Die Implikationen der Zufluchtnahme

Zuflucht als grundlegende Orientierung in unserem Leben

Wir haben über verschiedene Probleme gesprochen, denen wir manchmal im Buddhismus begegnen, und uns auf die Schwierigkeit konzentriert, die viele von uns oft dabei haben, die buddhistischen Lehren tatsächlich auf unser Leben zu beziehen. Ein weiterer Bereich, der dafür wichtig ist, ist das gesamte Thema der Zufluchtnahme. In den Anfangsstadien des buddhistischen Pfades gibt es viele Inhalte, die wir häufig bagatellisieren und einfach überspringen. Das Thema Zuflucht ist für viele ein solcher Inhalt. Das ist ziemlich traurig, denn wenn wir das Thema Zuflucht für etwas Triviales und Bedeutungsloses halten, berauben wir uns damit der Grundlage für jede buddhistische Praxis.

Video: Geshe Tashi Tsering — „Was ist Zuflucht?“ 
Um die Untertitel einzublenden, klicken Sie auf das Untertitel-Symbol unten rechts im Video-Bild. Die Sprache der Untertitel kann unter „Einstellungen“ geändert werden.

Zuflucht nehmen bedeutet nicht einfach, ein paar standardisierte Sätze nachzusprechen, sich eine Haarsträhne abschneiden zu lassen und vielleicht einen buddhistischen Namen zu erhalten – das ist nicht das Wesentliche dabei. Es geht dabei vielmehr um eine grundlegende Änderung der Einstellung zum Leben. Es handelt sich um einen Geisteszustand, mit dem wir aktiv eine sichere Richtung in unserem Leben einschlagen. Die Richtung ist dadurch bestimmt, dass wir versuchen, uns weiterzuentwickeln, um – wie gesagt – unsere samsarischen Lebensumstände etwas besser zu gestalten oder um Befreiung oder Erleuchtung zu erlangen, damit wir anderen so umfassend wie möglich helfen können. Zuflucht bedeutet nicht, dass wir uns verpflichten, uns einer Art von Kult gegenüber loyal zu verhalten. Mit Kult meine ich nicht nur eine organisierte Sekte, es kann auch ein Personenkult um einen bestimmten Lehrer sein. Zuflucht zu nehmen beinhaltet vielmehr eine Neuorientierung in unserem Leben, sodass wir, wenn diese Ausrichtung gefestigt und tragfähig geworden ist, wissen, was wir mit unserem Leben anfangen wollen, in welche Richtung sich unser Leben entwickelt, und spüren, was der Sinn und Zweck unseres Lebens ist. Er besteht darin, innerlich zu wachsen.

Wenn wir eine Vorstellung davon haben, wohin wir im Leben wollen – was wir im Leben tun wollen –, dann finden alle Lehren ihren Halt auf dieser Grundlage. Wir betrachten die Lehre Buddhas und sein Beispiel vor allem in dem Sinne, dass sie uns eine zuverlässige und positive Ausrichtung geben können. Es ist nicht nötig, hier lang und breit auf das Thema Zuflucht einzugehen; was aber wichtig ist, ist meines Erachtens die Einstellung, die wir darauf beruhend gegenüber den Lehren entwickeln, nämlich alle Lehren im Hinblick darauf zu betrachten, dass sie von Bedeutung dafür sind, Leiden zu verringern bzw. zu beseitigen, und dafür, anderen helfen zu können. Mit dieser Einstellung nehmen wir die Lehren ernst und vertrauen darauf, dass Buddha oder später einer seiner Schüler sie einzig aus dem Grunde gelehrt hat, uns dabei zu unterstützen, Leiden zu beseitigen und anderen besser von Nutzen sein zu können. Das ist der Sinn jeglicher Unterweisung. Wir versuchen zu verstehen, was die jeweilige Lehre beinhaltet, um uns dabei zu unterstützen, diese Ziele zu erreichen.

Den tieferliegenden Sinn ritueller Praktiken betrachten

Betrachten wir z.B. die Rituale, die wir häufig als unsere buddhistische Praxis bezeichnen. All diese Praktiken im Zusammenhang mit den verschiedenen Gottheiten – Rituale, Pujas usw. – fußen auf den Lehren Buddhas. Das heißt, ihr Zweck besteht darin, uns zu befähigen, unsere Probleme zu beseitigen und anderen zu helfen. Wie bewerkstelligen diese Praktiken das? Zuflucht genommen zu haben heißt, dass wir diese Rituale ernst nehmen und sie daraufhin untersuchen, auf welche Weise sie dazu dienen, diese Ziele zu erreichen. Wir versuchen, uns den Ritualpraktiken auf diese Weise zu nähern.

