu verwirklichen, stellt sich auch dann, wenn wir die Form unserer selbst als Buddha-Gestalt als Methode nehmen, wieder dasselbe Problem wie beim konventionellen Bodhichitta als Methode.
  • Das ist der Fall, obwohl es möglich ist, mit einem verbundenen Paar von Methode und Weisheit zu üben, in dem als Methode die Form unserer selbst als Buddha-Gestalt gilt, welche ein zusätzliches beteiligtes Objekt (1) einer manifesten begrifflichen Wahrnehmung der Leerheit in der völligen Vertiefung und (2) der manifesten Wahrnehmungen der Leerheit in der begrifflichen und unbegrifflichen nachfolgenden Phase des Erlangens ist.

Die Lösung dieses Problems besteht im allgemeinen Tantra darin, dass man sich vorstellt, der Geist, der die unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit in völligen Vertiefung hat, „den Aspekt (die Erscheinung) der Form einer Buddha-Gestalt annimmt.“ Doch was bedeutet das?

Ein Geist kann nicht ohne irgendeine physische Basis existieren, selbst wenn es nur die subtilste ist, wie im Falle eines Geistes auf der Ebene formloser Wesen (gzugs-med khams, formloses Reich). Es ist also eine Tatsache, dass auch ein Geist, der eine unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit in der völligen Vertiefung hat, eine physische Basis besitzt. In dem Fall, um den es hier geht, ist die physische Basis die Form unserer selbst als Buddha-Gestalt. Obwohl die manifeste unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit der Form unserer selbst als Buddha-Gestalt in der völligen Vertiefung diese Form nicht begreifen kann, besteht diese Form (die Grundlage für diese Leerheit) dennoch gleichzeitig mit dem Geist während dessen Wahrnehmung in der völligen Vertiefung.

Ganz gleich, ob wir akzeptieren, dass wir gleichzeitig mit der Wahrnehmung in der völligen Vertiefung eine unterschwellige Wahrnehmung dieser Form haben, oder nicht, ist diese Lösung für das Problem der Vereinigung von Methode und Weisheit während der unbegrifflichen Wahrnehmung der Leerheit in der völligen Vertiefung tragfähig. Aber sobald wir eine manifeste Wahrnehmung der Form unserer selbst als Buddha-Gestalt haben, kann unser Geist keine unbegriffliche Wahrnehmung ihrer Leerheit in der völligen Vertiefung mehr haben. Die Lösung, die das allgemeinen Tantras für das Problem bietet, wie man verbundene Methode und Weisheit in einer einzigen manifesten unbegrifflichen Wahrnehmung während der völligen Vertiefung in die Leerheit verwirklichen kann, reicht daher noch nicht aus.

Anuttarayoga-Tantra in der Darstellung der Gelug-Tradition

Zwei Arten der korrekten Sicht der Leerheit

Im Anuttarayoga-Tantra spricht man von zweierlei Art, die korrekte Sicht der Realität darzustellen:

  • die korrekte Sicht im Sinne der leeren Natur selbst (chos-nyid lta-ba),
  • die korrekte Sicht bezogen auf das, was Leerheit als seine Natur hat (chos-can lta-ba).

Im Sutra und im allgemeinen Tantra werden Erklärungen im ersteren Sinne gegeben. Im Anuttarayoga-Tantra werden Erklärungen im Sinne beider Arten korrekter Sicht gegeben. Man beachte jedoch, dass die Leerheit in beiden Arten der Sicht genau dieselbe ist. Es ist die Leerheit von wahrhaft begründeter Existenz, wie sie im Prasangika-System erklärt ist.

Entsprechend der korrekten Sicht, die im Sinne der leeren Natur selbst erklärt wird, bezieht sich die tiefste Wahrheit auf die Leerheit. Oberflächliche Wahrheit bezieht sich auf die Grundlagen für die Leerheit, nämlich die Erscheinungen. Bei der Untrennbarkeit dieser beiden Wahrheiten als Untrennbarkeit von Leerheit und Erscheinung handelt es sich um die Untrennbarkeit von Leerheit und abhängigem Entstehen (rten-‘brel). Alle Erscheinungen entstehen in Abhängigkeit von geistiger Zuschreibung. In diesem Sinne sind sie das natürliche Strahlen der Leerheit (stong-nyid-kyi rtsal).

  • Ein natürliches Strahlen – auch „Entfaltung“ (rol-pa, Spiel) genannt – ist das natürliche, funkelnde Schimmern von etwas, so dass es eine Reihe von Erscheinungen erzeugt. Das klassische Beispiel für natürliches Strahlen ist Sonnenschein. Sonnenschein ist von der Sonne untrennbar. Das Scheinen ist ein natürlicher Teil der funktionellen Natur (rang-bzhin) der Sonne. Sonnenschein ist nicht nur das, was erscheint, wenn wir die Sonne anschauen. Er ist auch das, was bewirkt, dass unzählige andere Objekte erscheinen.

Methode und Weisheit werden im allgemeinen Tantra entsprechend der korrekten Sicht dargestellt, die im Sinne der Leerheit selbst erklärt wird. Methode, als Form unserer selbst als Buddha-Gestalt, ist eine abhängig entstehende Entfaltung der Leerheit. Wir arbeiten darauf hin, gleichzeitig sowohl die Leerheit unserer Form als Buddha-Gestalt als auch die abhängig entstehende Erscheinung dieser Form manifest wahrzunehmen, obwohl das Problem besteht, dass wir dazu während der unbegrifflichen manifesten Wahrnehmung der Leerheit in der völligen Vertiefung nicht in der Lage sind.

Das Anuttarayoga-Tantra vernachlässigt nicht die korrekte Sicht im Sinne der Leerheit selbst, doch zugleich überwindet es das Problem dieser Sicht, indem es sich der korrekten Sicht dessen zuwendet, was Leerheit zur Natur hat. Was hat Leerheit zur Natur? Der Geist (geistige Aktivität). So können wir Erscheinungen als das natürliche Strahlen des Geistes (sems-kyi rtsal) bezeichnen; oder, mit anderen Worten, als das natürliche Strahlen von Klarheit und Gewahrsein (gsal-rig-gi rtsal).

