16 Sensible Entscheidungen treffen

Neigungen, Absichten und Notwendigkeiten

Wenn wir in einer Situation wachsam sind und irgendeine Ebene von Glück, Interesse, Mitgefühl und Bereitschaft uns einzulassen empfinden, müssen wir sensibel und angemessen reagieren. Häufig müssen wir uns zwischen drei Möglichkeiten entscheiden: Wir tun entweder das, was wir zu tun geneigt sind, das, was wir zu tun beabsichtigen oder das, was zu tun notwendig ist. Bei Entscheidungen, die auch jemand anderen betreffen, geht es zusätzlich darum, was die Person will und was sie braucht. Dabei können einige oder alle diese Wahlmöglichkeiten zusammenfallen. Häufig allerdings unterscheiden sie sich. Das, was wir selbst zu tun geneigt sind oder beabsichtigen, dem, was notwendig wäre, vorzuziehen oder das, was eine andere Person will, dem, was sie eigentlich bräuchte, ist eine Form der Unsensibilität. Wenn wir eine derartige Wahl treffen, haben wir häufig Schuldgefühle. Diese übertriebene Reaktion kommt daher, dass wir das, was wir tun müssen, dualistisch empfinden als das, was von uns erwartet wird, was wir tun sollten. Auf der einen Seite steht ein rebellisches „Ich“ und auf der anderen eine unerfreuliche Aufgabe, die wir eigentlich tun sollten, aber nicht tun. Gewöhnlich wird diese dualistische Erscheinung von moralistischen Urteilen begleitet.

Indem wir den Prozess der Entscheidungsfindung auseinandernehmen, etwa mit Hilfe des Sinnbilds vom platzenden Ballon, löst sich jede mit der Thematik des „Sollens“ zusammenhängende Spannung auf. An Stelle dessen, was wir tun sollten, lässt dieser Prozess das zurück, was getan werden muss. Aber wir wissen oft nicht, was notwendig wäre oder was ein anderer bräuchte. Um es herauszufinden, können wir uns auf unsere fünf Arten Tiefen Gewahrseins, unser Wissen, unsere Erfahrung, unsere Intuition, unser Urteils­vermö­gen und auf verlässliche äußere Informationsquellen stützen.

Selbst wenn wir wissen, was zu tun nötig ist, verspüren wir häufig nicht die Neigung oder die Absicht, es auch wirklich zu tun. Immer noch sind wir verkrampft, selbst wenn die Thematik des „ Sollens“ die Sache nicht mehr länger verkompliziert. Müssen wir unseren eigenen Wünschen und Gefühlen gegenüber unsensibel sein? Ist es eine übertriebene Reaktion, Frustration zu empfinden, wenn wir unsere Wünsche oder Gefühle ignorieren müssen?

Die Sache ist äußerst komplex. Zwischen dem, was wir zu tun geneigt sind, und dem, was wir zu tun beabsichtigen, können vier Kombinationen auftreten. Angenommen zum Beispiel wir wären übergewichtig und wüssten, dass wir eine Diät nötig hätten.

  1. Wir mögen die feste Absicht haben unsere Diät einzuhalten, aber nicht mehr die Neigung, wenn es unseren Lieblingskuchen zum Nachtisch gibt.
  2. Wir mögen die Neigung haben unsere Diät einzuhalten, aber nicht mehr die Absicht, wenn wir für ein Hotelzimmer einen hohen Preis gezahlt haben, bei dem das Frühstücksbuffet inbegriffen ist.
  3. Wir mögen sowohl die Neigung als auch die Absicht haben unsere Diät einzuhalten, wenn andere uns sagen, wie fett wir geworden sind.
  4. Wir mögen weder die Absicht haben noch geneigt sein unsere Diät einzuhalten, wenn wir über irgendetwas verärgert sind und unsere Aufgebrachtheit durch Konsum von Kuchen ersticken wollen.

In jedem dieser Fälle können wir uns entscheiden: Wir essen den Kuchen oder wir halten uns zurück. Wie treffen wir eine vernünftige Entscheidung, die wir später nicht bereuen?

Gründe für die Neigung und die Absicht etwas zu tun

Ein Verständnis des den Neigungen und Absichten zugrunde liegenden Mechanismus hilft uns, Spannung zwischen diesen beiden Bereichen und zwischen jedem von ihnen und der Notwendigkeit zum Handeln aufzulösen. Wenn wir verstehen, warum wir zwar die Neigung verspüren mögen eine Sache zu machen, aber die Absicht etwas ganz anderes zu tun, können wir diesen Faktoren auf den Grund gehen. Wenn wir das dann noch gegen die Gründe für die Notwendigkeit, etwas zu tun abwägen, können wir zu einer vernünftigen Entscheidung gelangen.

Im Abhidharma wird bei den Erklärungen zu den Geistesfaktoren und zum Karma die folgende Analyse erwähnt. Je tiefer wir sondieren, desto sensibler und aufrichtiger werden wir gegenüber den My­ri­aden Faktoren, die an schwierigen Lebensent­schei­dungen beteiligt sind. Um eines leichteren Verständnisses willen wollen wir versuchen, die Komplexität des Themas an einem relativ trivialen Beispiel, dem Essen, zu verdeutlichen. Haben wir einmal verstanden, wie tief jede Analyse gehen muss, um präzise zu sein, so werden wir die Wahlmöglichkeiten bei sehr viel ernsteren Entscheidungen – wie zum Beispiel im Falle einer ungesunden Beziehung – mit der nötigen Sorgfalt betrachten.

Drang ist der Geistesfaktor, der uns in die Richtung eines bestimmten Handlungsablaufs führt. Es gibt zwei Arten von Drang: derjenige, der den Gedanken hervorbringt etwas zu tun und derjenige, der direkt dazu führt, es zu tun. Die Neigung etwas zu tun bringt zur ersten Art von Drang. Die Absicht etwas zu tun und der Entschluss es zu tun beglieten die zweite Art. Die Neigung etwas zu tun entsteht, wenn wir uns des Grundes nicht bewusst sind. Sind wir bewusst motiviert, dann haben wir schon die Absicht etwas zu tun. Diesen Unterschied wollen wir nun genauer untersuchen.

Die Neigung etwas zu tun kann aus Gewohnheiten und Vorlieben, aus physischen Gründen oder ganz spontan von einer Emotion oder inneren Einstellung motiviert sein. Zum Beispiel fühlen wir uns vielleicht geneigt etwas zu essen weil wir daran gewöhnt sind oder es vorziehen zu einer bestimmten Zeit zu essen, oder weil wir Hunger oder Anhaftung an Essen verspüren. Diese drei Hauptursachen können sowohl in jeder beliebigen Kombination miteinander als auch einzeln auftreten. Wenn wir die Gewohnheit haben zur Mittagszeit zu essen, verspüren wir zu dieser Zeit eine Neigung zu essen, gleichgültig ob wir tatsächlich hungrig sind oder eine generelle Anhaftung an Essen haben. Wenn wir andererseits aber hungrig sind, tritt die Neigung zu essen unabhängig von der Zeit und unseren Anhaftungen auf. Wenn wir hingegen am Essen haften, verspüren wir ständig die Neigung zu essen, ganz egal ob unser Magen gerade leer ist oder nicht.

Wenn ein Drang zu essen entsteht, während wir uns der Zeit nicht bewusst sind oder nicht daran denken, dass wir hungrig sind, verspüren wir lediglich eine Neigung zu essen. Wir haben nicht notwendigerweise auch die Absicht zu essen. Das Gleiche gilt, wenn der Drang einfach aus Anhaftung ans Essen entsteht. Die Absicht zu essen, bedeutet, dass wir uns der Gründe bewusst und dadurch motiviert sind.

