Buddhistische Sexualethik: Eine historische Perspektive

Heute Abend werden wir über die buddhistische Sexualethik reden. Wie bei allen buddhistischen Lehren ist es wichtig zu sehen, wie sie sich in die grundlegende Struktur des Buddhismus, nämlich die der Vier Edlen Wahrheiten, einfügt. Kurz gesagt: Buddha sprach über die wahren Leiden, die wir alle erfahren – das ist die erste edle Wahrheit. Also das Leid von Unglücklichsein und Schmerz, das Leid unseres gewöhnlichen Glücks, das niemals anhält und sich immer wieder in Unglück verwandelt – wenn wir zum Beispiel unsere Lieblingsspeise andauernd weiteressen und sich das anfängliche Glücksgefühl in ein Gefühl des Unwohlseins verwandelt, wenn wir voll sind. Zudem gibt es das alles umfassende Leiden, welches die Grundlage für die Erfahrung der ersten beiden Leiden ist und darin besteht, dass wir zwanghaft immer weitere Wiedergeburten durchlaufen, mit einem Körper und einem Geist, die die Grundlage für dieses Unglücklichsein oder dieses gewöhnliche Glücklichsein bilden.

Die wahre Ursache all dessen liegt in unserem fehlenden Gewahrsein hinsichtlich Ursache und Wirkung und hinsichtlich der Realität sowie hinsichtlich der störenden Emotionen, die aufgrund dieses fehlenden Gewahrseins erzeugt werden, und des karmischen Verhaltens, das aus diesen störenden Emotionen hervorgeht – sowohl destruktives Verhalten, als auch konstruktives Verhalten, denn sogar konstruktives Verhalten wird unseren zwanghaften Daseinskreislauf weiter aufrechterhalten, wenn es mit Naivität in Bezug darauf einhergeht, wie wir existieren und wie alles andere existiert.

Die dritte edle Wahrheit besagt, dass es möglich ist, wahre Beendigung des Leidens zu erlangen, indem wir uns von den wahren Ursachen lösen, so dass sie nie wieder auftreten. Und die vierte edle Wahrheit sind die Geisteszustände der wahren Pfade, mit anderen Worten die Denkweise, aber auch die daraus hervorgehende Art zu handeln und zu sprechen, die es uns ermöglichen wird, diese wahre Beendigung zu erlangen.

Das ist die grundlegende Struktur der buddhistischen Lehren. Wenn wir also über Sexualethik reden, ist es wichtig, die Rolle des Sexualverhaltens im Zusammenhang mit den wahren Ursachen der Leiden zu verstehen. Wenn wir die wahre Beendigung der Leiden erlangen wollen – insbesondere unserer fortgesetzten samsarischen Wiedergeburt als Grundlage, die auch das Leiden des Unglücklichseins sowie das Leidens unseres gewöhnlichen Glücklichseins mit beinhaltet – , dann wird es notwendig sein, die schwierigen Aspekte unseres sexuellen Verhaltens zu überwinden.

Wenn wir vom buddhistischen Gesichtspunkt aus über Ethik und ethische Selbstdisziplin reden, geht es nicht darum, eine Reihe von Gesetzen aufzustellen und diese zu befolgen. Das ist ein westliches Konzept, das entweder den biblischen Religionen oder bürgerlichen Rechten entstammt. Im Buddhismus ist die ganze Grundlage der Ethik im Hinblick auf das unterscheidende Gewahrsein strukturiert. Mit anderen Worten, die Grundlage für das ethische Verhalten besteht hier nicht im Befolgen von Gesetzen, sondern vielmehr im Unterscheiden zwischen dem, was hilfreich ist, und dem, was schädlich ist. Niemand sagt also, dass wir eine bestimmte Art des Verhaltens, das Leiden und Probleme verursachen wird, vermeiden müssen; es ist unsere Wahl. Wenn man Leiden vermeiden und sich davon lösen will, dann sind laut Buddha dies die Verhaltensweisen, von denen wir uns lösen müssen. Das ist dann unsere Wahl. Es geht also nicht darum, ein guter oder ein schlechter Mensch zu sein oder Regeln zu befolgen, und es gibt auch keinen entsprechenden Schuldbegriff. Schuld beinhaltet, dass man gegen ein Gesetz verstößt.

Die ganze Erörterung der Sexualethik konzentriert sich also auf diesen Aspekt des unterscheidenden Gewahrseins. Und wenn es uns nicht möglich ist, eine bestimmte Form von problematischem sexuellen Verhalten zu vermeiden, gibt es zahlreiche Faktoren, die das Ausmaß des Leidens beeinflussen, das durch solches Verhalten für uns hervorgerufen wird. Also versuchen wir die Schwere dieser unangemessenen sexuellen Handlung zu minimieren. Dazu gehört auch, zu unterscheiden, welche Handlung schwerere Folgen und welche weniger schwere Folgen nach sich zieht, und zu versuchen, die Folgen so gering wie möglich zu halten.

Des Weiteren ist es wichtig, bestimmte Kategorien zu verstehen, die zur Einstufung der verschiedenen Arten von Verhalten verwendet werden. Es gibt nicht lobenswerte Handlungen (tib. kha-na ma-tho-ba). „Nicht lobenswert“ bedeutet, dass man sie niemandem empfehlen würde. Sie sind nicht lobenswert und sie werden etliche Probleme hervorrufen. Einige sind von ihrer Natur her nicht lobenswert (tib. rang-bzhin kha-na ma-tho-ba), sie sind daher für niemanden lobenswert; und andere sind so genannte untersagte nicht lobenswerte Handlungen (tib. bcas-pa’i kha-na ma-tho-ba), d.h. Buddha empfahl bestimmten Menschen in bestimmten Situationen, diese Handlungen zu vermeiden. Dabei geht es um Handlungen, die im Grunde ethisch neutral sind, wie zum Beispiel bei der Empfehlung für Mönche und Nonnen bezüglich des Essens nach dem Mittag. Nach dem Mittag noch etwas zu essen ist eigentlich eine ethisch neutrale Handlung, aber wenn man Mönch oder Nonne ist und in der Nacht und am Morgen mit klarem Geist meditieren möchte, ist es am besten, das Essen nach dem Mittag zu vermeiden.

Im Gegensatz zu diesen untersagten nicht lobenswerten Handlungen, die ethisch neutral sind, sind diejenigen, die aufgrund ihrer Natur nicht lobenswert sind, destruktiv. „Destruktiv“ bedeutet, dass sie zu Leid führen werden – es sei denn, man bereinigt sie. Alles sexuelle Verhalten ist von seiner Natur her nicht lobenswert. Das ist etwas, was wir Menschen im Westen nicht gerne hören. Die wichtige Frage ist aber: Warum ist alles sexuelle Verhalten destruktiv? Alles sexuelle Verhalten ist destruktiv, weil es – laut dem Text, und ich bin mir sicher, dass wir dies aus eigener Erfahrung bestätigen können – dazu führt, dass sich störende Emotionen verstärken. Also müssen wir, wenn wir Befreiung von Samsara erlangen wollen, störende Emotionen überwinden. Wenn wir Befreiung erlangen wollen, ist es also notwendig, letztlich alle Arten von Verhalten aufzugeben, die dazu führen, dass sich störende Emotionen verstärken.

Wenn wir uns die Lehren des Kalachakra Tantra ansehen, finden wir dort die Erklärung, dass sexuelles Verhalten und der Verlauf zum Orgasmus die Wünsche und Anhaftungen verstärkt. Man will diesen Orgasmus erreichen, und wenn man einen Orgasmus hat und er vorbei ist, ist man ungehalten, denn man möchte nicht, dass er endet. Und danach sinkt man in einen Zustand von Naivität, denn man wird ganz und gar träge. Das wird im Text gesagt, und wenn wir uns selbst ernsthaft prüfen, werden wir vermutlich feststellen, dass genau das passiert.

Wir wissen, dass man gemäß den Lehren nicht unbedingt ein Mönch oder eine Nonne sein muss, um Befreiung und Erleuchtung zu erlangen. Wir können auch „Haushälter“ sein. Was bedeutet es, ein „Haushälter“ zu sein? Der Begriff bezieht sich auf Personen im Ehestand, die Haus und Kinder haben. Er beinhaltet nicht, dass man sexuell aktiv sein muss. Wenn wir wirklich Befreiung erlangen wollen, müssen wir irgendwann jegliches sexuelle Verhalten aufgeben. Das sind die Fakten.

