Buddhistische Untersuchung als Hilfe zum Ablegen von Stress

Ich bin gebeten worden, heute Abend über Entsagung zu sprechen – den Entschluss, uns von unseren Problemen zu befreien –, und insbesondere wie dies im Zusammenhang mit dem Stress des Lebens in einer Großstadt, wie hier in Moskau, zu verstehen ist. Aber ich denke, wenn wir anfangen, das Thema zu untersuchen, werden wir feststellen, dass die meisten Probleme, denen wir in der heutigen Welt gegenüberstehen, nicht nur auf das Leben in der Großstadt beschränkt sind.

Überstimulation als Quelle von Stress

In einer Großstadt sind wir natürlich mit Problemen wie Luftverschmutzung, Autoverkehr usw. konfrontiert, die vielleicht auf dem Land nicht so vorherrschen, aber das sind nicht die einzigen Faktoren, die zu unserem Stress beitragen. Wenn wir die Sache tiefer gehend betrachten, stoßen wir auf Probleme, mit denen die meisten Menschen der heutigen Welt konfrontiert sind, egal wo sie leben, und ich denke, das hat mit der Tatsache zu tun, dass immer mehr Dinge erhältlich sind, immer mehr Auswahl, mehr Information, mehr Fernsehsender, mehr Filme zum Aussuchen, mehr Produkte zur Auswahl. Die meisten Menschen tragen Mobiltelefone mit sich herum, und dauernd kommen E-Mails herein, ständig Nachrichten, Chat-Anfragen und all das, und so entsteht Stress, weil wir das Gefühl haben, wir müssen das ständig alles anschauen, sofort beantworten, weil die anderen das erwarten. Das alles hat zwar einen gewissen Nutzen, insofern es in wichtigen Fällen die Verbindung mit anderen aufrechterhält, aber manchmal ist es einfach zu viel und unablässig, und es schürt die Unsicherheit, der die Mentalität zugrunde liegt: „Ich will nichts verpassen. Es könnte ja wichtig sein, und ich will nicht außen vor bleiben.“

Und so fühlen wir uns geradezu gezwungen, andauernd nachzugucken, was los ist, aber natürlich verschafft uns das keine Sicherheit, denn es passiert immerzu etwas Neues, und ständig trifft eine neue Nachricht, eine neue Mitteilung ein. Wenn wir uns entschließen, irgendetwas anzusehen, sagen wir auf YouTube oder im Fernsehen – ich weiß nicht wie viele Sender man hier in Moskau empfangen kann, aber in Europa und Amerika sind es Hunderte –,findet man keine Ruhe, weil man immer denkt: „Vielleicht kommt irgendwo anders was Besseres“, und man empfindet immer den Drang nachzugucken – vielleicht gibt es irgendwo anders etwas Besseres, das ich gerade verpasse.

Die Suche nach Anerkennung und Zustimmung in der virtuellen Welt

Ich denke, diese Dinge verstärken wirklich unseren Stress, egal wo wir leben, sei es in der Großstadt oder auf dem Land, vor allem in der heutigen Welt. Wir wollen zu irgendeiner Gemeinschaft gehören, zu irgendeiner Gruppe von Freunden, deshalb wollen wir „auf unserer Facebook-Seite für alles, was wir dort kundtun, Gefällt mir“-Rückmeldungen, damit wir das Gefühl bekommen, akzeptiert und anerkannt zu werden, aber das verschafft uns niemals Ruhe. Wir sind nie zufrieden mit der Anzahl der Anerkennungsmeldungen, wir wollen immer noch mehr, oder es kommen Zweifel auf. „Haben die das auch wirklich gemeint?“ Sie drücken ja nur eine Taste, und vielleicht erledigt das ja auch eine Maschine (man kann gegen Bezahlung eine Menge Gefallensbekundungen bekommen). Und wir sind aufgeregt und voller Erwartung, wenn das Mobiltelefon anzeigt, dass wir eine Nachricht erhalten haben, vielleicht ist es ja etwas Besonderes.

Diese Aufregung und Erwartung stellt sich auch ein, wenn wir unsere Facebook-Seite besuchen und nachsehen: „Hab ich wieder mehr „Gefällt mir“ bekommen?“ Oder wir werden, wie ich oftmals von mir selbst sage, ein Nachrichten-Junkie; ich schaue immer die Nachrichten an, ob es etwas Neues gibt, etwas Interessantes passiert ist, weil ich nichts verpassen will.

Wenn wir das genau untersuchen, stellen wir natürlich fest, dass dahinter ein Gefühl der eigenen Wichtigkeit steht – „Ich bin so wichtig, dass ich immer alles mitbekommen muss, was passiert, und alle müssen mich mögen.“ Wir könnten hier aus buddhistischer Sicht eine ziemlich tief gehende Analyse anschließen, warum man das Gefühl hat, alles wissen zu müssen und ständig anerkannt zu werden, warum wir so überaus ichbezogen sind, aber ich will heute Abend nicht so tief in dieses Thema einsteigen.

Der Realität unserer Situation entfliehen

Andererseits wird uns die Situation um uns herum oft zu viel, und wir versuchen, ihr zu entgehen, indem wir auf unser Mobiltelefon blicken oder Musik hören, wenn wir in der U-Bahn sitzen oder draußen herumlaufen, immer Kopfhörer im Ohr, mit dem iPod verbunden. Eigentlich ist das ein interessanter Widerspruch, wenn man mal darüber nachdenkt: Einerseits wollen wir von sozialen Gruppen akzeptiert werden, aber wenn wir tatsächlich in Gegenwart anderer sind, schließen wir alle aus und spielen irgendein Spiel auf dem Smartphone oder hören überlaut Musik.

Was sagt das aus? Kling nach Einsamkeit, oder? Wir wollen soziale Anerkennung, wir fühlen uns allein, weil wir nie das Gefühl haben, wirklich akzeptiert zu werden, aber andererseits kapseln wir uns ab, indem wir in unsere virtuelle Welt abtauchen, die eigentlich auch sehr einsam ist, nicht wahr?

Wir haben den zwanghaften Drang nach Unterhaltung, es darf keinen Augenblick geben, in dem gar nichts passiert. Auch das ist ein Widerspruch, denn einerseits sehnen wir uns nach Ruhe und Frieden, aber andererseits haben wir Angst vor der Leere, die wir empfinden, wenn Information und Musik einmal abwesend sind.