Die Absicht zu essen haben wir, wenn wir uns bewusst sind, was unsere Gewohnheit auslöst, was unsere Vorlieben sind und welchen körperlichen Grund zu essen wir haben. Wenn wir zum Beispiel wissen, dass Mittagszeit ist, und daran denken, dass wir zu dieser Zeit am liebsten essen oder wenn wir merken, dass wir hungrig sind, haben wir die Absicht zu essen. Ebenso haben wir die Absicht zu essen, wenn es einen triftigen Grund dafür gibt; vielleicht haben wir später keine Zeit mehr: Wenn wir überhaupt essen wollen, dann müssen wir es jetzt tun. Das Bewusstsein für die Neigung etwas zu tun kann uns ebenfalls zu der Absicht führen es zu tun. Manchmal fassen wir die Absicht zu essen einfach nur, weil wir die Neigung verspüren. Obwohl eine unwillkürliche psychologische Motivation zum Essen, etwa die Anhaftung ans Essen, ausreichend ist, damit wir die entsprechende Neigung entwickeln, reicht sie doch nicht aus, um auch die Absicht zu essen hervorzubringen. Wir brauchen noch einen weiteren Grund, etwa dass Mittagszeit ist, und ein Bewusstsein dieses Grundes. Anhaftung an Essen kann jedoch unsere Absicht zu essen unterstützen.

Angenommen aus einer Gewohnheit, einer Vorliebe oder einem körperlichen Grund entsteht der Drang zu essen, bevor wir uns dieses Grundes bewusst sind, oder er entsteht gleichzeitig mit dem Bewusstsein eines triftigen Grundes. In beiden Fällen haben wir sowohl die Neigung als auch die Absicht zu essen. Zum Beispiel verspüren wir die Neigung zu essen, weil wir hungrig sind. Wenn uns dann noch bewusst wird, dass Mittagszeit ist, oder wir später keine Zeit mehr haben zu essen, dann entsteht auch die Absicht zu essen. Gleichermaßen können wir sowohl die Neigung verspüren als auch die Absicht haben zu essen, wenn eine unwillkürliche psychologische Motivation durch einen bewussten, triftigen Grund zu essen unterstützt wird. Zum Beispiel haben wir eine Anhaftung an Essen und erkennen zusätzlich, dass wir später keine Zeit zum essen haben. Dann verspüren wir sowohl die Neigung als auch die Absicht zu essen, obwohl es nicht Mittagszeit ist und wir nicht hungrig sind.

Sind wir uns aber andererseits eines triftigen Grundes zu essen bewusst, aber diesem Bewusstsein geht weder ein Drang voraus noch ein psychisches Motiv, dann haben wir die Absicht zu essen, empfinden aber nicht die Neigung. Wir erkennen zum Beispiel, dass wir später keine Zeit mehr haben werden, aber es ist gerade nicht unsere gewöhnliche Essenszeit, wir sind nicht hungrig und haben auch keine Anhaftung ans Essen. In diesem Fall haben wir die Absicht zu essen, verspüren aber keine Neigung.

Umstände oder Beeinflussung durch andere führen eventuell dazu, dass ein Drang etwas zu tun entsteht, wobei wir den Drang als Neigung oder Absicht etwas zu tun empfinden können. Ohne weitere Ursachen ist jedoch keiner der beiden unterstützenden Faktoren ein ausreichender Grund für die Entstehung des Dranges. Wenn zum Beispiel das Essen auf dem Tisch steht oder unsere Freunde im Restaurant ihre Bestellung aufgeben, können wir ebenfalls die Neigung haben etwas zu essen und die Absicht entwickeln es zu tun. Es reagiert aber nicht jeder auf dieselbe Weise. Wenn es weder Mittagszeit ist und wir weder hungrig noch ans Essen verhaftet sind und auch keinen triftigen Grund haben, werden wir – trotz der entsprechenden Umstände und Gesellschaft – keine Neigung empfinden und auch nicht die Absicht haben zu essen. Wozu wir uns letztlich entscheiden ist eine andere Sache.

Die Neigung und die Absicht etwas zu tun 

Es gibt verschiedene Kombinationsmöglichkeiten zwischen der Neigung und der Absicht etwas zu tun:

Zwischen Neigung und Absicht unterscheiden

Angenommen wir beabsichtigen eine Sache zu tun, fühlen uns aber geneigt das Gegenteil zu machen. Lassen wir dabei für den Augenblick noch die zusätzliche Komplikation beiseite, die sich aus der Überlegung ergibt, was getan werden müsste. Wenn wir uns entscheiden, unserer Neigung zu folgen und nicht das zu tun, was wir beabsichtigen, dann erweisen sich unsere Gewohnheiten, Vorlieben, körperlichen Bedürfnisse, Emotionen, Einstellungen oder eine beliebige Kombination dieser Faktoren als stärker als die ausdrückliche Motivation hinter unserer Absicht oder als die hinter dieser Motivation stehende emotionale Kraft. Ebenso kann unsere Achtsamkeit bezüglich der Gründe für unser Tun zu schwach sein, oder die Umstände bzw. die Beeinflussung durch andere mögen die Oberhand gewinnen. Obwohl wir zum Beispiel die Absicht haben abzunehmen, verspüren wir dennoch die Neigung noch ein Stück Kuchen zu essen. Wir entscheiden uns für das Stück Kuchen, wenn unsere Gewohnheit, unser Hunger, unsere Gier, unsere Vorliebe für einen besonderen Kuchen, das Insistieren unseres Gastgebers oder irgendeine Kombination dieser Faktoren stärker sind als unsere Eitelkeit oder unsere Achtsamkeit dafür, wie fett wir sind. Wenn wir uns in derselben Situation für unsere Absicht und gegen unsere Neigung entscheiden, dann ist das Kräfteverhältnis zwischen diesen, jede Entscheidung unterstützenden Faktoren, umgekehrt.

Wenn wir sowohl die Absicht als auch die Neigung haben etwas zu tun, entscheiden wir uns nur dann noch anders, wenn eine neu hinzukommende Motivation alle anderen Überlegungen über den Haufen wirft. Wenn wir zum Beispiel wissen, dass unser Gastgeber den Kuchen extra für uns gebacken hat und verletzt wäre, wenn wir nicht zumindest ein Stück nehmen würden, entscheiden wir uns vielleicht doch den Kuchen zu essen, obwohl wir sowohl die Neigung als auch die Absicht haben unsere Diät einzuhalten.

Schließlich kann eine ausdrückliche Motivation uns dazu bringen, etwas zu tun, obwohl wir weder die Neigung noch die Absicht dazu haben. Wenn wir zum Beispiel weder die Neigung verspüren, noch die Absicht haben unsere Diät einzuhalten, können wir uns doch vom Essen zurückhalten, indem wir darüber meditieren, wie schädlich es ist, Sklave unserer Gier zu sein. In diesem Falle überwiegt unsere explizite Motivation, diesen Makel vermeiden zu wollen, jeden Grund für den Abbruch unserer Diät, zum Beispiel Ärger an unserer Arbeitsstelle.