Sicherlich sind aber die meisten von uns noch nicht auf der Stufe, wo wir jegliches sexuelle Verhalten aufgeben können. Aber wir sollten uns nichts vormachen: Der Buddhismus ist nicht voller romantischer Ideen, wie wunderbar Sex ist und wie man andere dadurch glücklich macht. Es tut mir leid, aber davon ist im Buddhismus nicht die Rede. Im Buddhismus würde es als fehlerhafte Betrachtungsweise eingestuft, so zu denken, nämlich etwas, das eigentlich Leiden ist, als Glück zu betrachten. Denn mit sexuellem Verhalten gegenüber jemand anderem, versuchen wir zwar, diese Person glücklich zu machen, aber es handelt sich um die zweite Form des Leidens: das gewöhnliche Glück, das wieder verschwinden wird; es wird nicht andauern und es wird lediglich dazu führen, dass sich die störenden Emotionen des anderen verstärken.

Ich denke, die Sache ist die: Es ist sehr wichtig, nicht naiv in Bezug darauf zu sein, was Sex vom buddhistischen Standpunkt aus bedeutet. Wenn wir sexuelles Verhalten ausüben – welche Form des Verhaltens es auch sein mag – , sollten wir zumindest verstehen, was im Grunde damit verbunden ist. Und wir sollten es nicht idealisieren; wir können es als das genießen was es ist, sollten aber keine große Sache daraus machen.

Innerhalb dieser Kategorie allen sexuellen Verhaltens, das von seiner Natur her unlöblich ist, gibt es zwei Unterteilungen: das so genannte unangemessene sexuelle Verhalten (tib. log-g.yem) und solches, das nicht unangemessen ist (tib. log-g.yem ma-yin-pa) und das wir vermutlich als „angemessenes sexuelles Verhalten“ bezeichnen würden. Das bedeutet also, dass das Leiden, welches durch unangemessenes sexuelles Verhalten entsteht, größer ist als das Leiden, welches durch angemessenes sexuelles Verhalten entsteht. Allerdings bestreitet niemand, dass wir durch sexuelles Verhalten gewöhnliches Glück erfahren. Natürlich ist das der Fall, aber auch das ist eine Form des Leidens.

Angemessenes sexuelles Verhalten wäre ganz normaler Penis-Vagina-Sex mit dem Ehepartner. Alles andere kann es eigentlich nur aus Gründen der Anhaftung und Begierde geben. Bei der ersteren Form des Geschlechtsverkehrs kann der Grund immerhin darin bestehen, ein Kind zeugen, und von diesem Gesichtspunkt aus ist sie weniger schwerwiegend.

Was ist nun unangemessenes sexuelles Verhalten? Dieses sexuelle Verhalten ist das, was in der Liste der zehn schädlichen Handlungen aufgeführt ist. Es gibt eine lange geschichtliche Entwicklung der Angaben, was eigentlich unangemessenes sexuelles Verhalten ausmacht, und natürlich kann es mit großen Schwierigkeiten verbunden sein zu verstehen, wie sich diese Angaben in der Geschichte weiterentwickelt haben und warum sie immer ausführlicher wurden. Wurden diese Einzelheiten einfach später von sittenstrengen Mönchen in Indien hinzugefügt – all das hat sich ja in Indien entwickelt – oder waren die späteren Ausführungen bereits implizit in den frühesten Aufzählungen enthalten und die späteren Kommentatoren haben die Bedeutung lediglich ausgearbeitet? Die tibetischen Meister werden sagen, das sei alles von Anfang an implizit darin enthalten gewesen. Doch es ist ziemlich interessant zu betrachten, was wann und von wem genauer bestimmt wurde, denn das gibt uns auch einige Hinweise darauf, was schwerwiegender und was weniger schwerwiegend ist. Wenn etwas von Anfang an hervorgehoben wurde, können wir sicher sein, dass es sich dabei um die schwerwiegendsten Arten von unangemessenem Sexualverhaltens handelt.

Schon das Wort, das hier für „unangemessen“ (tib. log-pa) verwendet wird, ist äußerst schwierig zu übersetzen. Es ist dasselbe Wort, das in dem Begriff „verzerrte Ansicht“ vorkommt; es handelt sich also um ein Wort, das in anderen Zusammenhängen als „verzerrt“ übersetzt wird. Aber wir können es hier sicherlich nicht als „verzerrt“ (distorted) übersetzen, denn in unseren Sprachen wird diese Bedeutung mit „pervertiert“ (perverted) in Verbindung gebracht, und das ist mit Sicherheit nicht das, worüber wir reden.

In anderen Zusammenhängen bedeutet dieses Wort einfach nur „gegenteilig“ und meiner Meinung nach kommt das Wort „gegenteilig“ der Bedeutung hier am nächsten.

Es ist das Gegenteil von angemessenem Verhalten, mit anderen Worten: alles, was nicht dem angemessenen Verhalten entspricht. Oder auch: „entgegengesetztes sexuelles Verhalten“ – das, was im Gegensatz zu ersterem steht -, aber das klingt etwas unbeholfen. Manchmal habe ich es als „unkluges“ und manchmal als „unangemessenes sexuelles Verhalten“ übersetzt. Keiner dieser Ausdrücke ist eine gute Übersetzung, aber momentan benutze ich „unangemessen“, obwohl es eine unangemessene Wortwahl sein mag. Die Bedeutung ist: „alles, was nicht angemessen ist“.

Die Vinaya-Texte befassen sich mit monastischer Disziplin für Mönche und Nonnen und darin lautet eines der Gelübde, die sowohl für Mönche als auch für Nonnen gelten, dass ein Mönch oder eine Nonne nicht als Vermittler oder Vermittlerin tätig sein sollte, um eine eheliche oder sexuelle Verbindung für bestimmte Menschen zu arrangieren. Für die Mönche gibt es in diesem Zusammenhang normalerweise eine lange Liste der verschiedenen Arten von Frauen, und in einigen Vinayas gibt es auch eine Liste mit ähnlichen Arten von Männern. Die Frauen, die hier aufgelistet werden, sind jene, die verheiratet sind oder unter der Vormundschaft einer anderen Person stehen, und in Bezug darauf gibt es eine lange Liste: unter Vormundschaft des Vaters, der Mutter, der Schwester oder des Bruders usw. „Unter der Vormundschaft“ wird so erklärt, dass es dem Mädchen nicht erlaubt ist, seine eigenen Entscheidungen zu treffen – dass alles vom Vormund vorgeschrieben wird. Bitte denken Sie daran, dass wir über das alte Indien reden, es sind also keinerlei Vorstellungen von Frauenbewegung oder Frauenrechten vorhanden.

Die gleiche Auflistung erscheint dann in den Theravada-Sutras für jene Personen, die als sexuelle Partner unangemessen sind; es handelt sich um die gleiche Liste. Wir können also sehen, dass es schon in frühester Zeit, von Anfang an, einen sehr engen Zusammenhang zwischen der Sexualethik für Mönche und Nonnen und der Sexualethik für Laien gab.

In den Suttas selbst – den Theravada-Suttas, die auf Pali verfasst sind – wird erklärt, dass es sich hier um unangemessene Partner handelt, weil im Grunde der Sex mit irgendeinem von ihnen dazu führt, dass man viele andere schädlichen Handlungen begeht. Er kann dazu führen, dass man in Bezug darauf lügt, und wenn der Vormund oder Ehemann es herausfindet, wird man diese Person vielleicht sogar töten oder man muss stehlen, um ihr ein Bestechungsgeld zahlen zu können; oder es kann dazu führen, dass es innerhalb der eigenen Familie zu Streit kommt. Auf diese Weise können also vielerlei schädliche Handlungen entstehen. Es gibt eine ganze Liste davon, die in den Pali-Suttas zu finden ist.

