Unser Leben integrieren: Überblick & Fokus auf unsere Väter

Fragen 

Die Vier Unermesslichen zur Mediation hinzufügen

In unserer letzten Sitzung sind wir die Übung mit dem Fokus auf unsere Mütter durchgegangen. Habt ihr dazu irgendwelche Fragen hinsichtlich der Meditation, des Vorgangs und so weiter?

Kann man sagen, dass die Meditation über die vier Unermesslichen mit dieser Praxis, die wir gerade in Bezug auf unsere Mütter gemacht haben, verbunden ist?

Nun, es ist nicht so, dass sie nichts damit zu tun hat. Die Betonung ist jedoch eine völlig andere. Mit den vier Unermesslichen lenken wir Liebe und Mitgefühl auf andere, während wir hier die Gefühle nicht wirklich auf andere richten. Die Übung ist vielmehr damit verbunden, sich an die Güte der mütterlichen Liebe zu erinnern, die wir von unserer Mutter empfangen haben. Das Objekt ist also nicht verschieden davon. Wir richten uns nach wie vor auf andere, wie unsere Mütter, Väter, Freunde oder wen auch immer. Das Objekt der Ausrichtung ist das gleiche, aber die Weise, wie unser Geist damit umgeht, ist anders. Bei den vier Unermesslichen lenken wir ein Gefühl der Liebe und des Mitgefühls auf dieses Objekt, während wir in der Übung, die wir gerade machen, die hilfreichen Dinge schätzen, die wir von den anderen bekommen haben. Das Objekt ist dasselbe, aber das, was der Geist mit dem Objekt macht, ist etwas anderes.

Das veranschaulicht sehr gut, warum Tsongkhapa betont, dass wir uns im Wesentlichen über diese zwei Punkte bewusst sein sollten, wenn wir durch Vertrautheit einen bestimmten positiven Geisteszustand entwickeln wollen: Worauf fokussieren wir uns und wie geht der Geist damit um? Dies ist also ein gutes Beispiel, in dem wir das gleiche Objekt der Ausrichtung haben, jedoch auf eine andere Weise damit umgehen. Es kann auch umgekehrt sein, also dass das Objekt sich ändert, aber der Geist auf gleiche Weise damit umgeht, wenn wir beispielsweise die gleiche Übung wie zuvor mit unserem Vater anstatt unserer Mutter machen.

Überblick über das gesamte Training

Könnten Sie bitte die Schritte erläutern?

Ja. Es ist notwendig, sich mit den Schritten vertraut zu machen, denn für den Rest des Kurses werden wir nun die gleiche Methode auf unterschiedliche Objekte der Ausrichtung anwenden. Es gibt eine lange Liste von Objekten, die wir in Betracht ziehen müssen. Ich werde sie aufzählen, damit ihr eine Vorstellung von dem Umfang dieser Praxis bekommt.

Bei jedem dieser Objekte der Ausrichtung: 

  • stellen wir uns ein Bild der Person oder Sache vor.  
  • Wenn notwendig, erinnern wir uns an die Fehler oder negativen Eigenschaften dieser Person oder Sache. Wir erkennen, dass sie durch Ursachen und Umstände in Erscheinung getreten sind und entscheiden uns, dass es nicht hilfreich ist, sich mit diesen Fehlern zu beschäftigen oder uns über sie zu beschweren. Ohne diese Fehler oder Unzulänglichkeiten zu leugnen, belassen wir es dabei, und 
  • erinnern uns als nächstes an die guten Eigenschaften der Person oder Sache, sowie daran, welche Qualitäten wir durch unsere Interaktion mit ihr entwickelt haben. Mit fester Überzeugung konzentrieren wir uns auf diese Tatsachen.  
  • Dann erkennen wir die Vorzüge dessen, was wir von der Person oder Sache gelernt haben und richten uns mit tiefer Wertschätzung und Respekt auf diese Fakten.  
  • Schließlich versuchen wir dann die Inspiration hervorzubringen, sie weiter zu entwickeln.  

Auf diese Weise gehen wir mit dem Objekt um und wenden dies nun auf viele verschiedene Objekte an.