Tun, was wir tun müssen

Wir müssen etwas tun, weil es uns, anderen oder beiden nützt, wegen körperlicher Bedürfnisse oder bestimmter Umstände. So müssen wir zum Beispiel Diät halten, weil das Abnehmen unsere Selbstachtung stärkt, weil es uns in die Lage versetzt, mit unseren Kindern zu spielen, ohne außer Atem zu geraten, oder weil es unsere Arbeitsfähigkeit verbessert. Vielleicht müssen wir auch aus gesundheitlichen Gründen Diät halten oder weil wir in ein Land reisen, wo uns das Essen nicht bekommt. Wir tun, was wir tun müssen, sobald uns die Gründe für ein entsprechendes Verhalten bewusst sind, wir von ihrer Gültigkeit überzeugt sind, uns von ihnen motiviert fühlen und die Achtsamkeit für diese drei Faktoren bewahren.

Auch kann uns jemand zwingen, das zu tun, was wir tun müssen, obwohl wir selbst die Notwendigkeit nicht einsehen. Eine willensstarke Krankenschwester zum Beispiel kann uns, wenn wir krank sind, zum Essen nötigen, selbst wenn wir nicht bewusst gesund werden wollen. So etwas kommt normalerweise bei körperlicher oder geistiger Schwäche vor. Vielleicht haben wir vor der Person sogar Angst.

Hinter unserer Absicht etwas zu tun können auch aus störenden Einstellungen – etwa Eitelkeit – resultierende unbewusste Motive stehen. Sie können jedoch niemals etwas unterstützen, was wir tun müssen. Stattdessen nähren sie unser neurotisches Gefühl, dass wir etwas tun sollten; Eitelkeit vermittelt uns beispielsweise das Gefühl, dass wir eine Diät machen sollten. Bestimmte Haltungen andererseits, etwa Pflichtgefühl, Familienehre oder Nationalstolz, können uns sowohl das Gefühl vermitteln, dass wir etwas tun müssen als auch das Gefühl, dass wir es tun sollten. Letztlich hängt es davon ab, ob unsere Einstellungen mit Verwirrung vermischt sind. Außerdem können diese Haltungen konstruktiv, destruktiv oder neutral sein, je nachdem, welchen ethischen Status die Dinge für uns einnehmen, die wir glauben tun zu müssen oder tun zu sollen. Die Familienehre zum Beispiel kann dafür verantwortlich sein, dass wir uns entschließen, den Armen zu helfen oder Blutrache zu üben oder in einer bestimmten Gegend zu leben.

Am Anfang müssen wir uns vielleicht bewusst motivieren und Willenskraft ausüben, damit wir tun, was wir tun müssen. Später, wenn wir neue Gewohnheiten entwickelt haben, können wir vielleicht spontan tun, was nötig ist, und dabei sogar die Neigung und die Absicht haben, es auch zu tun.

Entfremdung von der Neigung oder der Absicht etwas zu tun

Manchmal haben wir das Gefühl, wir müssten das, was wir zu tun geneigt sind oder beabsichtigen, unterdrücken und dürften es uns nicht „gestatten“. Gewöhnlich erleben wir diesen Zustand als Frustration. Zu anderen Zeiten „erlauben“ wir uns, sozusagen als Belohnung, etwas, was sowohl unserer Neigung als auch unserer Absicht entspricht, was wir uns aber gewöhnlich nicht gestatten. Und wenn wir uns dann zeitweilig genehmigen, was wir sonst nie tun, haben wir oft die irrationale Angst, jemand würde uns erwischen und bestrafen. Dann ist es schwierig für uns zu entspannen und das, was wir tun, auch zu genießen.

Zusätzlich haben wir gelegentlich das Gefühl uns zu etwas zwingen zu müssen, von dem wir glauben, dass wir es tun sollten, obwohl wir weder die Neigung noch die Absicht dazu verspüren. Das macht uns gewöhnlich ärgerlich. Wenn wir dann das tun, was unserer Neigung entspricht und nicht das, was wir vermeintlich tun sollten, haben wir das unangenehme Gefühl, uns nicht beherrschen zu können. Diese Erlebnisse gehen häufig mit Schuldgefühlen einher.

Alle diese Formen der Entfremdung von unseren Wünschen, unseren Gefühlen und von uns selbst entstammen dualistischen Sichtweisen. Dabei handelt es sich um bestimmte Anschauungen: „ Ich“ und was ich zu tun beabsichtige, „Ich“ und was ich zu tun geneigt bin, „Ich“ und was ich tun muss und „ Ich“ und was ich tatsächlich tue. In jedem Falle erscheinen das „Ich“ und die jeweilige Handlung als konkrete, eigenständige Komplexe. Folglich scheinen die verschiedenen offensichtlich konkreten „ Ichs“ im Konflikt zueinander zu stehen, gegeneinander um die Kontrolle zu kämpfen und um das, was jedes in seiner scheinbar konkreten Identität will, braucht, tut oder zu tun geneigt ist. Sobald wir uns mit einem dieser „Ichs“ identifizieren, das wir für „schlecht“ halten, fühlen wir uns schuldig und als „schlechter“ Mensch, der etwas Ungezogenes zu tun geneigt ist, zu tun beabsichtigt oder tut. Sobald wir uns mit einem dieser „Ichs“ identifizieren und es als den „guten“ Menschen betrachten, der immer die Kontrolle haben muss, empfinden wir eine gewisse Verspannung, weil wir ständig der Aufpasser sein müssen. Niemals fühlen wir uns mit uns selbst im Einklang. Um diese Komplexe emotionaler Verwirrung zu überwinden, brauchen wir die Weisheit der Nicht-Dualität.

Entscheidungsfindung

Entscheidungen sind das Ergebnis einer komplexen Interaktion geistiger Faktoren, und es ist keinesfalls so, dass ein konkretes „Ich“ in unserem Kopf die Entscheidungen trifft. Das ist die Realität, obwohl die Stimme in unserem Kopf, die sich sorgt, welche Entscheidung zu treffen ist, den Eindruck erweckt, als ob ein auffindbarer Sprecher sich diese Sorgen machen und die Entscheidungen treffen würde. Wenn wir uns entscheiden, zum Beispiel ein Stück Kuchen zu essen, so geschieht lediglich Folgendes: Wir sehen den Kuchen, und das wird von den Geistesfaktoren Urteilsvermögen und Absicht begleitet. Diese beiden Geistesfaktoren ergeben sich aus der Interaktion und der relativen Stärke

  1. der Gewohnheiten, Vorlieben, körperlichen Bedürfnisse, Emotionen und inneren Einstellungen hinter unserer Neigung etwas zu tun,
  2. den bewussten, vorsätzlichen und nicht vorsätzlichen Motiven hinter unserer Absicht etwas zu tun,
  3. den Gründen hinter dem, was wir tun müssen, und unseren be­wussten Motiven es auch zu tun,
  4. allen zusätzlichen oder vor­sätzlichen Motiven, die uns in eine andere Richtung ziehen als die drei zuvor genannten.

Wir erleben unsere Absicht zu essen, begleitet von der Entschiedenheit des Urteilsvermögens, als unseren Willen. Die Willenskraft lässt dann den Drang entstehen, der uns direkt zum Handeln bringt. Diesen Drang erleben wir als Entscheidung.

Die Neurobiologie beschreibt eine Entscheidung vom physiologischen Gesichtspunkt her ganz ähnlich, nämlich als das Ergebnis von Millionen Impulse weiterleitender Gehirnzellen. Sie stimmt mit dem Buddhismus darin überein, dass in unserem Kopf kein findbarer Akteur sitzt, der die Entscheidung trifft. Wenn wir diese Aussage beherzigen, die im Buddhismus und in der Wissenschaft übereinstimmend formuliert wird, hören wir auf, unsere Entscheidungsfindung dualistisch zu betrachten. Auf diese Weise vermeiden wir Gefühle von Frustration, Entfremdung und Schuld.