In den Kommentaren der späteren Pali-Literatur wird erklärt: Wenn man mit einer Frau Sex hat, deren Vormund keine Erlaubnis dazu gibt, hat nur der Mann eine karmische Übertretung begangen. Die Frau hat keine karmische Übertretung begangen, wenn sie nicht vor oder während des Aktes Begierde und Anhaftung entwickelt. Dies ist vergleichbar mit einer der Regulierungen, die Mönche und Nonnen betrifft. Wenn eine Nonne vergewaltigt wird, verliert sie nicht ihre Gelübde, es sei denn, sie entwickelt Begierde und Anhaftung während der Vergewaltigung. Es gilt also Ähnliches: Wenn die Frau vergewaltigt wird und keine Begierde oder Anhaftung entwickelt, hat sie keine karmische Übertretung begangen. Was hier noch hinzugefügt wird und was ich in keinem buddhistischen Text anderer buddhistischer Traditionen gefunden habe, ist Folgendes: Wenn das Paar eine Genehmigung erhält – wenn die Frau eine Genehmigung vom Vormund oder vom Ehemann erhält – , dann entsteht weder für den Mann noch für die Frau eine karmische Übertretung. Wenn also die Eltern sagen: „Nun gut, es ist in Ordnung, wenn meine Tochter sexuell aktiv ist“, dann ist es in Ordnung. Wenn aber die Eltern wirklich sehr dagegen sind, dann ist es eine karmische Übertretung. Man kann verstehen, warum das so sein könnte: weil man möglicherweise deswegen lügen müsste. Denn es könnte zu Streit und großen Problemen führen, wenn die Eltern es herausfinden.

Erinnern Sie sich daran: Hier geht es darum, wie viel Leid und Probleme das eigene sexuelle Verhalten verursacht. Es hat nichts damit zu tun, dass man gut oder schlecht ist. Es wird jedoch nichts darüber erwähnt, ob die Frau in dem Fall Sex haben möchte oder nicht. Von unserem Standpunkt aus gesehen würden wir sagen: „Aber was ist mit den Eltern in Südostasien, die extrem arm sind und einwilligen, ihre Tochter in die Prostitution zu verkaufen. Ist das dann in Ordnung, weil das Mädchen die Genehmigung von ihren Eltern bekommen hat?“ In den Texten wird nicht angegeben, ob das davon abhängig ist, ob die Frau Sex haben möchte oder nicht. Offensichtlich ist das ein Fall, wo es, wie ich vorher erklärt habe, nicht bedeutet, dass etwas nicht implizit zur Beschreibung dazugehört, nur weil es nicht erwähnt wird.

Auch hier muss man also wieder das eigene unterscheidende Gewahrsein benutzen, um die Zusammenhänge zu untersuchen.

Wenn wir nun in den Vinayas einiger anderer früher Traditionen nachsehen – es gab 18 Hinayana-Traditionen und jede hat ihren eigenen Vinaya – , finden wir noch einige weitere Kategorien unangemessener Partner aufgelistet. Außerdem ist es hier wichtig zu verstehen, dass die ganze Erörterung der Sexualethik ausschließlich vom Standpunkt eines Mannes beschrieben wird. Bedeutet das nun, dass es für Frauen keine Sexualethik gibt, nur weil sie nicht in Bezug auf unangemessene Partner für eine Frau beschrieben wird? Natürlich nicht. Die Beschreibung impliziert, dass man eine ähnliche Liste für Frauen aufstellen müsste. In einigen dieser Vinayas werden in der Liste auch Nonnen mit Enthaltsamkeitsgelübde aufgeführt sowie auch Gefangene – ein Gefangener ist jemand, den der König im Gefängnis festhält, und wenn man diese Person herausholt und Sex mit ihr hat, wäre das unangemessen, denn Gefangene gehören dem König.

Eine dieser Hinayana-Traditionen ist die Sarvastivada-Tradition. Die tibetische Tradition stammt im Wesentlichen von dieser Tradition ab, und zwar in Bezug auf ihren Vinaya und in Bezug auf ihre Erörterung der Hinayana-Lehrsysteme, Vaibashika und Sautrantika – all dies befindet sich in der Sarvastivada-Tradition. Der Vinaya, dem die Tibeter folgen, ist derjenige des Mula-sarvastivada, einer spätere Tradition innerhalb des Sarvastivada.

In einem der sehr frühen Texte dieser Tradition werden in der Aufzählung unangemessener Partner auch hilflose Reisende aufgeführt. Das bezieht sich darauf, es auszunutzen, wenn jemand allein unterwegs ist und von niemandem beschützt wird. Hier werden auch Schüler mit aufgelistet. Und es wird auch noch ein anderer Fachbegriff benutzt: „zölibatäres Verhalten“ (tib. tshangs-spyod, Skt. brahmacharya). Innerhalb des unangemessenen Sexualverhaltens gibt es zwei Kategorien: zölibatäres und nicht-zölibatäres Verhalten. Zölibatäres Verhalten wird in Sanskrit als „brahmacharya“ bezeichnet. Wörtlich bedeutet es „sauberes“ bzw. „reines Verhalten“. Traditionell wurde in Indien gemäß den Gebräuchen des Hinduismus von spirituellen Schülern verlangt, im Zölibat zu leben, während sie bei einem spirituellen Lehrer studierten. Nicht-zölibatäres sexuelles Verhalten bezieht sich darauf, Sex mit jemandem durch eine der drei Körperöffnungen zu haben, d.h. entweder Vagina, Mund oder Anus. Laut dieser Definition schließt das Einhalten des Zölibates die Masturbation nicht aus. Aber da Schüler, die im Zölibat leben, keinen Sex durch eine der drei Körperöffnungen haben sollten, gelten sie als unangemessene Sexualpartner.

Eine weitere Ergänzung dieser Aufzählung unangemessener Partner, die wir in diesem frühen Sarvastivada-Text finden, ist die Erwähnung von unbezahlten Prostituierten. Dementsprechend ist es also in Ordnung, Sex mit Prostituierten zu haben, solange man sie bezahlt. Wenn wir das nun untersuchen und betrachten, um was es dabei geht, erkennen wir, dass hier eigentlich nur von einer Erweiterung der Ethik, die mit Stehlen zu tun hat, auf die Sexualethik die Rede ist. Es geht darum, etwas zu nehmen, das nicht gegeben wurde, das nicht uns gehört. Es hat keineswegs damit zu tun, ob man verheiratet ist oder nicht. Die Tradition spricht hier also nicht über Ehebruch – über die Untreue gegenüber der Ehefrau oder dem Ehemann -, sondern es geht um Sex mit jemandem, der einem nicht gegeben wurde oder das nicht möchte. Ehe als etwas Heiliges ist ein vollkommen kulturspezifisches Phänomen. Wir finden es in unseren biblischen Religionen, wir finden es im Hinduismus, aber es ist mit Gewissheit nicht im Buddhismus zu finden.

Wenn wir uns die Sutras „Der Festen Ausrichtung der Vergegenwärtigung“ ansehen – im Pali kennt man die entsprechende Version unter dem Titel „Satipatthana Sutra“ – , finden wir dort in Bezug auf Ehepartner die Angabe: Sie können die karmischen Konsequenzen unserer Handlungen nicht mit uns teilen, sie können den Tod nicht mit uns teilen usw., und sie verursachen nur Hindernisse und Probleme. Das ist also eine recht negative Ansicht über die Ehe und Ehepartner, und es gibt viele Ratschläge in Bezug darauf, wie man die Anhaftung und das Verlangen nach dem Ehepartner mit den bekannten Meditationen, die man überall in der buddhistischen Literatur findet, verringern kann, indem man sich den Mageninhalt des anderen vorstellt usw.

Das ist also wieder etwas, was wir hier im Westen eigentlich nicht hören wollen und auch nicht gern hören. Aber eines der Bodhisattva-Gelübde besteht darin, aus dem Dharma nicht nur die Teile herauszusuchen und auszuwählen, die uns gefallen, und alles andere zu ignorieren. Doch die Sache ist die, dass man die Liebe, die Ehe und dergleichen nicht auf solche Art und Weise verherrlicht, wie wir es in unseren romantischen Vorstellungen im Westen tun, und dass man sie auch nicht als etwas Heiliges betrachtet. Wenn wir einen Partner haben – ganz gleich, ob wir nun verheiratet sind oder nicht -, sollten wir eine realistische Sichtweise dessen haben, um was es dabei geht. Wie jeder, der sich in einer Beziehung befindet, weiß, ist eine Beziehung mit Schwierigkeiten verbunden, sie ist nicht einfach. Im Buddhismus wird also nicht gesagt: „Man sollte keine Beziehungen haben“, sondern es wird gesagt: „Haben Sie dem gegenüber eine realistische Haltung; seien Sie nicht naiv“.