Wir wollen irgendwie dem Stress der äußeren Welt entfliehen, etwa in der U-Bahn oder wo auch immer, also flüchten wir in unsere eigene kleine virtuelle Welt des Smartphones, des Internets, doch auch da suchen wir nach Anerkennung von Freunden usw. und fühlen uns nie sicher. Das ist etwas, worüber wir nachdenken müssen: Ist der Rückzug auf unsere mobilen Geräte wirklich eine Lösung für das Problem von Stress? Ganz gleich, ob wir in einer Großstadt oder sonstwo wohnen – kann das die Lösung sein?

Negative Routinemuster erkennen und den Entschluss zur Freiheit entwickeln

Was erforderlich ist, ist das Gefühl von Unglücklichsein zu erkennen, das wir erleben, wenn wir in diesen Routinemustern festhängen, und die Ursachen dafür zu herauszufinden. Warum stecken wir in diesen Gewohnheiten fest?

Und dann ist es nötig, den Entschluss zu entwickeln, aus diesem Unglücklichsein herauszukommen, beruhend darauf, dass wir Methoden kennen, wie wir uns von den Ursachen befreien können, und die Überzeugung gewinnen, dass sie funktionieren. Aber es ist nicht so, dass wir bloß dieses Gefühl von Unglücklichsein loswerden wollen, zu einer Art Zombie werden, gar nichts mehr fühlen und wie Untote in der Stadt herumwandern. Glück ist nicht bloß die Abwesenheit von Unglücklichsein; es ist etwas, das zu einem neutralen, ruhigen Gefühl hinzukommt. Wir haben nicht vor, gefühllos zu werden, darum geht es nicht.

Es gilt zu erkennen, dass äußere Gegenstände und Situationen nicht die eigentliche Ursache für das Gefühl von Unglücklichsein, Leiden und Stress sind, dass wir erleben. Wenn sie es wären, dann würde jeder sie auf dieselbe Weise erleben.

Das Problem ist auch nicht das Internet oder unsere Mobiltelefone. Wenn sie angemessen benutzt werden, können sie durchaus hilfreich in unserem Leben sein. Das Problem ist die Einstellung, die wir zu ihnen haben, und die Emotionen, die sie hervorbringen und verstärken, und wie wir eigentlich mit dieser erstaunlichen Welt des Internets umgehen und mit den Situationen in unserem Leben umgehen.

Wir haben zahlreiche selbstzerstörerische Gewohnheiten, und sie alle gehen auf irgendeinen verstörenden Zustand des Geistes zurück, sei es Unsicherheit, Angst davor, nicht akzeptiert zu werden, ausgeschlossen zu werden, Zwanghaftigkeit oder anderes mehr. Aber die Strategien, die wir anzuwenden versuchen, um sie zu überwinden, indem wir uns in soziale Medien flüchten, verschafft uns noch mehr Stress; es ist ein Teufelskreis. Es verstärkt nur die Sorge: „Werden die Leute mich mögen?“ usw.

Und noch schlimmer ist die Angelegenheit, wenn wir andie Teenager denken und das Mobbing im Internet miteinbeziehen. Es ist ja nicht nur so, dass man „Gefällt mir“-Meldungen bekommt und alle sehen kann, wie viele davon jeder hat, sondern man wird schikaniert – „mag ich nicht“-Meldungen –, und auch das kann jeder sehen. Schrecklich, nicht wahr?

Die Leute verbreiten in den sozialen Medien Bilder von sich in blendender Verfassung – sie zeigen keine Bilder davon, wie schlecht es ihnen manchmal geht. Man sieht also immer nur, wie all die Freunde sich wunderbar amüsieren – und ich Arme/r sitze hier allein in meinem Zimmer und gucke mein Smartphone an. Das ist kein besonders glücklicher Bewusstseinszustand, oder?

Wir brauchen eine realistischere Einstellung in Bezug auf das, was mit all diesen sozialen Medien vor sich geht usw. Wir müssen erkennen, dass eine Riesenmenge von Daumen-hoch-Signalen auf der Facebook-Seite einem kein Gefühl von Sicherheit verschafft; diese Fähigkeit hat sie nicht. Genau das Gegenteil ist der Fall. Wir sind naiv, wenn wir denken, dass so etwas einen großen Unterschied ausmacht; es führt nur zu dem sehnlichen Wunsch, noch mehr „Mag ich“-Meldungen zu bekommen – geradezu eine Gier: wir können nie genug davon bekommen –, und der ständigen Ungewissheit, dauernd nachgucken zu müssen, ob welche eingetroffen sind.

Ich gebe zu, dass ich auf meiner Webseite oft die Statistiken ansehe, um zu erfahren, wie viele Menschen heute die Webseite besucht haben. Das ist das Gleiche. Oder jeden Tag die Währungskurse überprüfen, um zu sehen, wieviel Verlust man heute hat. Nie haben wir Frieden! (Gelächter) Oder wir sind so naiv zu glauben, dass wir in die virtuelle Welt eines Computerspiels fliehen können und unsere Probleme irgendwie verschwinden würden. Das ist nicht viel anders als zu meinen, sie würden sich auflösen, wenn man genug Wodka trinkt.

Wenn wir das Syndrom auswerten, wird deutlich, dass es selbstzerstörerisch ist, und unsere Art zu versuchen, mit dem Druck und Stress im Leben umzugehen, schafft nur noch mehr Probleme.

Die Notwendigkeit von unterscheidendem Gewahrsein, um wirksam mit unserer Situation umzugehen

Um diese Syndrome zu behandeln, brauchen wir unterscheidendes Gewahrsein der Situation, in der wir uns befinden. Wenn wir zum Beispiel einen anstrengenden Job haben, müssen wir irgendwie damit umgehen; das ist die Realität. Die Realität müssen wir akzeptieren. Und Realität ist, dass wir unsere Sache nur so gut wie möglich machen können. Wenn wir diese Realität akzeptieren, hilft uns das, nicht die Schreckensvorstellung auf den Job zu projizieren, dass er eine entsetzliche Folter ist, und auf uns selbst nicht zu projizieren, dass wir nicht gut genug sind.

Das Problem ist, dass wir denken, wir müssten perfekt sein. Aber solange man kein Buddha ist, ist niemand perfekt. Und selbst wenn der Chef meint, wir müssten perfekt sein und Druck auf uns ausübt, ist die Realität, dass das unmöglich ist. Und weil es unmöglich ist – warum schlagen wir dann den Kopf gegen die Wand und haben Schuldgefühle, weil wir nicht imstande sind, etwas zu tun, was gar nicht geht?

