Blockaden, sich dem spirituellen Lehrer zu öffnen

Paranoia und Verletzlichkeit

Einer der wichtigsten Faktoren für das Gelingen einer gesunden Schüler-Mentor-Beziehung ist die Inspiration, die die Schüler von ihren Meistern empfangen. Die Inspiration kann nur erlebt werden, wenn die Schüler sich für den erhebenden positiven Einfluss der Mentoren öffnen. Manche Schüler haben jedoch die paranoide Furcht, sie könnten unter die Kontrolle eines Mentors geraten oder von ihm manipuliert werden, wenn sie sich ihm öffneten. Andere Schüler wiederum haben Angst, dass sie angreifbar und verletzlich sind, wenn sie sich dem positiven Einfluss der Mentoren öffnen. Sie fürchten, verletzt, betrogen oder missbraucht zu werden. Wenn ein Mentor ungenügend qualifiziert ist und insbesondere dann, wenn seine Motive nicht rein sind, hat ihre Zurückhaltung einen guten Grund. Wenn ein Mentor jedoch richtig qualifiziert ist, dann müssen die Schüler ihre Blockaden überwinden, um den bestmöglichen Fortschritt machen zu können.

Wir können unser Herz aber nur dann auf gesunde Weise öffnen, um Inspiration zu empfangen, wenn wir ein grundlegendes Verständnis von Leerheit besitzen – speziell ein Verständnis davon, wie wir existieren. Das ist einer der Gründe, warum es notwendig ist, die grundlegenden buddhistischen Lehren zu kennen, bevor man eine Schüler-Lehrer-Beziehung aufnimmt. Insbesondere benötigen wir zumindest ein intellektuelles Verständnis davon, wie im Buddhismus zwischen einem konventionellen „Ich“ und einem völlig fiktiven oder falschen „Ich“ differenziert wird. Die westliche Psychologie spricht in diesem Zusammenhang oft auch von einem gesunden Ego und einem aufgeblasenen Ego. Bei einem aufgeblasenen Ego unterliegen wir der Vorstellung und dem Glauben, dass unser konventionelles „Ich“ in der Art und Weise eines falschen „Ichs“ existieren würde.

Ein konventionelles „Ich“ bezeichnet die Person, auf die das Wort Ich sich bezieht, gegründet auf die ununterbrochene Kontinuität des jeweils einzigartigen Erlebens eines jeden Individuums. Ein gesundes Ego versetzt uns in die Lage, unser Leben eigenverantwortlich zu organisieren und uns um unsere persönlichen Bedürfnisse zu kümmern. Als ein „falsches Ich“ wird ein solide existierendes „Ich“ bezeichnet, von dem wir annehmen, dass es irgendwo in uns auffindbar sein müsse, weil es wie ein unabhängiger Boss in uns agiert und versucht, unsere Gefühle zu kontrollieren. Die Vorstellung, dass ein konventionelles „Ich“ auf eine derart konkrete Weise existieren könnte, entbehrt jeder realistischen Grundlage. Die moderne Wissenschaft stimmt der Aussage zu, dass das Gehirn für sich selbst als ein komplexes Netzwerk funktioniert, ohne dass es dafür irgendein Kontrollzentrum benötigen würde. Unter dem Einfluss eines aufgeblasenen „Ichs“ identifizieren wir uns jedoch mit dem „falschen Ich“ und gewinnen irrtümlicherweise den Eindruck, dass wir alles, was geschieht, vollständig kontrollieren könnten.

Wenn wir ein korrektes Verständnis der Leerheit erlangt haben, werden wir nicht mehr zu einem von zwei möglichen Extremen neigen. Einerseits hören wir damit auf, auf das konventionelle „Ich“ zu projizieren, dass dieses als ein falsches „Ich“ existieren würde und glauben auch nicht mehr an das projizierte falsche „Ich“. Andererseits weisen wir die Vorstellung zurück, dass auch das konventionelle „Ich“ überhaupt nicht existieren würde. Qualifizierte und reife Schüler sind also in der Lage – ohne ein falsches „Ich“ auf sich selbst zu projizieren – eine Balance zwischen den folgenden beiden Polen zu halten: Die Schüler sind einerseits in der Lage, sich für den erleuchtenden Einfluss des Mentors zu öffnen und sie bewahren sich andererseits die Fähigkeit, ihre Individualität und persönliche Integrität auf der Grundlage eines konventionellen „Ichs“ zu bewahren.