  • „Bloß Klarheit und Gewahrsein“ (gsal-rig tsam) sind die definierenden Charakteristika der oberflächlichen Wahrheit von „Geist“. „Klarheit“ bezieht sich auf den Aspekt der geistigen Aktivität, der Erscheinungen hervorbringt. „Gewahrsein” bezieht sich auf das kognitive Erfassen der Objekte. „Bloß“ bedeutet, dass diese Aspekte geistiger Aktivität geschehen, ohne dass es einen unabhängig existierenden „Geist“ oder eine unabhängig existierende „Person“ gibt, die sie ausführt oder bewerkstelligt.

Erscheinungen als natürliches Strahlen des Geistes

Erscheinungen als natürliches Strahlen des Geistes können entweder von dem Gesichtspunkt aus erklärt werden, den Sutra und Tantra gemeinsam haben, oder aber vom alleinigen Standpunkt des Anuttarayoga-Tantras aus. Vom gemeinsamen Standpunkt aus betrachtet bezieht sich „Geist“ im Kontext von „Erscheinungen als natürliches Strahlen des Geistes“ auf jegliche Fälle von grober oder subtiler geistiger Aktivität.

  • Bei der groben geistigen Aktivität (sems rags-pa) handelt es sich um Sinnesbewusstsein – das ausschließlich unbegriffliche sinnliche Wahrnehmung hat.
  • Bei der subtilen geistigen Aktivität (sems- phra-mo) handelt es sich um geistiges Bewusstsein – das begriffliche Wahrnehmung, geistige unbegriffliche Wahrnehmung oder yogische unbegriffliche Wahrnehmung haben kann.

Wenn „Geist“ jedoch vom alleinigen Standpunkt des Anuttarayoga-Tantras aus erklärt wird, bezieht sich das Wort „Geist“ in dem Ausdruck „Erscheinungen als natürliche Strahlen des Geistes“ auf den subtilsten Geist (sems shin-tu phra-mo), der „klares Licht“ (tib. ‘od-gsal) genannt wird. Die charakteristischen Eigenschaften von Gewahrsein des klaren Lichts sind, dass es immer unbegrifflich ist, nie nach wahrhaft begründeter Existenz greift und nie auch nur Erscheinungen von wahrer Existenz hervorbringt. Es ist auf natürliche Weise frei von allen störenden Emotionen und Geisteshaltungen (nyon-mongs, Skt. klesha, „plagende Emotionen“) und von jeglicher geistigen Ablenkung, geistigen Flatterhaftigkeit und geistigen Trägheit. Dennoch hat das Gewahrsein des klaren Lichts nicht notwendigerweise eine unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit.

Das natürliche Strahlen des Geisteszustands klaren Lichts kann ebenfalls in zweierlei Sinn erklärt werden, nämlich im Sinne des subtilsten Energiewindes (rlung shin-tu phra-mo) oder des glückseligen Gewahrseins (bde-ba, Glückseligkeit).

Verwendung des subtilsten Energiewindes auf der Seite der Methode

Genau wie es drei Ebenen der Subtilität des Geistes gibt, gibt es drei dementsprechende körperliche Ebenen, die die physischen Stützen (rten) bilden, auf die sich die drei Ebenen von Geist stützen:

  • Der grobe Körper (lus rags-pa) mit seinen kognitiven Sinneskräften (dbang-po), z.B. den lichtempfindlichen Zellen der Augen, ist die Stütze für das Sinnesbewusstsein.
  • Der feinstoffliche Körper (lus phra-mo) ist das feinstoffliche Energiesystem des grobstofflichen Körpers mit seinen Chakras (‘khor-lo, Energieknoten), Energiekanälen (rtsa) und Energiewinden. Er dient als die Stütze für das geistige Bewusstsein, insbesondere in der begrifflichen Wahrnehmung.
  • Der subtilste Körper (lus shin-tu phra-mo) ist der subtilste Energiewind, der die Stütze für den Geist des klaren Lichts bildet.

Der subtilste Energiewind hat dieselbe essentielle Natur wie der Geist des klaren Lichts. Mit anderen Worten: Geist des klaren Lichts und subtilster Energiewind beziehen sich einfach aus zwei verschiedenen Blickwinkeln auf ein und dasselbe. Der subtilste Energiewind ist die subtilste Form eines physischen Phänomens; er ist, in einem gewissen Sinne, das, woraus kognitive Erscheinungen gemacht werden. Erscheinungen sind also kognitive Gestaltungen des subtilsten Energiewindes.

Eine visualisierte Form unserer selbst als Buddha-Gestalt ist eine Erscheinung, die durch begriffliche Wahrnehmung erzeugt wird. Somit erscheint diese Form als wahrhaft existent und die begriffliche Wahrnehmung greift danach, dass sie wahrhaft begründete Existenz hat. Deshalb kann unser Geist, wie wir gesehen haben, nicht gleichzeitig die Erscheinung einer solchen vorgestellten Form zusammen mit der unbegrifflichen Wahrnehmung der Leerheit in der völligen Vertiefung hervorbringen.

Wenn alle Energiewinde des feinstofflichen Körpers vollkommen im Zentrum des Herzchakras aufgelöst wurden, wird die Wahrnehmung mit dem „tatsächlichen Geist des klaren Lichts“ (don-gyi ‘od-gsal) möglich. Wenn ein solcher Geisteszustand klaren Lichts eine manifeste unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit in völliger Vertiefung hat, ist es für diesen Geist möglich, gleichzeitig eine Erscheinung von etwas, das „bereinigter Illusionskörper“ (dag-pa’i sgyu-lus) genannt wird, als Grundlage für diese Leerheit entstehen zu lassen. Dies ist möglich, weil die Wahrnehmung im tatsächlichen geistigen Zustand klaren Lichts die Erscheinung eines gereinigten Illusionskörpers entstehen lässt, ohne ihn so erscheinen zu lassen, als habe er wahre Existenz. Ein derartiges Gewahrsein der völligen Vertiefung in die Leerheit begreift auf manifeste explizite Weise sowohl die Leerheit als auch ihre Grundlage (die Form unserer selbst als bereinigter Illusionskörper).

