11 Bewertung der wahrgenommenen Erscheinungen

Das Grundproblem

Die grundlegendste geistige Aktivität in jedem Augenblick unseres Erlebens ist die Erzeugung geistiger Objekte und die gleichzeitige Beschäftigung mit ihnen. Wenn jedoch das Objekt, das wir mit Spiegelgleichem Gewahrsein wahrnehmen, lediglich eine von unserem Geist geschaffene Erscheinung ist, stellt sich eine ernsthafte Frage. Wie können wir wissen, ob die von unserem Gewahrsein der Wirklichkeit gemachte Interpretation dessen, was wir sehen oder hören, wahr ist oder nicht?

Nehmen wir zum Beispiel an, wir bemerkten einen bestimmten Ausdruck im Gesicht eines Freundes und unserem Geist erschiene er so, als wäre der Freund sauer auf uns. Wie können wir wissen, dass wir richtig wahrnehmen, um mit unserem Vollendenden Ge­wahr­sein angemessen reagieren zu können? In einem Zustand von Paranoia könnte uns jemand ja durchaus als unfreundlich erscheinen, obwohl er oder sie vielleicht nur eine Magenverstimmung hat. Das kann leicht dazu führen, das wir uns selbst völlig lächerlich machen.

Die konventionelle Gültigkeit unserer Wahrnehmung beweisen

Chandrakirti, der indische buddhistische Meister des sechsten Jahrhunderts, sprach von drei Kriterien, mit denen man die Richtigkeit einer Wahrnehmung beweist. Erstens muss das, was wir wahrnehmen, in der Welt wohlbekannt sein, dem allgemeinen Kon­sens entsprechen. Ein Beispiel: Wenn Menschen aufgebracht sind und jemanden missbilligen, runzeln sie gewöhnlich die Stirn und verziehen ihren Mund. Das gilt allerdings nicht überall. In manchen Gesell­schaf­ten zeigen die Menschen ihre Missbilligung, indem sie die Au­genbrauen hochziehen und wiederholt den Laut „tz“ von sich geben. Hunde wiederum knurren. Mit dem Gewahrsein der Gleichheit müssen wir das, was wir hören oder sehen, zu den entsprechenden gesellschaftlichen Gepflogenheiten in Beziehung setzen. Darüber hinaus müssen wir das Gewahrsein der Gleichheit auch dazu nutzen, das, was wir wahrnehmen, mit dem Verhaltensmuster des Individuums zu vergleichen. Damit erkennen wir, ob unser Freund seine Missbilligung gewöhnlich auf diese Art zum Ausdruck bringt.

Zweitens darf das, was wir wahrnehmen, nicht den vom Be­wusst­sein als gültig erkannten konventionellen Fakten der Wirklichkeit widersprechen – dem Wie-die-Dinge-sind. Daher müssen wir, sogar noch bevor wir das erste Kriterium anwenden können, vielleicht näher an das Objekt herangehen oder unsere Brille aufsetzen. Wir müssen uns unmissverständlich vergewissern, dass das, was wir wahrnehmen, nicht durch die Entfernung oder geringe Sehkraft ver­fälscht ist. Wenn unser Spiegelgleiches Gewahrsein also unverfälscht ist und das, was wir sehen, zu den richtigen Mustern passt, müssen wir unsere Schlussfolgerung durch weitere Beweise erhärten. Dabei können wir uns zum Beispiel auf weitere Beobachtungen und Gespräche mit unserem Freund und seinen Angehörigen stützen.

Zorn entsteht aus einer Vielzahl von Ursachen und Umständen, etwa der emotionalen Veranlagung der Person, ihrem persönlichen, familiären und sozialen Umfeld und einem Vorfall, der als zündender Funke den Zorn entfacht. Alles, was aus Ursachen und Umständen entsteht, bringt Resultate hervor. Wenn also unser Freund zornig auf uns ist, wird er wahrscheinlich dieses oder jenes tun und auf diese oder jene Weise auf uns reagieren. So wird es ablaufen, gleichgültig ob unser Freund sich seines Zornes bewusst ist und mit uns darüber sprechen will oder nicht. Mit Spiegelgleichem Gewahrsein müssen wir nach weiteren Bestätigungen Ausschau halten und die Muster mit dem Gewahrsein der Gleichheit identifizieren.

Kurz, ob das, was wir auf der konventionellen Ebene wahrnehmen, eine bloße Einbildung ist oder nicht, entscheidet darüber, ob es ein Resultat hervorbringen kann oder nicht. Durch die zuvor beschriebenen beiden Kriterien unterscheiden wir also zwischen korrekten und verfälschten Erscheinungen und zwischen korrekter und eingebildeter Kenntnis dessen, was korrekte Erscheinungen konventionell bedeuten. Allerdings ist das noch nicht genug.

