Zorn: Behandeln von störenden Emotionen

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Zorn bzw. Ärger ist eine starke Abneigung gegen etwas oder jemanden, das bzw. den wir als bedrohlich empfinden oder nicht mögen. Als störende Emotion beraubt er uns unseres inneren Friedens und wir verlieren die Selbstbeherrschung. Mit Hilfe der verschiedenen Übungen zur Entwicklung von Geduld können wir Ärger jedochvermeiden und ein glücklicheres Leben führen.

Schwierigkeiten im Leben

Fast jeder erkennt, dass wir in unserem Leben mit bestimmten Schwierigkeiten konfrontiert sind. Wir möchten glücklich sein. Wir wollen keine Probleme haben, aber wir müssen uns ständig mit vielen verschiedenen Schwierigkeiten auseinandersetzen. Manchmal macht uns das depressiv: Wir begegnen Schwierigkeiten und wir fühlen uns von unserer Arbeit, unserer sozialen Stellung, unseren Lebensbedingungen oder der familiären Situation frustriert. Wir haben das Problem, dass wir nicht bekommen was wir haben möchten. Wir möchten erfolgreich sein. Wir möchten, dass unserer Familie nur Gutes widerfährt und das gilt auch für unsere Arbeit, aber das ist nicht immer so. Wenn wir dann diese Schwierigkeiten haben, werden wir unglücklich. Manchmal passieren uns Dinge, von denen wir nicht wollen, dass sie passieren, wie etwa, dass wir krank werden, oder sehr schwach werden, wenn wir älter werden, oder unser Gehör oder das Sehvermögen verlieren. Es ist nicht zu leugnen, dass niemand das erleben möchte.

Wir haben Probleme an unserer Arbeitsstelle. Manchmal laufen die Dinge schlecht und unser Geschäft geht den Bach hinab oder geht sogar in Konkurs. Das ist eindeutig etwas, von dem wir nicht wollen, dass es passiert, aber es passiert trotzdem. Manchmal geschieht uns Leid; wir verletzen uns, haben einen Unfall oder werden krank. All diese Dinge treten als Probleme auf, mit denen wir konfrontiert werden.

Darüber hinaus sind wir mit vielen emotionalen und psychischen Problemen belastet. Das können Dinge sein, über die wir nicht mit andern sprechen wollen oder die wir anderen nicht anvertrauen wollen. Aber in uns selbst erkennen wir, dass da bestimmte Dinge sind, die störend wirken. Unsere Erwartungen an unsere Kinder, unsere Sorgen und Ängste bescheren uns zum Beispiel viele Schwierigkeiten. Das sind alles Dinge, die wir „unkontrollierbar wiederkehrende Situationen oder Schwierigkeiten“ nenne – auf Sanskrit, samsara.

Unkontrollierbare, wiederkehrende Schwierigkeiten werden als Samsara bezeichnet.

Meine Erfahrung und meine Ausbildung ist die des Übersetzers, und als Übersetzer bin ich um die ganze Welt gereist, in viele verschiedene Länder gekommen, um zu übersetzen, und auch um dort den Buddhismus zu lehren. Ich habe erkannt, dass es bezüglich des Buddhismus viele Missverständnisse gibt. Die Missverständnisse in Bezug auf den Buddhismus scheinen mir vor allem durch die englischen Begriffe zustande zu kommen, die man beim Übersetzen von ursprünglichen Fachausdrücken und Konzepte verwendet. Viele dieser Begriffe wurden im vergangenen Jahrhundert von viktorianischen Missionaren geprägt und haben sehr ausgeprägte inhaltliche Assoziationen und Bedeutungen, die das Wort in der ursprünglichen asiatischen Sprache nicht hat. Zum Beispiel haben wir über Probleme gesprochen. „Probleme“ wird gewöhnlich als „Leiden“ (engl. suffering) übersetzt. Wenn wir von „Leiden“ sprechen, dann entsteht in viele Menschen die Vorstellung, dass der Buddhismus eine sehr pessimistische Religion sei, weil ausgesagt wird, das Leben eines jeden Wesens sei voller Leid. Der Buddhismus scheint davon auszugehen, dass wir nicht das Recht dazu haben, glücklich zu sein. Wenn wir mit jemandem sprechen, dem es gut geht, und wir sagen zu ihm: „Dein Leben ist voller Leiden.“, dann wird sich diese Person dagegen wehren. Dann wird Sie sich verteidigen und vielleicht sagen: „Was meinst du damit? Ich habe einen Videorekorder, ein schönes Auto und eine nette Familie. Ich leide nicht.“ Ihre Antwort ist richtig, denn das Wort „Leiden“ ist ein sehr gewichtiges Wort. Wenn man stattdessen das buddhistische Konzept mit dem Wort „Probleme“ übersetzt, und wir zu jemandem sagen: „Es ist egal wer du bist, wie gesund du bist und wie viele Kinder du hast; jeder hat irgendwelche Probleme im Leben.“, dann ist das etwas, das jeder bereit ist zu akzeptieren. Deshalb werde ich diese buddhistischen Ausführungen aus der tibetischen Tradition in etwas anderen Begriffen diskutieren, als das normalerweise üblich ist. Unkontrollierbar wiederkehrende Probleme sind das Samsara. Das sind die Situationen, über die wir keine Kontrolle haben und sie kommen immer wieder – wie zum Beispiel, dass wir frustriert sind oder uns ständig sorgen oder Ängste haben. Was sind nun die „tatsächlichen Ursachen“ dafür? Buddha sprach nicht nur davon, dass es „wirkliche Probleme“ gibt, mit denen wir konfrontiert sind, sondern auch darüber, dass sie echte Ursachen haben und dass es möglich ist, sie auch zu stoppen. Der Weg sie zu stoppen, also eine „wahre Beendigung“ zu erreichen, ist, einem „wahren Pfad“ zu folgen. Das bedeutet, dass man einen „wahren Pfadgeist“ entwickelt, also das entsprechende Verständnis, das die Ursachen beseitigt. Wenn wir einmal die Ursachen beseitigt haben, dann sind wir auch die Probleme los.

Die Wurzel aller Probleme: Das Anhaften an eine solide, dauerhafte Identität

Die wahre Ursache für diese unkontrollierbar wiederkehrenden Probleme, mit denen wir im Leben konfrontiert werden ist, dass wir die Realität nicht kennen. Wir sind uns nicht bewusst, wer wir wirklich sind, wer die anderen Menschen wirklich sind, was der Sinn des Lebens ist, was wirklich in der Welt passiert. Ich verwende lieber das Wort „Unwissenheit“ oder „Nicht-Gewahrsein“ (engl. unawareness) als Ahnungslosigkeit, Beschränktheit oder Nicht-Wissen (engl. ignorance). Ahnungslosigkeit klingt so, also würde jemand behaupte, man sei dumm und könnte nicht richtig begreifen. Besser ist es stattdessen zu sagen, dass wir einer Sache nicht einer gewahr oder unbewusst sind, dass wir einfach etwas nicht wissen; und deshalb erleben wir diese Unsicherheit auf der psychologischen Ebene. Aufgrund dieser Unsicherheit tendieren wir dazu, nach einer soliden, dauerhaften Identität zu greifen, einer Art von „Ich“: „Ich weiß nicht, wer ich bin oder wie ich existiere und deshalb möchte ich an etwas Wahrem festhalten, oder auch nur an einer Vorstellung darüber festhalten, wer ich bin. Und sage mir dann, dass ich das wirklich bin.“

Wir können uns an der Identität, Vater zu sein, festhalten. Meine Kinder müssen eine bestimmte Einstellung in Bezug auf Respekt und Gehorsam mir gegenüber zeigen. Wenn unser ganzes Leben nur auf das Vatersein bezogen ist, dann kann uns das wirklich Schwierigkeiten bereiten. Vielleicht weil unsere Kinder das nicht so respektieren, und dann wird es schwierig. Wenn wir in einem Büro arbeiten, dann betrachten uns die Leute dort nicht als „Vater“ oder jemanden, dem man diese Art Respekt zollen sollte. Auch das kann zu Schwierigkeiten führen. Was passiert, wenn ich zuhause der „Chef“ bin und im Büro schauen die Leute auf mich herab und behandeln mich wie einen Untergebenen, und ich muss ihnen Respekt zollen? Wenn wir zu sehr an der Identität des Vaters anhaften, und auch daran, dass wir es sind die sagen, was getan wird, dann können wir uns im Büro sehr unglücklich fühlen, wenn wir dort nicht entsprechend behandelt werden.

Wir können beispielsweise die Identität eines erfolgreichen Geschäftsmannes haben: „Ich bin ein erfolgreicher Geschäftsmann. So bin ich. So muss es sein.” Wenn dann aber das Geschäft bankrott geht oder die Geschäfte schlecht laufen, dann brechen wir komplett zusammen. Manche Menschen begehen sogar Selbstmord oder tun alle möglichen schrecklichen Dinge, wenn ihr Geschäft den Bach runter geht, weil sie sich nicht vorstellen können, wie das Leben ohne diese starke Identität, an der sie so sehr haften, weitergehen kann.