Also tun wir einfach unser Bestes, setzen Prioritäten und akzeptieren die Realität der Situation. Dann versuchen wir uns zu konzentrieren, uns die Realität der jeweiligen Situation klarzumachen, ohne sie zu überschätzen – „das ist ganz und gar unmöglich“ – oder zu unterschätzen – „ich beschäftige mich eben einfach mit meinem Smartphone und surfe im Internet, dann wird das schon vorbeigehen“.

Wir müssen uns damit befassen. Wir müssen mit der Arbeit umgehen. Wenn wir das unterschätzen, meinen wir, es wäre etwas, mit dem man sich nicht zu beschäftigen braucht. Was ist zum Beispiel, wenn wir bei der Arbeit eine Aufgabe zu erledigen haben, aber eigentlich keine rechte Lust dazu haben – was tun wir dann? Haben wir die Disziplin, sie tatsächlich einfach zu erledigen, oder fangen wir sofort an zu surfen oder haben den Drang, auf dem Mobiltelefon nachzusehen – „vielleicht ist eine neue Nachricht da, vielleicht hat jemand etwas geschickt, das interessanter ist …“ Das ist eine Unterschätzung der Realität – der Tatsache, dass man eine Aufgabe zu bewältigen hat. Zu dem Entschluss, sich zu befreien, gehört auch: versuchen zu erkennen, wodurch das Problem eigentlich verursacht ist.

Wie bewerkstelligen wir das?

Video: Geshe Tashi Tsering — „Stress und Angst überwinden“ 
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Verstehen, wie Handlungen unsere Hormonreaktion beeinflussen

Wir fangen mit Selbstdisziplin an und beginnen mit kleinen Dingen. Wir können das Verständnis, wie die Art unseres Umgangs mit Stress funktioniert, verbessern, wenn wir wissenschaftliche Gesichtspunkte miteinbeziehen und die Hormone in den Blickpunkt rücken. Das verschafft uns ein umfassenderes Verständnis und liefert eine wissenschaftliche Grundlage für das, wovon im Buddhismus die Rede ist.

Die Hormone Cortisol und Dopamin

Was auf der hormonellen Ebene passiert, wenn man sich gestresst fühlt, ist, dass der Cortisolspiegel ansteigt. Cortisol ist ein Stresshormon, also suchen wir nach Erleichterung. Was ist nun unsere Strategie, von der wir meinen, sie wird uns ein angenehmes Gefühl verschaffen, sodass wir das Cortisol loswerden, das in unserem Körper kreist? Wir meinen, dass es wohl helfen wird, wenn wir eine Zigarette rauchen oder im Internet surfen oder in den sozialen Medien irgendetwas Interessantes suchen, um den Stress zu vermindern. Aber was passiert ist: Wir bauen Anregung und ein Gefühl freudiger Erwartung auf, dass wir uns dadurch besser fühlen werden, und so steigt der Dopaminspiegel. Dopamin ist ein Hormon, das im Vorgefühl einer Belohnung ausgeschüttet wird. Es ist das, was ein Tier empfindet, wenn es ein anderes Tier jagt; es besteht die Erwartung eine Mahlzeit. Man kann die Ausschüttung dieses Hormons auch erkennen, wenn man auf dem Weg ist, um einen geliebten Menschen zu treffen oder so etwas. Das Dopamin wird stark erhöht mit der Aussicht, wie schön etwas sein wird. Wenn man dann tatsächlich mit diesem Menschen zusammen ist, stellt sich vielleicht heraus, dass es gar nicht so schön ist, aber es ist die Vorfreude, die das angenehme Gefühl erhöht, beruhend auf diesem Hormon, Dopamin.

Wir sind weitgehend biologisch bestimmte Wesen. Doch nach der Zigarette oder der Besuch im Internet stellt sich keine Zufriedenheit ein, also kehrt der Stress zurück. Es ist also keine besonders gute Lösung.

Wir müssen die Nachteile klar erkennen, die es hat, wenn wir der irrigen Vorstellung aufsitzen, dass die Zigarette das Problem lösen wird. Oder dass es mein Problem mit dem Stress lösen wird, wenn ich etwas Interessantes im Internet oder auf meiner Facebook-Seite finde.

Und es wird klar: Wenn wir die Nachteile der Denkweise verstehen, dass dies die beste Strategie wäre, dann können wir die Entschlossenheit entwickeln, diese Art von Gewohnheit abzulegen – eine Gewohnheit, die ihren Zweck nicht erfüllt.

Davon Abstand nehmen, schädlichen gewohnheitsmäßigen Reaktionsmustern zu folgen

Wir hören also auf, Zuflucht zur Zigarette zu nehmen. Zigarettenrauchen ist ein ganz eigenes Thema, was den Nutzen betrifft. Es hat keinen. Aber was die Nutzung von Internet und sozialen Medien betrifft, das ständige Überprüfen der eingehenden Meldungen, so geht es vor allem darum, dafür Regelungen zu finden, den online-Zugang nicht die ganze Zeit geöffnet zu lassen. Mit anderen Worten: aufhören, das als Zuflucht zu benutzen. Diese Benutzung nicht als einen Ausweg zu betrachten. Wir können es für förderliche Zwecke nutzen, aber nicht zu einem Zweck, den es unmöglich erfüllen kann.

Das wird natürlich besonders schwierig, wenn wir uns langweilen, wenn wir mit etwas konfrontiert sind, zu dem wir keine Lust haben, sei es bei der Arbeit oder zu Hause, – dann entsteht dieser zwanghafte Griff zum Smartphone, nicht wahr? Aber so ähnlich wie man eine Diät macht, um Übergewicht loszuwerden, brauchen wir eine Informations-Diät, um geistiges Übergewicht loszuwerden. Wir müssen versuchen, unsere Aufnahme von Informationen, Nachrichten, Musik usw. einzuschränken, genauso wie in manchen Fällen die Aufnahme von Nahrung.