Wenn wir fragen, wer denn nun die Entscheidung getroffen hat, den Kuchen zu essen, lässt sich nicht leugnen, dass „Ich“ es gewesen bin und nicht jemand anderes. Diese konventionelle Person „Ich“ ist jedoch kein findbarer Akteur in unserem Kopf, der die Vorgänge manipuliert. Dieses „Ich“ ähnelt einer Illusion, denn es scheint konkret und findbar zu sein, ist es aber in Wirklichkeit nicht. Dennoch ist dieses konventionelle „Ich“ nicht dasselbe wie eine Illusion. Menschen treffen Entscheidungen, Illusionen nicht.

Aus den Tatsachen, dass kein konkreter „Entscheidungsfinder“ in unserem Kopf sitzt und unsere Entscheidungen in Abhängigkeit von Ursachen und Bedingungen zustande kommen, lässt sich nicht folgern, dass unsere Entscheidungen vorherbestimmt und unvermeidbar sind. Vorherbestimmung würde bedeuten, dass eine mit uns nicht identische, allmächtige Wirkungskraft unabhängig von uns entschieden hätte. Aber weder können wir selbst noch jemand anderes stellvertretend für uns unabhängig von den beteiligten Faktoren Entscheidungen treffen. Wenn wir uns darüber hinaus zwischen dem, was wir zu tun beabsichtigen, dem, was wir zu tun geneigt sind und dem, was wir tun müssen, entscheiden, machen wir die subjektive Erfahrung, eine Wahl zu treffen. Das ist eine konventionelle und existenzielle Wahrheit. Wir wissen nicht im Voraus, welche Wahl wir treffen werden, sämtliche Entscheidungen entstehen aus Ursachen und Bedingungen. Nichts geschieht jemals rein zufällig und ohne jeden Grund. Daher lassen sich auch alle Entscheidungen verstehen. Mehr noch, wir sind für sie verantwortlich.

Um eine sensible Entscheidung zu treffen müssen wir also prüfen,

  1. was wir zu tun geneigt sind und warum,
  2. was wir zu tun beabsichtigen und warum,
  3. was wir tun müssen und warum.

Dann wägen wir die Stärken dieser Faktoren gegeneinander ab, ohne dabei überempfindlich oder ganz empfindungslos zu werden, und entscheiden, was zu tun ist.

Entscheidungen sind nicht immer völlig eindeutig. Häufig müssen wir Kompromisse eingehen. Die erste Tatsache des Lebens oder „edle Wahrheit“, die der Buddha lehrte, lautet, dass das Leben schwierig ist. Vielleicht empfinden wir Traurigkeit, weil wir gezwungen sind, unsere Gefühle oder Wünsche einem Kompromiss zu opfern, aber es gibt keinerlei Grund, Frustration, Zorn oder Entfremdung zu empfinden. Wie beim Akzeptieren jeder unglücklichen Situation müssen wir auch hier unsere Erfahrung von Traurigkeit wie eine Welle auf dem Ozean des Geistes betrachten. Auf diese Weise werden wir nicht niedergeschmettert. Unsere Traurigkeit wird vorübergehen wie alles andere auch.

Uns nicht mit unseren Neigungen und Absichten etwas zu tun identifizieren

Die Erkenntnis, dass kein konkretes „Ich“ als Basis für die Projektion einer festgelegten Identität existiert, lässt eine ausgeglichene Sensibilität nicht nur gegenüber dem Entscheidungsprozess, sondern auch uns selbst gegenüber zu. Wenn wir uns nicht mit den Gefühlen oder Wünschen dieses oder jenes zu tun identifizieren, empfinden wir uns auch dann nicht als „ schlecht“ oder haben etwa Schuldgefühle, wenn uns diese Gefühle oder Wünsche dazu treiben wollen, etwas Bizarres oder Destruktives zu tun. Wir erkennen, dass der Drang und die Wünsche bestimmte Dinge zu tun als Ergebnis von Gewohnheit, körperlichen Bedürfnissen, verschiedenen Motiven und so weiter entstehen. Die Absicht, sie auch auszuagieren, muss nicht notwendigerweise damit einhergehen. Diese Erkenntnis gestattet es uns mehr Sympathie und Toleranz für uns selbst zu empfinden, während wir daran arbeiten, die Ursachen für jeden destruktiven Drang zu beseitigen.

Nicht wissen, was wir zu tun beabsichtigen oder zu tun geneigt sind

Manchmal, wenn wir mit einer Entscheidung konfrontiert sind, wissen wir gar nicht, wozu wir neigen oder was wir beabsichtigen. Wenn wir uns deswegen unwohl fühlen, erleben wir das Phänomen als Entfremdung. Wir glauben, „nicht mehr in Kontakt mit uns“ zu sein. Wenn wir andererseits Entscheidungen ausschließlich an den Notwendigkeiten orientieren, ohne unsere Neigungen und Absichten zu berücksichtigen, können wir das Leben als kalt und mechanisch empfinden. Um diese Probleme zu überwinden, müssen wir untersuchen, warum wir unsere Neigungen und Absichten nicht erkennen. Die Neigung etwas zu tun kommt von einem Drang, der wiederum aus Gewohnheit, Vorlieben, körperlichen Bedürfnissen, Emotionen, Einstellungen und so weiter entsteht. Solange wir uns nicht von unseren eingefahrenen Gewohnheitsmustern befreit haben, entsteht immer wieder der unwillkürliche Drang, bestimmte Dinge zu tun. Dabei hat nicht jeder Drang die gleiche Intensität. Wenn wir nicht wissen, was wir zu tun geneigt sind, könnte es sein, dass wir bloß einem Drang von geringer Intensität, der in dem Moment entsteht, keine Aufmerksamkeit schenken. Um die Unruhe zu überwinden, die häufig entsteht, wenn wir unsere Neigung nicht erkennen, müssen wir unsere Empfindsamkeit erhöhen. Das gelingt uns, indem wir unseren Geist beruhigen und aufmerksamer gegenüber jedem auftretenden Drang von geringer Intensität werden. Diese Gefühle können wir dann berücksichtigen, wenn wir uns für eine bestimmte Handlungsweise entscheiden. Auf diese Weise wird unsere Entscheidungsfindung zu einem angenehmeren und faireren Prozess.

Gefühl und Intuition

Intuition kommt in drei Hauptformen vor, von denen jede uns dabei helfen kann, eine Entscheidung zu treffen. Wir haben vielleicht eine Intuition bezüglich einer Person, etwa dass eine Frau schwanger ist. Aufgrund dessen entscheiden wir uns, ihr beim Tragen zu helfen. Wir können auch die Intuition verspüren, dass gleich etwas geschehen wird, etwa dass die Türglocke anschlägt. Folglich verschieben wir unser Bad. Diese beiden ersten Formen der Intuition sind mehr als ein bloßer Verdacht. Sie haben eine Qualität von Gewissheit an sich.

Wir können auch intuitiv spüren, dass wir etwas tun müssen, zum Beispiel jemanden auf sein Verhalten ansprechen. Aus diesem Grunde könnten wir uns entscheiden, mit dem entsprechenden Menschen zu reden. Auch bei dieser Art von Intuition spüren wir eine bestimmte Gewissheit. Intuitivwissen wir, was zu tun ist; es nicht bloß eine Meinung.