Die erste Gruppe wären Familienmitglieder – Mutter, Vater, Brüder, Schwestern und andere enge Verwandte, die wir aus der Kindheit kennen, wie Großeltern, Tanten, Onkel und so weiter. Hier konzentrieren wir uns auf unsere Kindheit und frühe Entwicklung.

Als nächstes richten wir uns auf unser Heimatland, die Region, Kultur und Religion, in die wir hineingeboren wurden, wenn es eine gibt. Das ist vor allem für jene wichtig und relevant, die sich ihrer ursprünglichen Religion abgewandt und sich beispielsweise dem Buddhismus zugewandt haben. Oft haben Menschen die Tendenz, auf ihre ursprüngliche Religion zurückzuschauen und nur die negativen Dinge in ihr zu sehen, was auf einer sehr tiefgreifenden Ebene zu jeder Menge emotionaler Probleme führen kann. Es ist also wirklich wichtig, die positiven Dinge, die wir durch unsere ursprüngliche Religion bekommen haben, anzuerkennen.

Hier muss ich etwas sehr Hilfreiches einbringen, was man nicht in den buddhistischen Lehren, jedoch in einem psychologischen Rahmen in der so genannten „kontextuellen Therapie“ finden kann. Hierbei geht es um das Thema Loyalität. Zumindest in klinischen Studien fand man heraus, dass es in uns, als Menschen, ein großes Bedürfnis gibt, gegenüber etwas, wie unserer Herkunft, loyal zu sein. Oft ist es so, dass wir eine „unangebrachte Loyalität“ haben und uns nur auf die negativen Aspekte unserer Herkunft konzentrieren – wie unsere ursprüngliche Religion – und sie ablehnen, jedoch unbewusst weiter loyal gegenüber diesen negativen Aspekten sind. War die ursprüngliche Religion also recht engstirnig und sektiererisch, und lehnen wir sie ab, imitieren wir in gewisser Weise diese gleichen Eigenschaften oft unbewusst. Mit anderen Worten werden wir dann ziemlich engstirnig und sektiererisch, was die neue Religion betrifft, die wir angenommen haben. 

Auf einer eher klinischen Ebene kann man das in Situationen finden, in denen die Eltern sagen: „du bist nicht gut; du bist ein Verlierer“ und „du wirst es nie zu etwas bringen“. Um demgegenüber loyal zu sein, lebt das Kind dies tatsächlich aus und wird zu einem Kriminellen, Drogensüchtigen oder ähnliches; denn wenn man demgegenüber loyal ist, wie man von den Eltern bezeichnet wird, fühlt man sich unbewusst von den Eltern dafür akzeptiert. Auf einer psychologischen Ebene funktioniert es auf diese Weise. Der therapeutische Ansatz besteht dann darin, die Person dazu zu bringen, sich die positiven Dingen ihrer Herkunft vor Augen zu führen, damit sie loyal gegenüber den positiven statt den negativen Aspekten sein kann.

Die Erkenntnis aus der kontextuellen Therapie hat auch die Entstehung dieser Art der Übung geformt. Es handelt sich hier nicht spezifisch um eine buddhistische Lehre, jedoch passt sie hinsichtlich der Betonung auf das Denken an die Güte unserer Mutter, der mütterlichen Liebe, recht gut zu den buddhistischen Lehren. Was tun wir in der siebenteiligen Bodhichitta-Meditation über Ursache und Wirkung, auf der Stufe, auf der wir diese Wertschätzung für die Liebe entwickeln, die wir empfangen haben und erwidern wollen? Übersetzen wir es in die Begriffe der kontextuellen Therapie, erkennen wir die Liebe, die wir empfangen haben, sind ihr gegenüber loyal und weiten diese Liebe nicht nur auf unsere nächste Generation, sondern auf alle aus. Diese Erkenntnis der Loyalität steht im Einklang mit den buddhistischen Lehren.

Gut, das nächste Objekt der Ausrichtung in diesem Prozess besteht in all den maßgeblichen Studienrichtungen, die wir durchgegangen sind. Wir haben verschiedene Dinge in der Schule gelernt – Musik, Sport, Sprachen, Wissenschaften usw. Wir denken an den ganzen Nutzen, der uns dadurch zuteil wurde, und versuchen, das alles zu integrieren. Haben wir im Gymnasium etwas über die Geschichte oder Geografie gelernt, dann hat uns das genutzt, die Welt zu verstehen. 