Wir können auch unsere Identität daran hängen, dass wir kraftvoll und männlich sind: „So bin ich, ich bin männlich, schön, ein attraktiver Mann.“ Aber wenn wir älter werden und unsere Männlichkeit verlieren, dann kann uns das verrückt machen. Manche Menschen können vollkommen zusammenbrechen, wenn sie sich selbst mit dieser männlichkeit so stark identifizieren. Sie sind nicht bereit zu erkennen, dass sich im Leben alles verändert und dass diese Identität nicht dauerhaft sein kann. Wir können auch glauben, dass wir eine traditionsbewusste Person seien, und dass deshalb alles auf traditionelle Weise geschehen müsse. Wenn sich in der Gesellschaft etwas verändert und die jungen Menschen den Traditionen nicht mehr folgen, auf die sich unsere Identität stützt, dann könne wir sehr wütend werden, sehr traurig, uns sehr verletzt fühlen. Wir könne uns einfach nicht vorstellen, wie wir in einer Welt leben könnten, die nicht den traditionellen chinesischen Bräuchen folgt, mit denen wir aufgewachsen sind.

Auf der andern Seite können wir als junger Mensch unsere Identität darauf aufbauen, dass wir ein moderner Mensch sind: „Ich bin ein moderner, global orientierter Mensch. Ich hänge nicht an Bräuchen.“ Wenn wir uns daran zu sehr halten und unsere Eltern anfangen, darauf zu bestehen, dass wir den traditionellen Werten folgen, dann können wir auch als moderner, junger Mensch sehr feindselig und wütend werden. Wir drücken es vielleicht nicht aus, aber innerlich spüren wir die Wut, weil wir die Identität eines modernen Menschen haben und es deshalb nicht als nötig empfinden, unsere Eltern am chinesischen Neujahrstag zu besuchen. Wir brauchen all diese Traditionen nicht. Und auch hier werden wir durch diese Einstellung viele Probleme bekommen.

Wir können uns auch mit unserem Beruf identifizieren. Wenn unser Geschäft dann in die Brüche geht und wir uns nur mit diesem einen Beruf identifizieren, dann sind wir nicht flexibel. Wir erkennen nicht, dass es möglich ist, einen anderen Beruf zu ergreifen und dass wir nicht immer nur in einem Beruf arbeiten müssen. Wir halten uns an diesen verschiedenen Identitäten fest, um uns sicher zu fühlen. Wir tendieren dazu zu glauben, dass es sich um eine solide Sache handelt, dass es etwas Konkretes ist, dass es das wahre „Ich“ ist. Wir halten uns an Vorstellungen in Bezug darauf fest, wer wir sind, welchen Regeln wir folgen, was wir im Leben wollen. Was dann passiert ist Folgendes: Auf dieser Vorstellung unseres Selbst basierend, aus diesem Selbstbild heraus, entstehen viele störende Emotionen, die sozusagen als Unterstützung für diese Identität dienen. Das ist deshalb so, weil wir uns immer noch unsicher bezüglich dieser Identität fühlen, und so glauben wir, dass wir diese Identität beweisen und stärken müssen.

Wir fühlen uns beispielsweise als „Vater der Familie“, und es reicht uns nicht, dass wir uns einfach als solcher fühlen. Wir müssen diese Autorität auch ausbauen. Wir müssen unseren Einfluss über die Familie stärken und sicherstellen, dass sich alle unterordnen, weil wir allen beweisen müssen, dass wir der Vater sind. Es reicht uns nicht, das nur zu wissen. Wenn wir das Gefühl haben, dass diese Identität gefährdet ist, dann könne wir in eine sehr starke Verteidigungshaltung gehen oder wir werden angriffslustig und aggressiv um etwas zu beweisen. „Ich muss beweisen, wer ich bin. Ich muss beweisen, dass ich immer noch männlich und attraktiv bin.“ und deshalb müssen wir uns eine andere Frau nehmen, eine Affäre mit einer jüngeren Frau eingehen, um das zu beweisen. So läuft es meistens.

Störende Emotionen und Geisteshaltungen

Anhaftung und sehnsüchtiges Verlangen

Störende Emotionen und Geisteshaltungen sind Geisteszustände, die entstehen und mit denen wir versuchen, eine solide Identität zu erhalten oder zu beweisen. Diese störenden Emotionen können verschiedener Art sein, zum Beispiel Anhaftung und sehnsüchtiges Verlangen. Sehnsüchtiges Verlangen entsteht, wenn wir etwas haben wollen, oder wenn wir etwas um uns haben wollen, um unsere Identität abzusichern. Zum Beispiel: Wenn meine Identität die des Vaters oder des Patriarchen der Familie ist, dann denke ich: „Ich muss respektiert werden; meine Kinder müssen am Neujahrstag kommen und dem folgen, was ich sage.“ Ich habe das Gefühl, dass es mir ein Gefühl von Sicherheit gibt, wenn mir nur genügend Respekt entgegen gebracht wird. Und wenn ich diesen Respekt nicht bekomme, dann fühle ich mich eindeutig verletzt und kann sehr ärgerlich werden.

Ich kann auch glauben, dass es meine Identität ist, eine glückliche Person zu sein: „Ich muss immer glücklich sein; das Schicksal muss mir immer gewogen sein; und ich muss immer beim Mahjong gewinnen.“ Das ist meine Identität, und wenn ich dann immer beim Mahjong-Spielen gewinne und auch bei anderen verschiedenen Arten von Glücksspiel, dann gibt mir das ein Gefühl von Sicherheit. Oder ich muss immer zum Wahrsager gehen und die Glücksstäbe im chinesisch-buddhistischen Tempel werfen, um klare Antworten zu erhalten, die mich darin bestätigen, dass ich erfolgreich bin, dass ich in Ordnung bin. Ich fühle mich zu unsicher in meinen eigenen beruflichen Fähigkeiten, um zu glauben, dass ich erfolgreich sein könnte. Ich brauche immer zusätzliche Zeichen, zusätzliche Zeichen von Göttern, oder andere Zeichen, von wem auch immer, um mich sicher zu fühlen, und deshalb muss ich das zwangsläufig immer wieder versuchen.

Ich kann auch der Überzeugung sein, dass „ich die Schlüsselposition im Büro habe, die Fäden in der Hand habe, und diese Kraft gibt mir ein Gefühl der Sicherheit.“ Diese Einstellung kann aus verschiedenen psychologischen Konzepten entstehen. Sie kann auf der Einstellung basieren, dass ich ein machtvoller Mensch bin, oder aus dem Gefühl heraus entstehen, dass ich nicht sehr mächtig bin, aber diese Macht als Unterstützung brauche. Man fühlt sich dann so: „Wenn mir im Büro alle gehorchen und die Dinge tun, die ich möchte, dann fühle ich mich sicher.“ Oder wenn wir Personal zu Hause haben, dann muss ich beweisen, dass ich die Autoritätsperson hier bin, ich hafte immer an der Vorstellung, dass sie die Dinge tun, die ich möchte, und so fange ich sogar an, dass ich Dinge von ihnen verlange, die nicht nötig sind, einfach um zu zeigen, dass ich die Kontrolle habe.

Man kann auch von der Sucht nach Aufmerksamkeit betört sein. Wenn man jung ist, glaubt man: „Meine Identität ist die eines modern gekleideten Menschen, und wenn ich immer im aktuellsten Look gekleidet bin, die neuesten Videos und CDs habe, und die neuesten Dinge, die in den Modemagazinen präsentiert werden, dann verschafft das meiner Identität Sicherheit.“

Es gibt viele verschiedene Wege und viele verschiedene Dinge, auf die wir uns fixieren könnten. Und es gibt viele verschiedenen Dinge, von denen wir meinen, dass, wenn wir nur genug von ihnen um uns herum hätten, wir uns sicher fühlen würden: Genug Geld, genug Besitz, genug Macht, genug Aufmerksamkeit oder Liebe, dann werde ich mich sicher fühlen. Das klappt natürlich so nicht. Wenn dem so wäre, dann würden wir irgendwann erkennen, dass wir genug haben und völlig zufrieden sein. Aber wir haben nie das Gefühl dass wir genug haben, und wir wollen immer mehr, und wenn wir das nicht bekommen, dann werden wir sehr wütend. Ärger kommt auf so viele unterschiedliche Arten zum Vorschein.

Ablehnung und Feindseligkeit

Ein weiterer Mechanismus, den wir nutzen, um eine scheinbar solide Identität zu schützen sind Ablehnung, Feindseligkeit und Ärger. „Wenn ich nur bestimmte Dinge loswerden könnte, die ich nicht mag, die meine Identität bedrohen, dann würde ich mich sicher fühlen.“ Also baue ich meine Identität auf meinen politischen Ansichten auf, oder auf meine Rassenzugehörigkeit oder meine Kultur: „Wenn ich jemanden erwische, der eine andere Meinung, eine andere Hautfarbe oder eine andere Religion hat, dann fühle ich mich gut.“ Oder wenn meine Angestellten etwas ein bisschen anders machen als ich es gesagt habe, oder wenn jemand in meinem Büro etwas anders macht als ich es angeordnet habe, dann fühlen wir uns so: „Wenn ich sie bloß korrigieren könnte, wenn ich das nur ändern könnte, dann würde ich mich sicher fühlen.“ Ich möchte, dass meine Unterlagen auf eine bestimmte Weise auf meinem Schreibtisch angeordnet sind, aber diese eine andere Person in meinem Büro ordnet sie anders an. Irgendwie fühlen wir uns davon gestört: „Wenn ich diese Person nur dazu bringen könnte, es auf meine Weise zu tun, dann würde ich mich sicher fühlen.“ Was macht das eigentlich für einen Unterschied? Auf diese Weise richten wir unsere Feindseligkeit auf andere, um alles, was uns stört, loszuwerden.