Das Wort „Gefühl“ kann im Zusammenhang mit allen drei Arten der Intuition verwendet werden. Wir können intuitiv fühlen, dass die Frau schwanger ist oder die Türglocke anschlägt. Ebenso können wir auch intuitiv das Gefühl haben, mit jemandem sprechen zu müssen. In jedem Falle fühlen wir diese Dinge aber nicht einfach nur; wir fühlen sie mit Gewissheit. Mit anderen Worten: Intuitionen sind überzeugender als Gefühle, da sie von einer „inneren Weisheit“ zu kommen scheinen. Darüber hinaus gehen Intuitionen häufig nicht mit einer emotionalen Stimmung einher. Abhängig von unserer Auf­merksamkeit und Achtsamkeit können sie intensiv oder unterschwellig vorkommen.

Bei der Entscheidung, was zu tun ist, müssen wir auch unsere Intuitionen berücksichtigen. Eine Intuition hat unbewusste Ursachen. Sie kann auf Wissen, innewohnendem Tiefen Gewahrsein oder auf Erfahrungswissen beruhen. Allerdings mag etwas, das wir für Intuition halten, auch aus Verwirrung oder störenden Emotionen stammen. Wenn wir zum Beispiel paranoid sind, erscheint uns unser Gefühl, dass eine bevorstehende Reise gefährlich ist, als intuitive Vorahnung einer Katastrophe. Intuition kann also eine gültige Form der Information darstellen oder sie kann schlicht falsch sein. Wir müssen daher zwar unsere Intuition bei unserer Entscheidungsfindung berücksichtigen, aber auch sorgfältig darauf achten, ihr nicht einfach blind oder impulsiv zu folgen.

Manchmal mögen wir die Neigung verspüren, etwas zu tun, aber unsere Intuition befiehlt uns etwas anderes. Auch hier müssen wir vorsichtig sein. Es kann das eine oder das andere korrekt sein, beide können teilweise stimmen oder beide können falsch sein. Intuition kann Hilfe, aber ebenso Belastung sein.

Die Vorlieben anderer über unsere eigenen stellen

Wenn wir auf die richtige Weise sensibel sind, sehen wir, was anderen Sorge bereitet und was sie brauchen. Ihre eigentlichen Bedürfnisse haben stets Vorrang vor dem, was sie selbst vorgeben zu wollen. Manchmal jedoch ist das, was sie wünschen und auch brauchen – zum Beispiel körperliche Zuwendung oder Zeit und Raum, um allein sein zu können – etwas, das wir nur schwer geben können. Wir mögen auch wenig Neigung verspüren oder nicht die Absicht haben, es ihnen zu gewähren. Wenn es außerdem etwas ist, das wir selbst nur ungern erhalten möchten, qualifizieren wir leicht jeden, der darum bittet, als unreif oder töricht ab.

Ein solches Bedürfnis, eine solche Bitte ist etwas anderes, als wenn man uns um Geld oder um Zeit bitten würde, die wir nicht erübrigen können. Obwohl wir bestimmte psychische Blockaden haben mögen, ist doch jeder in der Lage, jemandem zumindest eine Umarmung zu geben oder ihn oder sie in Ruhe zu lassen. Um entscheiden zu können, was zu tun ist, müssen wir unsere Motivation und die des anderen berücksichtigen sowie das mögliche Ergebnis unserer Entscheidungen. Obwohl wir und der andere uns vielleicht zeitweilig besser fühlen, wenn wir den Wünschen des anderen nachgeben bzw. dies verweigern, müssen wir stets das tun, was von langfristigem Nutzen für alle Beteiligten ist.

Nein sagen

Bei unserer Entscheidung, was wir tun wollen, müssen wir sensibel sein – sowohl für unsere eigenen Bedürfnisse als auch für die der anderen. Der anderen Person zu geben, was sie will oder braucht – zum Beispiel mehr von unserer Zeit, als wir erübrigen können – kann sich schädlich auf unsere körperliche und emotionale Gesundheit auswirken. Es kann ebenfalls die Zeit und Energie vermindern, die wir für andere haben. Allerdings müssen wir sehr sensibel „Nein“ sagen lernen, damit der andere nicht das Gefühl bekommt, die Einschränkung käme einer persönlichen Zurückweisung gleich. Außerdem müssen wir „Nein“ sagen, ohne dabei Schuldgefühle oder Furcht vor Zurückweisung zu empfinden.

Wir könnten so mit der Situation umgehen, dass wir jemandem, besonders wenn es sich um einen Freund oder Verwandten handelt, jede Woche eine festgelegte Zeit widmen, zum Beispiel das Frühstück jeden Samstag. Gleichzeitig machen wir klar, dass wir danach immer einen festen Termin haben, unsere gemeinsame Zeit also be­schränkt ist. Grenzen zu setzen gehört zu einer realistischen und prak­tikablen Lebensführung. Wir können nicht jedem, der mit uns zusammen sein möchte, gleich viel Zeit einräumen.

Prioritäten zu setzen ist allerdings schwer, besonders wenn es um Menschen geht. Man kann zwar natürlich familiäre Verpflichtungen, Loyalität und andere Pflichten nicht außer Acht lassen, doch die Hauptkriterien für diese Entscheidung sind doch die Empfänglichkeit des anderen für unsere Hilfe und unsere Fähigkeit, ihm oder ihr auf signifikante Weise zu nutzen. Ebenfalls müssen wir berücksichtigen, inwieweit wir selbst von der Begegnung profitieren oder ob sie uns auslaugt. Dies nämlich hat wiederum Auswirkungen auf unser allgemeines Wohlbefinden und unsere Fähigkeit, effektiver mit anderen umzugehen. Die Lehren über Karma weisen zusätzlich darauf hin, dass, obwohl letztlich alle gleich sind, unsere Prioritäten sich auch daran orientieren müssen, wie nützlich die andere Person und wir selbst realistischerweise jetzt oder später in unserem Leben für andere sein können. Diese Richtlinie gilt nicht nur bei der Entscheidung, wie viel Zeit wir anderen widmen wollen, sondern ebenso beim Ermessen, wie viel Energie wir uns selbst widmen.

Wieder müssen wir uns bewusst sein, dass unser Geist täuschende Erscheinungen erschafft, nämlich die eines scheinbar konkreten „Ich“, das von unfairen Ansprüchen überwältigt wird, und eines scheinbar konkreten „Du“, das diese Ansprüche rücksichtslos einfordert. Wenn wir dann an diese dualistische Erscheinungsweise glauben und uns selbst und andere mit diesen verwirrten Etiketten behängen, werden wir verspannt und versuchen uns zu rechtfertigen. Wir müssen andere dann mit gerissenen Ausreden abwehren und fühlen uns deswegen natürlich schuldig – außer wir sind völlig skrupellos. Wenn wir diese dualistische Erscheinungsweise abbauen und versuchen, ohne jede Befangenheit mit den Situationen umzugehen, können wir Prioritäten für unsere Zeiteinteilung setzen, ohne uns dafür schuldig zu fühlen. Unsere geistigen Etiketten in „jemand, der zu helfen versucht“ und „Menschen, die Hilfe brauchen“ zu verändern ist ebenfalls hilfreich, solange wir nicht auch sie wieder konkretisieren.