Die Antwort darauf, wie sie uns dabei unterstützen, Befreiung und Erleuchtung zu erlangen, ist vielleicht nicht so offensichtlich. Das heißt aber nur, dass es eine gewisse Herausforderung ist, sie zu finden. Wenn wir nicht die Einstellung haben, die dadurch geprägt ist, dass wir jene sichere Ausrichtung im Leben haben, dann werden all diese Ritualpraktiken für unser Leben nicht von Bedeutung sein – sie werden uns dann nicht wirklich berühren und deshalb wenig oder gar keinen Effekt auf uns haben. Wenn wir gegenüber diesen Praktiken die Haltung einnehmen, dass wir denken, sie seien bloß eine Art exotischer, orientalischer Rituale, die, wenn wir in der richtigen Stimmung dafür sind, Spaß machen, aber zu anderen Zeiten eine ziemliche Zumutung und eher eine Bürde sind, dann wird nichts dabei heraus kommen. Die Praktiken werden dann keinen positiven Effekt auf uns haben. Und das zeigt: Diesem Mangel an förderlichem Effekt liegt die Haltung zugrunde, dass wir diese Unterweisungen eigentlich nicht besonders ernst nehmen. Wir haben im Grunde nicht die Geisteshaltung der Offenheit und Achtung hinsichtlich Buddhas oder der Tatsache, dass er Praktiken lehrte, die hilfreich für uns sein könnten. Er hat nicht einfach Dinge gelehrt, die entweder unterhaltsam oder schrecklich langweilig sind und die wir aus einer Art Pflicht- oder Schuldgefühl ausüben müssen, um zu den „Guten“ zu gehören.

Diese Überlegungen gelten nicht nur für Ritualpraktiken, sondern für alles, was in den Lehren vorkommt. Wir hören manchmal in den buddhistischen Unterweisungen sehr befremdliche Dinge. Dass sie befremdlich klingen, beruht manchmal auf Übersetzungsproblemen. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass das Wort, welches verwendet wird, um bestimmte Begriffe in westliche Sprachen zu übersetzen, eine völlig unzureichende Interpretation des ursprünglichen Begriffs wiedergibt. Meine Lieblingsbeispiele dafür sind: Tugend und Untugend oder Laster, Verdienst, Sünde usw. All das entstammt der christlichen Terminologie; es handelt sich nicht um buddhistische Inhalte. All diese Begriffe kreisen um die Vorstellung von „sollen“: „Ich soll dies tun und ich soll jenes nicht tun; wenn ich dies tue, bin ich gut, und wenn ich es nicht tue, bin ich schlecht.“ Das alles hat mit einem urteilenden Hintergrund zu tun, der einen richtenden Gott beinhaltet. Das steht keineswegs im Zusammenhang mit Buddhismus.

Wenn wir in Bezug auf die Lehren Buddhas verwirrt sind und mit den Aussagen unsere Schwierigkeiten haben, ist das erste, was in Erwägung zu ziehen ist, die Überlegung, ob es sich möglicherweise um ein Übersetzungsproblem handelt. Das ist ein unbedingt notwendiger Schritt. Wie ich aber schon sagte, gibt es viele befremdliche Dinge in den Lehren, etwa die Aussagen über die Höllenbereiche oder über den Berg Meru und so etwas. Wir können sie betrachten und sagen: „Das ist dummes Zeug und mir gefällt das nicht“ oder wir können versuchen herauszufinden, welche Absicht hinter diesen Aussagen steckt, die sie vielleicht als Mittel einsetzt, um jemandem zu einer besseren Wiedergeburt, Befreiung oder Erleuchtung zu verhelfen. Wenn wir in unserem Leben die feste Ausrichtung hätten, die durch die Zufluchtnahme bestimmt ist, würden wir versuchen, den Sinn all dieser Lehren zu verstehen, und sie nicht einfach verwerfen.

Erzählen von Geschichten

Ich erinnere mich an Unterweisungen über Karma. Serkong Rinpoche erläuterte Karma oft mit klassischen Beispielen, etwa mit dem einer Person, die einen Elefanten besaß, der statt Kot Gold ausschied. Der Mensch versuchte, den Elefanten loszuwerden, weil er so große Menschenmengen anzog und so viel Aufregung verursachte, aber es gelang ihm nicht; der Elefant kam immer wieder zurück. Wenn wir als westlicher Mensch so eine Geschichte hören, ziehen wir die Augenbrauen hoch und sagen: „Ach komm, das ist doch lächerlich.“ Wir sind auch etwas peinlich berührt; wir würden unseren Eltern nicht gerne ein Buch mit unseren Studieninhalten zeigen, das solche Geschichten enthält. Sie würden dann vermutlich denken, dass wir jetzt übergeschnappt sind. Als ich diesen Punkt gegenüber Serkong Rinpoche vorbrachte, gab er eine recht interessante Antwort. Er sagte: „Wenn es Buddha darum gegangen wäre, sich eine gute Geschichte auszudenken, hätte er eine bessere Geschichte als diese erfunden.“

Wir können das, was Rinpoche sagte, auf zweierlei Weise verstehen. Eine Interpretation wäre, die Geschichte ganz wörtlich aufzufassen, und viele Menschen in traditionellen asiatischen Kulturen tun das sicher auch. Aber ich denke nicht, dass das die einzige Bedeutung ist, die wir aus Serkong Rinpoches Antwort entnehmen können. Man kann die Aussage auch so verstehen, dass die Geschichte nicht nur zu Unterhaltungszwecken gemeint ist, denn das könnte Buddha auf bessere Weise bewerkstelligen. Die Geschichte dient vielmehr der Absicht, eine Lektion zu verdeutlichen. Es gibt auch hier im Westen solche mündlichen Überlieferungen; es gibt Fabeln, Legenden, Mythen und Märchen, die sich an alle Altersgruppen richten. Aus jeder solchen Erzählung ist eine bestimmte Lehre zu entnehmen, meist über Ursache und Wirkung, und das ist eine gültige und sehr wirksame Lehrmethode. Man muss nicht nur mittels systematischer Auflistungen von Punkten lehren. Man kann auch mit Hilfe solcher Geschichten etwas vermitteln.