Verschiedene persönliche und kulturelle Faktoren können die Furcht davor, sich einem spirituellen Mentor zu öffnen, noch verstärken. Wenn man die Situation von einem tiefgründigeren Gesichtspunkt her betrachtet, entsteht die Furcht dadurch, dass wir zu einer von zwei möglichen extremen Geisteshaltungen neigen. Ein Schüler mag sich vor Manipulation fürchten, weil er das überhöhte Gefühl eines falschen „Ichs“ besitzt, das sich wehren muss oder völlig die Kontrolle verlieren könnte. Das ist bei solchen Menschen häufig der Fall, die zwanghaft versuchen, alles in ihrem Leben zu kontrollieren und auch alle Situationen, in denen sie sich mit anderen Menschen befinden, unter ihrer Kontrolle zu halten. Ihre Zwanghaftigkeit macht sie ganz besonders misstrauisch gegenüber Manipulationen durch Suggestionen, die sie zum Beispiel in geleiteten Meditationen vermuten. Daneben können Paranoia und Furcht auch einer dysfunktionalen Wahrnehmung eines konventionellen „Ichs“ entspringen, nämlich, dass dieses konventionelle „Ich“ unfähig sei, seine gültige Identität angesichts scheinbar unabhängig existierender Angriffe von Außen zu bewahren.

Wenn man sich einem Mentor nicht verschließt, sondern sich ihm öffnet, dabei allerdings eine der beiden extremen Sichtweisen aufrecht erhält, können sich noch weitere Formen ungesunder Beziehungen entwickeln. Wenn man eine starke Empfindung eines falschen „Ichs“ hat, kann man sein Ego noch weiter aufblähen, indem man es mit dem aufgeblasenen „Ich“ eines aufgeblasenen Mentors verbindet. Das geschieht häufig bei Schülern, die faschistischen spirituellen Sekten beitreten und durch die Kraft des Führers und der Gruppe eine Selbstbestätigung auf existentieller Ebene erfahren. Das Syndrom wird auch bei so genannten „spirituellen Groupies“ sichtbar, die qualifizierten Mentoren folgen.

Wenn man eine dysfunktionale Wahrnehmung eines konventionellen „Ichs“ hat, neigt man andererseits stark zu Unterwerfung und übertriebener Verehrung. Man versucht vielleicht, statt sein eigenes konventionelles „Ich“ entsprechend aufzublasen, ein solides, falsches „Ich“ dadurch zu erlangen, dass man das konventionelle „Ich“ des Mentors überhöht und sich mit sich mit diesem aufgeblasenem „Ich“ des Mentors identifiziert. Das Ergebnis dieser Überhöhung ist gewöhnlicher Weise, dass man eine emotionale Abhängigkeit von seinem Mentor entwickelt, die die Gefahr birgt, dass sich entweder eine Übertragung und eine schädliche Form der Regression entwickeln. Eine solche emotionale Abhängigkeit kann auch Ausbeutung und möglicherweise auch Missbrauch nach sich zieht.

Wenn man sich der Inspiration eines spirituellen Mentors öffnet, so muss das mit größter Umsicht geschehen Um mögliche Fallgruben zu vermeiden, muss der Öffnungsprozess allmählich vonstatten gehen, gepaart mit einem stetig sich vertiefenden Verständnis der Leerheit, bzw. einem Verständnis dafür, dass das konventionelle „Ich“ unmöglich als ein falsches „Ich“ existieren kann. Auch hierbei kann einem die Guru-Meditation der Sutra-Ebene wieder hilfreich sein, weil die Meditation beinhaltet, dass man seine Aufmerksamkeit auf die konventionell existierenden Fehler des Mentors richtet. Wir können die Meditation noch ergänzen, indem wir uns auch auf das konventionelle „Ich“ – sowohl das des Mentors als auch unser eigenes – konzentrieren. Beide „Ichs“ sind leer davon, als ein falsches „Ich“ zu existieren, und trotzdem sind sie konventionell existent und funktional – nämlich als ein „Ich“, das in Abhängigkeit von den Aggregatfaktoren der Erfahrung entsteht.

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