Angenommen, die Erscheinung der gerunzelten Stirn unseres Freundes ist eine korrekte Wahrnehmung und nicht durch Sehschwäche oder mangelndes Licht verfälscht. Ebenfalls angenommen, die Person gehört zu einer Gesellschaft, die Missbilligung gewöhnlich auf eben diese Art und Weise zum Ausdruck bringt. Außerdem entspricht diese Konvention auch dem normalen Verhalten unseres Freundes, wenn er sauer ist. Darüber hinaus können wir uns auf zusätzliche Beweise stützen. Unser Freund blickte uns feindselig an, als wir kamen und erwiderte unseren Gruß nicht. Unser Verständnis und unsere Beurteilung der Bedeutung unserer Wahrnehmung sind also korrekt. Unser Freund ist tatsächlich sauer auf uns und leidet nicht bloß unter einer Magenverstimmung. Nun mag uns unser Freund als wahrhaft bornierter Mensch erscheinen, der ständig sauer und zornig wird. Folglich reagieren wir vielleicht übertrieben und werden nun ebenfalls sauer. Um die Gültigkeit einer Erscheinung endgültig zu beweisen, brauchen wir also noch ein drittes Kriterium. Die von unserem Geist geschaffene Erscheinung darf zu einem Geist, der die tiefste Wahrheit der Wirklichkeit – wie die Dinge wirklich existieren – auf gültige Weise wahrnimmt, nicht im Widerspruch stehen.

Die tiefste Wahrheit der Wirklichkeit gemäß der Position der Selbst-Leerheit

Nach der Position der Selbst-Leerheit, wie sie in der Gelug-Tradition erklärt wird, ist die tiefste Wahrheit der Wirklichkeit, dass alles leer von jeder eingebildeten, unmöglichen Seinsweise existiert. Solange wir jedoch nicht die Erleuchtung erlangt haben, erschafft unser Geist unwillkürlich eine verfälschte Erscheinung der Exis­tenz­weise unseres Freundes. Dann vermengt er die Erscheinung einer Existenzweise, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt, mit einer anderen, die der Wirklichkeit entspricht. Mit anderen Wor­ten: Unser Geist erzeugt die Erscheinung einer unmöglichen Seinsweise – als wahrhaft bornierter Mensch; dann projiziert er sie auf die Erscheinung der tatsächlichen Seinsweise unseres Freundes – als einfach ein Mensch, der – aufgrund von Ursachen und Umständen – momentan sauer auf uns ist. Wenn wir dann glauben, dass unsere projizierte Fantasie der Realität entspricht und unser Freund tatsächlich auf die Art und Weise existiert, auf die ihn uns unser Geist fälschlicherweise erscheinen lässt, reagieren wir wahrscheinlich übertrieben. Daher müssen wir das dritte Kriterium anwenden, um die Da­seins­weise zu bestätigen, die wir wahrnehmen.

Diesen Punkt wollen wir noch genauer untersuchen. Wenn wir das wütende Gesicht unseres Freundes sehen, schafft unser Geist die verfälschte Erscheinung, dass er wirklich ein zorniger und bornierter Mensch ist. Unser Freund erscheint uns als jemand, der we­gen der banalsten Dinge ständig zornig wird, der ein hoffnungsloser Fall ist und sich niemals ändern wird. Es scheint nicht so, als ob wir den Ge­sichtsausdruck, den wir sehen, schlicht und richtig als momentane Verärgerung unseres Freundes beurteilen würden; und es scheint auch nicht so, dass die Tatsache, dass unser Freund eben momentan verärgert ist, alles wäre, was unsere auf den verschiedenen Gesichtsausdrücken unseres Freundes sowie auf zahlreichen Ursachen und Umständen basierende Beurteilung besagt. Stattdessen scheint es so, als ob wir auf ein unserem Freund innewohnendes Merkmal deuten könnten – zum Beispiel einen permanenten Charakterfehler -, das ihm die scheinbar konkrete Identität eines „ wahrhaft zornigen und bornierten Menschen“ verleihen würde.

Angenommen unser Freund würde tatsächlich mit einem inhärenten, auffindbaren Merkmal existieren, das ihn zu einem wahrhaft zornigen Menschen machen würde. Dieses Merkmal müsste – wenn es denn wirklich wäre – unseren Freund dauernd zornig ma­chen, für immer und ewig, unabhängig davon, was geschehen mag oder was er tut. Das wäre absurd. Gleichgültig wie zornig oder aufgebracht jemand gegenwärtig sein mag, niemand existiert inhärent auf diese Weise.

