Vier Axiome zum Nachdenken über Tod und Unbeständigkeit

Wir haben festgestellt, dass Meditation ein Teil eines dreistufigen Prozesses ist, welcher beinhaltet, die Lehren zu hören, darüber nachzudenken und dann darüber zu meditieren. In der Meditation, dem dritten Schritt dieses Prozesses, geht es darum, wie wir die Lehren in unser Leben integrieren, wobei Wiederholung eine wichtige Rolle spielt. Im Grunde entwickeln wir dabei den förderlichen Geisteszustand, den wir erlangen wollen, mittels Wiederholung, sodass er zur Gewohnheit wird.

Wir hören die Lehren und entwickeln dadurch ein unterscheidendes Gewahrsein, mit dem wir erkennen können, dass es sich um eine Lehre Buddhas handelt, und uns in Bezug darauf Gewissheit verschaffen können. Wir haben auch gesehen, dass wir zunächst einmal auf der Grundlage vorläufiger Annahmen mit den Lehren umgehen. Wir verstehen nicht notwendigerweise alles davon, aber aufgrund unserer Motivation und unseres Interesses nehmen wir vorläufig an, dass sie wahr seien, solange wir nicht das Gegenteil nachweisen können. Wenn wir feststellen, dass etwas nicht wahr ist, können wir es getrost vergessen. Doch es ist wichtig, zumindest aufgeschlossen gegenüber der Annahme zu sein, dass etwas wahr sein könnte, und sich zu entschließen, herauszufinden, ob es wirklich stimmt. Außerdem müssen wir annehmen, dass es etwas nützt, so ähnlich wie im Fall von Vitaminen. Wir würden ja auch kein Gift nehmen und denken: „Ich will das mal ausprobieren, um herauszufinden, ob es mich wirklich umbringt“. Vitamine hingegen halten wir für gesund. Ähnlich nehmen wir also an, dass die Lehren von Nutzen sind, denn viele Menschen haben dies glaubwürdig vertreten, und wir können versuchen, uns selbst davon zu überzeugen.

Wenn wir über die Lehren nachdenken, untersuchen wir sie, um zu dem Ergebnis eines Gedankenprozesses zu gelangen, das als „unterscheidendes Gewahrsein, das aus dem Nachdenken hervorgeht“ bezeichnet wird. An dem Punkt sind wir vollkommen zu der Überzeugung gelangt, dass wir die Lehre verstanden haben, dass das, was Buddha lehrte, wahr ist, dass es tatsächlich von Nutzen ist, und dass das, was wir damit erreichen wollen, auch wirklich erreichbar ist. Wenn man einen der genannten Schritte auslässt, wie zahlreiche Menschen es tun, kommt es irgendwann dazu, dass sich „unentschlossenes Schwanken“ einstellt. Mit anderen Worten: Es stellen sich Zweifel ein und man wird unsicher, ob das alles denn überhaupt möglich ist. Und dann gibt man auf.

Was ist Befreiung?

Wenn wir etwas von Befreiung und Erleuchtung lesen und von den Methoden, wie man diese erlangt, ist es wichtig, korrekt zu verstehen, was es eigentlich bedeutet, befreit zu sein. Was bedeutet es überhaupt, Erleuchtung zu erlangen? Und was geschieht anschließend? In den Lehren heißt es, dass ein Buddha allwissend sei, d.h. ausnahmslos alles korrekt und gleichzeitig erkennt. Einem Buddha liegt das Wohl eines jeden Lebewesens gleichermaßen am Herzen und er kann mit einem jeden auf vollkommene Weise kommunizieren. Ein Buddha hilft also jedem auf bestmögliche Weise.

Ist das möglich oder ist das nur ein Märchen? Wenn wir meinen, das wäre lächerlich, warum sollten wir dann versuchen, es zu erreichen? Wenn wir es für ein Märchen halten, glauben wir ja offensichtlich nicht wirklich, dass es möglich ist, so etwas zu erreichen. Wir müssen die Ziele, von denen im Buddhismus die Rede ist, kritisch untersuchen und unsere eigene Motivation überprüfen.