Wenn wir uns nun die Entwicklung der Abhidharma-Literatur in der Sarvastivada-Tradition ansehen, sehen wir, dass im Laufe der Geschichte mehr und mehr Einzelheiten festgelegt wurden. Die erste Angabe, die in den Kommentaren auftaucht, lautet, dass sogar Sex mit der eigenen Frau als unangemessen gelten kann, nämlich im Zusammenhang mit unangemessenen Zeiten für Sex. Aber es wird nicht genauer bestimmt, was das bedeutet. Im nächsten Kommentar wird dann die Angabe „unangemessene Orte“ für Sex hinzugefügt. Und im nächsten Kommentar werden zusätzlich „unangemessene Körperöffnungen“ erwähnt, aber nicht näher erläutert.

Die erste ausführliche Darstellung all dessen finden wir im „Abhidharmakosha“, dem „Schatzhaus spezieller Themen des Wissens“ von Vasubandhu. Dieser Text wird in den tibetischen Traditionen sowie in den chinesischen Traditionen von allen studiert; jeder studiert diesen Text. „Abhidharma“ bedeutet einfach: besondere Themen des Wissens. Darin gibt es also eine ausführliche Darstellung all jener Angaben, die in den früheren Sarvastivada-Kommentaren einfach hinzugefügt wurden. In Bezug auf unangemessene Partner wird die gleiche Art Liste angegeben, wie im Vinaya und den früheren Sutras: alle Frauen, die entweder verheiratet sind oder sich unter dem Schutz eines Vormunds befinden. Sogar bei der eigenen Ehefrau gilt der Anus oder der Mund als unangemessener Körperteil. Da es nicht möglich ist, auf diese Weise ein Kind zu zeugen, kann es sich bei der Motivation nur um Begierde handeln.

Dann erläutert Vasubandhu unangemessene Orte. Er sagt: Es sind jene Orte, die „für andere sichtbar“ sind – das bedeutet draußen, wo man von jedem gesehen werden kann – und in der Nähe eines Stupa oder Tempels, und zwar aus Respekt gegenüber anderen und gegenüber religiösen Objekten. Weil man ihnen gegenüber Respekt zeigt, würde man vor ihnen keinen Sex haben. Als unangemessene Zeit gilt, wenn die Frau schwanger ist, ein Baby stillt oder eintägigen Gelübde der Enthaltung abgelegt hat. Und in einem indischen Kommentar zu diesem Text wird erklärt, Sex mit einer schwangeren Frau gelte als unangemessen, weil es schädlich für das Baby im Bauch der Mutter sei, und bei einer Frau, die gerade ein Baby stillt, mindere es die Fähigkeit der Milchproduktion. Hier bezieht sich die Überlegung also darauf, welche Schäden für andere, z.B. für das Baby, dadurch entstehen.

Der nächste Text in diesem Zusammenhang ist der „Abhidharmasamucchaya“ – das bedeutet „Ein Kompendium des Abhidharma“ – von Asanga. Dies ist ein Mahayana-Text, und zwar ein Text der Chittamatra-Philosophie. Alle gebildeten Tibeter studieren ihn und chinesische Buddhisten ebenfalls. Sie lernen also diese zwei wichtigen Texte des Abhidharma. Und hier im „Abhidharmasamucchaya“ wird nur die Liste aufgeführt, ohne eine ausführliche Erklärung zu geben. Ähnlich ist es in den wichtigsten indischen Kommentaren – die Angabe „unangemessene Partner“ wird ohne nähere Erläuterung aufgeführt. Sie werden lediglich erwähnt und zweifellos bezieht sich das auf die übliche Liste entsprechender Frauen. Auch unangemessene Teile des Körpers, unangemessene Orte, unangemessene Zeiten bleiben ohne nähere Erläuterung.

Aber es werden drei weitere Kategorien hinzugefügt, die wir in früheren Texten nicht finden. Zunächst wird das „unangemessene Maß“ erwähnt, jedoch ebenfalls nicht erklärt. Erst in Tibet wird es von Gampopa erläutert, und dort heißt es: mehr als fünf Mal hintereinander. Als zweites werden „unangemessene angewandte Handlungen“ aufgeführt, und wiederum wird dies nicht weiter erläutert; erst später erklärt Gampopa, dass es darum geht, die Person zu schlagen – also Sadomasochismus – und um gewalttätig erzwungenen Sex – also Vergewaltigung. Die dritte Angabe, die hinzugefügt wird – und in diesem Fall ist sie für Männer bestimmt – führt auf: alle Männer, auch kastrierte Männer, Eunuchen. Dies ist tatsächlich die erste und eigentlich einzige Erwähnung von Homosexualität Mal in all den indischen Texten, die ich herangezogen habe.

Des Weiteren gibt es zwei spätere indische Texte, einen von Ashvaghosha und einen von Atisha; sie erscheinen erst ziemlich spät im indischen Buddhismus. Ashvaghosha spricht wieder von „unangemessenen Orten“ und geht etwas näher darauf ein: dort, wo es Dharma-Texte gibt, in der Nähe eines Stupa oder einer Buddha Statue; an Orten, wo Bodhisattvas leben; vor einem Abt oder dem Lehrer oder vor den eigenen Eltern. Als „unangemessene Zeit“ fügt er zusätzlich zur Schwangerschaft, zur Zeit des Stillens und zum eintägigen Gelübde noch Folgendes hinzu: wenn die Frau ihre Menstruation hat, wenn sie krank ist und wenn sie großen Kummer hat. Wenn sie zum Beispiel um jemanden trauert, der gestorben ist. Ich denke, hier können wir wiederum sehen, dass dies wohl eher nicht einfach als etwas Erdachtes oder Neues hinzugefügt wurde, sondern dass es implizit in der Gesamtidee enthalten ist, zu versuchen, das von uns verursachte Maß an Problemen und Leiden zu minimieren.

Was die unangemessenen Körperteile betrifft, fügt Ashvaghosha zusätzlich zu Anus und Mund zum ersten Mal weitere Körperteile hinzu: zwischen den Schenkeln des Partners und mit der Hand, also Masturbation. Es ist das erste Mal, dass dies hier erwähnt wird, und es ist interessant, dass es wiederum so scheint, als wäre es als Entsprechung zu etwas hinzugefügt worden, was im Vinaya der Mönche und Nonnen enthalten ist., Denn dort ist ersichtlich, dass es zwei verschiedene Sorten von Gelübden gibt. Im einen Falle wird der Bruch des Gelübdes als „Niederlage“ (tib. pham-pa) bezeichnet – man ist dann nicht länger ein Mönch oder eine Nonne. Das ist der Fall, wenn man durch eine der drei Körperöffnungen Sex hat: Vagina, Anus oder Mund. Dass man für Mönche und Nonnen in die Liste unangemessener Körperöffnungen die Vagina mit aufnehmen müsste, ist offensichtlich, denn sie haben ja überhaupt keinen sexuellen Partner. Doch hier werden auch Mund und Anus mit aufgeführt. Und es gibt ein anderes Gelübde, bei dem es darum geht, keinen Sex zwischen den Schenkeln oder mit der Hand zu haben und der Bruch dieses Gelübdes ist weniger schwerwiegend. Wenn man es bricht, wird es als „Überrest“ (tib. lhag-ma) bezeichnet, und das bedeutet, dass man weiterhin einen Rest des Gelübdes als Grundlage für die Schulung in ethischer Disziplin übrig hat, aber das Gelübde gilt als geschwächt.

Das weist Parallelen auf zu der Unterscheidung, die hinsichtlich unangemessenem sexuellen Verhalten zwischen dem zölibatären und nicht-zölibatären Verhalten getroffen wird, das wir im im Zusammenhang mit spirituellen Schülern im alten Indien erwähnt haben. Mönche und Nonnen geloben natürlich, jegliches sexuelle Verhalten zu vermeiden, sowohl unangemessenes als auch das so genannte „angemessene“ Verhalten. Dennoch ist es für sie im Falle von unangemessenem sexuellem Verhaltens weniger schwerwiegend, einen zölibatären sexuellen Akt wie zum Beispiel Masturbation zu begehen als einen nicht-zölibatären Akt, wie etwa Vaginal-, Oral- oder Analverkehr mit einer anderen Person.