Wenn also unser verwirrter Geist eine Erscheinung unseres Freundes als inhärent unreifen Menschen erzeugt – was uns dazu provoziert, ihn dauernd mit Missbilligung, Ungeduld und Zorn zu sehen – , dann wird diese Wahrnehmung durch einen Geist, der die Selbst-Leerheit korrekt erkennt, widerlegt. Eine derartige Erscheinung hat keinerlei reale Grundlage. Obwohl unser Freund momentan sauer auf uns sein und unreif handeln mag, so existiert doch niemand mit einem permanenten Makel, der ihn, wenn er zornig ist, dazu bringt, für immer und ewig einen Groll zu hegen. Das zornige und unreife Verhalten von Menschen entsteht in Abhängigkeit von Ursachen und Umständen. Wenn wir die Variablen der Situation verändern, ändert sich auch das Verhalten der Person.

Die konventionelle und tiefste Wahrheit gemäß der Position der Ander-Leerheit

Nach der Position der Ander-Leerheit, wie sie in der Karma-Kagyü-Tradition erklärt wird, ist es der Geist des Klaren Lichts, der unsere Erfahrungen entstehen lässt. Der Inhalt jedes Erfahrungsmoments besteht aus zwei untrennbaren Aspekten: dem Wahrnehmen und dem Wahrgenommenen. Wenn verwirrte Instinkte unsere Wahrnehmung begleiten, erzeugt unser Geist „dualistische Erscheinungen“. Dieses „Erschaffen dualistischer Erscheinungen“ ist die Ursache dafür, dass der wahrnehmende Aspekt einer Erfahrung und das wahrgenommene Objekt, auf das er gerichtet ist, als zwei völlig getrennte, voneinander unabhängige Phänomene erscheinen. Es scheint, als blicke unser Geist von irgendwo „hier drinnen“ nach draußen und die wahrgenommenen Erscheinungen würden irgendwo „dort draußen“ sitzen und darauf warten, dass wir sie sehen. Ein so beschaffener Geist und derartige Phänomene sind ausschließlich Fan­tasieprodukte. Ein die konventionelle Wahrheit der Wirklichkeit korrekt wahrnehmender Geist widerlegt derartig verwirrende Er­schei­nungen.

Dualistische Erscheinungen werden ebenso von einem Geist widerlegt, der die tiefste Wahrheit der Wirklichkeit korrekt wahrnimmt, einem Geist also, der die Ander-Leerheit erkennt. Ander-Leerheit ist die subtilste Ebene der Aktivität des Klaren Lichts. Diese Aktivität ist leer von allen gröberen Ebenen, wie etwa denen, die dualistische Erscheinungen hervorbringen und an sie glauben. Es ist die tiefste Wahrheit der Wirklichkeit, dass die reine Aktivität auf dieser subtilsten Ebene bloß darin besteht, nicht-dualistische Erfahrungen hervorzubringen. Eine so geartete geistige Aktivität widerspricht allen verwirrenden Erscheinungen.

Betrachten wir noch einmal unser vorheriges Beispiel. Wenn wir unserem Freund begegnen, entsteht aus unserem Geist des Klaren Lichts eine Erscheinung des Abbilds seines Gesichts und das Sehen dieses Abbilds. Unter dem Einfluss instinktiver Verwirrung erschafft eine etwas gröbere Ebene geistiger Aktivität dann eine dualistische Erscheinung. Das Objekt und der Geist scheinen sich in dieser Erfahrung in zwei entgegengesetzte Kräfte zu teilen. Das wütende Gesicht scheint ein wahrhaft lästiges Ding „dort draußen“ zu sein, das wir, der unschuldige Beobachter „ hier drinnen“, unglücklicherweise sehen müssen. Wir identifizieren das erscheinende Objekt als konkretes „Du“ und den Geist, der es wahrnimmt, als konkretes „Ich“, wobei sich beide gegenüberstehen. Wir glauben daran, dass diese Erscheinung der Wirklichkeit entspricht und haben folglich das Ge­fühl mit unserem Freund nicht umgehen zu können. Wir halten ihn für einen wahrlich hoffnungslosen Menschen, der ständig zornig und aufgebracht ist. Außerdem bemitleiden wir uns selbst als wahrlich unschuldiges Opfer, das von diesem bornierten Menschen ständig zu Unrecht gequält wird. Empört über die ständigen Konfrontationen beschließen wir, unseren Freund niemals wiederzusehen.