Auch in diesem Zusammenhang gilt: Wenn unsere Einstellung hinsichtlich Zuflucht stark ausgeprägt ist, versuchen wir beim Lesen von unglaublichen Abschnitten in den Texten - etwa: „Es gibt Millionen von Buddhas in Millionen von Buddhafeldern, und in jeder Pore eines jeden Buddha befinden sich Millionen weiterer Buddhafelder“ – zu verstehen, was der wesentliche Punkt einer solchen Aussage ist: „Es geht in diesen Schriften zweifellos darum, dass die Aussagen einen auf dem Pfad unterstützen, und nicht nur irgendeiner dummen Person helfen, die weit weg von hier lebt und dieses Zeug glauben würde. Der Sinn besteht darin, uns zu helfen, mit unseren Problemen im Leben fertigzuwerden und anderen besser von Nutzen sein zu können. Auf welche Weise wird das bewerkstelligt? Wie lautet die Lektion, die wir daraus lernen können?“ Mit dieser Einstellung fällt es erheblich leichter, all die Lehren auf uns selbst zu beziehen.

Die Teile des Puzzle zusammenfügen

Es ist sehr wichtig, die grundsätzliche Lehrmethode des Buddhismus zu verstehen. Die grundlegende Methode besteht darin, dem Schüler einige Teile eines Puzzles zu geben. Es ist dann an ihm, diese Teile zusammenzufügen. Und ein geschickter Lehrer gibt uns nicht alle Teile des Puzzles auf einmal. Wir müssen um mehr Teile bitten, um es zu vervollständigen. Wenn wir nicht danach fragen, heißt das, dass wir nicht wirklich interessiert, nicht wirklich motiviert sind. Wenn uns der Lehrer gleich noch mehr zur Verfügung gestellt hätte, wäre es bloß Verschwendung gewesen.

Die Lehren auf diese Weise zu präsentieren hilft dem Schüler, Eifer, Geduld und beharrliche Arbeit aufzubringen – lauter Faktoren, die dafür sorgen, dass die Lehren in uns auf fruchtbaren Boden fallen. Der Lehrvorgang besteht im Buddhismus nicht bloß darin, eine Kopie von einer Computerdatei anzufertigen und sie auf einen leeren Datenträger zu übertragen. Es geht nicht nur um Informationsübermittlung von Lehrer zu Schüler. Der ganze Vorgang zielt darauf ab, beim Schüler eine persönliche Entwicklung in Gang zu setzen.

Es ist folglich angebracht, sich den Lehren auf diese Weise zu nähern und nicht ungeduldig zu klagen: „Sie haben nicht alles erklärt“ oder „Das ist noch nicht ganz klar“ usw. Es geht darum, Teile des Puzzles zu sammeln und sich dann damit zu befassen, sie zusammenzusetzen, um herauszufinden: Was bedeutet das eigentlich? Wie steht das in Verbindung mit meinem Leben? Die Zufluchtnahme hilft uns, eine offene Haltung zum Lernprozess zu entwickeln. Das ist ein wesentlicher Punkt im Zusammenhang mit der Zufluchtnahme.

Vorläufige und endgültige Quellen der Zuflucht

Der andere Punkt ist folgender: Wohin wenden wir uns, wenn das Leben schwierig ist und die Dinge nicht gut laufen? Manche Menschen gehen zum Kühlschrank, wenn ihnen etwas Unangenehmes widerfährt oder wenn sie innerlich unruhig werden. Oder sie wenden sich vielleicht dem Alkohol oder anderen Drogen zu oder Sex oder Sport. Es gibt so Vieles, wozu die Menschen Zuflucht nehmen. Es ist ziemlich interessant, diesen Aspekt von Zuflucht in uns selbst zu untersuchen. Wo suchen wir Zuflucht, wenn das Leben wirklich unangenehm wird - an wen wenden wir uns dann? Wenden wir uns an einen Freund? Suchen wir Zuflucht bei einem Drink? Wir können sagen: „Aber ich sollte mich an Buddha, Dharma und Sangha wenden.“ Das kann jedoch etwas misslich werden, denn diese Einstellung artet leicht in die Haltung aus: „Lieber Gott, bitte hilf mir“ bzw. „Ach Buddha, hilf mir doch“.