  • Das verbundene Paar von Methode und Weisheit, das mit dem tatsächlichen Gewahrsein klaren Lichts und dem gereinigtem Illusionskörper verwirklicht wird, wird als ein „vereintes Paar“ (zung-‘jug) bezeichnet. Bei dem vereinten Paar entstehen beide Elemente gleichzeitig mit dem Erreichen des vereinten Paares.
  • Im Kontext eines solchen vereinten Paares bezeichnet man das tatsächliche klare Licht als ein „zutiefst wahres Phänomen“ und den gereinigten Illusionskörper als „oberflächlich wahres Phänomen.“ Da dies Fälle der zwei Wahrheiten sind, haben sie dieselbe essentielle Natur.

Die Verwendung von glückseligem Gewahrsein auf der Seite der Methode

Im Anuttarayoga-Tantra werden zwei Vorgehensweisen gelehrt, um Zugang zum Geist des klaren Lichts zu finden, ihn zu aktivieren und im Zusammenhang mit der Wahrnehmung der Leerheit im Geisteszustand klaren Lichts eine herbeiführende Ursache für den erleuchtenden Körper eines Buddhas zu schaffen. In beiden Vorgehensweisen ist es erforderlich, dass die Energiewinde des subtilsten Körpers vollkommen im Zentrum des Herzchakras aufgelöst werden.

Die eine Vorgehensweise, um die Energiewinde aufzulösen, besteht darin, sich mit den Energiewinden selbst zu beschäftigen. Wenn wir dieser Methode folgen, bringen wir den subtilsten Energiewind, der die Stütze unseres Gewahrseins klaren Lichts und entsprechender Wahrnehmung der Leerheit ist, in Form unserer selbst als gereinigtem Illusionskörper hervor. Diese Methode wird in der Vatertantra(pha-rgyud)-Sektor des Anuttarayoga-Tantra betont und im Detail gelehrt.

Die andere Vorgehensweise, um Zugang zum Geist des klaren Lichts zu finden und ihn zu aktivieren, besteht im Hervorbringen fortschreitend intensiverer Zustände von glückseligem Gewahrsein. Durch das Anwenden dieser Methode erreichen wir als natürliches Strahlen der letztendlichen Ebene glückseligen Gewahrseins, die mit der Wahrnehmung der Leerheit durch das Gewahrsein klaren Lichts verbunden ist, einen Regenbogenkörper (‘ja’-lus). Das Verwenden von glückseligem Gewahrsein als Methode wird in der Muttertantra(ma-rgyud)-Sektor betont und im Detail gelehrt.

  • Man beachte, dass es vier aufeinander folgende Ebenen von glückseligem Gewahrsein gibt, die die vier Arten freudigen Gewahrseins (dga’-ba bzhi, vier Freuden) genannt werden. Die intensivste Ebene, die vierte, wird „gleichzeitig entstehendes freudiges Gewahrsein“ (lhan-skyes dga’-ba) genannt. Sie wird auch als „großes glückseliges Gewahrsein“ (bde-ba chen-po, große Glückseligkeit) bezeichnet. Die vier Ebenen von freudigem Gewahrsein werden auf verschiedenen Ebenen der Vollendungsstufe (rdzogs-rim) der Anuttarayoga-Tantra-Praxis durch besondere Methoden erzeugt, die das feinstofflichen Energiesystem einsetzen.
  • Das große glückseliges Gewahrsein erfolgt also nicht notwendigerweise mit dem Geist des klaren Lichts.

Glückseliges Gewahrsein kann entweder eine Form von Nebengewahrsein (sems-byung, Geistesfaktor) oder eine Form von tiefem Gewahrsein (ye-shes) sein. Als Nebengewahrsein ist es das Empfinden eines gewissen Ausmaßes an Glück (tshor-ba), das entweder die sinnliche oder die geistige Wahrnehmung begleiten kann. Als tiefes Gewahrsein ist es das Hauptgewahrsein (gtso-sems) in einer Wahrnehmung, die frei von geistigen Fabrikationen (spros-bral). Genauer ausgedrückt, ist diese zweite Form von glückseligem Gewahrsein das glückselige Gewahrsein, in dem der Geist, der das Objekt wahrnimmt, frei von jeglicher geistigen Fabrikation und Projektion von Erscheinungen wahrer Existenz und von allem Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz ist.

Das Gewahrsein des klaren Lichts ist von Natur aus frei von allen solchen geistigen Fabrikationen und von Greifen. Allerdings ist das Gewahrsein des klaren Lichts nicht notwendigerweise ein glückseliges Gewahrsein. Auf der Ebene der Basis (gzhi) z.B. – mit anderen Worten, auf unserer gewöhnlichen samsarischen Ebene – ist das Gewahrsein des klaren Lichts im Augenblick des Todes nicht von Natur aus glückselig. Doch auf der Geistesebene der Pfade (lam) – mit anderen Worten, auf einer Ebene, die durch spezielle Meditationspraktiken erreicht wurde – kann das Gewahrsein des klaren Lichts sogar während des Sterbens als glückseliges Gewahrsein hervorgebracht werden. Außerdem nimmt auf der Ebene der Basis das Gewahrsein des klaren Lichts nicht die Leerheit wahr. Auf der Ebene der Pfade jedoch kann die Wahrnehmung der Leerheit mit einem Geisteszustand klaren Lichts erreicht werden.

  • Indessen hat das große glückselige Gewahrsein nicht notwendigerweise die Wahrnehmung der Leerheit.

Glückseliges Gewahrsein als tiefes Gewahrsein ist großes glückseliges Gewahrsein, das auf der Ebene der Pfade mit einem Geisteszustand klaren Lichts erlangt wurde, der eine unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit in der völligen Vertiefung hat.

  • Zwar hat der Geist des klaren Lichts nicht notwendigerweise die Wahrnehmung der Leerheit und ist nicht notwendigerweise glückselig, und auch das große glückselige Gewahrsein hat nicht notwendigerweise eine Wahrnehmung der Leerheit, aber wenn man eine Wahrnehmung der Leerheit mit dem tatsächlichen Geist des klaren Lichts erlangt, erlangt man immer auch das große glückselige Gewahrsein.