Sich von alten, selbstzerstörerischen Gewohnheiten zurückzuhalten wird anfangs den Pegel des Stresshormons Cortisol erhöhen. Denn alte Gewohnheiten sind überaus stark. Genauso wie Entzugserscheinungen – mit Ausschüttung von Cortisol – auftreten, wenn wir das Rauchen oder Alkohol oder andere Drogen aufgeben, so kann es auch Entzugsstress geben, wenn wir uns zusammenreißen und vom Internet Abstand nehmen. Es ist wie ein Entgiftungsprozess; viele Menschen haben solche Symptome beim Entzug von Musik, insbesondere wenn sie die Sucht entwickelt haben, dauernd Kopfhörer vom iPod im Ohr zu haben – noch eine ganze Weile später dudelt im Kopf ununterbrochen Musik. Es dauert ziemlich lange, bis das zur Ruhe kommt. Ich denke, das ist ein gutes Bild, vor lauter Gedudel einen dicken Kopf zu haben – geradezu greifbar.

Man kann dann nicht funktionieren, weil man nicht klar denken kann, weil immerzu diese Musik läuft. Vor allem, wenn es eine bestimmte Melodie ist, die sich unablässig wiederholt – das kann einen verrückt machen. Aber wenn wir durchhalten, wird der Stresspegel des Entzugs allmählich nachlassen, und wir werden eine wohltuende Ruhe im Geist verspüren. Und dann haben wir eine bessere Ausgangsposition, um schädlicher Gewohnheiten durch förderliche zu ersetzen.

Dafür gibt es schöne buddhistische Methoden, und sie sind keineswegs nur auf Buddhisten beschränkt. Die Stärkung der Einsicht, dass wir alle ein Teil der Menschheit sind, dass wir miteinander verknüpft sind und unser Wohlergehen von dem aller anderen abhängig ist, ist zum Beispiel eine erheblich stabilere Methode, unser Bedürfnis nach Verbundenheit und danach zu erfüllen, uns mit anderen zusammengehörig zu fühlen. Die Zugehörigkeit zu einer Netzwerkgruppe im Internet kann das wohl kaum erfüllen.

Das Hormon Oxytocin

Es gibt ein Hormon dafür, nämlich Oxytocin. Oxytocin ist unser Bindungshormon, zum Beispiel zwischen Mutter und Kind usw. Es ist dieses Hormon, das den Drang nach Bindung antreibt, die Neigung, uns mit anderen zu verbinden, uns als Teil einer Gruppe zu fühlen. Dieses Bedürfnis kann auf förderliche Weise erfüllt werden, etwa indem wir uns als Teil der Menschheit fühlen, unsere Gleichheit und Gemeinsamkeiten spüren – jeder möchte glücklich sein, niemand möchte leiden –; solche gefühlsmäßig gefestigten Einsichten sind erheblich stabiler als der Versuch, dieses Bedürfnis durch Gruppenzugehörigkeit in sozialen Netzwerken zu erfüllen, was dann wieder von „Gefällt mir“-Bekundungen abhängt.

Ich bringe diese Informationen über Hormone hier aus einem bestimmten Grund mit ein. Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt oft, dass wir Buddhisten des 21. Jahrhunderts werden müssen, und das bedeutet, eine Brücke zwischen buddhistischen Lehren und der heutigen Wissenschaft herzustellen, um zu zeigen, dass in den buddhistischen Lehren überaus viele Dinge enthalten sind, die mit der Wissenschaft im Einklang stehen. Aus diesem Grund sind zum Beispiel die „Mind and Life“-Konferenzen ins Leben gerufen worden, auf denen der Dalai Lama sich regelmäßig mit Wissenschaftlern trifft, um gemeinsam herauszufinden, in welchen Bereichen übereinstimmendes Verständnis besteht und wie beide Seiten dazu beitragen können, ein vollständigeres Bild des Lebens zu erhalten.

Wenn wir verstehen, dass wir – einfach auf physischer, biologischer Ebene – basierend auf bestimmten Hormonen in unserem Körper Wohlgefühle empfinden, uns besser fühlen, dann können wir untersuchen, welche Strategien wir gegenwärtig anwenden, um das zu bewerkstelligen, und wenn sie nicht funktionieren, andere Strategien finden, die auf positive, nicht selbstzerstörerische Weise diese Tatsachen zum Vorteil nutzen.

Das Erwartungshormon Dopamin und konstruktive Zielsetzungen

Wir haben schon von Dopamin gesprochen, dem Hormon, das mit dem Vorgefühl einer Belohnung zusammenhängt. Es bewirkt eine Art Aufregung, wie etwa ein Löwe sie empfinden mag, wenn er eine Antilope verfolgt. Wir haben ein paar destruktive Methoden, die Wirkung des Dopamin-Syndroms einzusetzen, die ohne Nutzen sind, wie etwa die Erwartung von mehr „Gefällt mir“-Bekundungen auf unserer Facebook-Seite – das bringt nichts.

Wir könnten auch quasi neutral versuchen, so etwas zu nutzen. Ein Freund von mir ist Gewichtheber. Er erwartet, jetzt 180 Kilogramm heben zu können, und er ist freudig gespannt darauf, dass er als Nächstes 200 Kilo heben kann. Er ist sehr angeregt und das hebt seine Stimmung im Vorgefühl einer Belohnung. Aber selbst dann – nehmen wir an, er kann 200 kg heben –, naja, als Buddhisten würden wir zynisch fragen: Wird ihm das eine bessere Wiedergeburt verschaffen? 

Aber wenn wir uns das Dopamin-Syndrom zu Nutze machen, um darauf hinzuarbeiten, dass wir zum Beispiel Shamatha, vollkommene Konzentration, erreichen, oder Geduld, und dadurch unseren Ärger loswerden usw., dann wird es interessant. Statt frustriert zu sein – „Ich bin nicht gut genug, ich schaffe das nicht“ –, können wir damit arbeiten im Sinne von „hier gibt es eine Herausforderung, und ich freu mich drauf, damit fertigzuwerden.“

Doch es gilt zu versuchen – das wird in den Meditationsanleitungen erwähnt –, das ohne Erwartungen oder Enttäuschungen zu bewerkstelligen. Wenn wir sofortige Resultate erwarten, werden wir natürlich enttäuscht. Also ohne derartige Erwartungen, aber dennoch auf ein Ziel hinarbeiten. Und auf ein Ziel hinzuarbeiten, vor allem wenn es ein sinnvolles Ziel ist, ist etwas, dass eine Quelle von Freude sein kann. Dieses angenehme Gefühl hat eine biologische Grundlage, das steht also ganz und gar im Einklang mit der Wissenschaft: Buddhismus des 21 Jahrhunderts. Mit anderen Worten, wir können erklären, wie und warum die buddhistischen Methoden wirksam sind, und zwar auf eine Art, die auch Wissenschaftler akzeptieren können. Darum geht es.