In den Lehren ist von vorläufiger Zuflucht und endgültiger Zuflucht die Rede. Lasst mich ein Beispiel aus meinem eigenen Leben anführen: Wenn ich nervös oder verärgert bin, neige ich dazu, zum Kühlschrank zu gehen. Ich esse dann etwas, das ich wirklich gern mag, und gewissermaßen hilft mir das ein bisschen. Erinnert ihr euch daran, was die erste edle Wahrheit besagt: Das Leben ist hart. Es ist unerlässlich, das zumindest ein wenig zu akzeptieren. In meinem Fall weiß ich: Wenn meine Energie-Winde etwas unruhig oder unausgeglichen sind, und ich dann etwas esse, insbesondere Vollkornbrot oder so etwas, dann wirkt das beschwichtigend auf diese Energien und gibt mir etwas mehr Stabilität. Wie bei der Einnahme von Aspirin weiß ich, dass das keine endgültige Lösung meiner Probleme ist. Ich weiß das ganz genau; ich sage mir dann: „Gut, ich weiß, dass mir das nur oberflächlich helfen wird, aber ich habe auch eine tiefer gehende Richtung, in die ich mich wende und die mir hilft, mein Problem tatsächlich zu lösen.“

Natürlich müssen wir hier differenzieren. Denn wenn das einzige Kriterium darin bestünde, dass etwas uns vorläufig beim Umgang mit einem Problem hilft, könnten wir auch sagen: „Wenn ich mir Heroin spritze, dann ist das eben mein provisorisches Aspirin, und ich kenne ja die tiefer gehende Lösung.“ Doch es besteht ein großer Unterschied darin, ob man eine Tafel Schokolade isst oder Heroin spritzt. Wir müssen sicherstellen, dass eine vorläufige Maßnahme, zu der wir Zuflucht nehmen, nicht etwas ist, das uns oder anderen erheblich schadet. Es ist nicht angemessen zu meinen: „Es tut mir gut, loszuziehen und Hasen zu schießen; also gehe ich, wenn ich gereizt bin, einfach los und schieße auf etwas.“

Biblische Ethik

Hätte ich den Wunsch, Hasen zu schießen, dann käme mir auch der Gedanke: „Aber ich sollte keine Hasen schießen.“ Da kommt wieder diese Vorstellung von „ich sollte“ auf.

Vielleicht ist es hier angebracht, nicht nur kleine Pinselstriche auf den Teil des Gemäldes zu setzen, in dem es um „sollte“ und „sollte nicht“ geht, sondern etwas tiefer auf dieses Thema einzugehen.

Bei der Erörterung dieses Themas geht es um mehrere Aspekte: um Ethik und die ganze Herangehensweise an Ethik sowie auch um die Lehren über die Leerheit.

Die biblische Ethik z.B. ist ein System, welches auf einer höheren Autorität beruht, die bestimmte Regeln und Gesetze erließ, und daher beinhaltet die Ethik in einem solchen System grundsätzlich, gehorsam zu sein. Eine ethische Person in diesem Zusammenhang ist eine gehorsame Person, die diesen höheren Regeln gehorcht. Gehorchen wir den Regeln, sind wir gut. Missachten wir sie, sind wir schlecht und werden bestraft. Diese höhere Autorität steht für uns mit einer gewissen grundlegenden emotionalen Reaktion in Verbindung: Gehorchen wir dieser höheren Autorität, wird uns diese höhere Autorität mögen und belohnen. Gehorchen wir nicht, wird diese höhere Autorität uns nicht mögen, uns nicht mehr lieben und uns bestrafen. Das ist die emotionale Beschaffenheit dieser Form von Ethik.

Wir können über eine solche Autorität in Form von Gott sprechen oder in Form unserer Eltern. Wir projizieren eine solche Autorität auch auf unsere Eltern, die immer zu uns gesagt haben: „Sei ein gutes Mädchen, sei ein guter Bub, sei nicht ungezogen.“ Gehorchen wir nicht, denken wir, wir seien schlecht, und haben dann das Gefühl, dass sie uns nicht mehr mögen würden, und daher wollen wir ihnen lieber gefallen. Unser ethisches Verhalten gründet auf dem Wunsch, dieser höheren Autorität, die die Regeln festgelegt hat, zu gefallen.

Für die meisten von uns, die in Kulturen aufgewachsen sind, die der Bibel folgen, basiert daher die ganze Ethik auf „ich sollte“ und „ich sollte nicht“. Wir wollen wissen: „Was soll ich tun?“, damit wir gemocht werden, belohnt werden, und die Dinge für uns gut laufen. Auch wenn das, was ich hier erkläre, etwas vereinfacht klingt, ist es doch erstaunlich, wie sehr wir gewohnt sind, in dieser Weise zu handeln. Wenn eine neue Situation auf uns zukommt, möchten wir wissen: „Was soll ich tun?“. Wir wollen, dass uns jemand sagt, was die Vorschriften sind. Solange wir die Vorschriften kennen, wissen wir, was wir zu befolgen haben und dann ist uns wohl und behaglich zumute. Dann hat alles seine Ordnung und wir fühlen uns sicher.

Die Sache mit der Kontrolle

Dieser Punkt berührt das Thema „Kontrolle ausüben“. Wenn wir die Gesetze kennen und wissen, dass wir ihnen nur zu folgen brauchen, dann haben wir das Gefühl, dass wir die Situation einigermaßen im Griff haben. Wir haben das Gefühl, wir wissen, was wir zu erwarten haben, und die Vorschriften zu kennen, verschafft uns ein Gefühl von Sicherheit. Wenn unsere Herangehensweise an das Leben von diesem Wunsch nach Kontrolle und von dieser Haltung des Gehorsams bestimmt ist, gründen wir unser Verhalten auf das Gefühl, gut sein zu wollen und Anerkennung zu wollen.