Auf einer anderen Ebene kann unser Geist wieder dualistische Erscheinungen erzeugen, und zwar die eines scheinbar konkreten „Ich“, das nützlich sein muss, um seine Existenz zu rechtfertigen, und eines scheinbar konkreten „Du“, das diese flüchtige Sicherheit liefern kann, indem es uns zu helfen gestattet. Geblendet von dieser Erscheinung können wir das Gefühl haben, dass wir, wenn wir „ Nein“ zu unseren Freunden sagen, selbst zurückgewiesen werden und damit jegliche Hoffnung verspielen, dadurch eine konkrete Existenz zu gewinnen, dass wir ständig ihren Ansprüchen nachkommen.

Selbst wenn uns ein Freund zurückweist, müssen wir uns vor Augen führen, dass das Leben weitergeht. Wir sind traurig, dass wir den Kontakt zu dieser Person verloren haben, aber ihre Enttäuschung, ihre Verärgerung oder ihr Weggang stempelt uns nicht zu einem wertlosen Menschen. Wenn es selbst dem Buddha nicht gelungen ist, es allen recht zu machen, wie können wir das von uns erwarten? Wenn wir diese Punkte im Sinn behalten, können wir auf entspannte, aufrichtige Weise „ Nein“ sagen, ohne uns schuldig oder ängstlich zu fühlen. Ebenso können wir das „Nein“ eines anderen Menschen verstehen und akzeptieren, ohne uns verletzt zu fühlen.

Übung 18: Sensible Entscheidungen treffen

Wollen wir sensible Entscheidungen treffen, müssen wir zunächst den Entscheidungsprozess von allen dualistischen Gefühle befreien. Das kann man sehr gut üben, wenn man einen Juckreiz verspürt. Wir versuchen, still zu sitzen, ohne uns zu bewegen. Wenn der unvermeidliche Juckreiz sich einstellt, versuchen wir zu bemerken, dass wir sowohl die Neigung verspüren uns zu kratzen als auch die Ab­sicht haben, es wirklich zu tun. Wir entscheiden uns, nicht zu kratzen und versuchen zu beobachten, wie unser Geist automatische die dualistische Erscheinung eines scheinbar konkreten gequälten „Ichs“ und eines scheinbar konkreten unerträglichen Juckreizes erzeugt. Unser Geist zerrt die Erfahrung noch weiter auseinander, indem er darüber hinaus auch noch die Erscheinung eines scheinbar konkreten kontrollierenden „Ichs“ erzeugt, das diesem nervtötenden Juckreiz auf keinen Fall nachgeben will, und eines scheinbar konkreten schwachen „Ichs“, das aufgeben möchte und unter Kontrolle gehalten werden muss. Wenn wir uns mit dem scheinbar konkreten starken „Ich“ identifizieren und uns trotzdem kratzen, fühlen wir uns vom schwachen „Ich“ besiegt. Diese Niederlage erleben wir dann mit Selbstbeschuldigungen und dem Gedanken, dass wir hätten stärker bleiben sollen. Wenn es uns gelingt, das scheinbar konkrete schwa­che „Ich“ unter Kontrolle zu halten, platzen wir vielleicht bei­nahe vor anmaßendem Stolz über unsere Stärke. In jedem Falle ist die Erfahrung etwas, was uns aus dem Gleichgewicht bringt.

Nun können wir unsere Erfahrung abbauen, indem wir uns auf den Juckreiz konzentrieren, auf den wir nicht mit Kratzen reagieren wollen. Es handelt sich lediglich um einen von unserem Tastbe­wusstsein erschaffenen und wahrgenommenen körperlichen Eindruck. Während wir ihm auf diese Weise unsere Aufmerksamkeit widmen, versuchen wir zu bemerken, dass unsere Wahrnehmung des Juckreizes von einer Absicht begleitet wird – nämlich den Reiz auszuhalten und ihn nicht durch Kratzen zu beenden. Diese Absicht wird entschiedener, wenn wir uns der Vergänglichkeit des Juckreizes bewusst sind und daran denken, dass er irgendwann von selbst vergeht. Analysieren wir die Situation auf diese Weise, entdecken wir, dass kein Kontrollorgan den Vorgang steuert und unsere Hand vom Kratzen abhält. Während wir vermeiden, uns zu kratzen, versuchen wir, unsere Wahrnehmung als leer von einem scheinbar konkreten, festen „Ich“ zu erleben.

Danach ändern wir bewusst unsere Meinung und entschließen uns, dem Juckreiz nachzugeben und uns zu kratzen. Indem wir untersuchen, was geschieht, während wir uns langsam kratzen, versuchen wir zu erkennen, dass sich nur die Absicht, die unseren Juckreizes begleitet, verändert hat. Jetzt haben wir die Absicht, uns zu kratzen. Diese Absicht, genährt von dem bewusst motivierten Wunsch, diesen körperlichen Eindruck nicht länger zu erfahren, lässt einen Drang entstehen, der sich unmittelbar in die Bewegung unserer kratzenden Hand übersetzt. Hinter der Handlung steht wieder kein konkreter Boss, der Informationen aufnimmt, die von den Hautsensoren kommen und Befehle an unsere Hand weiterleitet. Wir versuchen, uns nun eine Minute auf die Tatsache zu konzentrieren, dass wir fähig sind, ohne dualistische Gefühle Ent­scheidungen zu treffen.

Ein zusätzlicher Faktor, der uns befähigt, sensible Entscheidungen zu treffen, ist ein entspannter Umgang mit uns selbst und Zugang zu den natürlichen Talenten unseres Geistes und unseres Herzens. Nervosität kann uns unentschlossen machen und Vorurteile können unsere Unterscheidungsfähigkeit beeinträchtigen. Als zusätzliche Vorbereitung können wir daher die Praxis ohne Spiegel aus der dritten Phase von Übung Neun wiederholen. Wir lockern unsere Mus­kel­spannung und nutzen die Methoden des „Loslassens“ und „Schreibens-auf-Wasser“, um unseren Geist von verbalen Gedanken, Vorurteilen, nonverbalen Urteilen, projizierten Rollen und Erwartungen an uns selbst und die Entscheidung, die wir zu treffen haben, zu befreien. Wie in Übung Vierzehn stellen wir uns dann vor, dass alle Nervosität oder emotionale Verspannung, die noch verblieben sein mag, von selbst zur Ruhe kommen kann, wie eine Welle auf dem Ozean, sobald der Wind aufhört. Wenn wir dann einen ruhigen, offenen, entspannten Zustand von Geist und Herz erreicht haben, ruhen wir mit voller Klarheit eine oder zwei Minuten lang.

Jetzt sind wir bereit, mit dem Hauptteil der Übung anzufangen. Wir beginnen die erste Phase, indem wir uns auf ein Foto einer Per­son konzentrieren, die im Zusammenhang mit einer schwierigen Entscheidungsfindung steht; alternativ können wir auch einfach nur an den entsprechenden Menschen denken. Wenn wir zum Beispiel jemanden wählen, mit dem wir eine ungesunde oder unbefriedigende Beziehung haben, müssen wir die verschiedenen Fertigkeiten nutzen, die wir in den vorherigen Übungen gelernt haben.

Zuerst müssen wir entscheiden, ob etwas getan werden muss. Zu diesem Zweck müssen wir unseren Eindruck von der Situation auswerten. Wir beginnen damit, dass wir alle dualistischen Gefühle abbauen, die wir vielleicht noch unbewusst projizieren. Mit anderen Worten: Wir versuchen die Beziehung nicht länger als eine Konfrontation zwischen einem konkreten „Ich“ und einem konkreten „ Du“ zu sehen. Wir stellen uns vor, wie der Ballon dieser Einbildung platzt, und prüfen objektiv die Fakten, wobei wir die Perspektive und die Kommentare des anderen berücksichtigen. Beide Seiten verfügen zweifellos über gültige Argumente. Es wäre schlicht absurd, die ganze Schuld ausschließlich einer Seite zuzuweisen. Vielleicht möchten wir eine unparteiische dritte Meinung hören. Dabei müssen wir allerdings aufpassen, nicht unsere Kritikfähigkeit zu verlieren und uns nicht von schlechten Ratschlägen beeinflussen zu lassen.