Wenn wir diese Erscheinung zweier solider, entgegengesetzter Kräfte – einer „hier drinnen“ und der anderen „dort draußen“ – näher untersuchen, müssen wir einsehen, dass sie nicht mit der Wirk­lichkeit übereinstimmt. Alles, was in jenem Augenblick wirklich passierte, war das Entstehen einer Wahrnehmung – das Sehen eines Abbilds – und das Erscheinen dieses Abbilds als das zornige Gesicht unseres Freundes. Natürlich ist dieses Abbild in Abhängigkeit von unserem Freund, unserem Geist und unseren Augen entstanden. Wenn wir auf eine ausgeglichene und sensible Weise reagieren wollen, müssen wir verstehen, dass unsere Erfahrung nichts damit zu tun hat, dass ein tragischer Held dem Angriff überwältigender, gottgesandter Gewalten ausgesetzt ist. Eine derartige Sichtweise unserer Wahrnehmung wäre lediglich Einbildung.

Die gültig erfahrenen konventionellen Wahrheiten der Wirklichkeit akzeptieren

Nun wollen wir die Schlussfolgerungen erörtern, die sich aus den oben besprochenen Punkten für die Entwicklung ausgeglichener Sensibilität ergeben. Nehmen wir zum Beispiel einmal an, wir betrachteten als erstes am Morgen unser Gesicht im Spiegel und sähen uns als fett und alt, mit einem Pickel auf der Nase. Wir fühlen uns von unserer eigenen Erscheinung angewidert. Welche Möglichkeiten haben wir?

Wir müssen überprüfen, ob das, was wir sehen, stimmt. Ist es nur eingebildet? Anhand verschiedener Kriterien untersuchen wir das Spiegelbild und wie wir es bewerten. Wir machen das Licht an und betrachten uns näher im Spiegel. War es nur schlechtes Licht, das uns so fett erscheinen ließ? Haben wir einen Schatten als Teil unseres Gesichtes gesehen? Wir berühren unsere Nase. Wenn da tatsächlich ein Pickel ist, sollte er mit dem Finger fühlbar sein. Weiter überlegen wir, ob weißes Haar in unserer Gesellschaft wirklich bedeutet, dass wir alt sind – schließlich kann jemand schon mit 30 graue Haare bekommen. Mit einem Kind verglichen mögen wir alt sein, aber sind wir auch alt im Vergleich mit unserer Großmutter?

Angenommen wir entdecken, dass das, was wir im Spiegel sehen, richtig ist und nicht nur ein Hirngespinst. Dann haben wir keine an­dere Wahl: Wir müssen seine Wirklichkeit akzeptieren. Zu leugnen, was wir sehen, uns niemals wieder im Spiegel zu betrachten oder geschickt Makeup aufzulegen und unser Haar zu färben, kann nichts an der Tatsache ändern, dass wir eine korrekte Erscheinung wahrgenommen haben. Unser Gesicht ist alt, fett und wir haben einen Pickel auf der Nase. Ändert die Erscheinung unseres Gesichts nach der Morgentoilette etwas an dem, was wir als erstes am Morgen sahen?

Nachdem wir festgestellt haben, dass das, was wir sehen, nicht bloße Einbildung ist, bleibt uns nur noch eine vernünftige Möglichkeit. Ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen akzeptieren, was wir sehen. Unser Geist hat die konventionell gültige Erscheinung eines fetten, alten Gesichts mit einem Pickel auf der Nase hervorgebracht sowie die Erfahrung, es wahrheitsgetreu zu sehen. Das ist alles. Nur auf der Basis ruhiger Akzeptanz einer tatsächlichen Situation können wir sensibel mit ihr umgehen und mit Ausgeglichenheit reagieren.

Zurückweisen der Erscheinungen, die der tiefsten Wahrheit der Wirklichkeit widersprechen

Gewöhnlich lässt unser Geist keine Erscheinung unseres Gesichts entstehen, in dem es einfach bloß alt und fett ist. Er überlagert diese Erscheinung mit dem Selbstbild, dass wir wirklich fett und wirklich alt sind. Wenn wir dann unsere Erscheinung auf diese Weise im Spiegel sehen und daran glauben, reagieren wir übertrieben. Wir fühlen uns deprimiert und angewidert von uns selbst. Das Gesicht, des­sen Abbild wir da sehen, scheint nicht „unseres“ sein zu können, und wir wollen es leugnen.

