Einleitung
Ich wurde gebeten, heute Abend über die Bön-Tradition und ihre Beziehung zum Buddhismus zu sprechen. Wenn Seine Heiligkeit der Dalai Lama über die tibetischen Traditionen spricht, erwähnt er oft die fünf Traditionen Tibets: die Nyingma-, Kagyü, Sakya-, Gelug- und Bön-Tradition. Aus der Sicht Seiner Heiligkeit nimmt das Bön eine gleichwertige Stellung wie die vier tibetisch-buddhistischen Linien ein. Seine Heiligkeit hat einen sehr aufgeschlossenen Geist. Nicht jeder ist mit einer derartigen Einstellung einverstanden. Es gab und gibt immer noch sehr viele seltsame Vorstellungen über das Bön unter den buddhistischen Lehrern. Aus einer westlich-psychologischen Sicht projizieren Menschen, wenn sie sehr versuchen, die positiven Seiten ihrer Persönlichkeit zu betonen, bevor sie Dinge wirklich auf einer tiefen Ebene geklärt haben, ihre Schattenseite auf einen Feind. „Wir sind die Guten auf dem korrekten reinen Pfad und die anderen sind der Teufel.“ Leider waren in der tibetischen Geschichte die Bönpos die traditionellen Objekte dieser Projektion.. Wir werden die historischen Gründe dafür betrachten. Man muss das unbedingt innerhalb des Kontextes der Geschichte der tibetischen Politik verstehen.
Es ist einfach eine Tatsache, dass über das Bön eine Menge Negatives in der Öffentlichkeit verbreitet wurde und es in Tibet selbst ein schlechtes Image hatte. Westliche Menschen fühlen sich oft von Kontroversen angezogen, als ob etwas mit schlechtem Ruf interessanter sei. Die anderen Traditionen sind brav und langweilig. Eine gleichermaßen seltsame Idee ist es, dass das Bön exotischer als der tibetische Buddhismus sei. Einige Westler betrachten es als einen Ort, an dem sie magisches, Lobsang-Rampa-ähnliches Zeug finden können, wo man z.B. Menschen ein Loch in die Stirn bohrt, um ihr drittes Auge zu öffnen. Keines von beidem ist korrekt. Wir müssen versuchen, eine ausgewogene Perspektive zu erlangen und Bön mit Respekt betrachten, wie es Seine Heiligkeit tut. Es ist wichtig, die tibetische Geschichte zu verstehen, um zu sehen, wie sich eine negative Sicht gegenüber dem Bön entwickelt hat und wie seine Herangehensweise an spirituelle Entwicklung mit dem tibetischen Buddhismus zusammenhängt.
Die Ursprünge des Bön – Shenrab Miwo
Gemäß ihrer eigenen Tradition wurde das Bön von Shenrab Miwo gegründet, der vor dreißigtausend Jahren lebte. Das würde ihn irgendwo ihm Steinzeitalter ansiedeln. Ich glaube nicht, dass das bedeutet, dass er ein Höhlenmensch war. Eine verbreitete Weise, einer Linie großen Respekt zu erweisen, ist zu sagen, sie sei sehr alt. Die tatsächlichen Daten seiner Lebensspanne lassen sich ohnehin nicht beweisen. Shenrab Miwo lebte in Omolungring. Die Beschreibung dieses Ortes scheint eine Mischung aus Vorstellungen von Shambhala, dem Berg Meru und dem Berg Kailasch zu sein. Es ist die Beschreibung eines idealen spirituellen Landes. Man sagt, es hätte sich innerhalb eines größeren Gebiets namens Tazig befunden. Das Wort „Tazig“ findet man sowohl im Persischen als auch Arabischen für jeweils Persien oder Arabien. In anderen Zusammenhängen bezieht es sich auf einen Nomadenstamm. In der Bön-Traditition wird Tazig als westlich des Königreichs Zhang-Zhung beschrieben, das sich in Westtibet befand.
Dies lässt andeuten, dass das Bön aus Zentralasien stammt, wahrscheinlich aus einem iranischen Kulturbereich. Es ist möglich, dass Shenrab Miwo in einer alten iranischen Kultur lebte und dann nach Zhang-Zhung kam. In einigen Versionen heißt es, er hätte irgendwann zwischen dem elften bis siebten Jahrhundert v. u. Z. gelebt. Das ist auch sehr lange her und auch hier lässt sich weder das eine noch das andere beweisen. Es ist jedoch klar, dass es zur Zeit der Gründung der Yarlung-Dynastie in Zentraltibet (127 v. u. Z.) bereits etwas wie eine einheimische Tradition gab. Wir wissen nicht einmal, wie sie zu dieser Zeit genannt wurde.