Ashvaghosha erwähnt Homosexualität nicht ausdrücklich. Wenn aber Anus, Mund, Hände und Schenkel verboten sind, bleibt kein großer Spielraum für homosexuelles Sexualverhalten. Wiederum sollten wir aber das Ganze nicht wie ein Rechtsanwalt daraufhin untersuchen, ob ein Ausweg zu finden ist, um die Regeln zu umgehen und andere Möglichkeiten zu finden: „Unter dem Arm wurde nicht erwähnt, das ist also in Ordnung.“ Auch in diesem Zusammenhang sollten wir also unser unterscheidendes Gewahrsein einsetzen. Des Weiteren wird auch hier wieder die Aufzählung derer genannt, die sich unter Vormundschaft anderer befinden.

Atisha führt für „unangemessene Orte“ die gleiche Liste wie Ashvaghosha an, fügt aber als unangemessenen Ort noch hinzu: „an einem Ort, an dem Menschen Pujas ausführen“. Als „unangemessene Zeit“ fügt er der Liste noch die Angabe „während des Tages“ und „gegen den Wunsch einer anderen Person“ hinzu. Als „unangemessene Körperteile“ gibt er die gleichen wie Ashvaghosha an, lässt aber „zwischen den Schenkeln“ aus und fügt stattdessen „mit Kindern“ hinzu. Dabei heißt es: „die Vorder- oder Rückseite eines kleinen Jungen oder eines kleinen Mädchens“. Diese Angabe beruht eindeutig auf einer falschen Schreibweise im Text. Der Unterschied zwischen Ashvaghoshas und Atishas Liste kam eindeutig durch einen Schreibfehler im Text zustande. Die tibetischen Worte für „Schenkel“ und „Kinder“ unterscheiden sich lediglich durch einen Buchstaben. Kinder sind in der Auflistung von „unangemessenen Partnern“ mit enthalten, doch hier werden sie unter „unangemessene Körperteile“ mit aufgezählt; das geht also ganz klar auf einen Schreibfehler zurück. Die Tibeter nahmen das dann wörtlich und erläuterten es auch.

Unter „unangemessenen Partnern“ werden keine Männer erwähnt, aber wenn Anus, Mund und Hand erwähnt werden, bezieht sich das auch auf sie. Überdies listet Atisha auch Tiere auf. Das bedeutet nicht, dass es bis dahin in Ordnung war, Sex mit einem Esel zu haben und dass es jetzt nicht mehr o.k. ist. Wie Sie sehen können, hat in Bezug auf die Angaben in Indien eine längere Entwicklung stattgefunden, und es wird sehr interessant im Hinblick auf ihre Fortsetzung in Tibet. Die früheste Erwähnung finden wir bei Gampopa in dessen Text „Der kostbare Schmuck der Befreiung“, einen Text der Kagyü-Tradition. Unter „unangemessenen Partnern“ – finden wir darin die übliche Aufzählung der verschiedenen Frauen. Als „unangemessener Körperteil“ werden nur Mund und Anus erwähnt; von Hand und Schenkeln ist nicht die Rede. Als „unangemessener Ort“ ist hinzugefügt: „wo sich viele Menschen versammeln“ und als„unangemessene Zeit“: „wenn sichtbar“.

Die Angabe „wenn sichtbar“, ist interessant, denn es ist ersichtlich, dass es zwei mögliche Interpretationen dieser Aussage gibt. Vasubandhu interpretiert sie als „draußen“, außerhalb des Hauses, wenn man sichtbar ist. Laut Atisha bedeutet die Aussage hingegen: „während des Tages“, was natürlich einen großen Unterschied für jemanden ausmacht, der die ganze Nacht arbeitet und einen Partner hat. Tsongkhapa weist darauf hin, dass Atisha die Worte missverstanden hat. Wenn sie sich auf „draußen“ beziehen, beziehen sich nicht auf die Tageszeit.

Hier können wir wieder sehen, dass sich einige Diskrepanzen einschleichen, und sehr oft gehen diese darauf zurück, wie man die Wörter versteht. Gampopa lässt folgende Angaben aus: wenn die Person krank ist, wenn sie Kummer hat oder wenn sie keinen Sex haben möchte; diese Dinge erwähnt er nicht. Aber er geht näher darauf ein, was im „Abhidharmasamucchaya“ steht; das Maß, so sagt er, sei: mehr als fünf Mal hintereinander, was wirklich schwer nachzuvollziehen ist. Insbesondere wenn das Kriterium die Zunahme von störenden Emotionen ist und es darum geht, ob jemand fünfmal hintereinander Sex hat oder viermal – viermal ist in Ordnung, aber fünfmal nicht – wie besessen sind diese Menschen denn von Sex?

Eine Theorie, die ich als Erklärung gehört habe, lautet, dass diese Angabe im Hinblick auf einen König mit einem Harem vieler Frauen gemacht wurde – es war übrigens in Ordnung, viele Frauen zu haben, denn sie galten alle als Besitz. Und um nun den König, der so viele Frauen hatte und offensichtlich viele Male in der Nacht Sex haben konnte, nicht zu beleidigen, sei das Maß so festgelegt worden. Aber das war nur eine Vermutung von jemandem.

Gampopa geht auch näher auf die „angewandten Handlungen“ ein und spricht in diesem Zusammenhang von Schlagen oder Gewaltanwendung und schließt dabei alle Männer und Eunuchen mit ein. Gampopa erwähnt nicht den Sex mit der Hand, also Masturbation, aber Homosexualität bezieht er in seine Erläuterungen mit ein .

Longchenpa, ein früher Meister der Nyingma-Tradition, zählt in seinem Text wie in der Pali-Theravada-Literatur nur Frauen auf, die unangemessene Partner sind. In seinem Text im Stil des Lam-rim, dessen tibetischer Titel „Ruhe und Erholung in der Natur des Geistes“ bedeutet – unter dem Namen „Kindly Bent to Ease Us“ ins Englische übersetzt – wird nur diese Aufzählung von Frauen erwähnt.

In der Schrift „Lam-rim chen-mo“ von Tsongkhapa, einem frühen Text der Gelugpa-Tradition, werden als „unangemessene Partner“ nicht nur jene erwähnt, die von ihrer Mutter beschützt werden, sondern auch die Mutter selbst. Und hier wird eigentlich zum ersten Mal über Inzest gesprochen. Und in dieser Aufzählung werden alle Männer, sowohl man selbst als auch andere sowie auch kastrierte Männer mit einbezogen. Als „unangemessener Teil“ des Körpers gilt laut Tsongkhapa alles außer der Vagina; und dazu zitiert er dann Ashvaghosha und Atisha. Und hier wird zum ersten Mal in einem tibetischen Text die Masturbation erwähnt.

Als „unangemessenen Ort“ gibt Tsongkhapa an: wo man von vielen Menschen gesehen wird. Das ist es, was Tsongkhapa unter „sichtbar“ versteht. Für ihn bedeutet das nicht unbedingt außerhalb des Hauses und gewiss nicht nur während des Tages, sondern: wo man von vielen Menschen gesehen werden kann, also in der Öffentlichkeit. Und er fügt zu „unangemessenen Orten“ „auf hartem oder unebenem Boden“ hinzu. Er zieht nun also in Betracht, ob es der Person am Boden vielleicht schaden könnte.

In Bezug auf die unangemessene Zeit fügt er den Zustand der Schwangerschaft hinzu und erklärt die Bedeutung im Sinne der vorangeschrittenen Schwangerschaft – also die letzten drei Monate der Schwangerschaft. Im Tibetischen ist der Ausdruck dafür dem Wort für „Vollmond“ sehr ähnlich. Tsongkhapa spricht vom „Vollmond“ der Schwangerschaft. Einige Übersetzer haben das falsch übersetzt und das führte dazu, dass im Westen vielerorts angenommen wird, es gelte als unangemessen, während der Zeit des Vollmondes Sex zu haben. Im Kalachakra Tantra wird zwar erwähnt, dass im Verlauf des lunaren Monats eine bestimmte Energie im Körper zirkuliert und dass diese Energie sich an jedem Tag des lunaren Monats in einem anderen Teil des Körpers sammelt. Am Tag des Vollmondes sammelt sich die Energie an einem Ort, von dem aus sie in den Zentralkanal eintreten kann und deshalb wird empfohlen, an diesem Tag keinen Sex zu haben, denn die Energie würde dann eher nach außen gerichtet, anstatt sich im zentralen Kanal aufzulösen. Aber das bezieht sich eindeutig auf jene, die sich auf einer Stufe der Praxis befinden, auf der die einen Unterschied ausmachen würde – was uns auf ein anderes Thema bringt, aber lassen Sie mich zuerst mit dem abschließen, was Tsongkhapa sagt, bevor ich darauf eingehe.