Diese Vorgehensweise beruht sehr stark auf der Vorstellung von einem festen „Ich“ und einem festen „Du“, das die Regeln vorgibt. Auf diese Weise sind wir immer um dieses „Ich“ besorgt, das zurückgewiesen oder fallengelassen werden könnte – aus dem Garten Eden vertrieben werden könnte - wenn wir uns schlecht benehmen. Diese vorherrschenden Gedanken bezüglich eines festen „Ich“ sind mit der Angst verbunden, nicht gut genug zu sein, und mit der Sorge, dass die Dinge außer Kontrolle geraten könnten. Wir glauben, die Alternative sei, dass es zum Chaos kommt. Das hat gewisse Ähnlichkeiten mit der Angst, dass es chaotisch wird, wenn wir den Schutzwall um uns herum fallenlassen und unsere Verteidigung nicht intakt ist. Wir neigen hier im Westen dazu, dies als unser kulturelles Erbe mit uns herumzutragen: eine Haltung hinsichtlich Ethik, die auf „ich soll“ und „ich soll nicht“ gründet und Vorschriften befolgt.

Wenn wir diese Geisteshaltung haben, neigen wir dazu, die buddhistischen Lehren und Vorgehensweisen auf dieselbe Art zu betrachten. Wir betrachten dann auch die buddhistische Ethik im Sinne von Vorschriften für das, was man „tun sollte“ oder „nicht tun sollte“. „Ich soll nicht töten. Ich soll jeden Tag meine Rezitationspraxis machen. Mache ich sie nicht, bin ich ein schlechter Mensch und meine spirituellen Lehrer werden mich nicht mehr mögen. Sie werden ungehalten sein und sich von mir abwenden.“

In der Mittagspause hat jemand erwähnt, dass es manchmal sehr schwierig ist, wirklich den Anweisungen zu folgen, die unser spiritueller Lehrer uns gibt. Trotzdem wollen wir ein guter Schüler sein, wir wollen, dass wir ihm gefallen und er mit uns zufrieden ist. Statt uns nach dem zu richten, was er gelehrt hat, nehmen wir eine Art Kultmentalität an, die auf der Vorstellung beruht, dass „mein Lehrer besser ist als alle anderen“. Wir meinen, möglicherweise unbewusst, dass unserem Lehrer eine solche Einstellung gefallen könnte. Statt unserem Lehrer gegenüber loyal zu sein, indem wir die Lehre Buddhas in die Praxis umsetzen, denken wir, dass es loyal sei, ihn oder sie zu verehren. So verlagern wir die Vorstellung von „soll“ und „soll nicht“ auf die Verehrung unseres Lehrers als eine Art Idol, wie bei einem Kult. Wir tun das, weil es zu schwierig ist, dem Dharma zu folgen, den unser Lehrer uns lehrt.

Buddhistische Ethik

Die westliche Ethik ist eigentlich eine Kombination von biblischer Herangehensweise und griechisch-antikem Ansatz. In der griechischen Version werden die Vorschriften von einer Gesetzgebung der Bürger erstellt, statt von einer höheren Autorität im Himmel erlassen zu werden. Die Bürger kommen zusammen und beschließen die Gesetze zum Wohl der Gesellschaft. Dann gilt wieder: „Gehorche ihnen und dann laufen die Dinge gut; missachte sie und du kommst ins Gefängnis und wirst als schlechtes Mitglied der Gesellschaft bestraft.“

In der westlichen Gesellschaft werden biblische Ethik und staatsrechtliche zivile Ethik auf interessante Weise miteinander kombiniert, aber keine von beiden ist für die buddhistische Ethik relevant. Der zentrale Punkt der buddhistischen Ethik ist nicht, herauszufinden, was die Vorschriften sind, und die Vorstellung, dann wäre alles, was wir noch zu tun hätten, sie zu befolgen. So ist buddhistische Ethik nicht orientiert. Buddha sagte im Grunde nicht, was wir „tun sollten“ oder „nicht tun sollten“. Er sagte: „Wenn du so handelst, entsteht dieses Ergebnis. Wenn du anders handelst, ergibt sich daraus eine andere Folge.“ Mit anderen Worten: Es liegt bei uns, was wir tun. Es ist unsere Wahl, was wir tun wollen. Wenn wir damit fortfahren, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, tun wir uns weiter weh. Wenn wir aufhören, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, wird es uns besser gehen. Er sagte nicht: „Du solltest aufhören, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen.“ Er erklärte lediglich, welche Folgen es hat, wenn man es tut und wenn man es nicht tut.

Es liegt also bei jedem Einzelnen, zu unterscheiden und eine Wahl zu treffen. Wenn wir aufhören wollen zu leiden und uns Probleme zu schaffen, ist es erforderlich, dass wir unser Verhalten auf die eine oder andere Weise ändern. Wenn es uns egal ist ... gut, dann bleibt es eben dabei; dann ändert man eben nichts. Das ist keine Angelegenheit von gut oder schlecht, sondern einfach: „Willst du weiterhin leiden, dann ist das deine Entscheidung – es ist dein Vorrecht, dich so zu entscheiden. Willst du dem Leiden ein Ende setzen, ist es notwendig, dass du dein Verhalten änderst“. Das stellt nicht in Abrede, dass in der Gesellschaft bestimmte Gesetze nötig sind. Es ist immer noch nötig, Kriminelle ins Gefängnis zu bringen, damit sie nicht weiter herumlaufen und andere umbringen. Das streitet die buddhistische Ethik nicht ab.