Die Verbindung mit dem Iran
Die Verbindung mit dem Iran ist faszinierend. Es wurde viel darüber spekuliert. Man muss sie nicht nur unter dem Bön-Gesichtspunkt betrachten, sondern auch aus buddhistischer Sicht. Es gibt eine große Menge an gemeinsamem Material im Bön und Buddhismus. Die Bönpos sagen, die Buddhisten haben es von den Bönpos, und die Buddhisten sagen, die Bönpos haben es von den Buddhisten. Jede Seite behauptet, die Quelle zu sein. Es ist schwer, darüber zu entscheiden. Wie sollen wir es wissen?
Der Buddhismus kam sehr früh von Indien nach Afghanistan. Tatsächlich heißt es, dass zwei Schüler des Buddha selbst aus Afghanistan gekommen waren und den Buddhismus dorthin zurückbrachten. Im ersten und zweiten Jahrhundert v. u. Z. verbreitete sich der Buddhismus in den Iran selbst und bis nach Zentralasien. Buddhismus war dort verbreitet . Wenn das Bön sagt, dass Ideen, die dem, was der Buddha lehrte, sehr ähnlich sahen, aus einer persischen Region nach Westtibet kamen, lange bevor sie direkt aus Indien eintrafen, ist es gut möglich, dass sie aus einer Mischung von Buddhismus und den örtlichen iranischen Kulturvorstellungen stammten, die in dieser Gegend vorhanden waren. Die Gegend, die die logischste Quelle für iranisch-buddhistische Vorstellungen zu sein scheint, ist Khotan.
Khotan
Khotan liegt im Norden Westtibets. Wie Sie wissen, ist Tibet eine sehr hoch gelegene Hochebene mit vielen Bergen. Gehen wir weiter nach Norden zum Ende des Plateaus, stoßen wir auf eine weitere Bergkette, und dann geht es ganz hinunter bis unter Meeresspiegelniveau in eine Wüste in Ostturkestan, welches jetzt als Xinjiang-Provinz von China bezeichnet wird. Khotan lag am Fuße dieser Berge, vor dem Beginn der Wüste. Es war ein Einzugsgebiet iranischer Kultur; die Menschen kamen aus dem Iran. Es war ein enormes Zentrum des Buddhismus und des Handels. Es hatte einen bedeutenden kulturellen Einfluss auf Tibet, auch wenn die Tibeter dies herunterspielen und sagen, alles sei entweder aus Indien oder China gekommen.
Selbst die tibetische Schreibweise entsprang dem khotanesischen Alphabet. Der tibetische Kaiser Songtsen-Gampo sandte einen Minister nach Khotan, um ein Schriftsystem für die tibetische Sprache zu bekommen. Die Handelsroute nach Khotan ging durch Kashmir, und wie es der Zufall wollte, hielt sich der große Lehrer aus Khotan, den sie zu treffen hofften, gerade dort auf. So erhielten sie also ihr Schriftsystem von ihm in Kashmir, und daraus wurde die Geschichte, dass sie ein Schriftsystem aus Kashmir erhalten hatten. Natürlich stammte das khotanesiche System ursprünglich aus Indien. Entscheidend ist hier, dass es eine Menge kulturellen Kontakt mit Khotan gab.
Wir können sehen, dass die Bön-Darstellung sehr plausibel ist. Es kann sicherlich sein, dass das System aus Khotan kam. Aus diesem Blickwinkel könnten wir sagen, dass der Buddhismus aus zwei Richtungen nach Tibet kam: aus Khotan oder den iranischen Kulturen nach Westtibet und dann später aus Indien. Im ersten Falle könnte er in Form des frühen Bön gekommen sein. Es ist gut möglich, dass der Buddhismus, und besonders das Dzogchen, von beiden Seiten kam und dass beide Seiten Dinge von der anderen entlehnten. Das kommt der Wahrheit wahrscheinlich näher.
Beschreibung des Universums und des Lebens nach dem Tod
Ein Element des Bön, das dem Glauben einer iranischen Kultur entspringt, ist die Beschreibung der Entstehung des Universums. Der Buddhismus hat die Abhidharma-Belehrungen über den Berg Meru und so weiter, doch das ist nicht die einzige Erklärung. Es gibt auch die Darstellung des Kalachakra, die sich leicht unterscheidet. Die Bön-Texte enthalten auch die Abhidharma-Erklärung, genau wie man sie im Buddhismus findet; sie haben aber auch ihre eigene, einzigartige Erklärung mit bestimmten Aspekten, die recht iranisch aussehen, wie zum Beispiel den Dualismus zwischen Licht und Dunkelheit. Einige russische Gelehrte haben Ähnlichkeiten zwischen den tibetischen und altpersischen Namen für verschiedene Götter und Gestalten festgestellt. Sie weisen auf diese iranische Verbindung hin.