Was ist unser Ziel?

Das Wort „Motivation“ hat im Buddhismus eine besondere Bedeutung. Oft heißt es: „Bestärke deine Motivation“ oder „Rufe dir deine Motivation in den Sinn“. Dabei geht es um zwei Aspekte: zum einen um das Ziel, das wir haben, und zum anderen um die Emotion bzw. das Gefühl, das die Antriebskraft dafür liefert, dieses Ziel zu erreichen. Im Englischen bezieht sich das Wort „motivation“ hauptsächlich auf den zweiten Aspekt, die Emotion, die uns dazu veranlasst, etwas zu tun.

Ich denke, viele Menschen merken, wenn sie ehrlich sind, dass sie die buddhistischen Lehren, den „Dharma“, vor allem mit dem Ziel anwenden, dieses Leben ein bisschen leichter und glücklicher zu machen. Das ist durchaus in Ordnung. Es ist eher das, was ich „Dharma light“ nenne als „echter Dharma“. Es ist ein erster Schritt. Echter Dharma beinhaltet, auf bessere Wiedergeburten hinzuarbeiten, also im Wesentlichen zu versuchen, immer wieder ein kostbares menschliches Leben zu erlangen. Aber wenn man nicht an Wiedergeburt glaubt, wie kann man dann aufrichtig danach streben, dass die nächste gut sein wird? Um Wiedergeburt zu verstehen, müssen wir verstehen, was wiedergeboren wird, was die Natur der Kontinuität des Geistes und was die Natur des Selbst ist - und noch einiges mehr. Eine gute Wiedergeburt anzustreben ist eigentlich nichts speziell Buddhistisches. Auch in anderen Religionen ist das der Fall; im Christentum möchte man nach dem Tod in den Himmel kommen, also eine himmlische Existenz annehmen.

Das nächsthöhere Ziel ist, Befreiung von zwanghaft auftretenden Wiedergeburten zu erlangen. Das ist auch das Ziel hinduistischer Religionen. Wichtig ist also, zu verstehen, was im Buddhismus eigentlich unter Befreiung verstanden wird und mit welchen Methoden man dies erreicht. Das höchste Ziel ist, den erleuchteten Zustand eines Buddha zu erlangen; das ist eine Besonderheit, die es nur im Buddhismus gibt.

Schritt für Schritt

Wenn wir die buddhistischen Lehren genauer betrachten, wird erkennbar, dass sie in Stufen aufgebaut sind. Die Einsichten bauen aufeinander auf und es ist wichtig, das zu berücksichtigen. Wenn man einfach sagt „Ich will ein Buddha werden, um allen Lebewesen helfen zu können“, ohne eine entsprechende Grundlage dafür zu haben, sind das nur Worte ohne Bedeutung. Geht es uns wirklich darum, jedem Lebewesen auf der ganzen Welt einschließlich sämtlicher Insekten zu Befreiung und Erleuchtung zu verhelfen? Wahrscheinlich nicht. Es erfordert eine fast unvorstellbare Ausweitung des Geistes, so etwas tatsächlich anzustreben und es aufrichtig zu meinen, und deshalb ist es notwendig, sich einer solchen Einstellung schrittweise anzunähern. Dabei untersuchen wir jede der Lehren anhand von vier Kriterien, die ich „die vier Axiome“ nenne. Es handelt sich um vier Gesichtspunkte, unter denen man etwas überprüft. Wir beginnen mit dieser Untersuchung bei den grundlegendsten Punkten des Dharma.