Oder wenn wir unsere Identität darauf bauen, dass wir ein Mensch sind, der immer recht hat, dann reagieren wir sehr defensiv, feindselig und wütend darauf, wenn jemand nicht unserer Meinung ist oder uns kritisiert. Anstatt die Kritik der anderen Person dankbar anzunehmen und sie als Chance für unser persönlichen Wachstum zu betrachten, damit wir uns verbessern können – oder, falls die Kritik unangemessen war – die Möglichkeit zu nutzen, uns zu überprüfen und sicher zu stellen, dass wir nicht faul sind oder falsch liegen – begegnen wir der Person mit harschen Worten. Oder wir verhalten uns auf eine passive Art feindselig, indem wir die andere Person ignorieren und nicht mehr mit ihr sprechen. Wir verhalten uns so, weil wir uns unsicher und bedroht fühlen. Wir glauben, dass diese Person unser „Ich“ ablehnt, obwohl wir doch immer recht haben. Daher wollen wir dieses solide „Ich“ schützen, indem wir diese Person ablehnen.

Engstirnige Naivität

Ein weiterer Mechanismus ist die engstirnige Naivität, die letztendlich eine Wand um uns aufbaut: „Wenn mich etwas bedroht oder etwas meine Identität gefährdet, dann gehe ich einfach davon aus, dass das nicht existiert.“ Wir haben Schwierigkeiten mit unserer Familie, Schwierigkeiten bei der Arbeit, und wir kommen mit einem verschlossenen Gesichtsausdruck nach Hause, als würde uns nichts aus der Ruhe bringen. Wir möchten nicht darüber sprechen und schalten einfach den Fernseher ein, und tun so, als würden die Probleme nicht existieren. Das ist eine engstirnige Einstellung. Unsere erwachsenen Kinder möchten über die Probleme, die wir haben sprechen, aber wir schieben sie einfach beiseite. „Meine Identität ist die, dass unsere Familie keine Probleme hat; unsere Familie ist perfekt, sie folgt all den traditionellen Werten. Wie kannst du bloß glauben, dass es ein Problem gibt, und dadurch das Gleichgewicht stören und die Harmonie beeinträchtigen?“ Wir haben das Gefühl, dass der einzige Weg, mit dem Problem umzugehen, ist, dass wir vorgeben, das Problem würde gar nicht existieren. Diese Form der Geisteshaltung wird als engstirnige Naivität bezeichnet.

Impulse, die in unserem Geist emporsteigen, sind ein Ausdruck des Karma

Wenn wir diese unterschiedlichen Arten von störenden Emotionen haben, dann ist das nächste was passiert, dass verschiedene Impulse in unserem Geist auftauchen. Das ist das, worauf sich der Begriff „Karma“ bezieht. „Karma“ hat nichts mit Schicksal zu tun. Leider meinen viele Menschen, dass dem so wäre. Wenn das Geschäft von jemandem den Bach hinunter geht, oder man einen anderen Menschen mit seinem Wagen anfährt, dann sagen wir vielleicht: „Tja, Pech gehabt, das ist sein Karma.“ Das wäre fast das gleiche, wie wenn man sagen würde: „Es war Gottes Wille.“

In der Erörterung von Karma sprechen wir nicht über Schicksal oder den Willen Gottes. Wir sprechen über Impulse, die verschiedenen Impulse, die in unserem Geist auftauchen und die dazu führen, dass wir bestimmte Dinge tun. Da wäre zum Beispiel der Impuls, der in unserem Bewusstsein auftaucht, eine bestimmt berufliche Entscheidung zu treffen, und die sich dann als schlechte Entscheidung entpuppt. Oder der Impuls, die Kinder zu ermahnen, mir Respekt zu zollen. Oder der Impuls, meine Mitarbeiter anzuschreien, dass sie die Arbeit entsprechend meiner eigenen Arbeitsweise verrichten sollen, und nicht auf ihre Weise. Ein weiterer Impuls, der in unserem Bewusstsein auftauchen kann, wäre der, ein verschlossenes Gesicht zu machen, den Fernseher anzuschalten und niemandem mehr zuzuhören. Diese Arten von Impulsen, also von Karma, die in unserem Geist auftauchen, und die wir dann ausagieren, produzieren unsere unkontrollierbar wiederkehrenden Probleme. So läuft der Mechanismus ab.

Wir haben vielleicht das Problem, dass wir uns immer ängstlich fühlen und uns um unsere Stellung in der Arbeit Sorgen machen, oder wir machen uns Sorgen über die Probleme in unserer Familie. Weil wir nach der soliden Identität greifen, dass „ich erfolgreich sein muss und meine Eltern erfreuen möchte, oder die Gesellschaft mit meinem beruflichen Erfolg erfreuen muss“, versuchen wir diese Identität zu verteidigen, indem wir verdrängen, dass das Problem mit der Angst existiert. Wir werden engstirnig und kaltherzig. Und wenn dann alle möglichen Schwierigkeiten in der Familie oder in der Arbeit auftauchen, dann bleiben diese unter der Oberfläche und alle machen eine gute Miene. Im Inneren jedoch, sind all diese Sorgen und Spannungen noch da, und sie könnten später in einem anderen Impuls aufgehen, der zu Gewalttätigkeit führt. Die Gewalttätigkeit richtet sich dann meist gegen jemanden aus der Familie oder gegen jemanden bei der Arbeit, der nicht einmal etwas mit diesem Thema zu tun hat. Das führt dann zu enormen Problemen.

Das sind die unterschiedlichen Mechanismen, die unsere unkontrollierbar wiederkehrenden Probleme verursachen. Wir sehen also, dass das alles mit unseren unterschiedlichen Gefühlen zu tun hat. Und da kommt natürlich die Frage auf: „Sind all diese Gefühle für den Ärger verantwortlich? Sind Gefühle Erscheinungen, die uns Probleme machen?“

Konstruktive Emotionen

Wir müssen eine Unterscheidung treffen zwischen positiven und konstruktiven Emotionen, wie etwa Liebe, Herzenswärme, Zuneigung, Toleranz, Geduld und Freundlichkeit und negativen, destruktiven Gefühlen wie etwa sehnsüchtigem Verlangen, Feindseligkeit, Engstirnigkeit, Stolz, Arroganz, Neid und so weiter. Es gibt für das Wort „Emotion“ keinen Ausdruck in Pali, Sanskrit oder der tibetischen Sprache. Wir können über die einzelnen positiven oder negativen Emotionen sprechen, aber es gibt für sie keinen allgemeinen Begriff, so wie wir es aus dem Deutschen oder Englischen kennen.

Wenn wir über bestimmte Emotionen oder Geisteshaltungen sprechen, die zu Unbehagen führen, wenn sie auftreten, dann sind das störende Emotionen oder Geisteshaltungen. Wenn wir zum Beispiel verblendet sind, oder wenn wir von etwas oder jemandem besessen sind, und uns wir uns dadurch unwohl fühlen. Wir haben vielleicht große Angst davor, dass jemand uns Respekt entgegenbringt, oder wir gieren nach Liebe, Aufmerksamkeit oder Anerkennung von jemand anderem, weil wir an dieser Person anhaften, und gieren deshalb nach deren Aufmerksamkeit und so weiter. Das vermittelt uns das Gefühl, wertvoll zu sein, und es verschafft uns ein Gefühl von Sicherheit – dies sind alles Schwierigkeiten, die durch die störende Emotion und die Geisteshaltung des sehnsüchtigen Verlangens bedingt sind. Immer wenn wir feindselig sind, dann fühlen wir uns sehr unwohl. Oder wenn wir engstirnig sind, geht es uns ebenso. All diese Einstellungen verursachen Probleme. Deshalb ist es wichtig, positive von negativen Emotionen zu unterscheiden, zum Beispiel im Falle der Liebe.

Liebe wird in der buddhistischen Tradition als die positive Emotion definiert, von der begleitet wir uns wünschen, dass andere glücklich seien mögen und die Ursachen für Glück erlangen mögen. Dieser Wunsch basiert auf dem Wissen, dass wir alle gleich sind und dass jedes Lebewesen gerne glücklich sein möchte, und niemand irgendwelche Schwierigkeiten haben möchte. Jedes Lebewesen hat das gleiche Recht darauf, glücklich zu sein. Wenn wir uns um andere kümmern und andere genauso wertschätzt, wie wir uns selbst wertschätzen, dann ist das Liebe. Es bedeutet, an andere zu denken, und sich für sie zu wünschen, dass sie glücklich sein mögen – unabhängig davon, was sie tun. Es ist wie die Liebe einer Mutter, die ihr Baby auch dann noch liebt, wenn es ihr Kleid schmutzig gemacht oder sie angespuckt hat. Das spielt für die Mutter keine Rolle. Die Mutter hört nicht auf ihr Kind zu lieben, nur weil dem Baby übel war und es sie angespuckt hat. Die Mutter liebt das Baby immer noch genauso, und wünscht sich für das Baby, dass es glücklich ist. Wohingegen wir häufig etwas als Liebe bezeichnen, das mit Abhängigkeit und Brauchen zu tun hat. „Ich liebe dich“ bedeutet dann „Ich brauche dich, verlass mich nicht, ich kann nicht ohne dich leben, und du deshalb tust du bitte dieses und jenes, bist eine gute Ehefrau oder ein guter Ehemann, bringst mir am Valentinstag immer Blumen mit und tust nur, was mich glücklich macht. Wenn du das nicht tust, dann werde ich dich hassen, weil du nicht getan hast, was ich wollte, und du nicht da warst, als ich dich gebraucht habe.“

Solch eine Haltung offenbart eine störende Emotion und hat nichts mit der buddhistischen Vorstellung von Liebe zu tun. Liebe bedeutet, sich zu kümmern, egal ob die Person uns Blumen schickt oder nicht, egal ob sie uns zuhört oder nicht, ob sie freundlich und liebevoll zu uns ist, oder ob sie sich schrecklich benimmt und uns sogar zurückweist. Liebe ist der Wunsch, dass die andere Person glücklich sein möge. Wir sollten erkennen, dass wenn wir über Liebe und ähnliche Emotionen sprechen, es davon eine positive und eine störende Ausprägung gibt.