Was am frühen Bön recht einmalig ist, ist seine Betonung des Lebens nach dem Tod, besonders des Zwischenzustands. Wenn Könige starben, gingen sie in ein Leben nach dem Tod ein. Da sie Dinge für ihre Reise benötigten, wurden Tieropfer gemacht, eventuell sogar Menschenopfer, obgleich letzteres umstritten ist. Mit Sicherheit vergruben sie Bilder, Lebensmittel und alle Dinge, die ein Mensch auf seiner Reise nach dem Tod brauchen würde.
Es ist recht interessant zu beobachten, dass der tibetische Buddhismus diese Betonung auf den Zwischenzustand übernahm. Im indischen Buddhismus wird der Bardo zwar erwähnt, doch er wird kaum betont, wohingegen es im tibetischen Buddhismus viele Bardo-Rituale und so weiter gibt. Wir können auch in der altpersischen Kultur eine Betonung auf die Vorbereitung auf ein Leben nach dem Tod finden. Der einzige Aspekt des frühen Bön, über den wir etwas mit Gewissheit sagen können, ist, dass die Praxis der Bestattungsrituale und das, was in den Grabstätten gefunden wurde, von einem Glauben an ein Leben nach dem Tod sprechen. Alles andere ist reine Spekulation. Wir können die Grabstätten der alten Könige tatsächlich untersuchen.
Der Einfluss Zhang-Zhungs verbreitete sich in die Yarlung-Region in Zentraltibet und dauerte von den frühesten Zeiten bis zur Gründung des ersten tibetischen Imperiums durch Songsten-Gampo an. Er bildete Allianzen, indem er Prinzessinnen aus unterschiedlichen Ländern heiratete. Es ist wohlbekannt, dass er eine Prinzessin aus China und eine aus Nepal heiratete. Er heiratete jedoch auch eine Prinzessin aus Zhang-Zhung. Infolgedessen wurde der erste tibetische Kaiser von jeder dieser Kulturen beeinflusst.
Während dieser ersten Periode erreichten Tibet noch nicht die vollständigen Lehren des Buddhismus und sein Einfluss war in Wirklichkeit äußerst gering. Dennoch ließ der Kaiser an verschiedenen „Knotenpunkten“ buddhistische Tempel erbauen. Tibet wurde als eine Dämonin betrachtet, die auf dem Rücken liegt, und man dachte, Tempel auf verschiedenen Akupunkturpunkten zu bauen würde die wilden Kräfte bändigen. Dinge im Sinne von Akupunkturpunkten zu betrachten und das Unterwerfen von Dämonen und so weiter ist etwas sehr Chinesisches. Das ist die Form des Buddhismus, wie sie damals in Tibet zu finden war. Was an dieser Stelle relevant ist, ist, dass Kaiser Songtsen-Gampo bei all seiner Einführung des Buddhismus die Bön-Bestattungsrituale beibehielt, wie sie vor seiner Zeit in Yarlung praktiziert wurden. Dazu trug offensichtlich seine Zhang-Zhung-Königin bei. Die Bestattungsrituale, mit Opfergaben und so weiter, setzten sich also bis in diese frühe buddhistische Periode fort.
Die Verbannung der Bönpos
Ungefähr 760 lud Kaiser Tri Songdetsen Guru Rinpoche, Padmasambhava, aus Indien ein. Sie bauten das erste Kloster, Samye, und begannen eine monastische Tradition. Sie hatten ein Übersetzungsbüro in Samye, um Texte zu übersetzen, nicht nur aus indischen Sprachen und dem Chinesischen, sondern auch aus Zhang-Zhung, das zu dieser Zeit anscheinend bereits eine Schriftsprache besaß. Es gab zwei tibetische Schrift systeme. Das Druckschriftsystem ist das, was Kaiser Songtsen-Gampo aus Khotan erhalten hatte. Laut den Untersuchungen einiger großer Gelehrter wie Namkhai Norbu Rinpoche hatte Zhang-Zhung ein früheres Schriftsystem, das die Grundlage für die handschriftliche Form des Tibetisch wurde. In Samye übersetzten sie Bön-Texte, wahrscheinlich über Begräbnisse und so weiter, aus der Zhang-Zhung-Sprache in deren eigener Schrift ins Tibetische.
Es gab eine berühmte Debatte zwischen dem indischen und chinesischen Buddhismus in Samye. Danach wurde ein religiöses Konzil eingerichtet, und 779 wurde der Buddhismus zur Staatsreligion erklärt. Dabei waren zweifellos viele politische Erwägungen involviert. Kurz darauf, 784, gab es eine Verfolgung von Bön-Anhängern. Dies war der Punkt, an dem es böses Blut zu geben begann. Es ist wichtig, das gut zu analysieren: Was ging wirklich vor sich?