Das große glückselige Gewahrsein wird hier nicht als Ergebnis davon erreicht, dass man eine Wahrnehmung der Leerheit mit dem tatsächlichen Geist des klaren Lichts erlangt. Insofern unterscheidet es sich von dem Gefühl der Leistungsfähigkeit (shin-sbyangs), das als eines der Ergebnisse der Verwirklichung von Shamatha erreicht wird, und dem darauf folgenden erhebenden, nicht aufwühlenden Empfinden körperlicher und geistiger Glückseligkeit, welches durch dieses Gefühl der Leistungsfähigkeit herbeigeführt wird. Ebenso wenig ist das große glückselige Gewahrsein ein Ergebnis, bei dem es sich darum handelt, dass etwas Hinderliches aufgehört hat (bral-‘bras). Es ist kein statischer Zustand, wie eine wahre Beendigung (tib. ‘gog-bden), die mittels Anstrengung erreicht wird, aber weder von dieser Anstrengung erzeugt wird noch aus dieser Anstrengung heranreift. Das große glückselige Gewahrsein ist ein nicht-statisches Phänomen, und es besteht nur, solange der tatsächliche Geist des klaren Lichts mit seiner Wahrnehmung der Leerheit aufrechterhalten wird.

Der tatsächliche Geist des klaren Lichts mit Wahrnehmung der Leerheit ist also identisch mit dem großen glückseligen tiefen Gewahrsein der Leerheit. Beide haben dieselbe essentielle Natur. Dies ist die Bedeutung von „tiefem Gewahrsein untrennbarer Glückseligkeit und Leerheit“ (bde-stong dbyer-med-kyi ye-shes). Diese Untrennbarkeit ist das verbundene Paar von Methode und Weisheit im Zusammenhang mit der korrekten Sicht bezogen auf das, was Leerheit zur Natur hat, wenn es aus der Perspektive des glückseligen Gewahrseins erklärt wird.

  • Das verbundene Paar von Wahrnehmung der Leerheit mit dem Geisteszustand klaren Lichts und großem glückseligen tiefen Gewahrsein der Leerheit ist ein vereintes Paar. In der vollständigen Bedeutung des Fachbegriffs ist ein vereintes Paar ein Paar, in dem beide Elemente mit Beginn der Verwirklichung des Paares zum ersten Mal erreicht werden.

Beim Empfinden eines gewissen Ausmaßes an Glück, das als Nebengewahrsein das geistige Bewusstsein begleitet, welches yogische Wahrnehmung der Leerheit hat, handelt es sich um ein Empfinden von unbefleckter Glückseligkeit (zag-med-kyi bde-ba, nicht verunreinigte Glückseligkeit). Es ist unbefleckt in dem Sinne, dass es nicht aus der Kraft von Karma oder von störenden Emotionen entsteht. Da die yogische Wahrnehmung der Leerheit jedoch mit geistigen Bewusstsein erfolgt – d.h. nur mit einer subtilen und nicht mit der subtilsten Geistesebene – kann sie nicht gleichzeitig Erscheinungen der oberflächlicher Wahrheit hervorbringen.

Es ist zwar ein Aspekt der korrekten Sicht in Bezug auf das, was Leerheit zur Natur hat, dass Erscheinungen das natürliche Strahlen des glückseliges Gewahrseins sind, aber das ist im Speziellen nicht spezifisch auf das unbefleckte glückselige Gewahrsein bezogen, welches als Nebengewahrsein das geistige Bewusstsein der yogischen Wahrnehmung der Leerheit begleitet. Der Bezug gilt ausschließlich für das glückselige Gewahrsein, welches ein tiefes Gewahrsein im Zusammenhang mit dem tatsächlichen Geist des klaren Lichts und dessen Wahrnehmung der Leerheit ist.

Sutra in der Darstellung von Systemen, die nicht der Gelug-Tradition angehören

In anderen Systemen werde viele der genannten Punkte in Bezug auf Methode und Weisheit als verbundenes Paar anders erklärt. Hier werden wir nur einige wesentliche Unterschiede nennen. Wir werden die Beschreibung auf die Darstellungen folgender Repräsentanten anderer Tradition beschränken: für die Nyingma-Tradition auf die Darstellung von Mipam (tib. ‘Ju Mi-pham ‘Jam-dbyangs rnam-rgyal rgya-mtsho), und für die Sakya-Tradition auf die Position von Gorampa (Go-ram bSod-nams seng-ge), die die Hauptströmung dieser Tradition bildet, und die Position von Shakya Chogden (gSer-mdog Pan-chen Sha-kya mChog-ldan), der eine Minderheit folgt.

Begriffliche und unbegriffliche Wahrnehmung

Unbegriffliche Wahrnehmung bringt keine Erscheinungen von wahrer Existenz hervor und greift nicht nach wahrhaft begründeter Existenz. Gültige bloße Wahrnehmung (mngon-sum tshad-ma) ist immer unbegrifflich. Die Hervorbringung von Erscheinungen wahrer Existenz und das Greifen danach finden ausschließlich mit begrifflicher Wahrnehmung statt.

Außerdem gilt, dass unbegriffliche Wahrnehmung ihr Objekt nicht entschieden als „dieses“ oder „jenes“ bestimmt. Entschiedenes Bestimmen beinhaltet den Ausschluss all dessen, was anders ist (gzhan-sel), und das ist ein rein begrifflicher Prozess. Die unbegriffliche Wahrnehmung spiegelt bloß, was ihr erscheint. Yogische unbegriffliche Wahrnehmung spiegelt die tiefste Wahrheit, andere unbegriffliche Wahrnehmungen hingegen spiegeln die oberflächliche Wahrheit.

„Begreifen“ bedeutet nur korrektes gültiges Wahrnehmen eines Objekts. „Entschiedenes Bestimmen des Objekts“ ist nicht Teil der Definition von Begreifen, da unbegriffliche Wahrnehmung ihr Objekt begreift, aber kein entschiedenes Bestimmen ihres Objekts als „dies“ und nicht „jenes“ beinhaltet. Konventionelles Bodhichitta begreift also sein beteiligtes Objekt, die Erleuchtung.

Eine gültige Wahrnehmung kann ihr Objekt nur explizit begreifen, nämlich indem sie einen geistigen Aspekt (eine Erscheinung) hervorbringt, der das Objekt korrekt repräsentiert. Implizites Begreifen gibt es nicht.

Es gibt zwar schlummernde Faktoren (bag-la nyal) gibt, z.B. Tendenzen und Gewohnheiten, aber es gibt nichts, das dem unterschwelligen Gewahrsein gleicht, welches in der Lehrbuch-Tradition von Jetsunpa in der Gelug-Überlieferung dargelegt ist.