Wahrscheinlich ist es eine größere Herausforderung herauszufinden, welchen Nutzen wir aus der Algebra gezogen haben, aber man kann darüber nachdenken. Wir müssen wirklich untersuchen: „Habe ich etwas daraus gelernt?“ Vielleicht sehen wir, dass wir bei der Aufstellung einer Gleichung eine Methode nutzen, die wir ins echte Leben übertragen können, um Situationen zu analysieren und Komponenten zu erkennen, durch die sie hervorgerufen wurden. Das ist eine Denkweise, die uns sicherlich von großem Nutzen gewesen sein könnte. Ich glaube, ihr versteht was ich meine. Wir könnten auf die Algebra im Gymnasium zurückblicken und sagen: „Das war völlige Zeitverschwendung und total langweilig. Ich habe sie gehasst.“ Aber das hilft uns bestimmt nicht, sie in unser Leben als Teil unserer Ausbildung zu integrieren. Wir können jedoch auch denken: „Nun ich habe daraus gelernt, Situationen auf bestimmte Weise zu analysieren. Ich streite nicht ab, dass es vielleicht damals langweilig war und ich es gehasst habe; nichtsdestotrotz habe ich aber etwas daraus gelernt. Ich bin also glücklich, dass ich das gelernt habe.“

Der nächste Bereich, auf den wir uns richten, sind unsere Lehrer, sowohl spiritueller als auch nicht-spiritueller Themen, die wesentlich zu unserer Entwicklung beigetragen haben. In den buddhistischen Lehren wird auch empfohlen, wenn wir an unsere spirituellen Lehrer denken, auch jene zu berücksichtigen, die uns das Lesen gelehrt haben. Hätten wir das nicht gelernt, wären wir ganz offensichtlich nicht in der Lage zu lesen. Wir nutzen das Lesen ständig, in unserem spirituellen Studium und im alltäglichen Leben, und die Person, die uns das Lesen lehrte, hat somit erheblich zu unserer ganzen Entwicklung beigetragen.

Dann wenden wir uns unseren Partnern, sowie unseren Kindern und Enkelkindern zu, wenn wir sie haben. Wir können das auf all die verschiedenen Partner ausweiten, die wir bislang hatten, bis hin zu dem, mit dem wir momentan zusammen sind. Sind wir geschieden, können wir uns auf die Ehepartner oder andere Partner richten, die wir hatten. Zuvor haben wir uns auf die Familienmitglieder konzentriert, die einen Einfluss auf uns als Kinder hatten, aber jetzt geht es um jene, die uns als Erwachsene beeinflusst haben.

Danach ist der nächste Schritt, nicht nur unsere Freundinnen und Freunde in Betracht zu ziehen, zu denen wir Liebesbeziehungen hatten, sondern auch all unsere engen Freunde der Vergangenheit und Gegenwart, wobei wir uns besonders auf alle richten, die uns geliebt haben.

Dann geht es damit weiter, an die wichtigen Phasen unseres Lebens zu denken, gesundheitliche und finanzielle Einflüsse, sowie jene der verschiedenen Orte, an denen wir gelebt oder die wir bereist haben. Zu verschiedenen Zeiten in unserem Leben haben wir beispielsweise an unterschiedlichen Orten gelebt, oder wenn wir in der gleichen Stadt geblieben sind, so haben wir vielleicht doch die Wohnungen oder Häuser gewechselt. Und vielleicht gab es Phasen in unserem Leben, in denen wir nicht gerade viel Geld hatten, und andere Phasen, in denen es keine Geldsorgen gab. Oder es gab Phasen, in denen wir ernsthaft krank waren und andere, in denen wir gesund waren. Wir sehen uns also diese verschiedenen Phasen an und erkennen, was wir Nützliches von diesen unterschiedlichen Erfahrungen gelernt haben. Ich denke, hier können wir Dinge, wie zu einer Art Gemeinschaft oder Fitness-Gruppe zu gehören, oder eine Art Hobby, wie Photographie, zu haben, miteinbeziehen. Auch sollten wir die verschiedenen Jobs mit dazunehmen, die wir in Bezug auf unsere Beschäftigung hatten.