Die drei höheren Schulungen: Selbstdisziplin, Konzentration und unterscheidendes Gewahrsein

Kurz gesagt, wir brauchen die Entschlossenheit, frei zu sein – das, was im Buddhismus „Entsagung“ genannt wird. Um uns von unseren alten, schädlichen Gewohnheiten zu befreien, ist es notwendig, sich in Selbstdisziplin, Konzentration und unterscheidenden Gewahrsein zu üben. Das sind die sogenannten drei Schulungen: unterscheiden, was hilfreich ist, was schädlich ist, was funktioniert und was nicht, konzentriert bei der Sache zu bleiben und die Disziplin, unser Verhalten entsprechend zu ändern.

Ein Hindernis für Selbstdisziplin: Bedauern

Diese drei müssen harmonisch zusammenwirken, doch um sie angemessen zu entwickeln, müssen wir die Faktoren beseitigen, die sie behindern. Bedauern behindert unsere Selbstdisziplin. Wenn wir zum Beispiel bedauern, dass wir ein paar Stunden nicht im Internet nachgeschaut haben oder nicht sofort auf die letzte E-Mail geantwortet haben, dann schadet das der Selbstdisziplin, nur noch zu bestimmten Zeiten nachzuschauen.

Eine hilfreiche Strategie dafür ist, das Benachrichtigungssignal – „Neue Nachricht!“ – auszuschalten bzw. die entsprechende Anzeige an unserem Computer oder Mobiltelefon auszublenden und nur noch zu festgelegten Zeiten nachzusehen. Wir brauchen Selbstdisziplin, um nur noch auf wichtige Nachrichten sofort zu reagieren und andere Anfragen – solche, die warten können, bis wir weniger zu tun haben –, später zu beantworten und eine bestimmte Zeit am Tag dafür festzulegen, um regelmäßig Mitteilungen zu beantworten.

Ich muss zugeben, dass ich in dieser Hinsicht auch schuldbewusst bin; deshalb habe ich mir eine Strategie ausgedacht, um mit dem ständigen Strom von eintreffenden E-Mails umzugehen. Ich bin kein Teilnehmer von sozialen Medien und bekomme nicht diese dauernden Meldungen, aber ich bekomme mindestens 30 E-Mails am Tag oder mehr. Anstatt sie sofort zu beantworten und zu nichts anderem mehr zu kommen, tue ich Folgendes: Ich prüfe und beantworte diejenigen, die wirklich wichtig sind, und die übrigen markiere ich. Mit denen befasse ich mich dann am Abend, wenn mein Geist nicht mehr so klar für wichtigere Angelegenheiten ist. Man legt also eine Zeit dafür fest. Sonst verliert man die Kontrolle.

Hindernisse für die Konzentration: Schläfrigkeit, geistige Trägheit und Flatterhaftigkeit

Schläfrigkeit, geistige Trägheit und Flatterhaftigkeit behindern die Konzentration. Wenn sie auftreten, verlieren wir aus dem Sinn, dass Zurückhaltung vom ständigen Checken der Meldungsflut das Leben vereinfacht. Denkt daran, darauf konzentriert zu bleiben, das im Sinn zu behalten – das ist es, was Achtsamkeit ausmacht.

Versucht, euch in den Sinn zu rufen, dass das Leben viel weniger stressig ist und wir viel weniger unter Druck stehen, wenn wir die Tatsache akzeptieren, die meisten dieser Mitteilungen erst am Abend zu beantworten bzw. zu einem anderen Zeitpunkt, den wir dafür festgesetzt haben. Schläfrigkeit oder Müdigkeit werden zum Hindernis, weil wir dann nicht aufpassen; so vergessen wir unseren Vorsatz. Und es ist viel einfacher, einfach die Facebook-Seite zu besuchen. Oder wenn wir uns dumpf und träge fühlen und dann einfach ins Internet gehen, statt aufzustehen und etwas zu trinken oder so. Und im Falle von Flatterhaftigkeit schweift der Geist überallhin ab – dies passiert und jenes passiert, und ehe wir es uns versehen, beantworten wir die Nachricht oder lassen uns verleiten, dies oder jenes zu lesen. „Ich will nicht, dass mir was entgeht.“

Hindernisse für unterscheidendes Gewahrsein: unentschlossenes Schwanken und Zweifel

Unentschlossenes Schwanken schließlich behindert unser unterscheidendes Gewahrsein. Wir schwanken hin und her, ob wir nun unsere Nachrichten wirklich nur zu bestimmten Zeiten checken sollen – „war das die richtige Entscheidung?“ – und sind uns unserer selbst nicht sicher. Wir zweifeln.

Solche Zweifel treten auf, weil es schwierig und zunächst mit Stress verbunden ist, sich vom ständigen Checken zurückzuhalten. Um mit diesen Zweifeln fertig zu werden, müssen wir uns die Vorteile in den Sinn rufen, die es hat, wenn wir unser Verhalten ändern. Das Leben wird ohne die ständigen Unterbrechungen weniger zerstückelt sein, wenn wir einfach bei einer Sache bleiben und Dinge in einer sinnvollen Reihenfolge erledigen. Sonst wird es chaotisch, und Chaos ist stressig.

Gleichmut und Mitgefühl

Es gibt noch andere Strategien, die wir anwenden können, um unser Leben angenehmer zu machen. Wie verhalten wir uns zum Beispiel, wenn wir uns in einer überfüllten U-Bahn befinden? Je mehr wir nur an uns selbst denken, uns schützen wollen und zum Smartphone flüchten, umso eingeengter fühlen wir uns. Ich rede jetzt nicht von der Situation, wo wir eine lange Strecke vor uns haben und die Zeit nutzen können, um in Ruhe ein Buch zu lesen. Ich rede von der Situation, dass man sich zum Mobiltelefon flüchtet oder in die Musik oder irgendein Computerspiel. Je mehr wir nur an uns selbst denken und uns schützen und entfliehen wollen, umso angespannter ist unsere Energie. Wir sind schnell gereizt, fühlen uns bedroht, gerade hier in Moskau, wo die U-Bahnen unglaublich voll sind. In Berlin sind sie nicht so überfüllt.