Begriffliche und unbegriffliche Weisheit im Sutra

Weisheit ist die Wahrnehmung der Leerheit. Doch die Leerheit, die begrifflich wahrgenommen wird, unterscheidet sich von unbegrifflich wahrgenommener Leerheit.

  • Begrifflich wahrgenommene Leerheit ist ein mit Worten fassbares letztendliches Phänomen (rnam-grangs-pa’i don-dam). Sie ist die völlige Abwesenheit wahrhaft begründeter Existenz (ein negierendes Phänomen, das nichts impliziert).
  • Unbegrifflich wahrgenommene Leerheit ist ein nicht mit Worten fassbares letztendliches Phänomen (rnam-grangs ma-yin-pa’i don-dam). Es ist eine Leerheit jenseits von Worten und begrifflichen Vorstellungen (brjod-dang rtog-pa-las ‘das-pa). Sie ist jenseits der begrifflichen Kategorien, das etwas 1 wahrhaft existent sei, 2 nicht wahrhaft existent sei, 3 beides, d.h. sowohl wahrhaft existent als auch nicht wahrhaft existent, sei oder 4 keins von beiden, d.h. weder wahrhaft existent noch nicht wahrhaft existent, sei.

Betrachten wir die beiden Phänomene Klarheit (gsal) und Leerheit (stong).

  • Klarheit bezieht sich entweder 1 sowohl auf den Aspekt des Geistes, der Erscheinungen hervorbringt, als auch auf die Erscheinungen, oder aber 2 bloß auf die Erscheinungen.

Die oberflächliche Wahrheit ist entweder der Faktor Klarheit (gsal-cha) oder der Faktor Leerheit (stong-cha). Jeder von ihnen erscheint separat, so als würde jeder der beiden Faktoren unabhängig vom anderen existieren. Eine solche Erscheinung wird „duale Erscheinung“ (gnyis-snang) genannt. Der Faktor Klarheit kann für sich alleine begriffen werden, entweder begrifflich oder unbegrifflich, aber der Faktor Leerheit, der separat nur als die mit Worten fassbare Leerheit erscheint, kann nur begrifflich mit unterscheidendem Gewahrsein begriffen werden. Daher ist die mit Worten fassbare Leerheit eine oberflächliche Wahrheit.

Die nicht mit Worten fassbare Leerheit ist ein zutiefst wahres Phänomen. Das zutiefst wahre Phänomen ist untrennbare Klarheit und Leerheit (gsal-stong dbyer-med). Die nicht mit Worten fassbare Leerheit wird durch yogische Wahrnehmung mit dem Gewahrsein eines Aryas während der völligen Vertiefung unbegrifflich wahrgenommen. Diese yogische Wahrnehmung erfolgt mit dem reflexiven tiefen Gewahrsein (rang-rig ye-shes). Die nicht mit Worten fassbare Leerheit kann nicht begrifflich wahrgenommen werden.

  • Gemäß den Systemen, die die Selbst-Leerheit (rang-stong) vertreten, ist die nicht mit Worten fassbare Leerheit eine Existenzweise.
  • Gemäß den Systemen, die die Leerheit von anderem (gzhan-stong) vertreten, ist die nicht mit Worten fassbare Leerheit eine Art und Weise, sich etwas gewahr zu sein. So ist das reflexive tiefe Gewahrsein selbst ein zutiefst wahres Phänomen.

Im verbundenen Paar von Methode und Weisheit ist die Weisheit das reflexive tiefste Gewahrsein der nicht mit Worten fassbaren Leerheit.

Begriffliches und unbegriffliches Bodhichitta

Im Sutra ist die Methode Bodhichitta. Nicht alle Meister, die einer anderen als der Gelug-Tradition angehören, vertreten den Standpunkt, dass das Bodhichitta, das bei einem Arya mit der yogischen unbegrifflichen Wahrnehmung der nicht mit Worten fassbaren Leerheit zum Paar verbunden ist, das konventionelle Bodhichitta ist, oder dass es begrifflich ist.

Gorampa

Gorampa vertritt die Position, dass es das begriffliche konventionelle Bodhichitta ist, das als Methode mit dem Faktor Weisheit in der yogischen Wahrnehmung der nicht mit Worten fassbaren Leerheit zum Paar verbunden wird. Er vertritt ferner die Ansicht, dass bei einem Arya in der völligen Vertiefung die unbegriffliche Wahrnehmung der nicht mit Worten fassbaren Leerheit ein Primärbewusstsein ist (nämlich geistiges Bewusstsein) und von Formen von Nebengewahrsein (Geistesfaktoren) begleitet wird. Konventionelles Bodhichitta ist nicht nur – mit dem primären geistigen Bewusstsein – auf unsere zukünftige Erleuchtung und unser zukünftiges Erreichen dieser Erleuchtung gerichtet und spiegelt diese, sondern es beinhaltet auch als Nebengewahrsein die Absicht, eine gegenwärtig stattfindende Erleuchtung und ein gegenwärtig stattfindendes Erreichen dieser Erleuchtung zu erlangen, sowie die Absicht, dadurch allen Wesen zu nutzen. Unter dem Gesichtspunkt, dass sowohl die begriffliche Methode als auch die begriffliche Weisheit ein Primärbewusstsein mit Formen von Nebengewahrsein sind, sind Methode und Weisheit miteinander vereinbar.

Des weiteren erklärt Gorampa, dass die begriffliche Wahrnehmung eines Aryas keine Erscheinungen wahrhaft begründeter Existenz hervorbringt und nicht danach greift. Nur die begriffliche Wahrnehmung gewöhnlicher Wesen (so-so’i skyes-po) – mit anderen Worten, derjenigen, die nicht Aryas sind – bringt solche Erscheinungen hervor und greift danach. Die begriffliche Wahrnehmung eines Aryas bringt allerdings Erscheinungen der anderen drei Extreme hervor und greift nach ihnen, nämlich: 1 nicht-wahrhaft begründete Existenz, 2 Existenz, die sowohl wahrhaft als auch nicht-wahrhaft begründet ist, oder 3 Existenz, die weder wahrhaft noch nicht- wahrhaft begründet ist. Das begriffliche konventionelle Bodhichitta, das bei einem Arya mit der unbegrifflichen yogischen Wahrnehmung der nicht mit Worten fassbaren Leerheit zu einem Paar verbunden ist, bringt daher die Erscheinung unserer zukünftigen Erleuchtung hervor, als sei sie nicht-wahrhaft existent, und greift danach, dass sie als nicht-wahrhaft existent erwiesen ist.