Wollen wir etwas tiefer und einen Schritt weiter gehen, können wir auch Situationen aus vorangegangenen Leben mit in Betracht ziehen, die etwas mit Mustern in unserem gegenwärtigen Leben zu tun haben. All das passt ganz harmonisch zu den buddhistischen Lehren des Sich-Freuens. Wir freuen uns an den positiven Dingen, die wir in der Vergangenheit getan haben und die zu den guten Eigenschaften führten, die wir jetzt besitzen. Ob wir nun über Bildung oder konstruktive Dinge reden, die wir in einem früheren Leben getan und die zu unserer gegenwärtigen kostbaren menschlichen Wiedergeburt geführt haben, richten wir uns auf all diese Objekte mit Freude und freuen uns in unserer buddhistischen Praxis über sie alle. Das ist sehr ähnlich, und wenn wir Dinge, wie Astrologie oder Numerologie, studiert haben und uns darüber bewusst sind, können wir auch das mit einbringen: Die verschiedenen Nutzen, die wir durch unsere Position von Venus, Mars oder Mond haben, sowie die verschiedenen Aspekte unseres Horoskops oder Kombinationen von Nummern unserer verschiedenen Namen.

Das sind also die unterschiedlichen Bereiche, in denen wir diese Methodik für den ersten Schritt der Übung des Prozesses anwenden. Wie in dem Programm „Ausgewogene Sensibilität entwickeln“, könnte jede Übung mehrere Monate in Anspruch nehmen, denn in jeder gibt es eine Vielzahl von Schritten.

In zweiten Schritt dieses Vorgangs geht es darum, wie wir all diese Dinge miteinander integrieren. Zunächst ist es notwendig, alle Teile zu erfassen und zusammenzutragen. Haben wir den ersten Schritt gründlich durchgearbeitet, müssen wir das nicht immer wieder tun. Sobald wir alle Informationen in Bezug auf die positiven Dinge, die wir durch all diese anderen Quellen bekamen, zusammengetragen und eine große Wertschätzung ihnen gegenüber entwickelt haben, gilt es, diesen Vorgang des Zusammenfügens all der Dinge immer wieder zu wiederholen. Wir müssen sie alle zu einem integrierten Ganzen zusammenfügen, bei dem es darum geht, wie sich unser jetziger Zustand, abhängig von diesen positiven, nicht nur den negativen Faktoren, entwickelt hat. 

Auf diesen Vorgang, in dem wir all das miteinander integrieren, werde ich im nächsten Teil eingehen. Aber hier bekommt ihr schon einmal einen allgemeinen Überblick darüber, womit wir uns beschäftigen werden. Es handelt sich um einen sehr umfangreichen Vorgang, der jedoch sowohl für „Dharma-light“ als auch für den „echten Dharma“ – also für die Arbeit an diesem oder zukünftigen Leben, sowie Befreiung und Erleuchtung – ausgesprochen nützlich sein kann; davon bin ich immer mehr überzeugt.

Sich mit Missbrauch auseinandersetzen

Wenn wir uns mit diesem Vorgang befassen, gestehen wir zu Beginn die Mängel der Person oder Situation ein und fassen den festen Entschluss, nicht auf ihnen zu verweilen oder uns wegen ihnen zu beschweren. Wir erkennen sie einfach und gehen dann dazu über, die positiven Dinge zu schätzen. Was ist, wenn uns diese negativen Dinge verfolgen und immer wiederkehren, auch wenn wir das nicht wirklich wollen, und ein Hindernis für unsere Praxis werden? Was sollen wir dann tun?

Ich nehme an, du beziehst dich hier auf eine Situation, in der die verschiedenen Methoden, den Geist zu beruhigen, nicht effektiv genug für uns sind. Es gibt ja viele Methoden, wie das Loslassen, die Gedanken wie Wolken im Himmel sehen, Dinge wie Wellen im Ozean zur Ruhe kommen lassen usw. Aber wenn all das nicht funktioniert, was tun wir dann? Das ist deine Frage. Wir können an Beispiele denken, in denen das der Fall sein könnte.