Zur „unangemessenen Zeit“ heißt es: am Ende der Schwangerschaft, während der Stillzeit, während der eintägigen Gelübde, bei Krankheit und mehr als fünf Mal hintereinander. Tsongkhapa schließt dabei eindeutig sowohl Masturbation als auch Homosexualität mit ein, aber er berücksichtigt nicht: wenn die Frau nicht möchte, Schlagen und Gewalt. Jedoch legt er fest, dass man eine Prostituierte haben kann, solange man dafür zahlt. Wenn man die Prostituierte eines anderen nimmt, ohne dafür zu zahlen, dann gilt das als Nehmen von etwas, das nicht gegeben wurde.

Lassen Sie mich noch einen letzten Text erwähnen, bevor ich darauf zurückkomme, was ich zum Tantra sagen wollte. Es handelt sich um einen späteren Text der Nyingma-Tradition von Dza Paltrül namens „“. Darin werden ebenfalls unangemessene Personen erwähnt: die Partner von anderen, diejenigen, die unter dem Schutz anderer stehen, und auch Kinder werden aufgeführt. Die Angabe zur unangemessenen Zeit versteht er wie Atisha, also: während des Tages. Dann folgt die übliche Aufzählung: eintägiges Gelübde, Krankheit, Kummer, Schwangerschaft, Menstruation und Stillzeit. Zu den unangemessenen Orten wird wieder die übliche Liste angegeben: in der Nähe eines Stupa usw., und als unangemessene Körperteile: Mund, Anus und Hand. Homosexualität wird also nicht ausdrücklich erwähnt, aber wenn Mund, Anus und Hand ausgeschlossen werden, bleibt wie gesagt nicht viel übrig,.

Um es noch einmal zusammenzufassen: Aus der geschichtlichen Entwicklung und diesem Überblick können wir ersehen, dass es etliche Varianten davon gibt, was unangemessenes Sexualverhalten wäre. Bedeutet das nun, dass die Autoren etwas hinzugefügt haben, oder war es bereits implizit in den frühesten Aussagen enthalten? Eine Zeitlang dachte ich, man könnte vielleicht sagen, dass die Sexualethik kulturspezifisch war, mit anderen Worten, dass sie in Relation zur Kultur stand. In unserer Kultur wäre Ehebruch im Sinne der Untreue gegenüber der Ehefrau oder dem Ehemann unangemessen, obwohl das hier im Text nirgends erwähnt wird. Der Text wurde aus der Sicht der Männer im alten Indien geschrieben, die im Alter von zehn oder zwölf Jahren verheiratet wurden; die Situation alleinstehender Erwachsener gab es also nicht, außer wenn man Mönch oder Nonne war. Wenn man jedoch die Geshes darauf anspricht, sagen sie, es könne nicht sein, dass die Angaben kulturspezifisch waren. Denn wenn sie kulturspezifisch gewesen wären, würde man das unangemessene Sexualverhalten in der Kategorie der verbotenen nicht lobenswerten Handlungen finden – die nur für eine bestimmte Gruppe von Menschen nicht lobenswert sind, jedoch nicht für alle.

Demnach ist es also keine korrekte Analyse, wenn wir sagen, dass wir kulturspezifische Kriterien anwenden könnten, um zu bestimmen, was angemessen und was unangemessen ist. Das einzige gültige Kriterium wäre vielmehr, dass bereits in der ursprünglichen Formulierung Vieles implizit enthalten ist und dies dann in den Kommentaren alles herausgearbeitet wird. Anstatt etwas auszulassen, was uns nicht sonderlich gefällt, weil wir an der entsprechenden Form des sexuellen Verhaltens hängen, können wir wahrscheinlich eher noch Weiteres hinzufügen – insbesondere die Untreue gegenüber der Ehefrau oder dem Ehemann, Prostitution, Zwang zur Prostitution, bewusstes Übertragen von sexuell übertragbaren Krankheiten, sei es AIDS oder was auch immer. Es gibt Vieles, was erweitert werden könnte, Vieles, von dem man sagen könnte, dass es implizit in der Formulierung enthalten ist.

Ich hatte lange Unterredungen darüber mit Geshe Wangchen – er ist der Lehrer der Inkarnation von Ling Rinpoche, dem älteren Lehrer Seiner Heiligkeit des Dalai Lama, d.h., er ist der gelehrteste aller Geshes in der Gelug-Tradition. Er meinte, Folgendes sei wichtig zu erkennen – und dabei benutzte er die Analogie einer Obstplantage, die man schützen möchte, indem man einen Zaun nicht nur um die Bäume, sondern in großem Abstand um die Plantage zieht – denn indem man einen großen Bereich der Sicherheit schafft, kann man die Bäume innerhalb der Plantage besser beschützen. Indem wir also einen sehr weiten Bereich von unangemessenem Sexualverhaltens festlegen, können wir sicher sein – auch wenn wir nicht alles einhalten und vermeiden können -, dass wir zumindest die Obstbäume in der Mitte verschonen, dass wir zumindest keinen Sex mit dem Partner eines anderen haben. Denn das wird in absolut jedem Text erwähnt.

Warum steht die Obstplantage für Sex mit dem Partner eines anderen? Wie in den Pali Sutras gesagt wird: weil es zu vielen anderen schädlichen Handlungen führen kann, etwa lügen, töten, stehlen usw.; durch Masturbation kommt es nicht so leicht zu derartigen Handlungen. Der Grundgedanke ist, dass wir nicht einfach nur Tiere sein wollen und immer, wenn wir einen sexuellen Drang verspüren, ihn einfach ausleben, mit anderen Worten, zulassen, dass wir ohne Rücksicht auf andere Kriterien, völlig unter die Macht sexueller Begierde geraten. Wenn wir die Befreiung von störenden Emotionen anstreben, sollten wir einige Grenzen setzen. Es ist wirklich sehr gut und sehr hilfreich, sich Grenzen zu setzen, welche auch immer das sein mögen. Zumindest beginnen wir damit, uns in unterscheidendem Gewahrsein zu üben.

Wenn wir das Laiengelübde zur Vermeidung von unangemessenem Sexualverhalten ablegen wollen, finden wir sehr deutliche Beschreibungen dazu im tibetischen Text. Ob es sich nun um Gampopas Version, Tsongkhapas Version oder Paltrüls Version handelt – ich habe keine Sakya-Version gefunden, aber sie ist sicher ähnlich – sie sind sich alle ähnlich. Wenn wir, nur weil Gampopa nicht ausdrücklich Masturbation erwähnt, die Gelübde der Kagyü-Tradition und nicht die der Gelugpa-Tradition ablegen, so ist das nicht die richtige Herangehensweise. Der entscheidende Punkt ist: Wenn man das Gelübde ablegt, geht es um den gesamten Inhalt. Wir können nicht unsere eigene Interpretation der Dinge schaffen und nur das auswählen, was uns gefällt, und alles andere verwerfen. Dagegen gibt es ein spezielles Bodhisattva-Gelübde.

Außerdem sollte ich darauf hinweisen, dass es zwei Ebenen von Laiengelübden gibt: Laiengelübde mit Zölibat und die allgemeinen Laiengelübde ohne Zölibat. Das allgemeine Laiengelübde des Vermeidens von unangemessenem Sexualverhalten schließt angemessenes Sexualverhalten mit dem eigenen Partner des anderen Geschlechts nicht aus. Aber für jemanden, der das Laiengelübde des Zölibats ablegt, wird auch solches Verhalten ausgeschlossen, wobei ein Laie mit Zölibat (tib. tshangs-spyod dge-bsnyen) jeglichen Sex durch eine der drei Körperöffnungen einer anderen Person, einschließlich seines Partners, zu der Liste des unangemessenen Sexualverhaltens hinzufügt, das er vermeidet; genauer ausgedrückt: ein Laie im Zölibat fügt vaginalen Sex mit seinem Partner als unangemessenes Verhalten hinzu – Oral- oder Analverkehr gilt ja bereits für alle Laien als unangemessen, sei es mit dem eigenen Partner oder einer anderen Person.