Wenn aber die Person, die wir im Spiegel reflektiert sehen, nicht wir sind, wer ist es dann? Ganz gewiss ist es nicht jemand anderes. Und es ist auch nicht niemand. Notgedrungen müssen wir die Tatsache akzeptieren, dass wir auf der Basis der Erscheinung dieses alten, fetten Gesichts zugeben müssen: Das bin „Ich“. Wenn wir allerdings dieser bloßen Erscheinung eine aufgeblasene Existenzweise überstülpen und denken: „Das ist ein wahrhaft fetter, wirklich alter Mensch, wie widerlich!“, und dagegen unser „Ich“ mit der Form eines jungen Filmstars mit Sexappeal identifizieren, haben wir uns ins Reich der Fantasie verirrt. Wir identifizieren uns mit dem Menschen, der in den Spiegel schaut und Kommentare abgibt. Diesen erschreckten Menschen betrachten wir als solides „Ich“ – auf ihn bilden wir uns so viel ein, um ihn machen wir uns Sorgen und befürchten, dass er wirklich fett und alt sein könnte. Die schreckliche Gestalt dagegen, die wir im Spiegel sehen, identifizieren wir als etwas, das mit Sicherheit nicht „ Ich“ sein kann, und lehnen sie total ab.

Es fühlt sich an, als wären zwei konkrete Personen anwesend: (1) ein aufgebrachter Mensch, der in unserem Kopf sitzt, durch un­sere Augen schaut und als „Ich“ konkret existiert, und (2) eine Art fettes, altes Ding, das aus dem Spiegel herausschaut und konkret als etwas existiert, das nicht das Geringste mit „Mir“ zu tun hat. Dieses dualistische Gefühl hat keinerlei realistische Grundlage. Wir existieren nicht als Schöne, die das Biest anschaut, egal was wir denken oder empfinden mögen.

Das bedeutet nicht, dass wir zum Märtyrer werden und resignierend das Biest sein müssten. Das würde nur dazu führen, dass wir uns selbst leid täten oder unsere Gefühle unterdrücken müssten. So wie wir uns nicht mit der Schönen identifizieren, identifizieren wir uns auch nicht mit dem Biest. Schöne und Biest sind Märchenfiguren. Niemand kann jemals eine der beiden Figuren sein. Ein korrektes Verständnis der Selbst-Leerheit bestätigt diese Tatsache. Wenn wir diesen Punkt verstanden haben, lehnen wir die Erscheinungen und Empfindungen, die wir wahrnehmen, als schieren Blödsinn ab. Unsere Einsicht ist die Nadel, die den Ballon unserer Fantasien zum Platzen bringt. In der Folge vermeiden wir übertriebene Reaktionen. Das geschieht selbst dann, wenn unsere Familie oder unsere Gesellschaft uns gelehrt haben sollten, uns selbst als Schöne oder Biest zu sehen, oder wenn andere uns als solche behandelt haben. Unsere Ein­sicht in die Wirklichkeit lässt die seichte Meinung der anderen bedeutungslos werden.

Ein korrekt auf die Ander-Leerheit fokussierter Geist widerlegt ebenfalls die dualistische Erscheinung von Schönheit und Biest. Unser Geist des Klaren Lichts erzeugt bloß die Erfahrung, ein Abbild zu sehen. Wenn wir uns auf diese makellose mentale Aktivität konzentrieren, können wir die dualistische Erscheinung vom Abbild als Schöne oder Biest einerseits und seinem Sehen andererseits ablehnen. Der eingebildete Dualismus gleicht den beiden Buchdeckeln eines geöffneten Märchenbuchs. Unsere Einsicht schließt das Buch, beendet das Märchen und bringt uns zur Wirklichkeit zurück. Auch auf diese Weise hören wir schließlich auf, übertrieben zu reagieren.

Wir können diesen ganzen Prozess des Zurückweisens von Eingebildetem verstehen, wenn wir als Beispiel jemand betrachten, der als Nikolaus verkleidet ist. Sobald wir erkennen, dass der Nikolaus nur ein Mythos ist, können wir ganz leicht aufhören zu glauben, dass die Person tatsächlich das ist, was sie zu sein scheint. Indem wir uns auf die Unmöglichkeit eines realen Nikolaus konzentrieren, können wir die Person hinter der Verkleidung als die erkennen, die sie in Wirklichkeit ist. Folglich können wir uns entspannen und Spaß an der Begegnung haben. Das Aufgeben einer Illusion jedoch erfordert Wohlwollen, Verständnis und Vergebung. Wir könnten uns selbst ernsthaften Schaden zufügen, wenn wir denken, wir seien ein Idiot gewesen, und uns dann für unsere Gefühle und unser Verhalten schuldig fühlen.