Nehmen wir einmal an, wir hätten durch ein Elternteil oder einen anderen Verwandten körperlichen oder sexuellen Missbrauch erfahren. Vergesst nicht, dass ich kein Therapeut bin und somit nicht über klinische Erfahrung verfüge, aber soweit ich das verstehe, wäre es, besonders aus buddhistischer Sichtweise, wahrscheinlich das Beste, uns erst einmal nicht weiter mit der Person zu befassen und uns mit all den anderen Aspekten des Nutzens zu beschäftigen, den wir von anderen Menschen erfahren haben: die Liebe und Güte, die uns zuteil geworden ist. Denn oft ist es in Leuten, die missbraucht wurden, wie in Stein gemeißelt, dass sie nicht gut sind und es irgendwie verdient haben, missbraucht zu werden. Können sie all den Vorzügen und der Güte, die sie von anderen empfangen haben, mehr Nachdruck verleihen, gelingt es vielleicht, diesen Gefühlen entgegenzuwirken und das Selbstbild etwas zu stärken. Dann haben sie die Kraft, sich im Geist mit dieser Person, die sie missbraucht hat, auseinanderzusetzen und die Ungerechtigkeit ihres Missbrauchs zu akzeptieren, aber auch darüber hinauszugehen und die positiven Eigenschaften dieser Person zu sehen. Sind wir in der Lage, ein positiveres Gefühl der Kraft und des Selbstbildes zu erlagen, haben wir auch oft die Kraft, uns mit unseren früheren traumatischen Erfahrungen zu befassen.

Auch ist es so, dass jemand, der missbraucht wurde, in der Regel niemandem vertraut, und wenn man lernen kann, all die Güte, Liebe und Vorzüge zu schätzen, die man von anderen bekommen hat, ist das hilfreich, dem entgegenzuwirken. Was wir auch manchmal bei Menschen beobachten können, die missbraucht wurden, ist, dass sie sich übermäßig mit der Opferrolle identifizieren, und von anderen fordern, sie dafür zu entschädigen. Sie meinen dann vielleicht gegenüber ihren Eltern: „Ihr müsst mir immer mehr und mehr geben, weil ich Armer das Opfer war. Kauft mir ein neues Haus, verwöhnt mich und so weiter.“ Das ist ziemlich destruktiv, und wenn wir erkennen können, dass wir auch von anderen so viel bekommen haben, nicht nur als Opfer sondern ganz allgemein, kann das helfen, diesem Syndrom entgegenzuwirken, mit dem wir meinen: „Ich bin das Opfer und verdiene daher eine Sonderbehandlung.“

Ich denke manchmal, dass es sehr anschaulich und hilfreich ist, zu analysieren, wie wir mit einer extremen Situation umgehen würden, um herauszufinden, wie wir mit weniger dramatischen Situationen, die wir selbst erlebt haben, zurechtkommen können. Vielleicht hat uns unser Geschäftspartner oder unser Ehepartner betrogen – solche Dinge sind im Allgemeinen weniger schwerwiegend als sexuell oder körperlich missbraucht worden zu sein.

Die Bedeutung von Gleichmut 

Wenden wir nun diesen ganzen Vorgang auf unseren Vater an. Wir sind ihn zuerst mit unserer Mutter durchgegangen, nun tun wir es mit dem Vater.

Meiner Meinung nach ist es wirklich wichtig, mit beiden – Mutter und Vater – zu arbeiten, denn sie haben in der Regel den größten Einfluss auf uns gehabt, als wir heranwuchsen, es sei denn sie waren geschieden und wir hatten nur mit einem von beiden Kontakt, wurden nur von einem erzogen, einer von ihnen ist verstorben oder etwas in der Art. Es ist also wichtig, eine ausgewogene Sichtweise in Bezug darauf zu haben, was wir von ihnen bekamen. 

Wurden wir nur von einem Elternteil großgezogen und der andere hat nicht viel für uns getan, oder verstarb einer von beiden, als wir noch jung waren, können wir versuchen zu erkennen, was wir daraus gelernt haben. Welchen Nutzen haben wir aus dieser Erfahrung gezogen? Vielleicht haben wir dadurch etwas mehr Verantwortung in unserem Leben übernommen, weil einer unserer Eltern nicht mehr da war, als wir ein junger Teenager waren und wir mussten somit schnell erwachsen werden. Obwohl es ziemlich einfach ist, diesen Vorgang mit jemandem durchzugehen, mit dem wir eine sehr positive und gute Beziehung hatten, so ist es doch weit hilfreicher zu versuchen, mit jemanden zu arbeiten, mit dem die Beziehung eher schwierig war.