Als Beispiel für die Anwendung der vier Axiome können wir die Überlegungen und die Meditation über Tod und Vergänglichkeit nehmen. Möglicherweise hat es mit persönlichen Gründen zu tun, dass ich gerade dieses Beispiel wähle, denn letzte Woche ist mein bester Freund gestorben. Wie dem auch sei, die vier Axiome sind:

  • Das Axiom der Abhängigkeit: Wovon ist der Geisteszustand, den wir entwickeln wollen (in diesem Fall ein Gewahrsein des Todes), abhängig?
  • Das Axiom der Wirksamkeit: Was bewirkt dieser Geisteszustand, wenn wir ihn erreichen, und was sind die Vor- und Nachteile davon?
  • Das Axiom der Begründung durch Argumente: Wenn wir die betreffende Lehre untersuchen, um festzustellen, ob sie wahr ist, überprüfen wir: Fügt sie sich in die übrigen Lehren Buddhas ein? Ist sie logisch sinnvoll? Führt sie zu der angegebenen Wirkung, wenn wir versuchen, sie umzusetzen?
  • Das Axiom der Natur der Dinge: Ist der Tod ein Beispiel für die Natur der Dinge? Muss jeder sterben?

Wir nehmen uns also eine bestimmte Lehre vor (beispielsweise diejenige über den Tod) und untersuchen sie unter den Gesichtspunkten dieser vier Axiome. Wir nehmen uns dafür so viel Zeit, wie wir brauchen. Es gibt keine Formel, die besagt, dass man zehn Minuten für dies und zwanzig Minuten für jenes verwenden soll. Aber es empfiehlt sich, nicht zu schnell vorzugehen, denn dann ist es oft so, dass der Inhalt bedeutungslos bleibt. Es ist gut, etwas wirklich ins Bewusstsein dringen zu lassen und sich eingehend damit zu beschäftigen.

Gründliches Verständnis gewinnen

Im Grunde wollen wir Gewissheit gewinnen, dass wir das Thema auch wirklich verstehen, so dass wir nicht mehr hin- und herschwanken und uns fragen, wie es sich denn verhält. Zu diesem Zweck bedienen sich die Tibeter der pädagogischen Methode der Debatte, die dazu anregt, das eigene Verständnis in Frage zu stellen. Jeder muss daran teilnehmen; man kann also nicht einfach still hinten in der Klasse sitzen bleiben. Eine Person stellt eine Behauptung auf und der Partner in der Debatte muss die Behauptung akzeptieren oder widerlegen. Der Sinn der Sache besteht nicht darin, die korrekte Antwort zu finden, sondern Gewissheit bezüglich des eigenen Verständnisses eines Themas zu gewinnen. Das ist eine hervorragende Methode, denn andere fordern dabei unser Denken erheblich mehr heraus, als wir es selbst jemals tun könnten. Während der Debatte ist die Stimmung enorm energiegeladen, weil die Leute großen Spaß daran haben und es viel zu lachen gibt, wenn man den Gesprächspartner dazu bringt, sich zu widersprechen. Es geht sehr heiter dabei zu und alle haben ihr Vergnügen daran.

Ein weiterer Vorteil dieser Lernmethode ist, dass jeder, egal wer es ist, sich irgendwann widerspricht und etwas Dummes sagt, was viel dazu beiträgt, das Ego etwas zu dämpfen und Überheblichkeit zu verringern. Sie dient auch dazu, Schüchternheit zu überwinden - man kann nicht schüchtern bleiben, wenn man aufsteht und vor versammelter Mannschaft Behauptungen aufstellt.

Es ist nicht angebracht, die Methode der Debatte abzulehnen, weil man meint, es würde sich nur um intellektuelle Spielereien handeln, und man lieber intuitiv vorgehen und sich nur der Meditation widmen möchte. Debatte ist hilfreich für die Meditation; darin besteht ihr Zweck. Nachdem man über ein Thema debattiert hat, hat man keine Zweifel mehr und ist sich seines Verständnisses gewiss. Dann kann man meditieren, um die Erkenntnisse mit voller Überzeugung zu integrieren. Andernfalls verläuft die Meditation weniger entschieden und gefestigt. Natürlich werden Sie hier wohl nicht in aller Form miteinander debattieren, aber es ist sehr von Vorteil, über die Lehren zu diskutieren, ohne Stolz und Arroganz überhand nehmen zu lassen und ohne in Abwehr zu verfallen, weil man meint, jemand würde einen persönlich angreifen.