Ärger ist immer eine störende Emotion

Jetzt kommen wir schließlich dazu über Ärger zu sprechen. Was passiert wenn man sich ärgert? Ärger ist etwas, das immer störend wirkt. Durch Ärger ist noch nie jemand glücklicher geworden. Es hilft uns nicht uns besser zu fühlen, wenn wir ärgerlich sind. Es hilft uns nicht dabei, dass uns das Essen besser schmeckt. Wenn wir ärgerlich und wütend sind, dann fühlen wir uns nicht wohl und können nicht schlafen. Ärgerlich zu sein heißt nicht, dass wir eine große Szene machen, und dabei schreien und schimpfen; vielmehr kann es sein, dass wir innerlich sehr wütend darüber sind, was im Büro passiert ist oder in der Familie. Es kann dazu führen, dass wir Probleme mit der Verdauung bekommen oder ein Magengeschwür, oder dass wir an Schlafstörungen leiden. Wir erleben viele Schwierigkeiten, weil wir den Ärger unterdrücken, und wenn wir ihn schließlich ausdrücken und mit bösen Blicken um uns werfen und eine feindselige Stimmung verbreiten, dann möchten nicht einmal Hunde und Katzen in unserer Nähe sein. Sie werden sich schnell aus dem Staub machen, weil sie sich in unserer Gegenwart mit unserem Ärger unwohl fühlen.

Ärger ist etwas, das überhaupt keine Vorteile mit sich bringt. Wenn unser Ärger zu stark oder zu frustrierend wird, dass wir ihn irgendwie loswerden müssen, und wir explodieren dann und verfluchen jemanden, oder belegen ihn mit einem teuflischen Zauber, fühlen wir uns dann wirklich besser? Fühlen wir uns besser, wenn wir sehen, dass jemand verletzt oder wütend ist? Es kann auch sein, dass wir so wütend werden, dass wir an eine Wand schlagen wollen. Fühlen wir uns dann wirklich besser? Nein, augenscheinlich nicht, es tut uns weh. Ärger hilft uns tatsächlich überhaupt nicht. Wenn wir im Stau stehen und uns das so wütend macht, dass wir auf die Hupe hauen, laut schreien und auf alle fluchen, was bringt uns das? Fühlen wir uns dann besser? Hilft das dabei, den Stau schneller aufzulösen? Nein, es führt nur dazu, dass wir unser Gesicht verlieren, weil andere dann über uns sagen: „Welcher Idiot hupt hier so?“ Laut hupen und schreien hilft in dieser Situation nicht weiter.

Müssen wir Ärger überhaupt erleben?

Wenn störende Emotionen, wie Ärger und die impulsiven Handlungen, die aus ihm hervorgehen, wie jemanden anzuschreiben und zu beschimpfen, oder uns durch Feindseligkeit von anderen abschneiden oder sie zurückweisen, wenn das also die Ursache für unsere Probleme ist, werden wir dann immer mit Ärger Schwierigkeiten haben? Ist das etwas, das wir immer erleben müssen? Nein, das ist nicht der Fall, weil störende Emotionen nicht zur ursprünglichen Natur des Geistes gehören. Wenn sie das täten, dann wäre unser Geist immer verwirrt. Und auch bei denen, die sehr von störenden Emotionen betroffen sind, gibt es Momente, in denen sie nicht von Ärger betroffen sind. Wenn wir zum Beispiel Abends endlich einschlafen, dann erleben wir keinen Ärger.

Es ist also möglich, gewisse Augenblicke zu erleben, in denen störende Emotionen wie Ärger, Feindseligkeit oder Groll nicht vorhanden sind. Das zeigt, dass diese destruktiven Emotionen nicht dauerhaft sind. Sie sind nicht Teil der ursprünglichen Natur des Geistes, weshalb wir diese destruktiven Emotionen auch wieder loswerden können. Wenn wir die Ursachen für unseren Ärger stoppen – und nicht nur oberflächlich sondern auf der tiefsten Ebene – dann ist es auf jeden Fall möglich, den Groll zu überwinden und Frieden im Geist zu empfinden. Das heißt nicht, dass wir uns aller Gefühle entledigen sollen und wie Mr. Spock vom Raumschiff Enterprise werden sollen, der wie ein Roboter oder Computer funktioniert und keine Gefühle hat. Wir wollen vielmehr unsere störenden Gefühle loswerden, unsere störenden Geisteshaltungen, die auf unserer Verwirrung basieren. Wir wollen unser fehlendes Gewahrsein in Bezug darauf loswerden, wer wir in Wirklichkeit sind. Die buddhistischen Lehren sind reich an Methoden, um dieses Ziel zu erreichen.

Ärger überwinden, bedeutet die Lebensqualität zu verbessern

Zuerst benötigen wir eine bestimmte Motivation oder Grundlage, die uns dazu motiviert, an uns selbst zu arbeiten, um unseren Ärger und all unsere störenden Emotionen und Einstellungen loszuwerden. Wenn wir keinen Grund haben, uns dieser störenden Emotionen und Geisteshaltungen zu entledigen, warum sollten wir es dann tun? Es ist also wichtig, eine Motivation zu haben.

Wir können damit beginnen, eine solche Motivation zu entwickeln indem wir denken: „Ich möchte glücklich sein und keine Probleme haben. Ich möchte meine Lebensqualität verbessern. Mein Leben macht mir nicht sehr viel Freude, weil ich ständig Ressentiment, Widerstände und Feindseligkeit in mir spüre. Ich werde oft wütend. Ich zeige das vielleicht nicht immer nach außen, aber die Wut ist da, und deshalb fühle ich mich miserabel, und dauernd bin ich durcheinander; das ist keine gute Lebensqualität. Darüber hinaus führt das bei mir zu einer schlechten Verdauung und ich fühle mich krank. Ich kann nicht einmal das Essen genießen, das ich eigentlich gerne mag.“

Wie hoch unsere Lebensqualität ist, liegt jedoch in unserer Hand. Eine der wichtigsten Botschaften, die der Buddha für uns hatte, ist, dass wir selbst etwas für unsere Lebensqualität tun können. Wir sind nicht dazu verdammt, unser ganzes Leben in Elend zu verbringen. Wir können etwas dafür tun. Wir können auch denken: „Ich möchte meine Lebensqualität nicht nur jetzt, in diesem Moment kurzfristig verbessern, sondern auch auf lange Sicht. Ich möchte nicht, dass sich die Dinge noch schlimmer entwickeln. Denn wenn ich beispielsweise meine Feindseligkeit, meine Ressentiments und Widerstände nicht loswerde, und sie in mir behalte, dann wird sie immer schlimmer werden. Vielleicht bekomme ich dann ein Magengeschwür. Oder vielleicht explodiere ich dann mal, fahre völlig aus der Haut und stelle dann etwas Schreckliches an, wie dass ich jemanden verfluche oder verzaubere, oder sogar versuche meinen Gegenspieler zu vernichten. Das kann dazu führen, dass sich die andere Person rächt, indem sie mich und meine Familie verflucht. Letztendlich entsteht daraus die perfekte Vorlage für ein neues Video oder einen neuen Kinofilm.“

Wenn wir weiter vorausdenken, dass all dies Dinge sind, von denen wir nicht wollen, dass sie passieren, dann werden wir uns bemühen, unseren Ärger loszuwerden, sodass die Probleme nicht eskalieren. Des Weiteren werden wir versuchen das Ziel zu erreichen, dass wir nicht nur unsere Probleme verringern, sondern, noch besser, dass wir uns von all unseren Probleme insgesamt befreien, weil das Leben wenig Freude macht, wenn wir auch nur ein kleines bisschen Feindseligkeit, Verbitterung oder Ressentiment in uns verspüren: „Ich muss eine starke Entschlossenheit entwickeln, mich von allen Problemen zu befreien.“

Die Entschlossenheit frei zu sein

Das was ich als die „Entschlossenheit frei zu sein” bezeichne, wird gewöhnlich als „Entsagung“ übersetzt, was allerdings eine irreführende Übersetzung ist. Sie vermittelt den Eindruck, dass wir alles aufgeben und in einer Höhle leben sollten. Um das geht es hier aber überhaupt nicht. Um was es geht ist, dass wir ehrlich und mutig unsere eigenen Probleme anschauen, um zu erkennen, wie lächerlich es ist, mit diesen Problemen leben zu wollen. Stattdessen fassen wir den Entschluss: „Ich möchte so nicht weitermachen. Ich hab genug davon. Ich bin der Probleme überdrüssig. Meine Probleme langweilen mich. Mir reicht es. Ich habe die Schnauze voll. Ich will da raus.”