Wenn wir in das Spiel auf unserem Smartphone vertieft sind oder in die laute Musik vom iPod, versuchen wir eine Wand um uns zu errichten, wir wollen nicht gestört werden und sind daher abwehrend, immer in Defensivhaltung. Das ist im Grunde eine sehr unangenehme Erfahrung, auch wenn wir versuchen, dadurch etwas Unterhaltsames zu finden. Wir sind nicht gelassen.

Wenn wir uns hingegen als Teil dieser gesamten Menge von Menschen in der U-Bahn betrachten und Rücksicht und Mitgefühl für alle entwickeln, die sich in derselben Situation befinden wie wir, sind unser Geist und Herz offen. Wir können natürlich auf Gefahren achten, aber ohne die Paranoia, die nur auf uns selbst bezogen ist. Wir wollen, dass alle hier sicher sind. Wir versuchen nicht, alles auszublenden durch Musik oder vor allen zurückzuweichen durch Flucht in ein Computerspiel. Das isoliert uns nur. Wir wollen uns nicht abkapseln.

Ein Gefühl von Aufgeschlossenheit

Viel hilfreicher ist es, jedem gegenüber eine Art Aufgeschlossenheit zu empfinden. Aber Offenheit ist natürlich auch eine heikle Sache. Wenn wir auf ein festes Ich fixiert sind, das in unserem Innern existiert, dann kann der Gedanke aufkommen: „Jetzt bin ich offen, jetzt bin ich verletzlich, ich werde Schaden nehmen …“ Mit dieser Grundhaltung geht das nicht. Sich dem Gedanken an alle zu öffnen, kann auf der einen Seite dem Instinkt entgegenkommen, dass man sich sicherer fühlt, wenn man Teil der Herde ist, statt sich von ihr zu isolieren. Auf dieser Instinkt-Ebene funktioniert das. Aber wir müssen auch aufpassen mit dem Abbau eines vermeintlich feststehenden Ichs, das da drinnen nun ohne Schutzwälle ist – „jetzt wird mich gleich jemand angreifen“.

Es ist ein etwas kniffliges Verfahren, aber eines, das sehr hilfreich ist, wenn man es hinkriegt. Dafür müssen wir Selbstdisziplin, Konzentration und unterscheidendes Gewahrsein miteinander kombinieren.

Wirksame Pausen von intensiver Arbeit machen

Es gibt noch viele weitere Strategien, die wir verwenden können, um mit Stress in unserem Leben umzugehen, auch ganz einfache. Wenn wir zum Beispiel eine Pause von anstrengender Arbeit brauchen, ist es sinnvoller, einfach aufzustehen, ein Glas Wasser zu trinken, aus dem Fenster zu schauen, statt im Internet zu surfen – so etwas in der Art. Mit anderen Worten, eher weniger als mehr Stimulation suchen. Der Stress kommt von der Überstimulation. Man wird ihn nicht lindern, indem man noch mehr Anregung hinzufügt. Weniger ist mehr.

Mit der Entschlossenheit, frei zu sein, und indem wir die drei Schulungen in Selbstdisziplin, Konzentration und unterscheidendem Gewahrsein anwenden, sind wir imstande, den Stress in unserem Alltagsleben und unsere selbstzerstörerischen Gewohnheiten zu verringern. Wir werden dann in einem viel ruhigeren Geisteszustand sein und dadurch besser mit Druck bei der Arbeit, in der Familie, mit der finanziellen Situation usw. umgehen können. Und die Veränderung wird sich auch besonders darauf auswirken, wie wir mit dem heutigen Überangebot fertigwerden, mit dem wir durch Internet, soziale Medien, Musik usw. überschüttet werden. Das heißt nicht, dass wir das Internet aufgeben und unsere Mobilgeräte wegwerfen müssen; das will ich damit nicht sagen. Sondern es kommt darauf an, eine bessere Strategie und sinnvollere Gewohnheiten zu entwickeln, wie man sie auf gesunde und förderliche Weise nutzen kann.

Danke fürs Zuhören.

Fragen

Das Problem ist, dass wir im heutigen Leben auf Dinge reagieren müssen. Wenn wir zum Beispiel die Nachrichten checken, tun wir das nicht nur aus Selbstbezogenheit, sondern wir möchten auch wissen, was wir tun können, wie wir auf etwas reagieren können. Manchmal wird online darüber informiert, dass sich bestimmte Raten geändert haben und wir müssen darauf reagieren. Oder irgendwer schickt eine Nachricht, dass jemand krank ist und Hilfe braucht. Oder unsere Kollegen schreiben uns und wollen etwas fragen, und wenn wir nicht nachschauen, erfahren wir das gar nicht. Oder auch der Wetterbericht – wenn wir nicht wissen, dass extreme Kälte bevorsteht, und ahnungslos draußen herumlaufen, können wir uns leichter eine Erkältung einfangen. In solchen Fällen sind wir ohne die Information weniger effektiv und verschwenden unsere Zeit, gefährden unsere Gesundheit oder sonst irgendetwas.

Deshalb habe ich gesagt, wir müssen eine gesunde Strategie, eine intelligente Vorgehensweise entwickeln, wie wir das Internet benutzen. Wenn wir Übergewicht haben und eine Diät machen, heißt das nicht, dass wir gar nichts mehr essen. Wir beschränken die Nahrung, die wir zu uns nehmen. Ähnlich ist es, wenn wir ein Informations-Übergewicht haben; wir schränken ein, was wir uns anschauen, und betrachten nur, was notwendig ist, was hilfreich ist usw. Wie gesagt, eine sinnvolle Strategie dafür ist, zumindest in meinem E-Mail-Programm, dass man etwas markiert, sodass man weiß, es ist etwas, das man später ansehen und sich dann damit beschäftigen kann.

Allerdings bringt diese Strategie es mit sich, dass wir trotzdem sämtliche Informationen empfangen und dann auswählen, was wir beantworten und was nicht, aber wir müssen immer noch alles durchschauen, all die neuen Meldungen usw.