Auf der persönlichen Ebene entwickeln wir uns weiter, indem wir „unterscheidendes Gewahrsein“ bzw. „Weisheit“ entwickeln. Es gilt zu unterscheiden, was hilfreich und was schädlich für uns und andere ist. Es ist schwieriger zu wissen, was anderen schadet, und daher liegt der Schwerpunkt der Ethik darauf, zu vermeiden, was uns schadet. Es kann z.B. sein, dass wir jemandem eine Rose schenken, um ihm eine Freude zu machen, aber möglicherweise ist er allergisch und das Geschenk ruft eher Leiden hervor. Es ist sehr schwer zu wissen, was jemand anderem wirklich helfen wird. Daher liegt die Betonung hier auf der Unterscheidung, was für uns selbst schädlich oder nützlich ist – das ist einfacher zu unterscheiden. Es geht nicht um „ich sollte dies tun oder ich sollte das nicht tun“. Doch statt das zu verstehen, wenden wir uns an unsere Lehrer oft mit dem Anliegen: „Sagen Sie mir, was ich tun soll. Wie soll ich praktizieren? Was soll ich tun?“ Das ist nicht förderlich.

Mit Angst vor Strafe umgehen

Doch auch nachdem ich diesen Aspekt des karmischen Zusammenhangs von Ursache und Wirkung erkannt habe, empfinde ich noch immer ein Gefühl von Angst, wenn ich eine schädliche Handlung begehe - ich habe Angst, dass mich dann eine Art Strafe erwartet. Ich möchte eine wirklich freie Wahl treffen können, ich möchte, dass meine Entscheidung frei von Angst ist. Ich möchte meine Wahl gerne auf eine gesunde Art treffen und nicht versuchen, mich nur aus Angst von Leid bringendem Verhalten zu befreien. Das ist kindisch und das mag ich nicht. Wie kann ich üben, diese Angst und Schuldgefühle loszuwerden?

Angst gründet sich auf dem Greifen nach einem festen „Ich“. Wir denken, es gäbe ein festes „Ich“ und wollen Bestätigung dafür, und wir fürchten Missbilligung und Strafe. Wir haben Angst. Wir können diese falsche Vorstellung entweder nur auf die Weise haben, dass sie nur auf „Ich“ bezogen ist, oder wir können sie noch weiter verkomplizieren, indem wir an eine auf feststehende Weise existente Autoritätsfigur glauben, der das feste „Ich“ gefallen möchte und von der es akzeptiert werden möchte. Das macht die Sache noch komplizierter, weil wir dann befürchten, von dieser vermeintlich feststehenden Autoritätsfigur verlassen zu werden.

Ich weiß, dass ich dem Thema dadurch nicht gerecht werde, wie ich das hier erkläre, denn man muss sich wirklich viel näher mit der Erklärung der Leerheit befassen, damit man auf diese tiefgründige buddhistische Lehre nicht so reagiert, dass man wiederum denkt: „Ich bin schlecht und ich bin dumm, weil ich das nicht verstehe“, oder ins andere Extrem fällt und meint: „Ich existiere gar nicht.“ Deshalb möchte das noch etwas näher erläutern.

Trügerische Erscheinungen

Grundsätzlich lässt der Geist Dinge auf eine Art erscheinen, die der Realität nicht entspricht. Dies geschieht automatisch. Wir alle kennen das Gefühl, als würde in unserem Kopf dauernd eine Art Stimme reden, und unser Geist lässt es erscheinen, als wäre es so. Es scheint, als gäbe es einen Autor der Aussagen dieser Stimme, die dort drinnen redet und sagt: „Was soll ich jetzt machen? Oh nein, jetzt wird das und das passieren.“ usw. So erscheint es uns und wir denken, dass dieser Autor unser „Ich“ ist, ein auf feststehende Weise existentes „Ich“.

Wenn von so genannten „trügerischen Erscheinungen“ die Rede ist, geht es um die ganz normale Art, wie uns Dinge erscheinen, so wie z.B. dies: Unser Geist lässt es so erscheinen, als ob in uns eine kleine Person wäre - „Ich“ – die an einer Art Schaltpult im Kopf sitzt. Lauter Informationen kommen über Augen und Ohren herein, und dann sagt dieses kleine Ich: „So, was soll ich jetzt machen? Vielleicht dies, vielleicht jenes … Ja, ich werde dies tun“, und dann drückt es einen Knopf, der den Körper veranlasst, dies zu sagen oder jenes zu tun.“

Diese Vorstellung von einem festen „Ich“ halten wir für wahr. Es handelt sich jedoch nur um die Art und Weise, wie der Geist die Dinge trügerisch erscheinen lässt, und das ist die Grundlage für die Angst im Zusammenhang mit diesem ganzen Phänomen, bei dem es um Gedanken geht wie: „Ich sollte dies tun“, „Was soll ich tun?“, „Ich möchte gut sein“ und „Ich möchte kein schlechter Mensch sein“. Die Wahrheit ist aber, dass es keine feste, kleine Gestalt im Kopf gibt, die dort vermeintlich die Vorgänge steuern könnte. Wo könnte sie sich befinden? Wo ist sie - diese Stimme in uns, die so besorgt darum ist, was wir tun sollen, und so viel Angst davor hat, das Falsche zu tun? Wenn wir danach greifen, dass wir als solch ein „Ich“ existieren – und das Wort „greifen“ in diesem Zusammenhang ist nicht so leicht zu verstehen –, dann entsteht in uns diese Angst.