Die Geisteshaltung, die wir hier entwickeln müssen, ist die Entschlossenheit, dass wir frei sein möchten von Problemen, und mit dieser Einstellung einhergehend die Bereitschaft, die alten, störenden Muster unseres Denkens, Sprechens und Verhaltens aufzugeben. Das ist am wichtigsten. Wenn wir unser Bewusstsein nicht sehr ausgeprägt dafür geöffnet haben, uns von allen Problemen zu befreien und unsere alten Muster aufzugeben, dann werden wir nicht unsere ganze Energie dafür aufwenden. Und bis wir nicht all unsere Energie dafür einsetzen, wird unsere Anstrengungen in Bezug auf das Freisein nur halbherzig sein und wir werden nie irgendwo hinkommen. Wir möchten glücklich sein, aber nichts aufgeben, wie etwa unsere negativen Gewohnheiten und Gefühle. Das wird nie funktionieren. Es ist also sehr wichtig, diese klare Entscheidung zu treffen, um den Geist dafür zu öffnen, dass wir unsere Probleme beenden müssen, und dass wir gewillt sein müssen, sie und ihre Ursachen aufzugeben.

Auf der nächst höheren Ebene müssen wir denken: „Ich will meinen Ärger loswerden, nicht nur um Glück für mich selbst zu erlangen, sondern zum Wohle aller. Zum Wohle meiner Familie, meiner Freunde, meiner Mitarbeiter und zum Wohle der Gesellschaft. Ich möchte meinen Ärger überwinden, weil ich auch an andere denke. Ich möchte ihnen keinen Ärger verursachen und sie unglücklich machen. Es führt nicht nur dazu, dass ich mein Gesicht verliere, wenn ich meinen Ärger ausdrücke, sondern es bringt auch Schande über meine ganze Familie. Es bringt Schande für alle meine Mitarbeiter und so weiter. Aus dieser Betrachtungsweise heraus, lerne ich mein Gemüt zu kontrollieren und damit umzugehen und es zu verändern.“

Eine noch stärkere Motivation wird durch folgende Überlegung erzeugt: „Ich muss meinen Ärger loswerden, weil er mich davon abhält anderen zu helfen. Wenn andere meine Hilfe brauchen, wie etwa meine Kinder oder die Menschen auf der Arbeit oder auch meine Eltern, und wenn ich dann total aufgebracht bin, oder durch Ärger oder durch Feindseligkeit verstört bin, wie kann ich ihnen da helfen?“ Das ist ein großes Hindernis und deshalb ist es sehr wichtig, daran zu arbeiten, um ernsthaft diese verschiedenen Arten von Motivation zu entwickeln. Es spielt keine Rolle, wie ausgefeilt die Methode ist, um mit Ärger umzugehen, wenn wir nicht die starke Motivation haben, die Methoden anzuwenden, werden wir es nicht schaffen. Und wenn wir die Methoden nicht anwenden, die wir erlernen, was hat es dann für einen Sinn, sich mit diesen Methoden zu beschäftigen? Es ist also wichtig, im ersten Schritt über die Motivation nachzudenken.

Video: Dr. Alexander Berzin — „Emotionen auf gesunde Weise ausdrücken“ 
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Methoden zur Überwindung des Ärgers

Was sind nun die eigentlichen Methoden, die wir nutzen können, um unseren Ärger zu überwinden? Ärger wird als ein erregter, aufgewühlter Geisteszustand definiert, der Gewalt gegen jemanden oder etwas erzeugen möchte – egal also, ob es sich dabei um ein lebendiges Wesen oder um einen unbelebten Gegenstand handelt. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf einen Menschen, ein Tier, eine Situation oder auf irgendein Objekt richten, auf etwas, das wir nicht mögen, und wenn wir uns dann mit Gewalttätigkeit gegen den Menschen, das Tier oder die Situation richten und unserer Erregung Ausdruck verleihen, um das Gegenüber auf gewaltsame Weise zu verändern, dann ist das Ärger. Ärger ist also ein Zustand von Intoleranz und ein Mangel an Geduld, der mit dem Wunsch verbunden ist, jemandem Leid zuzufügen oder etwas zu beschädigen. Der Ärger richtet sich dabei gegen all das, was wir nicht aushalten können. Das Gegenteil von Ärger und Intoleranz ist einerseits die Geduld, zum anderen Liebe. Da Liebe mit dem Wunsch verbunden ist, dass jemand glücklich ist, ist Liebe das Gegenteil davon, dass man jemandem Leid oder Schlechtes wünscht.

Häufig werden wir in Situationen ärgerlich, in denen uns etwas widerfährt, von dem wir nicht wollen, dass es passiert. Menschen verhalten sich nicht so, wie wir das gerne möchten. Sie zeigen uns gegenüber beispielsweise keinen Respekt, sie folgen unseren Arbeitsanweisungen nicht, oder sie haben versprochen, etwas auf der Arbeit für uns zu erledigen und tun es dann nicht. Und weil sie sich nicht so verhalten, wie wir das erwarten, werden wir wütend auf sie. Ein weiteres Beispiel wäre, wenn uns beispielsweise jemand auf den Zeh tritt, und wir dann wütend werden, weil wir nicht wollen, dass so etwas passiert. Aber es gibt verschiedene Wege mit solchen Situationen umzugehen, ohne wütend zu werden.

Shantidevas Rat zur Kultivierung von Geduld

Ein großer indischer Meister des Buddhismus aus dem achten Jahrhundert, Shantideva, zeigte viele gedankliche Pfade auf, die uns helfen können, Geduld zu entwicklen. Er sagte: „Wenn es etwas gibt, was wir in einer schwierigen Situation tun können, um sie zu verändern, warum sollten wir uns dann Sorgen machen und wütend werden; wir ändern einfach, was zu ändern ist. Wenn die Situation nicht verändert werden kann, dann hilft es nichts, sich Sorgen zu machen und ärgerlich zu werden.“

Wenn wir zum Beispiel mit dem Flugzeug von hier in Penang nach Singapur fliegen wollen und am Flughafen ankommend jedoch feststellen, dass der Flug völlig ausgebucht ist, dann gibt es gibt keinen Grund sich zu ärgern. Ärger wird uns nicht dazu verhelfen, doch noch in das Flugzeug zu gelangen. Es gibt jedoch etwas, das wir tun können, um die Situation zu ändern – wir können einfach den nächsten Flug nehmen. Warum sollten wir wütend werden? Buchen Sie einfach den nächsten Flug und rufen Sie ihre Freunde in Singapur an, dass Sie später kommen werden. Damit hat sich die Sache erledigt. Das ist etwas, das wir tun können, um mit einem Problem umzugehen. Wenn unser Fernseher nicht funktioniert, warum sollten wir wütend werden und auf ihn draufschlagen und fluchen? Reparieren Sie ihn einfach. Das sind sehr offensichtliche Dinge. Wenn es sich um eine Situation handelt, die man ändern kann, dann gibt es keinen Grund sind zu ärgern – einfach die Situation ändern.

Wenn es nichts gibt, das wir tun können, um die Situation zu verändern, wie wenn wir beispielsweise zur Hauptverkehrszeit im Stau stehen, dann müssen wir das akzeptieren. Wir haben keine Laserpistole vorn am Auto, sodass wir alle Autos vor uns weglasern könnten. Unser Auto kann auch nicht über den Stau hinwegfliegen, wie man das in einigen japanischen Cartoons sehen kann. Nein, wir müssen es großmütig akzeptieren, indem wir denken: „In Ordnung, ich stehe im Stau, ich werde das Radio oder den Kassettenrekorder einschalten, um buddhistische Unterweisungen anzuhören oder um einfach schöne Musik anzuhören.“ Meistens wissen wir, dass wir zu bestimmten Zeiten in einen Stau geraten werden und können uns darauf vorbereiten, indem wir eine Kassette oder CD mitnehmen und sie uns dann anhören. Wenn wir wissen, dass wir zur Hauptverkehrszeit unterwegs sein werden, können wir das Beste aus dieser Zeit machen. Wir können über Probleme in unserem Büro, unserem Geschäft, in unserer Familie oder über andere Dinge nachdenken, und versuchen, eine gute Lösung für unsere Probleme zu finden.

Wenn es nichts gibt, was wir tun können, um eine schwierige Situation aufzulösen, dann versuchen wir einfach das Beste daraus zu machen. Wenn wir mit unserem Zeh im Dunklen irgendwo anstoßen, und wir dann auf und ab hüpfen, und brüllen und schreien, trägt das dazu bei, dass wir uns dann irgendwie besser fühlen? Im amerikanischen Slang spricht man davon, dass man einen „Schmerztanz aufführt“. Es tut so weh, dass wir auf und ab hüpfen, dass wir auf und ab springen, aber das führt nicht dazu, dass wir uns irgendwie besser fühlen. Es gibt nur wenig, was wir in einer solchen Situation tun können. Das einzig Sinnvolle ist, dass wir einfach mit dem weitermachen, was wir gerade zuvor getan haben. Schmerz ist nicht dauerhaft. Er wird vergehen. Er wird nicht für immer da sein, und wenn wir herumspringen und schreien, wird es davon nicht besser. Was wünschen wir uns in dieser Lage? Möchten wir, dass alle möglichen Leute auf uns zukommen und uns bemitleiden? Wenn sich ein Baby oder ein Kleinkind verletzt, dann kommt die Mutter darauf zu, küsst es und tröstet es. Genauso hoffen wir dann wohl, dass uns die Menschen in ähnlicher Weise begegnen wie dem Baby?