Verschiedene Meister der Hauptströmung in der Sakya-Tradition sind sich uneinig, ob das begriffliche konventionelle Bodhichitta, das bei einem Arya mit der unbegrifflichen yogischen Wahrnehmung der nicht mit Worten fassbaren Leerheit verbunden ist, eine separate manifeste Wahrnehmung oder ein schlummernder Faktor ist. In dem Fall, dass es sich um einen schlummernden Faktor handelt, gibt es wiederum Uneinigkeit darüber, ob dieser schlummernde Faktor eine nicht mit den Kategorien Form oder Bewusstsein kongruente Einflussvariable (eine Tendenz zu begrifflichem konventionellen Bodhichitta) ist oder eine verschleierte (lkog-gyur) Wahrnehmung (eine Wahrnehmung, die nicht manifest ist, so etwas wie eine verborgene Spur einer Wahrnehmung).

Mipam

Auch Mipam vertritt den Standpunkt, dass das konventionelle Bodhichitta die Methode ist, die mit der unbegrifflichen Wahrnehmung der nicht mit Worten fassbaren Leerheit eines Aryas verbunden wird. Doch ihm zufolge ist das konventionelle Bodhichitta in diesem Fall unbegrifflich. Unbegriffliches konventionelles Bodhichitta spiegelt lediglich unsere Erleuchtung und wird nicht von Absichten begleitet.

Der Grund dafür, dass konventionelles Bodhichitta hier unbegrifflich ist, ist, dass alle erleuchtenden guten Eigenschaften (yon-tan) der Buddhaschaft in der Sphäre der tiefsten wahren, nicht mit Worten fassbaren Leerheit vollständig sind; und da das konventionelle Bodhichitta eine gute Eigenschaft der Buddhaschaft ist, ist es folglich auch innerhalb des reflexiven tiefen Gewahrseins der nicht mit Worten fassbaren Leerheit vollständig. Tatsächlich ist das tiefe Gewahrsein untrennbar von seinen guten Eigenschaften und sie sind gleichzeitig mit ihm vorhanden, wie in dem klassischen Beispiel von Sonne und Sonnenlicht.

Wie das tiefe Gewahrsein selbst ist auch das konventionelle Bodhichitta, das eine der guten Eigenschaften des tiefen Gewahrseins ist, jenseits davon, ein Primärbewusstsein mit begleitenden Formen von Nebengewahrsein zu sein. Außerdem ist es ebenso wie das tiefe Gewahrsein unbegrifflich. Das bedeutet, dass das konventionelle Bodhichitta, das eine Eigenschaft des tiefen Gewahrseins während der völligen Vertiefung in die nicht mit Worten fassbare Leerheit ist, keine begleitenden Formen von Nebengewahrsein hat. Obwohl das konventionelle Bodhichitta hier auf die Erleuchtung gerichtet ist, ist darin nicht die Absicht enthalten, damit allen Wesen zu nutzen. Tiefes Gewahrsein hat keine bewussten Absichten, irgendetwas zu tun. Vielmehr vollbringt es alles auf spontane Weise (lhun-grub), ohne irgendeine willentliche Anstrengung. Mitgefühl ist hier ebenfalls eine gute Eigenschaft des tiefen Gewahrseins und kein Nebengewahrsein, das eine andere Wahrnehmung begleitet, welche gleichzeitig mit dem reflexivem tiefen Gewahrsein stattfindet.

Obwohl das konventionelle Bodhichitta eine gute Eigenschaft des tiefsten Gewahrseins und somit gleichzeitig mit tiefstem Gewahrsein vorhanden ist, sind konventionelles Bodhichitta und die anderen guten Eigenschaften der Erleuchtung während der Wahrnehmung der mit Worten fassbaren Leerheit in der völligen Vertiefung eines Aryas nicht vorherrschend. Erst mit dem Erreichen der Erleuchtung werden alle Eigenschaften des tiefen Gewahrseins gleichermaßen vorherrschend.

Shakya Chogden

Gemäß Shakya Chogden ist das Bodhichitta, das die unbegriffliche Wahrnehmung der nicht mit Worten fassbaren Leerheit in der völligen Vertiefung eines Aryas begleitet, unbegriffliches tiefstes Bodhichitta.

Die zutiefst wahren Phänomene sind ihm zufolge die jeweiligen Momente von reflexivem tiefem Gewahrsein, die selbst untrennbare, nicht-duale Klarheit und Leerheit sind. Nicht-duale, untrennbare Klarheit und Leerheit sind sowohl 1) eine Art und Weise, sich etwas gewahr zu sein, und 2) wahrgenommenes Objekt. Untrennbare Klarheit und Leerheit ist auch die tiefste Wahrheit der vollkommenen Erleuchtung. Die unbegriffliche völlige Vertiefung eines Aryas in die nicht mit Worten fassbare Leerheit ist daher, indem sie untrennbare Klarheit und Leerheit spiegelt, eine völlige Vertiefung in die tiefste Wahrheit der vollkommenen Erleuchtung und somit gleichwertig mit tiefstem Bodhichitta.

Doch da Shakya Chogden auch den Standpunkt vertritt, dass reflexives tiefstes Gewahrsein sowohl Primärbewusstsein als auch begleitende Formen von Nebengewahrsein beinhaltet, besteht kein Widerspruch zu der Annahme, dass unbegriffliches tiefstes Bodhichitta nicht nur die vollkommene Erleuchtung spiegelt, sondern auch die Absicht beinhaltet, sie zu erlangen und allen Wesen zu nutzen. Schliesslich ist Absicht eine der fünf immer wirksamen Formen von Nebengewahrsein (kun-‘gro lnga).