Innerhalb des kaiserlichen Hofes gab es eine pro-chinesische Fraktion, eine pro-indische Fraktion und eine ultra-konservative, fremdenfeindliche einheimische Fraktion. Kaiser Tri Songdetsens Vater hatte eine einflussreiche chinesische Königin geheiratet, und somit war die Politik des Vaters in vielerlei Hinsicht pro-chinesisch. Die konservative Fraktion hatte den Vater in einem Attentat ermordet. Ich glaube, dass dies einer der Gründe ist, warum die Chinesen die Debatte verloren. Sie konnten die Debatte ohnehin unmöglich gewinnen. Die Chinesen hatten keine Tradition des Debattierens, und sie mussten gegen die besten Debattierer Indiens antreten. Sie sprachen keine gemeinsame Sprache; in welcher Sprache debattierten sie also? Es wurde alles übersetzt. Das war offensichtlich ein politischer Zug, um die chinesische Fraktion loszuwerden. Aufgrund der Chinesen war der Vater des Kaisers getötet worden. Darüber hinaus wollte der Kaiser nun auch die ausländerfeindliche Fraktion loswerden. Die indische Fraktion stellte die geringste Bedrohung für die politische Macht des Königs dar. Daher wurde die konservative politische Fraktion ins Exil verbannt. Dies waren die Bönpos.
Etwas verwirrend ist, dass davon berichtet wird, dass die Bönpos die Bestattungsrituale am Hofe abhielten. Dies waren aber nicht die Bönpos, die ins Exil geschickt wurden. Die Bönpos, die verbannt wurden, waren die konservativen Minister und politischen Persönlichkeiten, die hinausgeworfen wurden. Interessanterweise wurden Bestattungsrituale und Opferrituale selbst nach ihrer Verbannung weiterhin am Hofe abgehalten. Zum Gedenken an ein 821 unterzeichnetes Abkommen mit China wurde eine Säule errichtet, die diese Zeremonien beschrieb. Sie brachten Tieropfer dar. Obwohl sie keine kaiserlichen Begräbnisse mehr hatten, war immer noch ein gewisser Einfluss vorhanden. Ich glaube, es ist recht wichtig zu erkennen, dass das böse Blut zwischen den Anhängern des Buddhismus und den Bönpos eigentlich eine politische Angelegenheit war; es ging nicht wirklich um Religion oder Rituale.
Die konservative Fraktion wurde in zwei Gebiete verbannt. Das eine war Yünnan, im Bereich des heutigen Südwestchina, nördlich von Birma, und das andere war Gilgit in Nordwestpakistan, ganz in der Nähe des Gebiets, aus dem Guru Rinpoche kam. Wir können daraus schließen, dass die Bönpos vielleicht einige Dzogchen-Belehrungen aus diesem Gebiet erhalten haben, wo auch Guru Rinpoche sie erhielt, und dass die Bönpos sie später nach Tibet zurückbrachten, unabhängig von Guru Rinpoche. Es gibt viele mögliche Erklärungen dafür, dass das Bön eine Dzogchen-Tradition besitzt, die separat ist von der buddhistischen Tradition, die von Guru Rinpoche herrührte. Es ist nicht nur die Frage, ob jemand das so behauptet und dass es daher stimmten muss. Man muss den geschichtlichen Hintergrund betrachten.
Vergrabene Schatztexte des Bön
Zur Zeit der Verbannung wurden viele der Zhang-Zhung-Texte von einem großen Meister Namens Jampa-Namka vergraben, verborgen in den Schlammmauern des Samye-Klosters. Guru Rinpoche vergrub zur gleichen Zeit Texte, weil er das Gefühl hatte, die Zeit sei noch nicht reif, die Menschen seien noch nicht weit genug entwickelt, um sie zu verstehen. Er verbarg nur Dzogchen-Texte. Die Bönpos verbargen sämtliche Bön-Lehren, einschließlich dem Dzogchen. Obgleich sowohl Bönpos als auch Nyingmapas zur gleichen Zeit Texte verbargen, waren die Gründe dafür und die Texte recht unterschiedlich.
Der nächste tibetische Kaiser, Relpachen, war ein Fanatiker. Er erließ, dass sieben Haushalte einen Mönch unterstützen mussten. Ein Großteil der Steuern wurde in die Unterstützung von Klöstern geleitet. Die Mönche im religiösen Konzil hatten ein enormes Maß an politischer Macht. Der darauf folgende Kaiser, Langdarma, wird als ein Teufel dargestellt, weil er das religiöse Konzil verfolgte und den Fluss der Steuergelder in die Klöster unterbrach. Er löste die Klöster auf, ließ die Bibliotheken jedoch bestehen. Wir wissen das, weil Atisha, als er im elften Jahrhundert nach Tibet kam, anmerkte, wie wunderbar die Büchereien seien. Langdarma unterband im Grunde die klösterlichen Institutionen, weil sie politisch zu stark wurden. Es gab also eine Zeit, in denen die Klöster verlassen waren.