Während wir in einer Schlange anstehen oder auf den Bus warten, können wir über Vergänglichkeit nachdenken – zum Beispiel dass ich nämlich nicht immer die Nummer 32 oder die Nummer 9 in der Warteschlange bleiben werde. Irgendwann werden auch wir an der reihe sein. Derlei Überlegungen können uns dabei unterstützen, solche Situation besser zu ertragen und die Zeit besser zu nutzen. In Indien gibt es ein Sprichwort: „Das Warten hat seine eigenen Vorzüge.“ Das ist wahr, weil wir die Zeit nutzen können, wenn wir in einer langen Schlange warten müssen oder an der Bushaltestelle stehen. Wir können uns der anderen Menschen um uns herum gewahr zu werden. Oder wir können uns der Dinge gewahr werden, die gerade im Büro passieren, oder was auch immer. Diese Art der Bewusstwerdung kann uns helfen, Verantwortungsgefühl und Mitgefühl zu entwickeln. Wenn wir soundso dort sind, dann können wir die Zeit konstruktiv nutzen, anstatt eine halbe Stunde lang herumzufluchen.

Ein weiterer Vers von Shantideva ist folgender: „Wenn uns jemand mit einem Stock schlägt, auf wen sind wir dann wütend? Sind wir auf die Person wütend oder auf den Stock?“ Wenn wir logisch darüber nachdenken, dann sollten wir eigentlich auf den Stock wütend sein, weil es der Stock ist, der uns wehtut! Aber das wäre dumm. Niemand wird auf einen Stock wütend; wir werden auf die Person wütend. Und weshalb? Weil der Stock von der Person manipuliert wurde. Dann ist es aber auch so, wenn wir weiter darüber nachdenken, dass die Person von ihren störenden Emotionen manipuliert wurde. Wenn wir also wütend werden, dann sollten wir auf die störenden Emotionen der Person wütend werden, die die Person dazu gebracht hat, uns mit dem Stock zu schlagen.

Dann denken wir: „Woher kam diese störende Emotion? Sie ist nicht aus dem Nichts erschienen. Ich muss etwas getan haben, um diese Emotion hervorzulocken. Ich muss etwas getan haben, das die andere Person wütend gemacht hat, sodass sie mich mit dem Stock geschlagen hat. Genauso ist es, wenn ich jemanden bitte, mir einen Gefallen zu tun, und diejenige Person sagt ‚Nein‘. Dann werde ich wütend. Ich fühle mich dadurch verletzt. Wenn ich darüber nachdenke, war es eigentlich mein eigener Fehler. Ich war zu faul und habe es nicht selbst gemacht. Ich habe die Person gefragt, ob sie mir einen Gefallen tut, sie hat Nein gesagt und ich bin wütend geworden. Wenn ich selbst nicht so faul gewesen wäre, dann hätte ich diese Person nie gefragt und das ganze Problem wäre nicht entstanden. Wenn überhaupt, dann sollte ich auf mich selbst wütend sein, dass ich so dumm und faul war, diese Person zu bitten, mir einen Gefallen zu tun.“

Auch wenn es teilweise nicht unser Fehler war, müssen wir hinschauen, ob wir selbst frei von diesen störenden Emotionen sind, die die andere Person manipulieren. Ein Beispiel dafür wäre Selbstbezogenheit: „Er hat sich geweigert, mit einen Gefallen zu tun. Hmm, tu ich anderen immer einen Gefallen? Bin ich jemand, der immer zustimmt, anderen zu helfen, und das dann auch sofort tut? Wenn ich das nicht bin, warum sollte ich dann erwarten, dass andere Leute immer alles für mich tun?“ Das ist ein anderer Weg mit Ärger umzugehen.

Ich habe schon zuvor erwähnt, dass Ärger nicht immer dadurch zum Ausdruck gebracht wird, dass wir laut brüllen, herumschreien und andere schlagen. Ärger ist eine störende Emotion, die definitionsgemäß dazu führt, wenn sie in uns auflodert, dass wir uns unwohl fühlen. Also auch wenn wir sie in uns behalten und sie niemals ausdrücken, wird sich der Ärger destruktiv auswirken, und uns irgendwann krank machen. Oder er kommt später auf sehr destruktive Weise zum Ausdruck. Wir müssen die gleichen Methoden anwenden, die ich gerade erklärt habe, um auch mit dem unterdrückten Ärger umzugehen. Wir müssen unsere Einstellung ändern. Wir müssen Geduld entwickeln.

Unterschiedliche Arten von Geduld

Die zielorientierte Art von Geduld

Es gibt viele verschiedene Arten von Geduld. Als erstes ist da die zielorientierte Art von Geduld. Die Vorstellung dabei ist, dass wenn man kein Ziel formuliert hat, wird niemand darauf zielen. In Amerika gibt es ein Spiel unter Kindern das folgendermaßen abläuft: Sie heften oder kleben ein Blatt Papier auf die Hinterseite der Hose eines Freundes. Auf das Blatt schreiben sie: „Tritt mich!“ und das wird das „Tritt-mich-Schild” genannt. Und jeder der dieses Schild auf dem Hintern des Kindes sieht, wir ihm einen Tritt geben. Mit dieser Art von Geduld denken wir darüber nach, wie wir unser eigenes Tritt-mich-Schild an unserem Hintern festgemacht haben und zwar durch unser destruktives Verhalten in der Vergangenheit. Und wir denken darüber nach, dass unsere eigenen negative und destruktive Handlungen in der Vergangenheit uns all diese Probleme beschert haben, die wir jetzt haben.

Ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie werden auf der Straße überfallen. Sie würden denken: „Wenn ich darauf nicht durch negative und destruktive Handlungen in der Vergangenheit oder in früheren Leben abgezielt hätte, dann wäre der Impuls, diese dunkle Straße genau zu der Zeit entlang zu gehen, in der der Räuber unterwegs war und mir an einer Ecke aufgelauert hat, um mich auszurauben und zusammenzuschlagen, nicht in meinem Geist aufgetaucht. Normalerweise gehe ich diese Straße nicht entlang, aber in dieser Nacht tat ich es. Normalerweise gehe ich auch viel früher nach Hause, aber an diesem Abend hatte ich den Impuls, etwas länger bei meinen Freunden zu bleiben. Und darüber hinaus bin ich genau zu der Zeit die Straße entlang gegangen, als der Räuber darauf wartete, dass jemand kommen würde. Warum hatte ich diesen Impuls? Weil ich in der Vergangenheit etwas getan habe, das diese Person verletzt hat, und das ist jetzt im Sinne von Ursache und Wirkung herangereift.“

Die Impulse tauchen als Ausdruck des Karma in unserem Geist auf. Also können wir auch in folgender Weise denken: „Ich verringere gerade mein altes negatives Karma. Ich sollte sehr froh sein, dass ich es so leicht loswerde, weil es viel schlimmer kommen könnte. Diese Person hat mich einfach ausgeraubt, aber sie hätte mich auch erschießen können. Also sollte ich mich sehr erleichtert fühlen, dass diese Negativität so leicht herangereift ist und ich sie jetzt erlöst habe. Es war gar nicht so schlimm und es ist gut, dass ich es jetzt los bin. Diese karmische Schuld habe ich nicht länger mit mir herumzutragen.“

Diese Art des Denkens ist sehr hilfreich. Ich erinnere mich, dass ich einmal mit einem Freund zusammen einen Wochenendausflug ans Meer gemacht habe. Wir sind einige Stunden lang gefahren. Wir sind eine weite Strecke aus der Stadt heraus gefahren. Nachdem wir ungefähr eineinhalb Stunden unterwegs waren, hörten wir, dass das Auto merkwürdige Geräusche machte. Wir fuhren zu einer Autowerkstatt. Der Mechaniker warf einen Blick auf das Auto und sagte uns, dass die Achse gebrochen sei und wir nicht weiterfahren könnten. Wir mussten per Anhalter zurück in die Stadt fahren. Mein Freund und ich hätten sehr verärgert und aufgebracht sein können, weil wir für unseren Wochenendurlaub in dieses wunderschöne Strandhotel fahren wollten. Aber mit einer anderen Haltung betrachteten, stellt sich die Sache völlig anders dar: „Wie wunderbar, dass uns das passiert ist! Wie gut, dass uns das jetzt passiert ist, denn die Achse hätte auch während der Fahrt brechen können. Wir hätten einen schrecklichen Unfall haben und dabei getötet werden können. Da sind wir also gut davongekommen.“ Mit beruhigten Gemütern fuhren wir per Anhalter zurück in die Stadt, verwarfen unsere Pläne und liehen wir uns ein anderes Auto.

Wir sehen also, dass es viele verschiedene Möglichkeiten gibt, diese Art von Situation zu erleben. Wütend und bestürzt zu reagieren hätte überhaupt nicht geholfen. Wenn wir die Situation aus dem Blickwinkel betrachten: „Durch diese Situation erschöpft sich mein vergangenes negatives Karma. Diese karmische Schuld ist jetzt einfach herangereift und beendet wurden. Es hätte viel schlimmer kommen können,“ dann ist das ein viel gesünderer Weg damit umzugehen.