Tantra in der Darstellung von Systemen, die nicht der Gelug-Tradition angehören

Unreine Erscheinungen und mit Worten fassbare Leerheit als Methode und Weisheit in der begrifflichen Wahrnehmung

Den Traditionen zufolge, die nicht zur Gelug-Überlieferung gehören, ist das, was im allgemeinen Tantra auf der begrifflichen Ebene der Praxis als Weisheit eingesetzt wird, das unterscheidende Gewahrsein der mit Worten fassbaren Leerheit – wobei Leerheit die völlige Abwesenheit wahrhaft begrü ndeter Existenz ist, also ein negierendes Phänomens, das nichts impliziert. Als Methode gilt die Erscheinung der Form unserer selbst als Buddha-Gestalt, die die Grundlage für diese mit Worten fassbare Leerheit ist. Sowohl die mit Worten fassbare Leerheit als auch ihre Grundlage sind oberflächlich wahre Phänomene.

Wie in der Darstellung der Gelug-Tradition kann auch hier eine begriffliche Wahrnehmung nicht gleichzeitig eine Erscheinung von wahrer Existenz und eine Erscheinung, die eine völlige Abwesenheit wahrhaft begründeter Existenz darstellt, hervorbringen. Sie kann nur jeweils die eine oder die andere erscheinen lassen.

  • Die begriffliche Wahrnehmung der mit Worten fassbaren Leerheit in der völligen Vertiefung bringt nur die Erscheinung hervor, die die völlige Abwesenheit von wahrhaft begründeter Existenz darstellt.
  • Die Wahrnehmung in der anschließenden begrifflichen nachfolgenden Phase des Erlangens bestimmter Wahrnehungen bringt nur die Erscheinung von wahrer Existenz hervor.

Außerdem lässt die begriffliche Wahrnehmung den ihr erscheinenden Gegenstand als etwas erscheinen, das einer begrifflichen Kategorie entspricht – einfacher ausgedrückt, als etwas Feststehendes, das in die Schublade einer fest umrissenen, begrifflichen Kategorie passt. Eine solche kognitive Erscheinung ist eine unreine Erscheinung (ma-dag-pa’i snang-ba).

Die begriffliche Wahrnehmung nimmt die unreine Erscheinung wahr und glaubt, dass der tatsächliche Gegenstand der unreinen Erscheinung entspricht, die sie geistig fabriziert und projiziert (spros-pa).

  • Die begriffliche Wahrnehmung einer Erscheinung von wahrer Existenz greift nach der Anwesenheit wahrhaft begründeter Existenz (bden-‘dzin).
  • Die begriffliche Wahrnehmung einer Erscheinung der völligen Abwesenheit von wahrhaft begründeter Existenz greift nach der Abwesenheit wahrhaft begründeter Existenz (med-‘dzin).

Die traditionellen Systeme, die nicht der Gelug-Tradition angehören, akzeptieren nicht, dass es implizites Begreifen gibt. Ihnen zufolge kann eine gültige Wahrnehmung ihr Objekt also nur explizit begreifen, nämlich indem sie den Aspekt der Erscheinung ihres Objekts hervorbringt. Die begriffliche Wahrnehmung begreift daher nur den einen Gegenstand, der ihr erscheint – in diesem Fall entweder die Erscheinung von völliger Abwesenheit wahrhaft begründeter Existenz oder die Erscheinung von wahrer Existenz, und sie begreift diese explizit.

Kurz:

  • Die begriffliche Wahrnehmung der mit Worten fassbaren Leerheit in der völligen Vertiefung begreift nur ein negierendes Phänomen, das nichts impliziert (eine völlige Abwesenheit), und sie lässt diese als leeren Raum erscheinen.
  • Das begriffliche Wahrnehmung der Form unserer selbst als Buddha-Gestalt, die wie eine Illusion existiert, begreift in der nachfolgende Phase des Erlangens nur eine unreine Erscheinung der Buddha-Gestalt. Doch obwohl die Buddha-Gestalt so erscheint, als sei sie wahrhaft existent, erfolgt die Wahrnehmung in der nachfolgenden Phase des Erlangens mit dem unterscheidenden Gewahrsein, dass sie nicht so existiert, wie sie zu existieren scheint.

Im allgemeine Tantra werden Methode und Weisheit in der begrifflichen Wahrnehmung ebenso miteinander verbunden, wie es im Sutra der Fall ist: durch den Verlauf einer Tendenz. Zugleich mit der begrifflichen Wahrnehmung der mit Worten fassbaren Leerheit in der völligen Vertiefung besteht eine tiefer liegende Tendenz zur begrifflichen Wahrnehmung der unreinen Erscheinung der Form unserer selbst als Buddha-Gestalt. Zugleich mit der Wahrnehmung der unreinen Erscheinung in der nachfolgenden Phase des Erlangens besteht einer tiefer liegende Tendenz zur begrifflichen Wahrnehmung der völligen Abwesenheit ihrer wahrhaft begründeten Existenz.

Der Übergang von der begrifflichen zur unbegrifflichen Wahrnehmung der Leerheit

„Völlig Abwesenheit“ sowie „etwas, dessen Art zu existieren eine völlige Abwesenheit wahrer Existenz ist“ sind rein begriffliche Kategorien, die dazu dienen, begrifflich über diese Dinge und über ihre Existenzweise nachzudenken. Sie existieren nicht an sich, ohne zugeschrieben zu sein. Anfangs können sie nützliche Kategorien sein, um ein vorläufiges Verständnis der Realität zu erlangen. Doch nachdem wir ein anfängliches Verständnis erlangt haben, müssen wir diese begrifflichen Kategorien hinter uns lassen und darüber hinaus zur unbegrifflichen Ebene gelangen.

Gemäß der Gelug-Tradition wird dieser Übergang vollzogen, indem man das unterscheidende Gewahrsein erlangt, dass auch die Leerheit leer von wahrer Existenz ist. Die völlige Abwesenheit wahrhaft begründeter Existenz ist selbst völlig leer von wahrhaft begründeter Existenz. In den anderen Traditionen erfordert der Schritt, der über die begriffliche Kategorie völliger Abwesenheit hinausgeht, eine radikale Veränderung der Meditationsweise.