Greifen

Lasst uns das Wort „greifen“ näher untersuchen. Das Bild, das mir dabei immer in den Sinn kommt, ist das einer Ratte, die in einem Wassertümpel zu ertrinken droht und nach allem greift, was vorbeischwimmt, also nach irgendetwas greift, was sie über Wasser halten und verhindern könnte, dass sie ertrinkt. Wenn von Greifen in diesem Sinne die Rede ist, geht es um eine verzweifelte Lage, in der wir äußerst unsicher und verwirrt sind, und deshalb nach etwas greifen, um die Situation irgendwie zu stabilisieren. Wenn wir z.B. Schwierigkeiten mit unserem Partner erleben, greifen wir nach allem, was er oder sie tut oder sagt und denken: „Ah! Das heißt, dass du mich nicht wirklich liebst“ oder „Das heißt, dass du mich überhaupt nicht liebst“.

Oder nehmen wir an, wir stecken in einer schwierigen Beziehung und die betreffende Person hat ständig etwas an uns auszusetzen und behandelt uns auf beschämende, sehr abschätzige Weise. Wir wollen das aber nicht wirklich zugeben und haben Angst, verlassen zu werden, und greifen daher nach irgendetwas, an dem wir uns festhalten können. Vielleicht haben wir Sex miteinander und halten daran fest, dass das doch zeigt, dass noch Liebe vorhanden sei – obwohl vielleicht die andere Person nur ihre eigenen Bedürfnisse im Sinn hat. Wir klammern uns an etwas, wie eine ertrinkende Ratte, weil wir Angst haben, dass wir, wenn wir loslassen, ertrinken - dass wir existenziell bedroht sind, wenn wir verlassen werden.

Das Beispiel lässt sich auf das Leben allgemein übertragen. Es ist erschreckend. Wir wissen nicht, was zu tun ist. Es ist verwirrend. Wir wollen etwas, das stabil ist, und greifen daher nach etwas, von dem wir glauben, dass wir uns dadurch stabiler und sicherer fühlen würden; etwas, das uns ein Gefühl wahrer, gefestigter Existenz verschafft. Wir klammern uns an die Stimme in unserem Kopf und denken: „Das bin ich!“ Oder wir greifen nach irgendetwas anderem – nach unserem Körper, unserem Beruf, unserem Auto, unserem Hund, nach was auch immer. Das Ganze ist ein sehr komplexer Vorgang – wir haben jetzt nicht genügend Zeit, ausführlicher darauf einzugehen. Jedenfalls ist es so, dass ein tief sitzendes Gefühl vorhanden ist - sei es bewusst oder unbewusst -, dass wir quasi ertrinken, wenn wir uns nicht an etwas klammern.

Eine ähnliche Haltung bestimmt auch unser Verhalten gegenüber Gesetzen. Wir klammern uns an das, was wir tun sollten und nicht tun sollten, weil wir das Gefühl haben, wenn wir diese Struktur nicht hätten und die Situation dadurch nicht mehr im Griff hätten, würden wir unweigerlich untergehen. Die Wahrheit ist, dass wir schwimmen können. Diese Option steht uns offen, und wir können schwimmen. Wir müssen nicht krampfhaft etwas zu fassen kriegen und uns an irgendetwas klammern. Wir können mit dem Leben auf eine sehr spontane und offene Weise umgehen. Und das Wissen, was hilfreich und was schädlich ist, ist nicht das Wissen von etwas, das als starre Sammlung von Regeln in Stein gemeißelt ist.

Verbale, mit Begriffen verbundene Gedanken

Bei einigen Leuten arbeitet der Geist begrifflich mit dem Klang von Worten. Das ist in Ordnung; so ist es eben. Das ist keine weltbewegende Sache. Obwohl es so scheint, als gäbe es da eine kleine Gestalt in uns, die die Worte spricht, ist so etwas gar nicht da. Der Klang der Worte in unserem Kopf ist einfach nur die Art, wie unser Geist funktioniert. Unser Geist arbeitet mit begrifflichen Gedanken, die für gewöhnlich mit dem Klang von Worten verbunden sind.

Wir können durchaus Entscheidungen treffen, und zwar auch beruhend darauf, dass wir in Worten denken, ohne dabei die Vorstellung von einem festen „Ich“ zu haben, das im unserem Kopf redet und sich sorgt: „Was soll ich tun?“ und so viel Angst davor hat, das Falsche zu tun. Mach es einfach. Handle im Leben einfach mittels der Unterscheidung zwischen dem, was hilfreich, und dem, was schädlich ist. Natürlich wollen wir nicht etwas tun, was Leid verursacht, aber wesentlich ist, dass wir dabei keine übersteigerte Vorstellung von uns haben und denken, dass „Ich“ für alles, was geschieht, vollständig und ganz allein verantwortlich bin. Das sind wir nicht. Wir können zu einer Situation beitragen, aber wir sind nicht der einzige Grund dafür. Wir können uns scheuen, Leid zu verursachen, aber wir brauchen nicht in Angst zu erstarren.