Zwei weitere buddhistische Fachbegriffe sind: „glauben, dass eine Tatsache wahr ist“ und „feste Überzeugung“. Es kann sein, dass wir etwas für wahr halten, was nicht stimmt; deshalb müssen wir achtgeben, dass wir bei unserer Untersuchung der Lehren nicht zu der Schlussfolgerung kommen, wir hätten ein korrektes Verständnis, ohne dass das tatsächlich der Fall ist. Feste Überzeugung ist dann erreicht, wenn wir völlige Gewissheit haben, die durch nichts zu erschüttern ist - das ist es, was es tatsächlich zu entwickeln gilt.

Weitermachen

All das kann auch zu Sturheit und Engstirnigkeit verzerrt werden. In dem Fall haben wir ein falsches Verständnis und halten so hartnäckig daran fest, dass niemand es korrigieren kann. Das wird manchmal als „falsche Ansicht“ übersetzt: Man hält an etwas fest, das nicht korrekt ist, und wird dabei so stur, dass man jedem feindselig und angriffslustig gegenübertritt, der versucht, etwas anderes zu vertreten.

Solange wir keine Buddhas sind, müssen wir versuchen, die Dinge immer tiefer zu verstehen. Deswegen heißt es immer: „Gib dich nie mit dem Ausmaß an Verständnis zufrieden, das du erreicht hast, denn du kannst immer noch tiefer vordringen, immer noch höhere Erkenntnis erlangen, bis du ein Buddha geworden sein wirst.“ Selbst wenn wir also ein korrektes Verständnis haben, ist es möglicherweise nicht das tiefgründigste Verständnis. Trijang Rinpoche, einer der Lehrer des Dalai Lama, pflegte zu sagen: „Ich habe den ‚Lam-Rim Chen-mo‘ („Die umfassende Darstellung der aufeinander folgenden Stufen des Pfades“ – ein grundlegender Text riesigen Ausmaßes) hundertmal gelesen und dabei jedes Mal ein anderes und noch tieferes Verständnis gewonnen.“ Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie man, obwohl man bereits ein korrektes Verständnis erlangt hat, immer noch tiefer gehen kann.

Meditation über den Tod

Nun wenden wir uns den vier Punkten im Zusammenhang mit der meditativen Kontemplation des Themas Tod zu, um ein Beispiel dafür zu bekommen, was sie bedeuten und wie man sie anwendet. Normalerweise würden wir dies natürlich erst tun, nachdem wir Unterweisungen zum Thema Tod und der Meditation darüber erhalten haben. In der Kontemplation über das Thema Tod gilt es sich drei grundlegende Tatsachen bewusst zu machen:

  • Es ist unvermeidlich, dass wir sterben.
  • Der Zeitpunkt des Todes ist ungewiss.
  • Zur Zeit des Todes wird uns nichts helfen außer dem Dharma.

Wir alle werden sterben, ich, du, jeder den wir kennen, und alle anderen auch. Der Tod ist unvermeidlich. Wir haben keine Ahnung, wann uns der Tod ereilen wird, und wenn wir sterben, hilft uns nichts außer den förderlichen Gewohnheiten, die wir entwickelt haben und die dadurch zu einem Bestandteil unseres geistigen Kontinuums geworden sind.

Der Tod ist unausweichlich, aber wovon ist das abhängig (Axiom der Abhängigkeit)? Wir können das auf verschiedenen Ebenen untersuchen. Erstens ist Tod davon abhängig, dass man lebt. Ohne am Leben zu sein kann man nicht sterben. Wir werden jeden Tag älter und der Körper, der früher noch ziemlich stark war, wird schwach. Tod hängt also auch davon ab, dass man einen Körper hat, der krank werden kann, von einem Auto angefahren werden kann usw.

Warum über den Tod nachdenken?