Liebe und Mitgefühl als eine Art der Geduld

Es gibt auch eine Art der Geduld, die „Geduld der Liebe und des Mitgefühls“ bezeichnet wird. Mit dieser Geduld betrachten wir jeden, der auf uns wütend wird oder uns anschreit, als einen verrückten Menschen, als jemanden, der geistig gestört ist. Diese Art der Geduld kann auch auf jemanden angewandt werden, der uns beschämt oder vor anderen öffentlich kritisiert, was dazu führen könnte, dass wir unser Gesicht verlieren und wütend auf diese Person werden könnten. Wenn uns zum Beispiel ein Papagei in Gegenwart anderer Menschen Schimpfworte nachruft, würde das nicht dazu führen, dass wir unser Gesicht verlieren, oder? Es gibt keinen Grund auf den Vogel wütend zu werden. Es wäre eine dumme Reaktion. Genauso ist es mit der Person, die anfängt uns anzuschreien und laut über uns zu schimpfen, wir verlieren dadurch nicht unser Gesicht. Wir alle wissen, dass Kinder von Zeit zu Zeit Wutanfälle bekommen. Und auch ein Psychiater wird nicht wütend auf seinen Patienten, wenn dieser wütend wird, sondern er empfindet Mitgefühl.

Genauso sollten wir versuchen, Mitgefühl für jeden zu empfinden, der uns verletzt, auf uns wütend ist oder uns beschämt. Wir müssen begreifen, dass die herumtobende Person, diejenige ist, die ihr Gesicht verliert, nicht wahr? Alle anderen können erkennen, dass es die herumwütende Person ist, die sich zum kompletten Idioten macht. Wir sollten daher Mitgefühl mit diesem Menschen empfinden, anstatt uns über ihn zu ärgern.

Das heißt nicht, dass wir nicht versuchen sollten einen Menschen davon abzuhalten uns zu schlagen, wenn er uns schlagen möchte. Wenn unser Kind schreit, dann versuchen wir, es zu beruhigen. Wir versuchen, es davon abzuhalten, uns oder anderen, oder auch ihm selbst Schaden zuzufügen. Es geht darum, das nicht aus Ärger heraus zu tun. Wenn sich unser Kind schlecht verhält, dann disziplinieren wir es nicht aus Ärger heraus, sondern zum Wohl des Kindes. Wir wollen dem Kind helfen, dass es nicht sein Gesicht verliert und wir wollen nicht, dass andere Menschen schlecht über das Kind denken. Wir disziplinieren das Kind aus Fürsorge, nicht aus dem Ärger heraus.

Die Guru-Schüler-Beziehung als eine Art von Geduld

Dann gibt es die „Guru-Schüler-Beziehung als eine Art von Geduld”. Sie basiert auf der Tatsache, dass ein Schüler nicht ohne einen Lehrer lernen kann; und wenn uns also niemand prüft, dann können wir niemals Geduld entwickeln. Im zehnten Jahrhundert wurde der indische Meister Atisha nach Tibet eingeladen, um den Buddhismus dort wieder zu etablieren. Dieser indische Meister brachte einen indischen Koch mit. Der indische Koch machte nie etwas richtig oder handelte stets respektlos. Er war vollkommen unausstehlich und sehr unfreundlich. Die tibetische Bevölkerung brachte Atisha großen Respekt entgegen und fragten ihn deshalb: „Lehrer, warum hast du diesen unausstehlichen Koch mitgebracht? Warum schickst du ihn nicht zurück? Wir können für dich kochen, wir kochen sehr gut.“ Atisha antwortete ihnen: „Oh, er ist nicht nur mein Koch. Ich habe ihn mitgebracht, weil er mein Lehrer zum Üben von Geduld ist!“ Genauso verhält es sich, wenn jemand in unserem Büro unausstehlich ist, jemand der immer Dinge sagt, die uns ärgern, dann können wir diese Person als unseren Lehrer für die Geduld betrachten. Es gibt Menschen mit sehr irritierenden Gewohnheiten. So gibt es beispielsweise Menschen, die immer mit ihren Finger auf irgendwelchen Gegenständen herumklopfen. Wenn uns niemand prüfen würde und die Grenzen unserer Geduld austesten würde, wie könnten wir uns dann weiterentwickeln? Wenn wir uns in schwierigen Situationen befinden, wenn es etwa am Flughafen oder am Bus-Terminal zu starken Verspätungen kommt, dann können wir das als glückliche Fügung und gute Möglichkeit betrachten, um uns in Geduld zu üben: „Ah! Das übe ich jetzt. Ich übe mich jetzt in Geduld, und hier ist meine Chance zu erkennen, ob ich das schon kann.“ Oder auch wenn wir Schwierigkeiten haben, ein Formular von einer Behörde zu bekommen, dann können wir das als Herausforderung sehen. „Das ist so, als ob ich mich für einige Zeit in den Kampfkünsten geübt habe und dann schließlich eine Möglichkeit bekomme, mein Können auch mal anzuwenden. Ich bin hoch erfreut über die gute Gelegenheit!“ Genauso ist es, wenn wir uns in Geduld und Toleranz üben, und dann mit einer unerträglichen Situation konfrontiert werden, dann können wir diese mit großer Freude betrachten: „Ah! Hier ist die Herausforderung. Schauen wir einmal, ob ich damit umgehen kann und nicht meine Geduld verliere, nicht wütend werde und mich auch in mir nicht unwohl fühle.“

Nicht die Geduld zu verlieren ist eine viel größere Herausforderung als sich in den Kampfkünsten zu erproben. Das ist deshalb so, weil wir dieser Herausforderung mit unserem Bewusstsein, mit unseren Gefühlen begegnen müssen und nicht nur mit unserem Körper und unserer körperlichen Kontrolle. Wenn uns andere kritisieren, dann müssen wir versuchen, die Kritik so zu betrachten, dass wir erkennen, wo wir selbst gerade in unserer Entwicklung stehen, anstatt uns über die Kritik zu ärgern. „Diese Person, die mich kritisiert, zeigt mir bestimmte Dinge über mich, von denen ich vielleicht etwas lernen kann.“ In diesem Sinne müssen wir versuchen, Kritik zu tolerieren, und versuchen zu erlernen, wie wir mit Kritik umgehen können – und zwar indem wir unsere Einstellung gegenüber der geäußerten Kritik ändern. Wenn wir sehr aufgebracht und erregt werden, dann führt das vielleicht dazu, dass wir viel mehr noch unser Gesicht verlieren, als wenn uns ein übergeschnappter Mensch kritisiert und uns anschreit.“

Geduld mit der Natur der Dinge haben

Ein weiterer Weg, um mit Wut umzugehen und Geduld zu entwickeln ist „die Geduld mit der Natur der Dinge.“ Es liegt in der Natur von kindischen Menschen, dass sie sich schlecht und ungehobelt aufführen. Die Natur des Feuers liegt darin, dass es heiß ist und brennt. Wenn wir unsere Hand ins Feuer halten und uns verbrennen, was haben wir dann zu erwarten? Das Feuer ist heiß. Wenn wir während der Mittagszeit durch die Innenstadt fahren, was erwarten wir? Mittagszeit ist Hauptverkehrszeit, und da ist einfach viel Verkehr – so sind die Dinge nun einmal. Wenn wir ein kleines Kind bitten, ein Tablett oder eine Tasse Tee zu tragen, und das Kind verschüttet den Tee, nun, was haben wir erwartet? Es ist ein Kind und wir können nicht erwarten, dass ein Kind nichts verschüttet. Genauso ist es, wenn wir andere Menschen bitten, uns in unserer Arbeit einen Gefallen zu tun. Wir treffen eine Vereinbarung und dann lassen sie uns hängen, ok, was haben wir erwartet? Die Menschen sind kindisch; wir können uns auf andere nicht verlassen. Shantideva, der große indische Meister sagte: „Wenn du etwas Positives und Konstruktives tun möchtest, dann mach es selbst. Verlass dich nicht auf andere. Wenn du dich auf andere verlässt, dann gibt es keine Gewissheit, dass dich derjenige nicht im Stich lässt und dich enttäuscht.“ Wir nehmen solche Situationen so wahr: „Nun, was habe ich erwartet? Wenn es in der Natur des Menschen liegt, andere im Stich zu lassen, dann ist das kein Grund ärgerlich zu werden.“

Die Geduld mit der Sphäre der Realität

Die letzte Methode, die wir gegen unseren Ärger verwenden können, wird „die Geduld mit der Sphäre der Realität” genannt. Wir tendiert dazu, uns selbst, andere Lebewesen und auch Objekte mit einer soliden Identität zu versehen. Es ist ganz so, als würden wir in der eigenen Vorstellung eine feste Linie um uns selbst ziehen, und diese Linie als unser solides „Ich“ betrachten: „Das bin Ich. So muss ich immer sein.“ Wir denken beispielsweise: „Ich bin ein Geschenk Gottes an die Welt.“ oder „Ich bin ein Verlierer, ein Versager.” Oder wir ziehen eine feste Linie um jemand anderes und sagen: „Er ist ein unerträglicher Mensch. Mit ihm ist nicht gut Kirschen essen; mit ihm gibt es nur Probleme.“ Wenn das allerdings die wahre, solide Identität dieser Person wäre, dann müsste er schon immer mit dieser Identität verbunden sein und leben. Er müsste auch als kleines Kind schon so gewesen sein. Er müsste zu allen Menschen unausstehlich sein, zu seiner Frau, zu seinem Hund, zu seiner Katze und zu seinen Eltern, weil er ein wahrhaft unausstehliches Individuum ist.