In diesen Traditionen können wir nicht mit einer begrifflichen Wahrnehmung der nicht mit Worten fassbaren Leerheit üben, von der begrifflichen Wahrnehmung der mit Worten fassbaren Leerheit zur unbegrifflichen Wahrnehmung der nicht mit Worten fassbaren Leerheit überzugehen. Ihnen zufolge kann die begriffliche Wahrnehmung keine Erscheinung von etwas hervorbringen, das jenseits von Worten und begrifflichen Vorstellungen ist. Sie kann nur unreine Erscheinungen hervorbringen. Mit anderen Worten: Begriffliche Wahrnehmung kann die Dinge nur so erscheinen lassen, als würden sie auf eine Art und Weise existieren, die anders ist als ihre letztendliche Existenzweise (die jenseits von Worten und begrifflichen Vorstellungen ist). Bestenfalls kann die begriffliche Wahrnehmung etwas, das jenseits von Worten und begrifflichen Vorstellungen ist, als Abwesenheit von Wörtern und begrifflichen Vorstellungen darstellen – was jedoch eine ungenaue Darstellung ist.

Gerade weil die letztendliche Existenzweise der Dinge jenseits von Worten und begrifflichen Vorstellungen ist, kann die begriffliche Wahrnehmung keine Erscheinung dieser Existenzweise hervorbringen, denn etwas in Begriffe zu fassen, das nicht in Begriffen ausgedrückt werden kann, ist ein Widerspruch in sich. Demzufolge kann die begriffliche Wahrnehmung die letztendliche Art und Weise, wie die Dinge existieren, nicht wahrnehmen, weder separat noch zusammen mit dem Gegenstand, der letztendlich auf diese Weise existiert.

Die begriffliche Wahrnehmung der unreinen Erscheinung unserer selbst als Buddha-Gestalt und ihrer mit Worten fassbaren Leerheit als völlige Abwesenheit kann also nur provisorisch als Methode und Weisheit dienen. Dennoch ist es notwendig, zuerst das unterscheidende Gewahrsein der mit Worten fassbarer Leerheit zu erlangen, bevor man dazu fähig ist, darüber hinauszugehen. Es ist so ähnlich wie die Tatsache, dass ein Schmetterlingsei nicht direkt zu einem Schmetterling werden kann, sondern sich zuerst in eine Raupe verwandeln muss. Ein derartiges unterscheidendes Gewahrsein ist allerdings nicht die tatsächliche herbeiführende Ursache für das allwissende Gewahrsein eines Buddhas.

Reine Erscheinungen und nicht mit Worten fassbare Leerheit als Methode und Weisheit in unbegrifflicher Wahrnehmung

Im Tantra bezieht sich das verbundene Paar von Methode und Weisheit auf die reine Erscheinung (dag-pa’i snang-ba) der Form unserer selbst als Buddha-Gestalt und auf ihre nicht mit Worten fassbare Leerheit. Reine Erscheinungen sind Erscheinungen, die jenseits davon sind, so zu erscheinen, als würden sie in einer der vier begrifflichen Kategorien existieren, nämlich wahrhaft existent, nicht wahrhaft existent, beides oder keins von beiden. Die reinen Buddha-Gestalten – die Grundlagen für ihre Leerheit, die jenseits von Worten und begrifflichen Vorstellungen ist – und ihre nicht mit Worten fassbare Leerheit sind untrennbar, und erscheinen dem reflexiven tiefen Gewahrsein eines Aryas immer auf untrennbare Weise – sowohl seiner Wahrnehmung in der völligen Vertiefung als auch in der nachfolgenden Phase des Erlangens.

Bei einem Arya nimmt das tiefe reflexive Selbst-Gewahrsein von reinen Erscheinungen von Buddha-Gestalten und von ihrer nicht mit Worten fassbaren Leerheit beides explizit wahr, in dem Sinne, dass es den Aspekt beider gleichzeitig erscheinen lässt. Doch in der unbegrifflichen Wahrnehmung während der völligen Vertiefung ist die nicht mit Worten fassbare Leerheit stärker vorherrschend; und in der Wahrnehmung während der unbegrifflichen nachfolgenden Phase des Erlangens ist die reine Erscheinungen der Form unserer selbst als Buddha-Gestalt stärker vorherrschend. Gleichermaßen vorherrschend sind beide nur im allwissenden Gewahrsein eines Buddhas. Nichtsdestotrotz hat das Gewahrsein eines Aryas während der völligen Vertiefung und der nachfolgenden Phase des Erlangens nur eine Art, seine Objekte kognitiv zu erfassen – nämlich als das, was jenseits aller Worten und begrifflichen Vorstellungen ist.

Anuttarayoga-Tantra und Dzogchen

Das verbundene Paar von Methode und Weisheit im Anuttarayoga-Tantra besteht aus dem gereinigten Illusionskörper und der nicht mit Worten fassbaren Leerheit, die mit dem tatsächlichem Gewahrsein des klaren Lichts verwirklicht werden. Die Eigenschaften eines gereinigten Illusionskörpers sind dieselben wie die der reinen Erscheinung einer Buddha-Gestalt, außer dass ein reiner Illusionskörper eine Form von subtilstem Energiewind ist, wie es auch im Anuttarayoga-Tantra der Gelug-Tradition erklärt ist. Die Wahrnehmung der nicht mit Worten fassbaren Leerheit und der reinen Erscheinung unserer selbst als gereinigter Illusionskörper im tatsächlichen Geist des Klaren Lichts entsteht auf untrennbare Weise mit dem reflexiven tiefen Gewahrsein eines Aryas. Dabei ist die erstere Wahrnehmung während der völligen Vertiefung stärker vorherrschend und letztere während der nachfolgende Phase des Erlangens. Die Anuttarayoga-Tantra-Systeme in der Kagyu- und der Sakya-Tradition zielen auf die Verwirklichung dieser Art von verbundenem Paar.

In den Dzogchen-Systemen, die man in der Nyingma-Tradition und den verschiedenen Untergruppen der Kagyu-Tradition praktiziert, wird das verbundene Paar von Methode und Weisheit im Sinne von rigpa (reines Gewahrsein) (rig-pa) spezifiziert. Auf der Seite der Weisheit beinhaltet Rigpa das ihm innewohnende reflexive tiefes Gewahrsein seiner eigenen Natur jenseits von Worten und begrifflichen Vorstellungen. Auf der Seite der Methode lässt Rigpa Erscheinungen unserer Form spontan als Regenbogenkörper (‘ja’-lus) auftreten. Auch hier steht in der Wahrnehmung während der völligen Vertiefung die Seite der Weisheit und während der nachfolgenden Phase des Erlangens die Seite der Methode stärker im Vordergrund.

Top