Übung 11: Bewertung der wahrgenommenen Erscheinungen

Zu Beginn der ersten Übungsphase stellen wir uns vor, nach dem Abendessen sei unser Spülbecken vollgestellt. Es scheint sich eine Unmenge schmutzigen Geschirrs darin zu stapeln, aber wir wün­schen, es wäre etwas anderes. Nun stellen wir uns vor, wie wir verschiedene Kriterien anwenden, um das, was wir sehen, zu überprüfen. Zum Beispiel machen wir das Licht an und schauen, ob das Spülbecken wirklich voller dreckigem Geschirr ist oder ob es sich um Packungen mit Tiefkühlkost handelt, die dort auftauen. Nachdem wir festgestellt haben, dass es sich tatsächlich um schmutziges Geschirr handelt, müssen wir die Tatsache notgedrungen akzeptieren. Wir stellen uns vor, dass wir das schmutzige Geschirr mit ruhiger Akzeptanz betrachten, und versuchen es als das zu sehen, was es eigentlich ist – einfach nur schmutziges Geschirr, nicht mehr und nicht weniger.

Als Nächstes rufen wir uns eine solche Szene ins Gedächtnis und versuchen uns zu erinnern, wie das Geschirr ausgesehen hat und was wir empfunden haben. Das Geschirr mag uns als widerliche, schmutzige Unordnung erschienen sein und wir haben uns, während wir zögerten es abzuwaschen, vielleicht gefühlt wie eine Primadonna – zu gut, um uns die Hände schmutzig zu machen. Während wir nun an eine vergleichbare Szene denken, versuchen wir das da­mit verbundene Gefühl wieder zum Leben zu erwecken. Dann machen wir uns klar, dass wir die Situation künstlich aufblasen. Es handelt sich bloß um dreckiges Geschirr im Spülbecken und wir sind bloß ein verantwortungsbewusster Erwachsener, der es abwaschen muss. Dreckiges Geschirr ist nicht inhärent widerlich; wir sind keine Primadonna; und den Abwasch zu machen ist wirlich keine große Sache.

Wenn wir die Absurdität unserer melodramatischen Sichtweise erkennen, lehnen wir sie ab, indem wir uns vorstellen, dass die Schärfe unserer Einsicht den Ballon unserer Einbildung zum Platzen bringt. Dann versuchen wir, uns auf die Abwesenheit von irgendetwas Findbarem in uns zu konzentrieren. Ein inhärent schmutziges, widerliches Durcheinander und eine makellose Primadonna sind nicht findbar, einfach weil es sie real nicht gibt.

Wir müssen sicherstellen, dass wir unsere Fantasien tatsächlich zurückweisen und nicht einfach abtun, als würden wir unseren Fernseher auf einen anderen Kanal schalten. Wenn wir unsere Fantasien auf diese Weise einfach bloß abtun, landen wir schnell wieder beim alten Programm. Weisen wir unsere Fantasie jedoch wie im Bild des platzenden Ballons zurück, so können wir leichter aufhören sie immer wieder aufzublasen. Wir müssen das Gefühl haben, die Geschichte sei ein für allemal vorbei.

Sollten wir uns aber vorstellen, dass die Fantasie eines konkreten „Ich“ von einem stärkeren konkreten „Ich“ überwunden wird, das eine noch mächtigere konkrete Einsicht besitzt, haben wir einfach nur auf eine andere Ebene dualistischer Erscheinung und Einbildung umgeschaltet. Das Platzen des Ballons hingegen ist eine Art geistiger Aktivität, die einfach geschieht, ohne dass ein konkreter Akteur in unserem Kopf sie ausführen müsste.

Wir weisen unsere Einbildungen weiter zurück, indem wir erkennen, dass wir lediglich ein Abbild gesehen haben. Unsere Einbildung hat dieses Ereignis aufgeblasen, indem sie die dualistische Erscheinung eines scheinbar konkreten „Ich“ und scheinbar konkreten Geschirrs geschaffen und projiziert hat. Diese Wahrnehmung ist reine Fantasie. Wir erkennen dies und stellen uns vor, dass die Deckel unseres Märchenbuchs sich plötzlich schließen. Das Märchen „Primadonna begegnet widerlichem Schmutz“ ist zu Ende. Wir stellen uns vor, dass sich das Märchenbuch in unserem Geist auflöst, und versuchen uns auf die Tatsache zu konzentrieren, dass das dualistische Drama lediglich ein Produkt unserer Einbildung gewesen ist. Nachdem wir unsere Einbildung auf diese Weise aufgelöst haben, versuchen wir uns vorzustellen, wie wir ganz ruhig das Geschirr abwaschen, ohne uns selbst als Märtyrer oder Sklaven zu sehen.