Auch dafür kann man wieder bestimmte Strategien anwenden. Es Ist ganz und gar nicht das Gleiche, ob man morgens den Wetterbericht anschaut, weil man einen Ausflug vorhat, oder ob man nachsieht, wie viele „Gefällt mir“-Meldungen seit letzter Nacht eingetroffen sind. Das muss man nicht andauernd wissen. Und unter den Emails gibt es eine Menge Werbung, ein paar von Leuten, die beruflich von Belang sind, und etliches, mit dem man sich auch später befassen kann. Das lässt sich leicht anhand der eigenen Adressenliste feststellen, so weiß man, was wichtig und was weniger wichtig ist. Ein Freund von mir verschickt gerne Fotos von seinem Frühstückstisch; die muss ich nicht unbedingt sehen.

Weiß er, dass du gar nicht nachschaust?

Ich schaue später nach, aber ich werde jedenfalls nicht meine Arbeit unterbrechen, um sie mir anzuschauen.

Einige andere Religionen bieten auch Methoden, um dieses hormonelle Wohlbefinden hervorzurufen. Was ist der Unterschied zwischen ihnen und den buddhistischen?

Es stimmt, dass auch andere Religionen so etwas bieten, etwa in der Gewissheit, dass man von Gott oder Jesus geliebt wird usw. – das Gefühl, angenommen zu sein, und das Hinarbeiten auf Ziele. So etwas gibt es auf jeden Fall, das ist richtig. Die Methoden, von denen ich gesprochen habe, sind nicht sehr speziell buddhistisch, sie sind auch in anderen religiösen Kontexten zu finden; es handelt sich lediglich um allgemeine Strategien, die für jeden hilfreich sind. Was ich hier beschrieben habe, ist nicht etwas ausschließlich Buddhistisches.

Wenn wir fragen, was speziell buddhistisch ist, so lautet die Antwort: Es ist die Sicht der Realität auf einer ziemlich subtilen Ebene. Und in den Gesprächen mit Wissenschaftlern zeigt sich, dass selbst das nicht so einzigartig ist, denn diese Sicht der Realität stimmt ziemlich überein mit der Betrachtungsweise eines Quanten-Universums. Wenn man die Quantentheorie hinsichtlich der Struktur des Universums bis zur logische Schlussfolgerungen weiterverfolgt, gelangt man zu etwas ganz Ähnlichem wie den buddhistischen Lehren über die Leerheit und das abhängige Entstehen.

Was können wir tun, wenn wir tatsächlich darauf eingestellt sind, jemanden persönlich zu treffen, dieser dann aber während des Treffens einfach auf das Mobiltelefon schaut und uns kaum Aufmerksamkeit schenkt? Ist es dann angemessen, diesem Menschen deutlich zu sagen, dass das nicht in Ordnung, weil wir gerade eine reale Begegnung erleben?

Ich persönlich finde: ja. Ich denke, es ist berechtigt, die Person darauf hinzuweisen: „Hallo! Ich bin hier vor dir!“ Es gibt eine sogenannte Mobilfon-Etikette, die – vor allem, wenn man Kinder im Teenageralter hat –, wichtig dafür ist, eine Disziplin einzuführen, zum Beispiel am Esstisch weder SMS zu schreiben noch Meldungen zu checken. Ja, man untersagt das und veranlasst sie, das Mobiltelefon wegzustecken. Eine Bekannte von mir lehrt an einer amerikanischen Universität, und sie besteht darauf, dass die Studenten vor dem Vortrag ihr Mobiltelefon auf einem bestimmten Tisch liegen lassen. Ich finde, das ist völlig berechtigt. Interessant ist, dass sie – ich hab vergessen, ob nach 45 Minuten oder einer Stunde, die Seminardauer beträgt drei Stunden – den Leuten eine Telefon-Pause gewähren muss. Sie müssen nicht zur Toilette, aber sie sind so angespannt wegen der mangelnden Möglichkeit, ihr Mobiltelefon zu checken, dass sie in der Pause sofort losrennen, um nachzuschauen. Das ist soziologisch gesehen ziemlich interessant.

Die Leute legen wirklich ein chronisches Suchtverhalten in Bezug auf ihr Mobiltelefon an den Tag, und oft muss man ihn dabei helfen, eine gewisse soziale Disziplin zu entwickeln. Ich denke, das ist angemessen, wenn man es auf höfliche Weise tut. Und auch da besteht wieder ein Unterschied, ob gerade etwas wirklich Schlimmes passiert ist, über das jemand informiert werden muss, oder ob es sich um belangloses Geplauder handelt. Seien wir realistisch – wie oft bekommen wir Telefonanrufe über eine dramatische Notlage? Und wenn es so ist, dass wir während eines Treffens auf einen Anruf warten, etwa ob unser Kind heil nach Hause gekommen ist oder so etwas, dann sagen wir das unseren Gesprächspartner. Seid höflich: „Ich erwarte einen Anruf. Ich will nur wissen, ob mein Kind heil nach Hause gekommen ist“ – das wird in den meisten Fällen auf Verständnis stoßen und alles ist klar.

Ich höre in der U-Bahn immer Musik, aber nicht wegen zusätzlicher Stimulation, sondern eher, um die Masse negativer Reize zu verringern. Denn die Leute um mich herum sind am Reden und manchmal will ich das nicht hören, es ist viel Negatives in diesem Gerede. Und all die Werbung in der U-Bahn, mit all den sattsam Schlagworten. Um mich von all diesen negativen Reizen abzuwenden, höre ich eben Musik. Flüchte ich da? Oder wandle ich negative und heftige Reize in weniger heftigere und weniger zerstörerische um?

Das ist eine interessante Frage. Das erste, das mir dazu einfällt, ist eine typisch indische Antwort, die aber vielleicht hier nicht am meisten passt. Wenn man in Indien in einem Nachtbus fährt, läuft darin fast immer Video, die ganze Nacht über. Immer der gleiche Film wieder und wieder, in voller Lautstärke. Wenn man den Fahrer fragt: „Kann man das bitte etwas leiser stellen“ oder so, lautet die indische Antwort regelmäßig: „Sie brauchen ja nicht zuzuhören.“

In der U-Bahn müssen wir nicht unbedingt zuhören, was jemand sagt. Es ist eine Frage der Aufmerksamkeit. Worauf konzentriert man sich? Wenn man die Aufmerksamkeit auf all die Leute richtet und beispielsweise auf ihren Gesichtsausdruck achtet und dass sie wohl nicht besonders glücklich aussehen, kann man den mitfühlenden Wunsch entwickeln, dass sie frei von ihrem Unglücklichsein, dass sie glücklich sein mögen – dann ist die Aufmerksamkeit nicht auf das gerichtet, was sie sagen; man blickt nicht auf die Werbung. Man achtet auf anderes.