Die Bön-Texte, die in Samye verborgen worden waren, wurden 913 zum ersten Mal wiederentdeckt. Einige Hirten, die sich im Kloster aufhielten, lehnten sich gegen eine Wand, worauf diese abbröckelte und einige Texte freigab. Der größte Teil der Bön-Texte wurde ungefähr ein Jahrhundert später von einem großen Bönpo-Meister namens Shenchen Luga entdeckt. 1017 stellte er sie systematisch zusammen. Es handelte sich in erster Linie um Material, das nicht dem Dzogchen angehörte und das Lehren behandelte, von denen wir sagen würden, dass sie mit dem tibetischen Buddhismus übereinstimmen. Erst danach geschah es, dass die Nyingmapas begannen, Texte in Samye und anderen Klöstern zu entdecken. Mehrere Meister fanden sowohl Bön- als auch Nyingma-Texte, häufig am selben Ort. Die Nyingma-Texte handelten meist vom Dzogchen. Wir befinden uns auf festerem historischen Boden, wenn wir die neue Phase des Bön betrachten, wobei die alte Phase die vor der Verbannung und dem Verbergen der Texte war.
Bön und tibetischer Buddhismus im Vergleich
Wir können feststellen , dass das Bön ausgesprochen viele Gemeinsamkeiten mit den tibetisch-buddhistischen Traditionen hat. Das ist der Grund, warum Seine Heiligkeit das Bön als eine der fünf Traditionen bezeichnet. Den Bönpos würde es zwar nicht gefallen, aber wir können sie als eine andere Form des tibetischen Buddhismus bezeichnen. Es hängt davon ab, wie wir den Begriff „buddhistische Tradition“ definieren. Die Terminologie ist größtenteils dieselbe. Das Bön spricht über Erleuchtung, das Erreichen der Erleuchtung, Buddhas und so weiter. Bestimmte Begriffe sind unterschiedlich, genau wie die Namen verschiedener Gottheiten, doch die grundlegenden Lehren sind vorhanden. Es gibt einige völlig triviale Unterschiede wie die Tatsache, dass sie Umrundungen gegen den Uhrzeigersinn statt im Uhrzeigersinn machen. Der zeremonielle Hut ist andersartig. Die Roben der Mönche sind identisch, außer dass ein Teil des Untergewands blau ist statt rot oder gelb.
Das Bön hat eine Tradition des Debattierens, genau wie sie die tibetisch-buddhistischen Traditionen besitzen. Die Debattentradition reicht sehr weit zurück; wir müssen uns also auch hier wieder fragen, wer damit angefangen hat. Sie war zweifellos in den indischen Klöstern schon lange vor ihrem Erscheinen in Tibet vorhanden. Sie könnte jedoch durch das Bön in die tibetisch-buddhistische Tradition gelangt sein. Auf der anderen Seite muss es nicht unbedingt der Fall sein, dass eine Seite es der anderen entnahm.
Sehr interessant ist, dass die Debattentradition der Bönpos sehr eng der Debattentradition der Gelugpas folgt. Viele der Bönpo-Mönche lassen sich sogar in den Gelug-Klöstern im Debattieren ausbilden und erhalten sogar Geshe-Abschlüsse. Das legt nahe, dass Bön, auch wenn es Dzogchen beinhaltet, in seiner Interpretation des Madhyamaka der Gelug-Auslegung näher als der Nyingma-Auslegung steht. Sonst könnten sie nicht an Gelug-Debatten teilnehmen. Die Ähnlichkeiten zwischen Bön und tibetischem Buddhismus lassen sich nicht nur in Bezug auf die Nyingma-Tradition feststellen. Es ist nicht nur eine Nyingma-Nachahmung mit anderem Namen. Die Angelegenheit ist viel komplexer.
Das Bön betont auch die verschiedenen traditionellen indischen Wissenschaften, die sie wesentlich intensiver studieren, als es in den buddhistischen Klöstern getan wird – Medizin, Astrologie, dichterisches Versmaß und so weiter. Innerhalb der buddhistischen Klöster werden diese Themen in Amdo in Osttibet viel mehr betont als in Zentraltibet.