Gemäß dem Abhidharma gibt es drei Arten von Gelübden. Ein Gelübde, welches speziell von Buddha festgelegt wurde, ist, eine bestimmte Art schädlichen Verhaltens oder nicht lobenswerten Verhaltens zu vermeiden. Im Gegensatz dazugibt es auch ein gegenteiliges Gelübde, mit dem man gelobt, stets eine schädliche Handlung zu begehen, z.B. wenn man der Armee beitritt: „Ich werde immer töten.“ Und es gibt auch eine Art Zwischenlösung, indem man gelobt, einige dieser Arten unangemessenen Sexualverhaltens zu vermeiden, aber nicht die Gesamtheit. So lautet Geshe Wangchens Erklärung. Man muss nicht das ganze Gelübde ablegen. Man legt dann nicht das Gelübde als Ganzes ab, könnte aber z.b. die Verpflichtung eingehen, Sex mit dem Partner von jemand anderem zu vermeiden, jedoch Masturbation oder Oralverkehr oder was immer es ist, woran man hängt oder was man mag, beibehalten. Man legt also eines dieser „Gelübde der Zwischenkategorie“ ab. Das hat nicht so eine starke positive Kraft wie wenn man das gesamte Gelübde ablegt, aber die positive Kraft ist viel größer, als wenn man überhaupt kein Gelübde ablegen und das entsprechende Verhalten nur manchmal vermeiden würde.

Jetzt kommen wir zum Tantra. Der Punkt, den ich im Zusammenhang mit Sexualethik erwähnt habe, ist, dass sexuelles Verhalten nicht lobenswert ist, weil es störende Emotionen fördert. In der höchsten Klasse des Tantra, Anuttarayoga – im Nyingma-System wird es wohl Maha-, Anu- und Atiyoga, insbesondere aber Anuyoga sein – nutzt man Begierde als Teil des Pfades. Begierde wird hier jedoch genutzt, um Begierde zu zerstören. Das ist der Satz, der immer wieder genannt wird..

Wie kann das angehen? Der Grund ist folgender: Wenn man wirklich sehr fortgeschritten ist und die Erzeugungsstufe gemeistert hat: vollkommene Visualisierung, vollkommenes Shi-nä ein still gewordener und zur Ruhe gekommener Geisteszustand, Skt. shamatha, vollkommene Konzentration und natürlich Bodhichitta und Verständnis der Leerheit, Entsagung usw., und wenn man bereits die Kontrolle über die Energiewinde im Körper erlangt hat und die Kanäle und alles andere vollständig visualisieren kann, besteht keinerlei Gefahr, einen Orgasmus zu haben, denn man hat all diese Energien unter Kontrolle. Anders verhält es sich bei einem Anfänger, der versucht, die Energien unter Kontrolle zu bringen und sich selbst dadurch nur krank macht, Prostata-Probleme und alle möglichen anderen Probleme bekommt, weil er nicht qualifiziert für diese Art von Praxis ist. Man praktiziert dabei mit einem Partner, aber es geht nicht im Geringsten um Sex, um unsere gewöhnliche Vorstellung von Sex. Es geht lediglich darum, die zwei Organe zusammenzubringen – nicht mehr als das – und dadurch entsteht eine glückselige Sinnesempfindung, die dann zu einem glückseligen Gewahrsein führt, das mit den Energiewinden im Zentralkanal verbunden ist. Der zentrale Energiekanal ist der Ort, wo man dies empfindet.

Dies wirkt als Umstand dafür, dass man die anderen Energiewinde im Körper in den Zentralkanal hinein auflösen kann. Das geschieht auf ganz spezielle Weise. Schon vorher war man imstande, die anderen Energiewinde im Zentralkanal aufzulösen, und diese Praxis dient nun speziell dazu, diejenige Energie aufzulösen, die sich im Bereich der Haut befindet und die am schwierigsten aufzulösen ist, sodass man Zugang zur Ebene des Geistes des klaren Lichtes finden kann, indem man all die Energien aufgelöst hat. Es sind diese Energien, diese Winde, welche die störenden Emotionen tragen, und so kann man die Begierde loswerden. Wenn man diese Energiewinde auflöst, kann man also Begierde und die anderen störenden Emotionen sowie auch die konzeptuelle Ebene des Geistes loswerden. Und wenn man das Verständnis der Leerheit – das man bereits erlangt hat – mit einbringt, hat man das Verständnis der Leerheit zusammen mit diesem Geist des Klaren Lichts – dem glückseligen Geisteszustand des Klaren Lichts – , und wenn man ausreichend mit dieser Ebene des Geistes vertraut ist und sich auf dieser Ebene befindet, wird man sie für immer beibehalten können, und das ist Erleuchtung.

Wir sollten also niemals denken, dass der Sex, um den es im Tantra geht und der auf diesen Bildern durch ein Paar in Vereinigung symbolisiert bzw. dargestellt wird, irgendetwas mit gewöhnlichem Sex zu tun hat. Tatsächlich bricht man eines der Wurzelgelübde des Tantra wenn man denkt, dass gewöhnlicher Sex ein Pfad zur Befreiung und Erleuchtung wäre. Deshalb sollte man, wenn man Sex hat, einfach nur Sex haben und das realistisch sehen. Man sollte nicht denken, das wäre eine großartige spirituelle Handlung und es würde sich um Erleuchtung handeln, wenn man einen vollkommenen Orgasmus hat.

Außerdem gibt es tantrische Gelübde, das, was normalerweise als „Jasmin-“ oder „Mond-“ Flüssigkeit bezeichnet wird, nicht freizusetzen – das bedeutet: keinen Orgasmus zu haben. Das gilt sowohl für Männer als auch für Frauen und bezieht sich also nicht ausdrücklich auf die männliche Ejakulation. Und auch das gilt wiederum für die Phase, wenn man wirklich sehr fortgeschritten ist, wie wir es eben im Zusammenhang mit der Vollendungsstufe erklärt haben: Wenn man alle Energien in den Zentralkanal leiten kann, will man keinen Orgasmus haben, der alle Energie nach außen schleudert, denn dadurch wird diese Situation bzw. Möglichkeit beendet, die Winde in den Zentralkanal zu leiten. Wir reden hier also nicht über frühere Stufen der Praxis; diese Vorgänge sind speziell auf dieser Stufe der Praxis relevant.

Es gibt noch etwas, was ich erklären wollte. Allgemeines Prinzip im Zusammenhang zur Sexualethik ist – wenn wir nicht bereit sind, Mönch oder Nonne zu werden – , zu versuchen, jegliche problematischen Aspekte unseres Sexualverhaltens zu minimieren, mit anderen Worten, jegliche Aspekte, die zu größeren Problemen führen würden. In diesem Zusammenhang gibt es Faktoren, die dazu beitragen, karmische Resultate zu vervollständigen, und eine weitere Liste in Bezug auf das, was die Resultate schwerwiegend macht. Im Allgemeinen muss dafür eine bestimmte Basis vorhanden sein – d.h. zum Beispiel, wenn es sich um den Partner einer anderen Person handelt, muss eine klare unterscheidende Wahrnehmung vorhanden sein, dass es sich um den Partner von jemand anderem handelt. Aber in einigen Texten wird gesagt: Wenn die Frau die Partnerin eines anderen ist und sie uns belügt, es uns nicht sagt, dann besteht trotzdem ein Problem, denn wenn es jemand herausfindet, wird es natürlich großen Ärger geben. In einigen Kommentaren wird somit gesagt, dass es sich trotzdem um einen Fehler handelt, auch wenn man es nicht richtig erkannt hat.

Obwohl es in den Texten nicht ausdrücklich erwähnt wird, scheint es auch so, dass im Hinblick auf die Basis des unangemessenen Sexualverhaltens für Männer das unangemessene Sexualverhalten mit einem Mann weniger schwerwiegend ist als mit einer Frau und mit sich selbst weniger schwerwiegend als mit einem anderen Mann. Das schließe ich aus dem zweiten der Gelübde für Mönche, die als Überrest bestehen bleiben, wenn man dagegen verstößt. Das zweite dieser Gelübde besteht darin, zu vermeiden, den Körper oder das Haar einer Frau lustvoll zu berühren. Wenn ein Mönch den Körper oder das Haar eines Mannes lustvoll berührt, wird das ähnlich betrachtet wie eine Übertretung, bei der ein Überrest des Gelübdes bestehen bleibt, aber es ist keine vollständige derartige Übertretung mit Überrest. Es schwächt die Gelübde des Mönches, aber nicht in dem Maße, wie es der Fall wäre, wenn er eine Frau lustvoll berühren würde. Und wie wir ebenfalls bei den Gelübden der Mönche gesehen haben, ist Selbstbefriedigung mit der Hand eine Übertretung, bei der ein Überrest des Gelübdes bestehen bleibt, während es sich bei Sex durch Körperöffnungen einer anderen Person um eine Niederlage handelt und darin resultiert, dass man seine Gelübde verliert.