Wir können uns innig wünschen, anderen Lebewesen kein Leid zuzufügen, aber das ist sehr verschieden davon, Angst davor zu haben, anderen könnte Leid geschehen. Es handelt sich um eine starke Absicht: „Ich möchte kein Leid verursachen. Ich werde versuchen, anderen Lebewesen kein Leid zuzufügen. Ich will weder mir selbst noch anderen Schaden zufügen“. Da gibt es kein kleines festes „Ich“ in mir drinnen, das angesichts dessen vor Angst zittert. Bei dieser Erkenntnis müssen wir jedoch gut achtgeben, dass wir damit nicht das konventionelle „Ich“ negieren: „Ich bin hier und tue dies und möchte jenes nicht tun“ usw. „Ich möchte nicht leiden“. Das so genannte „konventionelle Ich“ existiert nur als das, worauf sich das Wort „ich“ bezieht, das einer bestimmten Grundlage, nämlich der Kontinuität von Momenten unserer persönlichen Erfahrung, zugeschrieben wird.

Kurz gesagt: Die einzige Möglichkeit, die Angst zu überwinden, besteht im Verständnis der Leerheit. Einerseits gibt es nichts zu fürchten und niemanden, der Angst zu haben bräuchte. Andererseits müssen wir darauf achten, uns nicht völlig zu negieren, so, als ob wir gar nicht existieren würden. Es ist sehr wichtig, einen Mittelweg zu gehen, der uns weder in das Extrem von Angst geraten lässt noch in das gegenteilige Extrem der Annahme: „Es ist ja egal, was ich tue, denn ich existiere ja eigentlich gar nicht.“ Wenn wir uns große Sorgen machen wie z.B.: „Was soll ich nur tun?“ und „Ich will gut sein, ich will nicht schlecht sein“ – wenn wir solche Bedrängnis empfinden, kommt es darauf an zu erkennen, dass das aus der falschen Vorstellung herrührt, es gäbe in uns ein feststehendes kleines „Ich“ - und wie ein kleines Kind jammert: „Aber was soll ich denn bloß tun?“

Buddhas Lehrmethode

Ein Beispiel für Buddhas Lehrmethode, die auf dieser Erkenntnis beruht, ist Folgendes: Als eine Mutter mit ihrem toten Kind zu ihm kam und ihn anflehte: „Erwecke mein Kind wieder zum Leben“, antwortete er: „Bring mir erst ein Senfkorn aus dem Haus einer Familie, die niemals vom Tod heimgesucht wurde, und dann können wir darüber reden.“ Die Mutter ging von Haus zu Haus und erkannte bald, dass der Tod zu jedem kommt, zu allen Familien. Sie erkannte es selbst. Auf diese Weise schaffte sie es allmählich, den Tod ihres Kindes zu verkraften. Buddha sagte nicht: „Du solltest nicht mit solchen Bitten ankommen. Es ist dumm, so etwas zu erbitten, denn jeder muss sterben. Denk doch an Vergänglichkeit und Tod. Du bist schlecht, weil du Unmögliches verlangst.“ Und er sagte auch nicht: „Ach, es ist schon in Ordnung, dass dein Kind gestorben ist, denn nun ist es im Himmel angekommen bzw. in einem Buddhaland“. Er leitete vielmehr Voraussetzungen dafür ein, dass die Mutter imstande war, den Tod ihres Kindes selbst zu verarbeiten.

Desgleichen gilt: Wenn wir die Teile des Dharma-Puzzles selbst zusammensetzen, erzeugt das in uns einen nachhaltigeren Eindruck. Wenn wir uns mit der Frage an unseren Lehrer wenden: „Was soll ich tun? Gib mir die Antwort, damit ich nicht selbst nachdenken und keine eigenen Entscheidung treffen muss, da ich fürchte, die falsche Entscheidung zu treffen“, dann untergräbt diese Art Fragestellung den ganzen Prozess spirituellen Wachstums, den wir im Buddhismus anstreben. Es ist, wie gesagt, unerlässlich, uns selbst darum zu kümmern, was wir tun, Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen und dafür, dass wir Verständnis erlangen. Sich darum zu kümmern und achtzugeben ist kein Zeichen von Angst. Für etwas zu sorgen und achtzugeben ist ein Zeichen von Umsicht und dafür, dass wir die Auswirkungen unseres Verhaltens auf uns selbst und auf andere ernst nehmen. Solche Umsicht liegt auch in der Natur von Mitgefühl, dem Wunsch, frei von Leiden zu sein. Umsichtig zu sein und sich um etwas zu kümmern bestätigt auch die Existenz des konventionellen „Ichs“ – nicht des vermeintlich festen „Ichs“ – das die Folgen der Handlungen erleben wird, für die wir uns entschieden haben.

Top