Sowohl das Bön als auch der tibetische Buddhismus haben Klöster und monastische Gelübde. Es ist recht interessant, dass das Bön, obgleich viele der Gelübde in den beiden Traditionen gleich sind, bestimmte Gelübde hat, die man von Buddhisten erwarten würde und die diese nicht haben. So haben die Bönpos zum Beispiel ein Gelübde, sich vegetarisch zu ernähren. Die Buddhisten haben das nicht. Die Bön-Moral ist ein bisschen strikter als die buddhistische.
Bön hat ein System von Tulkus, das dasselbe ist wie das in den buddhistischen Klöstern. Sie haben Geshes. Sie haben die Prajnaparamita, den Madhyamaka, den Abhidharma und alle Sparten, die wir in buddhistischen Texten finden. Das Vokabular und die Darstellung sind manchmal etwas anders, doch die Abweichungen sind nicht dramatischer als die zwischen einer buddhistischen Linie und einer anderen. So hat das Bön zum Beispiel seine eigene Erklärung über die Entstehung der Welt, doch wir finden auch eine ganz eigene Darstellung im Kalachakra. Das ist ein allgemeines Bild. Bön ist gar nicht so absonderlich.
Tibetische Kultur und essentielle Belehrungen
Ich halte es für wichtig zu unterscheiden, welches die Aspekte sind, die der Buddhismus vom Bön übernommen hat und die somit den einheimischen tibetischen Ansatz reflektieren, so dass wir eine klarere Vorstellung davon haben, was zur tibetischen Kultur gehört und was zum essentiellen Buddhismus. Genauso ist es wichtig, die kulturellen Aspekte von den essentiellen Lehren des Bön zu unterscheiden.
Alle tibetisch-buddhistischen Traditionen haben einen auf vier Aspekten beruhenden Prozess der Heilung angenommen. Wenn jemand mit einer Krankheit kommt, wird als erstes ein Mo gemacht, eine bestimmte Art von Wahrsagung. Das entspringt dem Bön. In alten Zeiten machte man Mos nicht mit Würfeln, wie man es heutzutage oft tut, sondern mit einer Schnur mit mehreren Knoten. Das Mo zeigt an, ob schädliche Geister die Krankheit verursachen, und wenn das der Fall ist, welche Rituale man durchführen kann, um sie zu beschwichtigen. Als zweites zieht man die Astrologie zu Rate, um den effektivsten Zeitpunkt für die Rituale zu bestimmen. Astrologie wird anhand der chinesischen Elemente befragt – Erde, Wasser, Feuer, Metall und Holz. Als drittes werden die Rituale ausgeführt, um äußerliche schädliche Einflüsse zu beseitigen. Und danach nimmt man als viertes Medizin ein.
Die Theorie hinter den Ritualen ist im Buddhismus und im Bön leicht unterschiedlich. Aus der buddhistischen Perspektive arbeiten wir mit Karma und betrachten die äußere Situation im Grunde als ein Abbild des Karma. Ein Ritual oder eine Puja hilft uns, positives karmisches Potential zu aktivieren. Das Bön misst dem Harmonisieren der äußeren Kräfte und der inneren karmischen Situation gleichviel Bedeutung bei.
In beiden Fällen werden in diesenPujas zur Heilung Tormas benutzt , die abgemilderte Überbleibsel der alten Opferrituale sind. Die Tormas aus Gerstenmehl, die zu kleinen Tieren geformt werden und als Sündenböcke herhalten müssen, kommen zweifellos aus dem Bön. Sie werden den schädlichen Geistern gegeben: „Nehmt dies und lasst den Kranken in Ruhe“.
Das ganze Thema der Opferrituale ist sehr interessant. Die Bönpos sagen: „Das kommt nicht von uns; das entspringt einer Tradition, die schon zuvor in Tibet vorhanden war.“ Die Buddhisten sagen: „Das kommt von den Bönpos; das hatten wir nicht.“ Offensichtlich möchten alle abstreiten, dass sie Opfer dargebracht haben, auch wenn kein Zweifel besteht, dass Opfer gemacht wurden. Milarepa erwähnt, dass sie zu seiner Zeit vorhanden waren. Selbst noch 1974, als Seine Heiligkeit der Dalai Lama zum ersten Mal in Bodhgaya die Kalachakra-Ermächtigung gab, sagte er den Leuten, die aus den Grenzregionen Tibets kamen, sehr eindringlich, sie sollten aufhören, Tieropfer darzubringen. Der Brauch der Tieropfer war also sehr lange vorhanden.
In Bönpo-Ritualen werden Bilder von verschiedenen Bardo-Gottheiten benutzt, und in vielen buddhistischen Bardo-Ritualen auch. Dies führt zurück auf die iranisch/Bönpo-Bestattungsrituale, in denen der Tote Dinge mit ins Grab gelegt bekam.