Wenn man das nicht kann, na gut, dann Musik. Aber Musik sollte keine Ausrede dafür sein, die Leute zu ignorieren. Da ist eine perfekte Gelegenheit, Mitgefühl zu üben.

Denkt an den Grundsatz von „Tonglen“, einer ziemlich fortgeschrittenen buddhistischen Praxis von Geben und Nehmen. Was man in einer solchen Situation versuchen könnte, statt sie auszublenden und einen Schutzwall zu errichten gegen die Gesprächsinhalte, ist, sie anzunehmen, sodass man offen ist, zu akzeptieren, dass die Leute über Belanglosigkeiten oder Negatives reden, und ihnen dann mitfühlende Wünsche zu schicken, dass sie über das, was sie so aufregt, hinwegkommen mögen. Dass sie sich mehr mit sinnvollen Dingen beschäftigen können. Das ist so eine prima Gelegenheit für die „Tonglen“-Praxis.

Oft ist es so, dass wir zwar anfangs fest entschlossen sind, frei zu werden, aber irgendwann lässt das nach, und, vielleicht aus Trägheit oder aus anderen Gründen, spüren wir das nicht mehr. Was können wir tun, um die Entschlossenheit wiederherzustellen?

Der hauptsächliche Rat, der dafür normalerweise gegeben wird, lautet, sich an die Nachteile all dessen zu erinnern, von dem wir frei sein wollen, und die Vorteile, die sich ergeben, wenn man frei davon ist. Und uns in den Sinn zu rufen, was für Methoden es dafür gibt, sowie die Überzeugung zu stärken, dass die Methode nicht nur funktioniert, sondern wir auch imstande sind, sie anzuwenden. All das ist wichtiger Bestandteil der Entschlossenheit, frei zu werden. Mit anderen Worten, sich daran zu erinnern: „Ich kann davon frei sein, wenn ich mir genug Mühe geben.“ Sonst lässt man sich bloß entmutige, dann tut man gar nichts, und man gibt auf.

Wenn wir meditieren, macht uns das stabiler, das ist etwas, das wir dadurch erreichen. Aber wenn wir Medikamente nehmen, um uns stabiler zu machen, ist das etwas, dass wir im Grunde ohne Anstrengung bekommen, und es verändert uns nicht. Wenn jemand krank ist, besteht natürlich eine Notwendigkeit, Medizin zu nehmen. Aber was ist, wenn jemand im gewöhnlichen Alltagsleben etwas einnimmt, nur um die Befindlichkeit zu verbessern und um Stress und andere negative Einflüsse auf den Geist zu reduzieren?

Ich denke, wir müssen realistisch sein bezüglich der buddhistischen Methoden. Buddhistische Methoden sind wirksam für Menschen, die bereits ein gewisses Maß an Reife und Stabilität erreicht haben. Wenn man ernsthaft gestört ist, sei es emotional oder geistig, ist man noch nicht imstande, die buddhistischen Methoden anzuwenden. Es ist notwendig, eine gewisse Stabilität zu erlangen, und Medikamente können dafür sehr hilfreich sein, seien es Beruhigungsmittel, Antidepressiva oder was auch immer. Man braucht etwas, das einem hilft. Nur zu sagen: „Meditier doch lieber“ nützt wenig, manche Menschen sind dazu noch nicht imstande. Aber wenn jemand stabiler geworden ist, gilt es natürlich die Abhängigkeit von Medikamenten zu überwinden. Wenn man stabiler ist, ist man in einem Geisteszustand, in dem man tatsächlich Meditationspraktiken anwenden kann. Vorher ist man zu verstört und deshalb fehlt es an Konzentration.

In Burma sind drei Menschen inhaftiert worden, weil sie ein Werbeplakat für ein Restaurant aufhängten, das das Bild von einem Buddha mit Kopfhörern zeigte. Was würden Sie vom buddhistischen Gesichtspunkt aus dazu sagen?

Devadatta, Buddhas neidischer Cousin, versuchte dauernd, ihm zu schaden, aber Buddha konnte nicht geschadet werden, und er hat sich gewiss nicht darüber aufgeregt. Buddha wäre also nicht beleidigt, wenn ein Bild von ihm mit Kopfhörern aufgehängt wird. Aber für Anhänger des Buddhismus, oder auch Anhänger anderer Religionen ist es sehr beleidigend, wenn jemand respektlos gegenüber ihrer wichtigsten Persönlichkeit ist. Und es besteht kein Grund, irgendjemanden zu beleidigen, das ist ungezogen. Dafür ins Gefängnis geworfen zu werden oder eine sehr heftige Strafe zu verhängen, ist wohl überhaupt nicht angemessen. Aber man braucht sich auch nicht so zu verhalten. Redefreiheit bedeutet nicht unbedingt die Freiheit, Leute zu beleidigen, vor allem wenn man weiß, dass es in der Bevölkerung Empörung auslöst. Nun hängt es natürlich davon ab, wer entscheidet, was beleidigend ist oder nicht, und das kann missbraucht werden. Aber wenn es um den Bereich der Religion geht, ist es unangemessen, etwa Jesus oder Mohammed oder Buddha gegenüber Respektlosigkeit zum Ausdruck zu bringen. Wie würden Christen auf ein Werbeplakat reagieren, auf dem Jesus am Kreuz mit Kopfhörern abgebildet ist, wie er Musik hört, als Werbung für den neuen iPod? Ich glaube nicht, dass stark gläubige Christen das gut finden würden.

Wir können uns bemühen, weltliche Ziele zu erreichen oder spirituelle Ziele. Ich habe festgestellt, dass es da zwei Extreme geben kann. Das eine ist, sich mehr auf die weltlichen Ziele zu konzentrieren, aber das ist endlos – man erreicht ein Ziel, und schon folgt das nächste. Das andere Extrem, das ich manchmal zum Beispiel in buddhistischen Gemeinschaften beobachte, ist dass man sich den spirituellen Zielen zuwendet, aber weltliche Ziele völlig außer Acht lässt. Gibt es Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen und ein Gleichgewicht zu finden? – Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt immer: 50/50. Wir müssen sehen, wie die Realität unseres Lebens ist, welches unsere Verantwortlichkeiten sind: unsere finanzielle Situation, haben wir eine Familie, die von uns abhängig ist? Bitte seid realistisch.

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