Wenn wir das Axiom der Abhängigkeit tiefer gehend untersuchen, ist es wichtig zu verstehen, dass der Meditation über den Tod die Überlegungen zu dem erstaunlichen, kostbaren menschlichen Leben vorangehen, das wir gegenwärtig haben. Wenn wir unser Leben und die Gelegenheit, uns weiterzuentwickeln, nicht wertschätzen, werden wir nicht so intensiv bedenken, dass wir es unweigerlich verlieren werden. Die meisten Menschen machen sich gar nicht bewusst: „Ich bin am Leben; ich kann meinen Körper und meinen Geist benutzen, um etwas Konstruktives zu tun“, und das Leben zerrinnt ihnen zwischen den Fingern. Sich des Todes gewahr zu sein hängt also auch davon ab, dass man sich des Lebens gewahr ist.

Wir erkennen, dass wir dieses kostbare menschliche Leben haben und frei von schlimmeren Umständen sind, die uns davon abhalten würden, uns unser Leben wirklich zunutze zu machen. Wir sind keine Kakerlaken, die jeder tottreten möchte. Wir sind nicht als irgendein kleiner Fisch zur Welt gekommen, der bei lebendigem Leibe von größeren Fischen gefressen wird. Wir sind auch nicht als Fliege zur Welt gekommen. Überlegen Sie einmal, was wir tun könnten, wenn wir das Leben einer Fliege führen würden? Nicht viel, wir würden uns unser Leben lang zwanghaft zu Müll und Kot hingezogen fühlen.

Der Zweck davon, sich des Todes gewahr zu sein (Axiom der Wirksamkeit), ist nicht, deprimiert zu werden und bei dem Gedanken stehenzubleiben: „Wie schrecklich! Ich werde mit Sicherheit sterben!“ Das ist nicht der Sinn der Sache. Diese Überlegungen dienen dazu, den Wunsch zu intensivieren, dass wir uns die Vorteile dieser kostbaren Zeit, die wir gegenwärtig zur Verfügung haben, zunutze machen, weil wir tatsächlich nie wissen, wann sie zu Ende sein wird - wie bei meinem Freund letzte Woche, der sich völlig gesund wähnte und noch gar nicht besonders alt war. Er hat weder geraucht noch Alkohol getrunken, er hatte keinen hohen Blutdruck, er hat sich viel bewegt und er hat intensiv meditiert und praktiziert. Und letzte Woche ging er eines Morgens duschen, erlitt einen Herzanfall und fiel tot um. Einfach so.

Wir haben keinerlei Gewissheit, wann wir dieses kostbare Leben verlieren werden, denn der Tod kommt oft unerwartet. Man muss nicht alt oder krank sein, um zu sterben. Der wesentliche Zweck davon, sich des Todes gewahr zu sein, besteht darin, Trägheit und die Gewohnheit zu überwinden, etwas immer weiter aufzuschieben. Mein Freund Alan, der gestorben ist, ist ein gutes Beispiel dafür. Seine Mutter war sehr alt, es ging ihr nicht gut, und ihm lag sehr daran, sie zu unterstützen, sowohl körperlich als auch finanziell. Jedes Wochenende besuchte er sie, um ihr behilflich zu sein, ihre Einkäufe zu erledigen usw. Er sprach immer davon, dass er nach ihrem Tod in Ruhestand gehen und sich zu einer einjährigen Vajrasattva-Klausur zurückziehen wolle, um seinen Geist zu reinigen. Danach hatte er noch längere Klausuren vor. Das war seine Absicht.

Er war, wie gesagt, ein intensiv Praktizierender, aber er machte nie eine Meditationsklausur, weil er für seine Mutter erreichbar sein und ihr zur Seite stehen wollte, also musste er weiterarbeiten. Sollte er weiter arbeiten, um seiner Mutter zu helfen, oder hätte er einfach, solange er noch konnte, in Klausur gehen und ihre Pflege anderen überlassen sollen? Wie würden die Dharma-Anweisungen dazu lauten? Was würden die Lehren über den Tod uns nahelegen? Es ist gut darüber nachzudenken, was man selbst in dieser Situation tun würde.