Des Weiteren muss die motivierende Absicht vorhanden sein, eine der störenden Emotionen muss beteiligt sein und die Handlung muss stattfinden – die zwei Organe müssen zusammenkommen – und abgeschlossen werden. Was Abschluss bedeutet, habe ich zunächst missverstanden. Ich dachte, das hieße einen Orgasmus zu haben, denn das tibetische Wort bedeutet entweder „Glückseeligkeit“ oder „Genuss“, und daher habe ich den Ausdruck als „Glückseligkeit des Orgasmus“ verstanden. Es ist sehr schwierig, einen tibetischen Mönch zu befragen, was der Ausdruck eigentlich bedeutet. Dennoch ist es mir gelungen, es herauszufinden, und zwar wiederum durch dessen Erörterung im Vinaya. In Wirklichkeit bezieht sich das Wort darauf, beim Kontakt der Geschlechtsorgane lediglich Genuss zu erfahren. Wenn man vergewaltigt wird, empfindet man keinen Genuss dabei; es ist einfach nur schmerzhaft und die Handlung gilt somit nicht als vollendet.

Dieser Punkt stammt übrigens aus den Vinaya-Texten, die die Gelübde der Mönche erläutern. Für die Verursachung einer Niederlage im Sinne der Übertretung des Enthaltsamkeits-Gelübdes reicht es schon aus, dass der Mönch lediglich Genuss erfährt, nachdem sein Organ in eine der drei Körperöffnungen eingedrungen ist, und im Fall von Vaginalverkehr, wenn es das weibliche Organ berührt. Für eine Niederlage ist es nicht erforderlich, dass der Mönch einen Orgasmus hat oder Samen verliert. Gleichermaßen gilt für Mönche auch: Um eine Übertretung mit Überrest der Gelübde durch Masturbieren zu begehen, muss er lediglich Genuss erfahren, wenn der Samen die Basis seines Organs erreicht, und ähnlich wie im Fall der Niederlage muss es dafür nicht zum Orgasmus oder Samenausstoß kommen.

Zudem gibt es Faktoren, welche die Stärke des Heranreifens des Karmas beeinflussen. Der erste davon ist die Natur der betreffenden Handlung; das bezieht sich auf das Ausmaß an Schaden, den man aufgrund der Natur der Handlung im Allgemeinen für sich selbst oder die andere Person verursacht hat. Oral- oder Analverkehr ist viel schwerwiegender als Masturbation, es gibt also hier einen Unterschied. Auch das ergibt sich in Analogie zu den Mönchsgelübden. Wie wir gesehen haben, führt Oral- oder Analverkehr zu einer Niederlage, wohingegen Masturbieren lediglich ein Rest-Gelübde zu Folge hat.

Einer der wichtigsten Faktoren ist die Stärke der störenden Emotion, die damit verbunden ist – also z.B., wie stark die eigene Lust und Begierde oder der Ärger ist. Im Falle von Ärger könnte es z.B. so sein, dass man der anderen Person wehtun will, indem man sie vergewaltigt, oder man ist nicht wütend auf die Frau, will aber ihren Mann verletzen oder so etwas Ähnliches. Es geht also um die Stärke dieses Ärgers oder auch um die Stärke der eigenen Naivität, wenn man denkt, es wäre in Ordnung, mit irgendjemandem Sex zu haben.

Der dritte Faktor ist ein verzerrter zwingender Trieb, der einen zum Handeln treibt. Das bezieht sich darauf, dass man meint, diese Art unangemessenen Verhaltens wäre nicht nachteilig, sondern völlig in Ordnung, und mit jedem streitet, der etwas anders behauptet. Beim nächsten Faktor geht es um die eigentliche begangene Handlung, um das Ausmaß an Leiden, das für die andere Person oder für einen selbst entsteht, wenn die Handlung vollzogen wurde. Wenn man sie mit Gewalt ausführt oder im Falle von Vergewaltigung oder Sadomasochismus, so ist das erheblich schlimmer, z.B. auch, wenn man die andere Person durch die sexuelle Handlung auf einem harten, feuchten Boden verletzt und sie krank wird.

Der Faktor der Basis, auf die die Handlung abzielt, hat damit zu tun, wieviel Nutzen wir oder andere von dieser Person in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft erhalten. Es wäre also schwerwiegender mit der eigenen Mutter Sex zu haben als mit der Frau eines anderen. Auch die guten Eigenschaften des Lebewesens sind von Belang; es ist schwerwiegender, mit einer Nonne Sex zu haben, als mit einer Laienpraktizierenden. Der nächste Faktor ist der Zustand der anderen Person. Das bezieht sich darauf, ob die Person krank, blind, geistig behindert oder ein Kind ist; in solchen Fällen ist die Handlung viel schwerwiegender. Ein weiterer Faktor ist die Betrachtungsebene, wobei es um das Maß an Respekt geht, den man gegenüber dieser Person oder gegenüber ihrem Partner haben würde. Mit der Frau des besten Freundes oder dem Mann der besten Freundin Sex zu haben ist viel schwerwiegender als mit der Frau eines Fremden oder dem Mann einer Fremden.

Auch die unterstützenden Umstände spielen eine Rolle: ob wir ein Gelübde abgelegt haben, unangemessenes sexuelles Verhalten zu vermeiden, oder nicht; ferner die Häufigkeit, wie oft wir die Handlung begehen, und die Anzahl der Menschen, die beteiligt sind – eine Gruppenvergewaltigung ist viel schwerwiegender als eine einzelne Vergewaltigung. Von Bedeutung sind auch die Folgehandlungen, d.h. ob man sie in Zukunft wiederholt, und die Präsenz oder Abwesenheit von ausgleichenden Kräften, d.h. die Handlung wird schwerwiegender, wenn wir uns daran erfreuen, wenn wir sie nicht bereuen, wenn wir nicht die Absicht haben damit aufzuhören, wenn wir kein Gefühl von moralischer Selbstachtung haben oder uns nicht darum kümmern, welches Licht unsere Handlungen auf andere wirft. Wenn wir vermeintlich großartige Dharma-Praktizierende sind, aber in den Sex-Club oder dergleichen gehen, welches Licht wird das auf unsere Lehrer werfen? Welches Licht wird das auf unsere buddhistische Praxis usw. werfen?

Zusammenfassend kann man sagen, dass der wesentliche Punkt hier darin besteht, nicht einfach nur aufgrund störender Emotionen blind zu handeln, sondern eine Art unterscheidendes Gewahrsein aufrechtzuerhalten, eine gewisse Einsicht in Bezug auf unser sexuelles Verhalten zu entwickeln. Machen wir uns nichts vor – jegliches Sexualverhalten wird Begierden fördern, und das ist das Gegenteil davon zu versuchen, von Begierden frei zu werden. Aber seien Sie ehrlich zu sich selbst: „Ich bin nicht auf der Stufe, wo ich bereit bin, wirklich auf die Befreiung hinzuarbeiten. Daher werde ich versuchen, mich zumindest an einige Einschränkungen zu halten und einige Grenzen in Bezug auf das zu setzen, was ich tue.“ Ich denke, dass viele von uns sich bestimmte Grenzen gesetzt haben oder sich an Einschränkungen halten: bestimmte Dinge werden wir tun, aber andere werden wir nicht tun. Und das ist sehr gut. Werden Sie darin entschiedener, und versuchen Sie, die Schwere Ihres Sexualverhaltens zu minimieren. Denken Sie daran, dass es das Wichtigste ist zu versuchen, nicht einfach nur zwanghaft unter dem Einfluss von Lust und Begierde zu handeln. Wenn wir diesen allgemeinen Richtlinien, diesen allgemeinen Prinzipien folgen, dann werden wir, auch wenn wir nicht einfach so Befreiung erlangen werden, zumindest in die Richtung gehen, unsere Probleme zu verringern.

Das war es, was ich darlegen wollte. Lassen Sie uns mit einer Widmung schließen. Wir denken: Möge alles Verständnis und alle positive Kraft, die daraus entstanden sind, sich immer weiter vertiefen und als Ursache dafür wirken, zum Wohle aller Wesen Erleuchtung zu erlangen.

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