Wenn wir erkennen, dass Menschen nicht mit so einer festen Linie um sich herum existieren, die ihre spezifische Natur oder Identität ist, dann erlaubt uns das, uns zu entspannen, und wir werden nicht so wütend mit demjenigen sein. Wir erkennen, dass diese Person, die sich unerträglich verhält, nur eine vorübergehende Erscheinung ist – auch wenn es häufig vorkommt, dass sich der andere unerträglich verhält, heißt das nicht, dass diese Person immer so sein wird.

Die Entwicklung von hilfreichen Gewohnheiten

In schwierigen Situationen ist es vielleicht nicht so einfach, all diese Punkte auch anzuwenden. Alle diese verschiedenen Arten von Denken sind unter dem Begriff „Präventivmaßnahmen“ bekannt. So übersetze ich den Begriff Dharma. Der Dharma ist eine Maßnahme, die man ergreift, um Problemen vorzubeugen. Wir möchten uns davor schützen wütend zu werden, indem wir versuchen, die verschiedenen Arten von Geduld im Sinne von hilfreichen Gewohnheiten aufzubauen. Das ist „Meditation“. Das tibetische Wort für Meditation leitet sich von dem Begriff ab, der bedeutet, dass man sich etwas zur Gewohnheit macht, sich selbst an etwas Hilfreiches gewöhnt.

Zuerst müssen wir die verschiedenen Erklärungen über die verschiedenen Arten von Geduld anhören. Dann müssen wir über sie nachdenken, sodass wir sie verstehen und erkennen, ob sie einen Sinn ergeben. Wenn sie Sinn ergeben und wir sie verstehen, und wir darüber hinaus auch noch die Motivation haben, sie auch anzuwenden, dann werden wir auch versuchen, sie als hilfreiche Gewohnheit anzuwenden, indem wir sie immer wieder wiederholen und praktizieren.

Das tun wir, indem wir zuerst diese Punkte wiederholen. Nachdem wir das getan haben, müssen wir versuchen, die Dinge auf diese Weise zu sehen und zu empfinden. Wir müssen Situationen in unserem Geist so wahrnehmen. Dafür benutzen wir unsere Vorstellungskraft. Wir können uns eine Situation vorstellen, in der wir normalerweise wütend und aufgebracht sind. Zum Beispiel wenn jemand im Büro etwas anders macht als wir uns das vorstellen. Zuerst versuchen wir, diese Person so zu sehen, wie er oder sie ist, nämlich als ein menschliches Wesen, das glücklich sein möchte und nicht unglücklich. Auch wenn die Person ihr Bestes versucht, ist sie immer noch wie ein Kind, und weiß eigentlich nicht, was sie tut. Wenn wir versuchen, die Person so zu sehen, und versuchen, sie auch so wahrzunehmen, und wenn wir das in unserem Geist immer wiederholen, wird es uns im Büro immer leichter fallen auf eine positivere Weise zu reagieren, wenn die Person wieder beginnt, unausstehlich zu werden. Wenn wir das in Ruhe zuhause auf dem Sitzkissen üben, dann wird es uns – je mehr wir das getan haben – immer leichter fallen positiv zu reagieren. Statt des Impulses, wütend auf sie zu werden, wird ein neuer Impuls in unserem Geist auftauchen – der Impuls, geduldiger zu sein, toleranter.

Wenn wir geübt haben, die Person so zu sehen, als ob sie ein Kind wäre, und wir Geduld mit seinem schlechten Benehmen entwickeln haben, dann können wir einen Schritt weiter gehen. Wir können erkenne, dass wenn sich die Person auf diese unausstehliche Weise verhält, sie das Gesicht verliert. Also entwickeln wir Mitgefühl. Wir können uns das durch die Meditation zur Gewohnheit machen. Wenn uns das Betrachten und Wahrnehmen anderer Lebewesen mit Geduld zu einer hilfreichen Gewohnheit geworden ist, dann wird diese Gewohnheit immer mehr ein Teil von uns. Geduld wird uns zu einer natürlichen Gewohnheit, mit der wir auf schwierige Situationen reagieren können, wenn wir mit solchen konfrontiert werden. Wenn in unserem Geist ein Impuls aufkommt, sodass wir wütend werden, dann ist da ein Raum dazwischen. Wir werden den Impuls dann nicht sofort ausagieren, stattdessen werden positivere Impulse aufkommen und wir werden auf hilfreichere Weise handeln.

In buddhistischen Unterweisungen, konzentrieren wir uns meist auf das Wahrnehmen der Atmung und zählen die Atemzüge bis 21 zu Beginn jeden Vortrags. Diese Praxis ist auch sehr hilfreich, wenn wir merken, dass wir wütend werden. Das Zählen der Atemzüge schafft einen Raum, in dem wir den negativen Impuls nicht sofort ausagieren beispielsweise etwas Böses zu sagen, sondern es schafft Platz, den wir dazu nutzen können, noch einmal darüber nachzudenken, ob wir wütend und aufgebracht sein wollen. Wir denken: „Möchte ich jetzt wirklich eine Szene machen oder gibt es eine bessere Möglichkeit diese Situation zu bewältigen?“ Als Ergebnis der Meditation und des Aufbauens hilfreicher Gewohnheiten werden wir Situationen mit mehr Geduld wahrnehmen und mehr Toleranz dafür empfinden können. Uns werden mehr positive Alternativen einfallen und wir werden sie ganz natürlich auswählen, weil wir glücklich sein wollen, und weil wir wissen, dass diese alternativen Wege uns zu diesem Ergebnis führen werden.

Dafür benötigen wir Konzentration. Deshalb gibt es so viele Meditationsmethoden im Buddhismus um Konzentration zu entwickeln. Diese Methoden werden nicht nur als abstrakte Übung erlernt. Sie werden erlernt, damit wir sie nutzen und anwenden können. Wann wenden wir sie an? Wir wenden sie in verschiedenen Situationen an, immer wenn wir mit unausstehlichen Menschen oder Situationen zu tun haben. Die Methoden helfen uns, uns zu konzentrieren, unseren Geist ruhig und geduldig zu halten.

Wir halten uns jedoch nicht davor zurück, uns negativ oder destruktiv zu verhalten, indem wir uns lediglich in Selbstkontrolle und Disziplin üben. Wenn wir das tun, dann bleibt der Ärger in uns stecken. Wir spielen anderen etwas vor, zeigen der Welt lediglich eine Fassade, aber in uns brennt der Ärger wie Feuer und führt dazu, dass wir ein Magengeschwür kriegen. Auf der anderen Seite aber, wenn wir diese Methoden richtig einsetzen, dann kommt Ärger erst gar nicht auf. Es hat nichts mit einer Kontrolle des Ärgers zu tun oder ihn in sich zu behalten und zu unterdrücken. Es hat damit zu tun, die Impulse, die in unserem Geist auftauchen durch förderliche Impulse zu ersetzen. Anstatt dass in uns negative Impulse emporsteigen, mit denen wir vielleicht dahin gehend umgehen, indem wir sie in uns behalten und unterdrücken, werden nun verstärkt positive Impulse aufkommen.

Wenn wir in dieser Weise vorgehen können, dann werden wir uns – abhängig von unserer Motivation – von unseren jetzigen Problemen befreien, und die Dinge werden in Zukunft nicht schlimmer werden. Oder mit der stärksten und fortgeschrittensten Motivation, werden wir unserer Familie keine Probleme mehr bereiten, auch nicht unseren Freunden, oder den Menschen um uns herum, und wir werden fähig sein, anderen wirklich zu helfen. Wir werden dazu in der Lage sein, weil wir nicht mehr von unseren störenden Emotionen und Problemen eingeschränkt werden. So werden wir fähig, unser gesamtes Potenzial zu verwirklichen.

Zusammenfassung

Wir halten uns nicht von negativem, destruktivem Verhalten zurück, indem wir bloß Selbstbeherrschung und Disziplin üben. Wenn wir das nur mit Selbstbeherrschung und Disziplin versuchen, bleibt der Ärger in uns. Wir bauen dann nur eine starke äußere Fassade auf, aber im Innern brennt der Ärger weiter und bewirkt, dass wir Magengeschwüre bekommen. Wenn wir hingegen diese Methoden richtig anwenden, entsteht Ärger gar nicht erst. Es geht nicht darum, Ärger unter Kontrolle zu bringen und alles hinunterzuschlucken, sondern darum, die Impulse zu ersetzen, die uns in den Sinn kommen. Statt dass negative Impulse in uns aufsteigen, mit denen wir dann fertigwerden müssen, indem wir sie für uns behalten, werden dann positive Impulse aufkommen. Sobald wir dazu in der Lage sind, können wir uns - je nach unserer Motivation - von unseren jetzigen Problemen befreien und die Situation wird sich in Zukunft nicht verschlechtern. Oder wir haben überhaupt keine Probleme mehr oder wir werden – mit der stärksten und am weitesten fortgeschrittenen Motivation – weder unserer Familie nach unseren Freunden noch den Menschen in unserem Umfeld Probleme bereiten und imstande sein, anderen in größtmöglichem Maße zu helfen. Wir werden dazu fähig sein, weil wir nicht mehr von unseren störenden Emotionen und Problemen eingeschränkt werden. Dadurch werden wir in der Lage sein, all unsere Potenziale zu verwirklichen.

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