Als Nächstes betrachten wir ein Foto einer Person, mit der wir zusammenleben und die häufig schmutziges Geschirr über Nacht im Spülbecken liegen lässt. Wenn wir kein Foto haben, können wir auch einfach nur an die betreffende Person denken. Falls wir allein leben, konzentrieren wir uns auf jemanden, der sich so verhalten könnte, und stellen uns vor, mit ihm oder ihr zusammenzuleben. Zuerst malen wir uns dann aus, dass wir am Morgen das Spülbecken voll mit schmutzigem Geschirr vorfinden. Bevor wir zu voreiligen Schlüs­sen kommen, überlegen wir, wer gestern Abend mit Geschirrspülen an der Reihe gewesen ist. Wenn es die Aufgabe unseres Partners gewesen ist, versuchen wir uns vorzustellen, ruhig die Tatsache zu akzeptieren, dass er oder sie den Abwasch nicht gemacht hat. Das und nichts anderes ist geschehen.

Dann untersuchen wir, wie der andere uns erscheint und wie wir uns fühlen. Die meisten von uns werden sich leicht an ein derartiges Ereignis erinnern können und vielleicht wissen wir noch, dass uns der andere als „faules Schwein“ erschienen ist und wir uns voller Selbstgerechtigkeit als überstrapaziertes Opfer fühlten, das mit dieser Nachlässigkeit nicht mehr fertig wird. Nun machen wir uns wieder bewusst: Niemand existiert als faules Schwein, das unfähig ist, jemals abzuwaschen ,oder als Opfer, das immer hinter den anderen herräumen muss. Wir erkennen, wie wir in unserer Einbildung übertreiben, und weisen das zurück, indem wir uns das Platzen des Ballons vorstellen. Wir versuchen uns auf die Abwesenheit dieser eingebildeten Gestalten in uns zu konzentrieren.

Wir verstärken unsere Absage an unsere Einbildung, indem wir erkennen, dass wir auf eine dualistische Erscheinung übertrieben reagieren. Wir stellen uns vor, wie sich das Märchenbuch „ Vom faulen Schwein und vom selbstgerechten Opfer“ schließt und sich in unseren Geist auflöst. Dann konzentrieren wir uns auf die Tatsache, dass das Märchen ein reines Produkt unserer Einbildung war. Was ist tatsächlich geschehen? Wir haben die Person gesehen und sie hat das Geschirr über Nacht liegen lassen. Sonst nichts.

Nachdem wir unsere Einbildung beseitigt haben, können wir nun vernünftig mit der Wirklichkeit der Situation umgehen. Wir stellen uns zum Beispiel vor, dass wir ruhig und geduldig darauf warten, dass die Person nach dem Frühstück abwäscht, wenn sie das normalerweise tut. Wenn wir hingegen die Person an den Abwasch erinnern oder die Hausarbeit neu verteilen müssen, dann stellen wir uns vor, dies ruhig und ohne Vorwürfe zu tun.

Nun wenden wir uns anderen störenden Szenen aus unserem persönlichen Leben zu – zu Hause, im Büro oder in unseren persönlichen Beziehungen. Wir durchlaufen den gleichen Vorgang, um die Korrektheit dessen, was wir gesehen oder gehört haben, zu beweisen und zu akzeptieren. Haben wir das, was tatsächlich geschehen ist, akzeptiert, untersuchen wir die aufgeblasenen, dualistischen Erscheinungen, die unser urteilender Geist projiziert haben mag, erkennen sie und versuchen sie aufzugeben. Dies tun wir, indem wir uns erinnern, dass es sich bei unseren Einbildungen von Unterdrückern, Opfern und so weiter schlicht um Unsinn handelt, der bloß in unserer Einbildung existiert. Wir stellen uns vor, wie die Ballons dieser Einbildungen platzen, das Märchenbuch sich schließt und sich in unseren Geist auflöst. Dann versuchen wir zu einer Sicht der Situation zurückzukehren, die der Wirklichkeit entspricht.