Eine weitere Sache, die vom Bön in den tibetischen Buddhismus übernommen wurde, ist das „Raum-Harmonie-Netz“, ein spinnennetzartiges Geflecht aus mehrfarbigen Fäden, die die fünf Elemente symbolisieren. Es entspringt der Idee, dass man die äußeren Elemente harmonisieren muss, bevor man an den innerlichen Elementen oder dem Karma arbeiten kann. Anhand einer Weissagung und so weiter wird ein Netz hergestellt und draußen aufgehängt. Manchmal nennt man sie Geistfänger, aber dass trifft die Sache nicht ganz. Sie sollen die Elemente ausgleichen und den Geistern sagen, sie sollen uns in Ruhe lassen. Das ist sehr tibetisch.
Das Konzept von der Lebenskraft (tib. bla), das man im Bön wie im Buddhismus findet, stammt aus der zentralasiatisch-türkischen Vorstellung von qut, der Kraft eines Berges. Wer immer über die Gegend um einen bestimmten heiligen Berg herrschte, war der Khan, der Herrscher der Türken und später der Mongolen. Der König war derjenige, der diesen Qut oder diese Lebenskraft verkörperte. Er hatte Charisma und konnte regieren.
Die Lebenskraft eines Menschen kann von schädlichen Geistern gestohlen werden. Alle tibetisch-buddhistischen Traditionen haben Pujas, um die Lebenskraft, die von schädlichen Geistern gestohlen wurde, wieder einzufangen und zurückzuholen. Sie sind verbunden mit einem Lösegeld: Hier ist ein Torma, gib mir meine Lebenskraft zurück. Woher weiß man, dass einem die Lebenskraft gestohlen wurde? Von einem westlichen Standpunkt würde man von einem Nervenzusammenbruch oder schweren Schockzustand sprechen, in dem jemand mit dem Leben nicht mehr klar kommt. Jemand, dessen Lebenskraft gestohlen wurde, ist unfähig, sein Leben in den Griff zu bekommen. Diese Lebenskraft regiert unser Leben wie der Khan das Land. Das tibetische Wort für Lebenskraft, „La“, wird auch im Wort Lama verwendet. Ein Lama ist jemand, der wirklich Lebenskraft besitzt. La wird in manchen Zusammenhängen auch als Übersetzung für weißes Bodhichitta benutzt; es ist also eine sehr starke materielle Kraft oder Essenz innerhalb des Körpers.
Dann gibt es die Kraft, die zu Reichtum führt. Ist sie stark, läuft alles gut und wir sind wohlhabend. Das tibetische Wort ist „Yang“ (tib. g.yang). „Yang“ ist auch das chinesische Wort für Schaf. Zu Losar, dem tibetischen Neujahr, isst man einen Schafskopf und formt einen Schafskopf aus Tsampa, geröstetem Gerstenmehl. Dies symbolisiert die Reichtumskraft. Dies kommt eindeutig aus alten Bön-Ritualen.
Die Idee mit den Gebetsfahnen kommt auch aus dem Bön. Sie haben die Farben der fünf Elemente und werden aufgehängt, um die äußeren Elemente in Harmonie zu bringen, so dass die Dinge im Gleichgewicht sind und wir uns der innerlichen Arbeit zuwenden können. Viele Gebetsfahnen haben ein Abbild vom Windpferd (tib. Lungta, rlung-rta), das mit dem Pferd des Glücks und Vermögens assoziiert wird. China war das erste Land, das ein Postsystem entwickelte; die Postboten ritten zu Pferde. An bestimmten Orten machten sie Station, um die Pferde zu wechseln. Diese Poststationspferde waren die Windpferde. Die chinesischen Worte sind dieselben. Die Vorstellung ist, dass das Glück auf einem Pferd herbeikommt, wie der Postbote, der Waren, Briefe, Geld und so weiter bringt. Das ist sehr tibetisch/chinesisch.
Bestimmte Aspekte der Bön-Heilung flossen in den Buddhismus, wie das Versprengen von geweihtem Wasser mit einer Feder. In allen buddhistischen Initiationsritualen gibt es eine Pfauenfeder in einer Vase. Das Verbrennen von Blättern und Zweigen des Wacholderbusches (dieses Rauchopfer wird auf tibetisch Sang genannt), wird auf der Berghöhe durchgeführt, um den herbeikommenden Besucher zu begrüßen. Es wird auch entlang der Straße gemacht, wenn Seine Heiligkeit nach Dharamsala zurückkehrt. Es hat mit dem Darbringen von Opfergaben an die örtlichen Geister zu tun.