In Bezug auf die vorige Frage, sollten wir jedoch eine Person, die uns zu schwierig erscheint, auslassen, bis wir etwas sicherer in dieser Übung sind. Dann können wir wieder auf sie zurückkommen. Ich glaube, das weist auf die Bedeutung hin, die all den Meditationen über Liebe, Mitgefühl und Bodhichitta im Buddhismus beigemessen wird. Die Grundlage für diese Meditationen ist Gleichmut. Solange wir unseren Geist nicht von Anziehung, Ablehnung – was sich hier auf den Hass gegenüber dieser Person bezieht, mit der wir eine schwierige Beziehung hatten – und Gleichgültigkeit freimachen können und diese Basis des Gleichmutes haben, werden wir nicht in der Lage sein, auf die vollkommene Mahayana-Weise Liebe und Mitgefühl zu haben, also ebenbürtig gegenüber jedem zu sein. 

Außerdem wird die Tatsache hervorgehoben, wie notwendig es ist, zunächst die anfänglichen Ebenen der Motivation zu praktizieren, bevor man sich an die fortgeschritten heranwagt. Sehen wir uns das Lam-rim-Schema an, so erkennen wir, dass wir vor der fortgeschritten Ebene auf der mittleren Ebene daran arbeiten, unsere störenden Emotionen Anhaftung, Verlangen, Gier, Feindseligkeit und so weiter – zumindest bis zu einem gewissen Grad – zu überwinden. Solange wir darin nicht geübt sind, wird es ziemlich schwer sein, diesen ersten Schritt der Übungen des Gleichmuts auf der fortgeschrittenen Ebene zu erreichen. Es wird nicht funktionieren, uns einfach zu sagen: „Anhaftung, Ablehnung und Gleichgültigkeit – verschwindet!“ Die Tatsache, dass es sich hierbei um aufeinanderfolgende Stufen handelt, es bestimmte Schritte und einen Sinn hinter ihnen gibt, sollten wir wirklich ernst nehmen. Die buddhistische Praxis ist nicht einfach nur grundlos so aufgebaut.

Fokus auf unseren Vater 

Gut, lasst uns nun mit unserem Vater arbeiten.

Zunächst ist es notwendig, den geistigen und emotionalen Behälter für diese Übung zu schaffen, nämlich den ruhigen Geist und das fürsorgliche Herz. 

  • Als erstes kommen wir zur Ruhe und die einfachste Methode besteht, wie bereits erklärt, darin, loszulassen.  
  • Dann bringen wir die fürsorgliche Geisteshaltung mit ins Spiel: „Ich bin ein Mensch, wie alle anderen auch. Ich habe Gefühle, wie alle anderen. Ich möchte glücklich und nicht unglücklich sein. Ich kümmere mich darum, möchte mich um mich selbst sorgen und versuche, mich selbst glücklicher zu machen. Ich muss mir dieses Glück nicht verdienen und es muss mir auch nicht zugeteilt oder genehmigt werden. Es ist einfach eine natürliche Richtung, in die man gehen kann, wie eine Pflanze, die der Sonne entgegenwächst. 
  • Dann denken wir an unseren Vater. Wenn wir uns ihn in unserem Geist vorstellen können, ist das sehr gut; wenn nicht, sollten wir uns keine Sorgen deswegen machen.  
  • Wir versuchen uns, an seine Mängel und negativen Eigenschaften zu erinnern und verstehen, dass sie durch Ursachen und Umstände seiner Vergangenheit und die Zeit, in denen er aufgewachsen ist, zustande gekommen sind. 
  • Nun entschließen wir uns, dass es nicht hilfreich ist, uns mit diesen Fehlern weiter zu beschäftigen und belassen sie dabei, ohne sie jedoch zu leugnen.  