Die zweite Übungsphase beginnt wieder damit, dass wir mit einer Gruppe im Kreis sitzen und uns nacheinander auf jedes Mit­glied der Gruppe konzentrieren. Wir schauen sorgfältig hin, um die konventionelle Erscheinung, die wir von der Person sehen, zur Kenntnis zu nehmen – zum Beispiel könnten wir den Menschen als jemand sehen, der seine Haare färbt, als jemand, der einen Ohrring trägt und so weiter. Ohne geistige Kommentare versuchen wir das, was wir sehen, als korrekt zu akzeptieren. Dann beobachten wir, wie die Person uns erscheint und wie wir uns fühlen. Der Betreffende kann uns zum Beispiel als übertrieben eitel erscheinen, als ausgemachter Idiot, der hirnlos jede Mode mitmacht, oder als der verführerischste oder bedrohlichste Mensch der Welt. Wir selbst könnten uns wie ein selbsternannter Richter fühlen oder wie ein Schiffbrüchiger auf einer einsamen Insel, der sich nach Gesellschaft sehnt. Wir versuchen diese Bilder und Gefühle zurückzuweisen, indem wir uns den platzenden Ballon vorstellen und das Märchenbuch, das sich schließt und sich dann in unseren Geist auflöst. Dann versuchen wir, den Menschen mit Akzeptanz zu betrachten, ohne uns wegen unserer vorherigen Empfindungen dumm oder schuldig zu fühlen.

Als Nächstes wiederholen wir den Vorgang, indem wir mit der Erscheinung eines uns gegenübersitzenden Partners arbeiten. Dann gehen wir ein wenig tiefer und achten auf alle Gefühle der Nervosität oder Angst, die wir vielleicht empfinden. Besonders versuchen wir jedes Gefühl zu erkennen und zu eliminieren, das uns selbst ein scheinbar konkretes „Ich“ in unserem Kopf vorgaukelt, welches einem scheinbar konkreten „Du“ hinter den Augen des anderen gegenübersteht. Indem wir wieder die Bilder vom platzenden Ballon und vom sich schließenden und sich in unseren Geist auflösenden Märchenbuch verwenden, nehmen wir das tiefe Gefühl der Erlösung und die natürliche Wärme und Offenheit wahr, die sich aus der Auf­lösung der Einbildung ergibt.

Die dritte Übungsphase beginnt damit, dass wir uns selbst im Spiegel betrachten. Wir überprüfen wieder die Korrektheit dessen, was wir sehen, und versuchen, es zu akzeptieren, ohne irgendwelche Urteile zu fällen. Wir lassen alle Gefühle, die wir vielleicht in Richtung „die Schöne und das Biest“ haben mögen, los, indem wir uns wieder vorstellen, wie der Ballon platzt und das Märchenbuch sich schließt und auflöst. Wenn wir diese Phase zu Hause üben und über entsprechende Möglichkeiten verfügen, können wir die Übung wiederholen, während wir unsere eigene Stimme vom Tonband hören, und dann noch einmal, während wir ein Video von uns selbst betrachten.

Während des zweiten Teils dieser Phase sitzen wir still und ver­suchen festzustellen, was wir empfinden. Dann überprüfen wir die Korrektheit unserer Feststellung. Spüren wir vielleicht nur das, was wir schon vorher erwartet haben, oder ist es wirklich das, was wir tatsächlich im Augenblick fühlen? Wenn wir uns wirklich einsam oder zufrieden fühlen, ja selbst wenn wir im Augenblick wirklich überhaupt nichts fühlen, versuchen wir diese Empfindungen ohne Urteil einfach zu akzeptieren. Wenn wir korrekt spüren, dass wir uns zusätzlich selbst leid tun, uns wegen unserer Gefühle schuldig fühlen oder völlig unfähig, überhaupt irgendetwas zu empfinden, versuchen wir auch die Präsenz dieser Eindrücke zu akzeptieren. Denn sonst könnte es passieren, dass wir uns noch schuldig dafür fühlen, dass wir uns schuldig fühlen. Dennoch ver­suchen wir zu erkennen, dass wir unsere Gefühle vielleicht aufblasen oder übertreiben. Ist das der Fall, so weisen wir die aufgeblasenen Eindrücke bezüglich unserer Gefühle zurück. Wir lassen den Ballon platzen, schließen das Märchenbuch und lassen es sich auf­lösen. Dann beobachten wir, wie viel wohler wir uns danach fühlen. Wir sind nun in der Lage, wesentlich ausgeglichener mit unseren Gefühlen umzugehen.

Schließlich betrachten wir wieder die Reihen von Fotos, die uns selbst in verschiedenen Lebensphasen zeigen und wiederholen die Übung. Wir richten unsere Analyse auf die Erscheinungen, die wir sehen, und die Empfindungen, die sie auslösen, und versuchen uns selbst so anzunehmen, wie wir damals waren. Wenn wir die Gefühle, an die wir uns aus jenen Zeiten erinnern, oder die Gefühle, die wir bezüglich dieser Zeiten noch haben mögen, aufblasen, lassen wir den Ballon platzen, schließen das Märchenbuch und lassen es sich in unseren Geist auflösen. Dann betrachten wir ruhig die Fotos weiter.

Top