Eine Möglichkeit wäre, kürzere Klausuren zu machen und dennoch für die Mutter zu sorgen. Klausuren müssen nicht unbedingt eine Vollzeitbeschäftigung sein - wir könnten jeweils am Morgen und am Abend eine Sitzung durchführen und uns tagsüber um etwas kümmern, das notwendig ist. Es ist gut, sich eine Zeit lang in Klausur zurückzuziehen, aber die Lehren betonen auch stets, wie wichtig es ist, die Güte zu erwidern, die wir von anderen Wesen empfangen haben, insbesondere von unserer Mutter, die uns ja schließlich das Leben geschenkt hat. Wenn man sich um seine Eltern kümmert, kann man eine enorme Menge positives Potenzial aufbauen, insbesondere, wenn man dabei nicht insgeheim einen Groll hegt wie etwa: „Ich wünschte, sie wären schon tot, weil ich meine Arbeit verabscheue und endlich in Ruhestand gegen will.“ Wenn wir uns um unsere Eltern nicht zu sorgen brauchen, dann können wir natürlich die Gelegenheiten, die unser Leben bietet, so viel wie möglich nutzen.

Tibetische Lamas nehmen westliche Dharma-Schüler oft nicht besonders ernst, weil viele von uns dem Dharma gegenüber nicht wirklich die Hingabe und Verbindlichkeit empfinden, wie dies bei Tibetern der Fall ist, und sich gar nicht so recht darüber im Klaren sind, wie wertvoll die Lehren sind. Westler sehen die Bemühung darum oft recht gelassen und denken: „Heute bin ich müde, ich gehe lieber nächstes Mal zu den Unterweisungen.“ Aber wenn wir die Sache ernst nehmen würden, uns des Todes gewahr wären, diese Angelegenheiten ernst nehmen würden und dieses kostbare menschliche Leben, das wir jetzt haben, angemessen wertschätzen würden, würden wir uns keine Unterweisung entgehen lassen, ganz gleich, wie wir uns gerade fühlen.

Der Tod kommt – entspann dich!

Unser kostbares Leben wird enden, und wir wissen nicht, wann. Es kann sein, dass wir einen Herzanfall haben und unter der Dusche tot umfallen, oder dass wir von einem Bus überfahren werden. Und wir wollen unser Leben nicht verschwenden. Das Gewahrsein des Todes hilft uns, Trägheit zu überwinden, und veranlasst uns, die Möglichkeiten, die wir haben, zu nutzen. Aber dabei ist es wichtig, nicht gestresst und verkrampft zu sein. Oft sind wir so angespannt und überlastet aufgrund von ziemlich trivialen Angelegenheiten, dass wir auch im Hinblick auf den Dharma ziemlich streng und starr werden. Es ist notwendig, aufrichtig in seiner Praxis zu sein, aber auf entspannte Weise - das bedeutet jedoch nicht, träge zu sein. Wenn man förderliche Gewohnheiten entwickelt hat, werden wir auch zur Zeit des Todes weniger Probleme haben, weil wir wissen, dass diese Gewohnheiten uns helfen werden.

Auf Leben folgt logischerweise Tod

Und schließlich können wir auch durch Argumente begründen, ob diese Inhalte mit dem übereinstimmen, was Buddha lehrte (Axiom der Begründung durch Argumente). Um dies tun zu können, müssen wir normalerweise ziemlich viele Unterweisungen erhalten oder eine Menge buddhistische Bücher gelesen haben, sodass wir darüber Bescheid wissen. In vielen buddhistischen Lehren geht es um Unbeständigkeit, und somit stimmen die angeführten Aussagen über den Tod mit dem überein, was Buddha lehrte.