Wenn wir das Gefühl haben, dass es in diesem Moment hilfreich ist, unserem Vater für seine Fehler zu vergeben, tun wir das; Vergebung stammt auch aus einem anderen begrifflichen Bezugssystem als dem buddhistischen, aber es schadet nicht, darauf einzugehen. Vergebung hat eher etwas mit unseren Gefühlen zu tun; die Mängel des Vaters sind jedoch einfach eine Tatsache und somit neutral. Vom buddhistischen Standpunkt brauchen wir, um Missgunst und Groll zu überwinden, statt der Vergebung Verständnis.

  • Dann denken wir an die guten Eigenschaften unseres Vaters und daran, welche Qualitäten wir durch den Kontakt mit ihm übernommen haben. Hier sollten wir nicht nur an die guten Eigenschaften denken, die wir vielleicht schon angenommen haben, sondern auch an jene, die wir noch von ihm lernen könnten, egal ob er noch lebt oder nicht.  
  • Mit der festen Überzeugung, dass es sie tatsächlich gibt, richten wir uns auf diese guten Eigenschaften, die wir übernommen haben. 
  • Dann erkennen wir den Nutzen, den wir von unserem Vater hatten, was wir gelernt oder bekommen haben und versuchen, uns mit tiefer Wertschätzung und Respekt darauf zu konzentrieren.  
  • Wir versuchen die Inspiration hervorzubringen, diese Eigenschaften weiterzuentwickeln. Sein Beispiel gibt uns Auftrieb, erhellt uns und verleiht uns Energie. Wenn man möchte, kann man sich ein gelbes Licht vorstellen, dass vom Herzen des Vaters ausstrahlt, in das eigene Herz eingeht und es mit der Inspiration und Kraft füllt, diese Qualitäten zu entwickeln. Es ist wie ein Geschenk für uns. 
  • Dann schließt sich unsere Mutter ihm an, wir erinnern uns an all ihre guten Eigenschaften und an das, was wir von ihnen gelernt haben. Das gelbe Licht strahlt auch von ihr aus und füllt uns mit der Inspiration, sie weiterzuentwickeln. Es ist ihr Geschenk für uns.  
  • Mit der Kombination dieser zwei Lichter fühlen wir uns erhoben und erhellt, diese Dinge immer mehr zu entwickeln.  
  • Wir haben das Gefühl, dass wir mit diesem Licht strahlen und jeden inspirieren können, diese Qualitäten ebenfalls zu entwickeln. 
  • Das lassen wir auf uns einwirken und kommen dann langsam zu unserem gewöhnlichen Geisteszustand zurück.  
  • Wir denken wieder: möge alles Verständnis und alle positive Kraft, die wir daraus gewonnen haben, immer tiefer und tiefer gehen, und als Ursache dienen, andern bestmöglich helfen zu können. 

Noch eine letzte Bemerkung für jene, die vielleicht vertraut mit bestimmten Arten der tantrischen Meditationen im Buddhismus sind. Vielleicht habt ihr bemerkt, dass wir uns hier genau der gleichen Struktur bedienen, wie bei der Arbeit mit einer Buddha-Gestalt, wie Chenrezig, bei der wir voller Mitgefühl sind und dieses Mitgefühl dann zu allen aussenden. In unserer Übung geht es um die gewöhnlicheren Quellen dieser Qualitäten, die wir von den diversen Menschen und Aspekten unseres Lebens bekommen haben. Für die meisten von uns wird dann wahrscheinlich der Zugang zur Arbeit mit dieser visualisierten Form im Aspekt einer Buddha-Gestalt viel leichter sein und somit könnten diese Übungen ein Schritt auf dem Weg für solche Praxis-Formen sein.

Morgen werden wir mit einigen der anderen Kategorien von Objekten arbeiten, die nützlich für uns wahren und von denen wir gute Eigenschaften übernommen haben. Was eure eigene Praxis betrifft, wäre es jedoch gut, die heutigen Übungen mit anderen Familienmitgliedern durchzugehen, die euch seit eurer Kindheit beeinflusst haben. Am Ende stellen wir uns unsere ganze Familie um uns herum vor, jeder sendet uns gelbes Licht und wir fühlen das integrierte Ganze all der wunderbaren Dinge, die uns von unserer Familie zuteil geworden sind. Das ist im Grunde unser Erbe.

Top