Die Betonung von Orakeln im tibetischen Buddhismus wird oft mit Schamanismus verwechselt, doch Orakel und Schamanen sind recht verschieden. Ein Orakel ist ein Geist oder Gott, der durch ein Medium spricht. Es ist „Channeling“. Shamanen, wie man sie in Sibirien, der Türkei, Afrika und so weiter findet, sind Menschen, die in Trance gehen, in der sie in andere Bereiche reisen und mit verschiedenen Geistern sprechen, meist Geistern von Vorfahren. Diese Geister geben ihnen Antworten auf verschiedene Fragen. Wenn die Schamanen aus der Trance kommen, überbringen sie die Antwort der Vorfahren. Im Gegensatz dazu hat ein Medium normalerweise keinerlei Erinnerung an das, was das Orakel durch ihn oder sie gesagt hat. Orakel wurden mit Schützern verbunden. Das Nechung-Orakel ist auch der Schützer namens Nechung. Eine Spur von Schamanentum spiegelt sich jedoch in einer Unterteilung von Dingen in „auf, über und unter“ der Erde, das im Bön-Material weit verbreitet ist und dann in den Buddhismus gelangte.
Buddha lehrte in enormen Umfang über viele Themen. Wo immer der Buddhismus in Asien ankam, betonten die Menschen die Elemente, die mit ihrer Kultur am meisten resonierte. Im indischen Buddhismus werden reine Länder erwähnt, doch sie werden nicht betont. Die Chinesen, die die taoistische Vorstellung von einer Weiterreise in das westliche Land der Unsterblichen hatten, legten enorme Betonung auf die reinen Länder und bauten diesen Aspekt enorm aus. So kam es zum Reinen-Land-Buddhismus. Er ist eine der bedeutendsten chinesisch-buddhistischen Schulen. Gleichermaßen finden wir im indischen Buddhismus Abhandlungen über Schützer, verschiedene Geister, Opfer-Pujas usw. , doch die Tibeter erweiterten diese Elemente enorm, weil sie Teil ihrer Kultur waren.
Schlusswort
Ich glaube es ist wichtig, die Bön-Tradition mit Respekt zu behandeln. Es gibt viele Dinge, die man dem Bön oder der tibetischen Kultur zurechnen kann und die mit dem tibetischen Buddhismus nicht wirklich etwas zu tun haben. Es gibt verschiedene Elemente in den buddhistischen Lehren, die man auch im Bön finden kann. Die Debatte darüber, wer was von wem übernommen hat, ist sinnlos. Der Buddhismus und das Bön standen in gegenseitigem Kontakt, und es gibt keinen Grund, warum sie sich nicht gegenseitig beeinflusst haben sollten.
Es ist wichtig zu verstehen, dass die Gründe, warum die Bönpos zum schwarzen Schaf gemacht wurden, zum einen politische waren – ein Überbleibsel aus ihrer überaus konservativen Haltung im achten Jahrhundert. Auf der anderen Seite waren die Gründe psychologisch – Menschen, die ihre positive Seite sehr betonen, neigen dazu, ihre negative Seite auf jemand anders zu projizieren. Dieses Phänomen findet sich besonders in fundamentalistischen buddhistischen Traditionen mit Super-Guru-Hingabe und einer großen Betonung eines Schützers. Der Schützer wird das Wichtige. Die Texte sagen schreckliche Dinge über jeden, der gegen den Dharma oder gegen bewusste Tradition ist. Vernichtet unsere Feinde, trampelt sie nieder, reißt ihnen die Augen aus und so weiter. Ich glaube es ist wesentlich angemessener, dem Beispiel Seiner Heiligkeit zu folgen und zu denken, dass es fünf tibetische Traditionen gibt, von denen jede einen völlig gültigen Pfad zur Erleuchtung besitzt. Sie haben viele Dinge gemein und sprechen über das Erreichen desselben Ziels, Erleuchtung.
Innerhalb dessen, was ihnen gemein ist, gibt es bestimmte Dinge, die der tibetischen Kultur zuzuschreiben sind, und andere, die eher buddhistisch sind. Es steht uns frei zu entscheiden, welchen Aspekten wir folgen möchten. Wenn wir bestimmte Dinge aus der tibetischen Kultur akzeptieren möchten – nun gut, warum nicht. Doch das ist nicht nötig. Wenn wir die tibetischen Elemente vom essentiellen Buddhismus differenzieren können, sind wir uns wenigstens darüber klar, wem oder was wir da folgen. Wir können keine Puristen im Buddhismus sein. Selbst der indische Buddhismus stand in Übereinstimmung mit der indischen Gesellschaft. Wir können den Buddhismus nicht von der Gesellschaft trennen, in der er gelehrt wurde, doch wir können uns darüber im Klaren sein, was kulturbedingt ist und was mit den vier edlen Wahrheiten, dem Pfad zur Erleuchtung, Bodhichitta und so weiter zu tun hat.