Haben wir die Tatsachen erkannt, müssen wir mit Innenschau herausfinden,

  1. was wir zu tun geneigt sind,
  2. was unsere Intuition uns sagt,
  3. was wir zu tun beabsichtigen,
  4. was wir tun müssen.

Zum Beispiel mögen wir geneigt sein, nichts zu tun. Unser intuitives Gefühl sagt uns jedoch, dass dann alles nur noch schlimmer wird. Darüber hinaus haben wir die Absicht etwas zu sagen und wissen auch, dass es das ist, was wir tun müssen.

Dann bewerten wir die Gründe für jede der vier Möglichkeiten. Hier ist es hilfreich, sich eine Liste zu machen, obwohl das vielleicht distanziert und analytisch erscheint. Trotzdem ist es gut, denn ohne feste Struktur wählen wir vielleicht den einfachsten Weg – meist heißt das, nichts zu tun – oder quälen uns mit unserer Unentschlossenheit herum.

  1. Die Neigung etwas zu tun entsteht aus Gewohnheiten, Vorlieben, körperlichen Faktoren und unbewussten Motiven. Umstände und Beeinflussung durch andere können ebenfalls einen Beitrag leisten. Wir können auch geneigt sein nichts zu tun, weil wir es gewöhnt sind, uns still zu verhalten und es vorziehen, jeder Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Wenn wir uns selbst eingehender betrachten, entdecken wir die Angst, uns den Zorn des anderen zuzuziehen, und auch eine gewisse Furcht vor Einsamkeit, falls der Mensch uns zurückweisen sollte. Überarbeitung und Müdigkeit können ebenfalls zu unserer Zurückhaltung beitragen.
  2. Intuition entsteht aus Wissen, innewohnendem Tiefen Ge­wahr­sein oder aus Erfahrungswissen. Wir wissen intuitiv, dass Schweigen die Situation nur schlimmer macht, weil wir das bei anderen gesehen haben. Da das, was wir Intuition nennen, auch von einer verborgenen inneren Einstellung kommen kann, müssen wir untersuchen, ob das hier der Fall ist. Unsere Intuition kann von einem unbewussten Drang verstärkt werden, die Sache unter Kontrolle halten zu wollen.
  3. Die Absicht etwas zu tun entsteht sowohl aus bewussten als auch aus unbewussten Motiven. Äußere Umstände und Beeinflussung durch andere können ebenfalls eine Rolle spielen. Wir wollen dringend etwas sagen, weil wir den Schmerz, den die ungesunde Beziehung in uns auslöst, nicht länger ertragen können. Und obwohl wir es gewöhnlich niemals zugeben würden, fühlen wir uns auch unterdrückt. Darüber hinaus haben mehrere unserer Freunde uns darin bestärkt, endlich etwas zu sagen, und die Umstände sind geeignet: Wir verbringen das Wochenende zusammen.
  4. Die Notwendigkeit etwas zu tun ergibt sich aus dem Nutzen, den beide Parteien daraus ziehen. Selbst wenn die Entscheidung sogar zu kurzzeitigem Schmerz führt, sollten wir den langfristigen Nutzen im Auge behalten. Darüber hinaus können körperliche Bedürfnisse und Umstände dazu beitragen, dass es notwendig wird, etwas zu tun. Wir wissen, dass wir etwas tun müssen, weil die gegenwärtige Situation unsere Arbeit, unsere Gesundheit und unsere übrigen Beziehungen negativ beeinflusst. Außerdem ist die Beziehung in ihrer jetzigen Form auch für die andere Person und ihre Beziehung mit anderen ungesund. Wir lieben den anderen Menschen und wünschen ihm oder ihr Glück. Momentan sind wir beide nicht glücklich. Also ergibt sich die Notwendigkeit zu handeln auch aus unserer Liebe und Fürsorglichkeit. Der andere Mensch fühlt sich eventuell verletzt, wenn wir etwas sagen, und wir selbst sind nachher vielleicht traurig. Schließlich und endlich aber wird es uns beiden nützen, wenn wir jetzt etwas tun.

Zuallererst müssen wir uns entscheiden, ob wir überhaupt etwas tun wollen. Nachdem wir sämtliche Faktoren an die Oberfläche gebracht haben, müssen wir die positiven und negativen Gründe für jede Alternative gegeneinander abwägen. Die wichtigsten konstruktiven Gründe zum Handeln sind der langfristige Nutzen für beide von uns, unsere Liebe für den betreffenden Menschen und unsere aufrichtige Fürsorge für unser beider Wohlergehen. Unser Gefühl des Unterdrücktseins mag zwar eine hypersensible Reaktion sein, den gegenwärtigen emotionalen Schmerz nicht länger ertragen zu wollen, ist jedoch vernünftig. Unsere Erfahrung sagt uns nämlich, dass alles nur noch schlimmer wird, wenn wir nicht möglichst bald etwas tun. Der Rat unserer übrigen Freunde bestätigt unsere Entscheidung. Der einzige negative Faktor hinter unserem Handeln ist vielleicht unser unbewusster Drang, die Kontrolle zu behalten. Diese Tatsache müssen wir im Sinn behalten und dann sorgfältig zuhören, was der andere zu sagen hat.

Nichts zu sagen bringt den Vorteil mit sich, dass wir möglicherweise eine explosive Konfrontation sowie den Zorn des anderen und zukünftige Einsamkeit vermeiden. Die negativen Gründe dafür, nichts zu sagen, sind unsere Ängste und unsere Unsicherheit. Da langfristige Vorteile kurzfristige Unannehmlichkeiten stets überwiegen, ist unsere Ängstlichkeit eindeutig eine hypersensible Reaktion. Sie ist kein gültiger Grund, nicht zu handeln. Die Tatsache, dass wir überarbeitet und müde sind, legt nahe, dass wir unter Umständen ein Weilchen warten, aber wir sollten auf jeden Fall bald etwas tun. Wägen wir alle Faktoren ab, erkennen wir, dass die Gründe, die für eine Veränderung der Beziehung sprechen, schwerer wiegen als diejenigen, die dafür sprechen, nichts zu tun. Wir entscheiden uns zu handeln.

Haben wir uns auf diese Weise Klarheit verschafft und ist unsere liebevolle Motivation eindeutig, so sind wir bereit, uns für ein bestimmtes Vorgehen zu entscheiden. Wir haben die Wahl, die Beziehung entweder neu zu gestalten oder den Menschen zu verlassen. Um zu einem Schluss zu kommen, müssen wir unsere zehn Geistesfaktoren ins Gleichgewicht und die fünf Arten Tiefen Ge­wahr­seins zur Anwendung bringen. Mit einem motivierten Drang konzentrieren wir uns auf den Menschen. Mit Spiegelgleichem Gewahrsein un­terscheiden wir die verschiedenen Aspekte seines oder ihres Verhaltens und achten auf sie. Mit dem Gewahrsein der Gleichheit und dem Gewahrsein der Einzigartigkeit unterscheiden wir weiter, erkennen Muster und respektieren gleichzeitig die Einzigartigkeit jeder Situation. Angenehmes kontaktierendes Ge­wahr­sein und ein Glücksgefühl bei der Aussicht auf eine Lösung des Problems verstärken unser Interesse, unsere Achtsamkeit und unsere Konzentration. Diese wiederum führen uns dazu, uns für eine bestimmte Handlungsweise zu entscheiden. In diese Entscheidung spielt das Vollendende Gewahrsein hinein. Dann bewerten wir die Weisheit und Wirk­­samkeit unserer gewählten Handlungsweise mit dem Gewahr­sein der Wirklichkeit. Wenn es uns schließlich so scheint, dass unsere Wahl die vernünftigste Alternative ist, entwickeln wir die Absicht, sie dem anderen zu Beginn unserer Diskussion vorzuschlagen.