Sind sie logisch? Ja, wir kommen dem Tod mit jedem Tag näher. Irgendwann hat das ganze Schauspiel ein Ende. Der Tod wird mit Sicherheit kommen; keinerlei Umstände können uns davor bewahren, dass er schließlich doch eintritt. Irgendwann lässt sich unsere Lebensspanne nicht weiter verlängern und was von ihr gegenwärtig noch übrig ist, wird von Tag zu Tag, mit jeder Minute und jeder Sekunde weniger. Wenn wir das emotional auf uns einwirken lassen, hat das ziemlich tief greifende Konsequenzen, vorausgesetzt, wir können das auf eine Art und Weise zulassen, die nicht dazu führt, dass wir ausrasten, sondern es ernst nehmen, ohne dabei die Fassung zu verlieren. Auch wenn wir im Leben nicht dazu gekommen sind, uns im Dharma zu üben, müssen wir sterben. Jeder, der je gelebt hat, ist gestorben.

Die fruchtbaren Ergebnisse

Wie sieht es mit den Ergebnissen aus? Wenn wir wirklich überzeugt sind, dass der Tod kommen wird und dass wir jetzt dieses kostbare menschliche Leben zur Verfügung haben, führt das zu dem Ergebnis, dass wir unsere Trägheit überwinden und die Möglichkeiten, die wir jetzt haben, nutzen. Dass das von Vorteil ist, können wir anhand unserer eigenen Erfahrung sehen.

Im Hinblick auf das vierte Axiom, das sich auf die Natur der Dinge bezieht, können wir sagen: Ja, es ist die Natur von allem, was lebt, dass es auch stirbt. So ist es nun einmal, das ist die Realität, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als diese Tatsache zu akzeptieren.

Anhand dieses Beispiels können wir sehen, wie man die vier Axiome in Verbindung mit eigenen Erfahrungen anwendet, um die Lehren zu untersuchen. Das ist ein fortlaufender Prozess, denn man muss sich viel damit beschäftigen, um hundertprozentige Überzeugung zu gewinnen und sie in das eigene Leben zu integrieren. Auf intellektueller Ebene überzeugt zu sein ist leicht, aber es ist schwer, sich auf emotionaler Ebene von etwas zu überzeugen. Körper und Geist reagieren auch unterschiedlich - in Bezug auf den Tod meines Freundes zum Beispiel bin ich im Geist und emotional ziemlich im Reinen damit, aber körperlich fühle ich mich kraftlos und meine Energien sind erschöpft.

Trauer wirkt sich offenbar auch auf physischer Ebene aus, denn es ist sehr schwer, das Gefühl „Jeder muss sterben“ auf die körperliche Ebene durchdringen zu lassen. Und von Zeit zu Zeit wallt Trauer im Geist auf, das ist nur natürlich. Wir sind keine Buddhas, wir sind keine völlig befreiten Wesen. Wir sind noch nicht frei von all den störenden Emotionen und dem Leiden. Aber wir streben es an.

Video: Khandro Rinpoche — „Warum es wichtig ist, über den Tod nachzudenken“ 
Um die Untertitel einzublenden, klicken Sie auf das Untertitel-Symbol unten rechts im Video-Bild. Die Sprache der Untertitel kann unter „Einstellungen“ geändert werden.

Zusammenfassung

Sobald wir wirklich wissen, was Befreiung und Erleuchtung sind, können wir uns ein entsprechendes Ziel setzen. Wenn wir herausgefunden haben, was wir wirklich wollen, können wir die Schritte ausarbeiten, wie wir dort hingelangen. Die vier Axiome sind nützlich dafür, indem sie uns helfen, Gewissheit darüber zu gewinnen, was wir tun.

Wenn wir über den Tod meditieren und wahrhaftig zu dem Verständnis gelangen, dass wir alle sterben werden, aber keine Ahnung haben, wann, dann spornt uns das an, das anzugehen, worauf es wirklich ankommt. Sich des Todes gewahr zu sein bewirkt eine enorme Veränderung in uns und verhindert, dass wir in Trägheit oder Depression versinken.

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