Der Entscheidungsprozess erfordert Freundlichkeit, Warmherzigkeit und Verständnis, nicht den Eifer einer Schlacht. Wir müssen dafür sorgen, dass unser Vorschlag ethisch korrekt ist – weder zerstörerisch noch unaufrichtig gegenüber den Gefühlen aller Betei­ligten.

Um Unsensibilität uns selbst gegenüber zu vermeiden, müssen wir uns unserer Grenzen deutlich bewusst sein. Doch innerhalb dieser Grenzen müssen wir stets bereit sein, ein klares „Ja“ oder „ Nein“ zu sagen, wenn bestimmte Punkte im Lauf der Diskussion angesprochen werden. Auch müssen wir den richtigen Zeitpunkt wählen, um die Sache zur Sprache zu bringen – beide Parteien müssen aufnahmebereit sein. Überstürztes Handeln kann katastrophale Folgen haben. Am wichtigsten ist es jedoch, dass wir unvoreingenommen in die Begegnung gehen. Indem wir das Gewahr­sein der Wirklichkeit aufrechterhalten, geben wir dem anderen den Raum, seine Handlungsweisen zu ändern; gleichzeitig sind wir uns aber bewusst, dass niemand sich von heute auf morgen ändern kann. Diese Einsicht hilft uns, auch für die Sichtweise und die Vorschläge des anderen offen zu bleiben. Wenn wir es hilfreich finden, können wir mögliche Aussagen und Schritte, zu denen wir bereit sind, vorher einüben. Doch gilt auch hier, wie bei der Beilegung jedes Streits, dass wir beweglich genug bleiben müssen, um keiner im Voraus festgelegten Marschroute zu folgen.

Wir versuchen uns vorzustellen all das ruhig und sanft zu tun. Selbst wenn die andere Person wütend wird oder sich verletzt fühlt, müssen wir das Problem lösen. Das erfordert Mut und Stärke. Wenn wir uns von Selbstzentriertheit befreien, stellt sich dieser Mut ein. Wenn unsere Worte und Handlungen frei von Dualismus sind, sind wir nicht mehr ängstlich oder unsicher. Die Literatur des Abhi­dharma zählt die Unentschlossenheit zu den sechs störendsten Geis­teszuständen. Wenn wir wankelmütig sind und zögern bezüglich einer ungesunden Beziehung eine Entscheidung zu treffen, verschwenden wir Zeit und Energie mit unreifen, schmerzhaften Psycho-Spielchen. Unter derartigen Umständen können wir keinerlei Fortschritt im Leben machen.

Sollten wir später erkennen, dass wir die falsche Entscheidung getroffen haben, müssen wir einfach akzeptieren, dass wir nur begrenzte Fähigkeiten haben, um zu erkennen, was das Beste ist. Immerhin sind wir nicht allwissend. Darüber hinaus war unsere Entscheidung nicht der einzige entscheidende Faktor für das, was mit der anderen Person und uns geschehen ist. Wir können nur aus unserer Erfahrung lernen und versuchen, mit Mitgefühl und Weisheit vom gegenwärtigen Punkt aus weiterzumachen.

Während der zweiten Übungsphase sitzen wir mit unserer Gruppe im Kreis und konzentrieren uns auf einen Menschen, mit dem wir etwas zu entscheiden haben. Wenn wir eines der Gruppenmitglieder näher kennen und einen Streit mit ihm oder ihr haben, können wir mit dieser Situation arbeiten. Wenn wir mit niemandem Streit haben und auch niemanden näher kennen, können wir mit dem Thema des „Aufbaus einer Beziehung oder ihrer Verbesserung” arbeiten. Wir gehen die Herausforderung ohne Dualismus und mit warmherziger Zuwendung an und versuchen, die Situation objektiv einzuschätzen und herauszufinden, was wir zu tun geneigt sind, was unsere Intuition uns sagt, was wir zu tun beabsichtigen und was wir tun müssen. Dann versuchen wir, unsere zehn Geistesfaktoren und fünf Ar­ten Tiefen Gewahrseins zu benutzen, um eine entsprechende Handlung auszuwählen und uns für sie zu entscheiden.

Die dritte Phase üben wir, indem wir die Konzentration auf uns selbst richten, zuerst mit Hilfe eines Spiegels, später ohne. Wir wäh­len eine schwierige Entscheidung, die wir in unserem eigenen Leben treffen müssen, und wenden die bekannten Techniken an. Nützliche Themen wären, was wir mit unserem Leben machen wollen, welche Arbeit wir tun wollen, wo wir leben wollen, mit wem wir zusammenleben wollen, ob wir unseren Beruf wechseln sollen, wann wir in Rente gehen wollen und was wir dann zu tun gedenken und so weiter. Die Anwendung sämtlicher Sensibilitätsfertigkeiten, die wir in diesem Programm gelernt haben, wird not­wendig sein, um die schwierigsten Aufgaben in unserem Leben zu bewältigen.

Nachwort

Die Entwicklung ausgeglichener Sensibilität ist ein organischer Pro­zess. Jede der achtzehn Übungen führt auf ihre Weise den Prozess weiter; gleichzeitig bilden sie zusammen ein organisches Netzwerk, in dem jede Übung mit allen anderen verbunden ist. Je mehr dieses Netzwerk wächst, desto ausgereifter funktioniert es. Die auf dem Weg gewonnen Einsichten und Erfahrungen verstärken sich gegenseitig, während wir sie in unser Leben aufnehmen. Dieser Integra­tionsprozess wiederum erweitert die uns innewohnenden Netzwerke Positiven Potenzials und Tiefen Gewahrseins. Aus den so gestärkten Netzwerken schöpfend werden wir fähig, in unserem Leben mit mehr Ausgeglichenheit zu handeln.

Da die jede Situation beeinflussenden Faktoren nahezu endlos sind, stellt sich eine vollkommen ausgeglichene Sensibilität erst mit dem Erlangen eines Netzwerks Allumfassenden Tiefen Gewahrseins ein. Mit anderen Worten: Sie entsteht erst mit dem Erreichen der Bud­dhaschaft. Diese Tatsache muss uns aber durchaus nicht verzagen lassen. Denn obwohl es im Laufe unserer Übung in jedem Fall weiter zu unsensiblen oder überemotionalen Reaktionen kommt, beginnt mit aufrichtiger Motivation und beharrlicher Anstrengung ebenfalls ein Muster stetigen Fortschritts sichtbar zu werden. Unser Herz und unser Geist sind uneingeschränkt fähig, eine völlig ausgeglichene Sensibilität hervorzubringen. Jeder Fortschritt in Richtung Verwirklichung dieses Potenzials macht die damit verbundene harte Arbeit mehr als wett. Und dabei bringen unsere Mühen nicht nur uns selbst Nutzen – jedes Lebewesen, dem wir begegnen, erntet die Früchte.

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