Was ist eine störende Emotion?

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Wenn unser Geist von Ärger, Anhaftung, Selbstsucht oder Gier verstört wird, sind auch unsere Energien im Ungleichgewicht. Wir fühlen uns unwohl, unser Geist ist unruhig, unsere Gedanken gehen mit uns durch. Wie sagen und tun Dinge, die wir später bereuen. Wenn wir eine plötzliche Verstörung in unserem Geist und unseren Energien bemerken, können wir sicher sein, dass irgendeine störende Emotion am Werk ist. Die Kunst besteht dann darin, sie zu erwischen, sobald sie auftaucht und einen Geisteszustand hervorzubringen, der ihr entgegenwirkt, z.B. Liebe und Mitgefühl, um die Probleme zu verhindern, die wir uns und anderen schaffen würden, wenn wir der Unruhe stiftenden Emotion nachgeben und ihr entsprechend handeln.

Was ist eine „störende Emotion“?

Eine störende Emotion wird als ein Geisteszustand definiert, der, wenn wir ihn entwickeln, bewirkt, dass wir unseren inneren Frieden und die Selbstbeherrschung verlieren.

Insofern, als wir unseren inneren Frieden verlieren, ist sie störend: Sie stört unseren Geistesfrieden. Wenn wir unseren Geistesfrieden verlieren, befinden wir uns ein einem verstörten Zustand; unserem Denken bzw. Empfinden mangelt es an Klarheit. Aufgrund dieses Mangels an Klarheit verlieren wir das Unterscheidungsvermögen, das erforderlich ist, um Selbstbeherrschung zu bewahren. Es ist jedoch notwendig zu unterscheiden, was hilfreich ist und was nicht, und was in bestimmten Situationen angemessen bzw. nicht angemessen ist.

Störende Emotionen können auch mit konstruktiven Geisteszuständen einhergehen

Beispiele für störende Emotionen sind Anhaftung oder sehnsüchtiges Verlangen, Ärger, Eifersucht, Stolz, Arroganz usw. Einige dieser störende Emotionen können dazu führen, dass wir uns destruktiv verhalten, doch das ist nicht notwendigerweise der Fall. Anhaftung und sehnsüchtiges Verlangen z.B. können uns zu destruktivem Handeln verleiten, etwa loszugehen und etwas zu stehlen. Es kann aber auch sein, dass wir sehnsüchtiges Verlangen danach haben, geliebt zu werden; wir hängen daran und deshalb helfen wir anderen, um von ihnen geliebt zu werden. Anderen zu helfen ist nicht destruktiv; es ist etwas Konstruktives, aber dahinter steckt in dem Fall eine störende Emotion: „Ich möchte geliebt werden und sehne mich danach, dass du dich für das, was ich für dich tue, revanchierst, indem du mich liebst.“

Oder betrachten wir als Beispiel den Ärger. Ärger kann dazu führen, dass wir uns destruktiv verhalten, dass wir jemanden verletzen oder sogar töten, weil wir wütend geworden sind. Das ist destruktives Handeln. Es kann aber auch sein, dass wir uns über die Ungerechtigkeit eines bestimmten Systems oder einer bestimmten Situation ärgern und so empört sind, dass wir tatsächlich etwas unternehmen, um die Situation zu ändern. Das muss keine gewaltsame Handlung sein. Was ich hier verdeutlichen möchte, ist, dass in solchen Fällen eine positive oder konstruktive Handlung von einer störenden Emotion motiviert ist. Unser Geist ist dabei nicht friedvoll, und deswegen herrscht mangelnde Klarheit in unserem Geist und unseren Empfindungen und wir befinden uns nicht in einem stabilen emotionalen Zustand.

In solchen Fällen wollen wir aus sehnsüchtigem Verlangen, dass jemand uns liebt, oder aus Ärger, dass eine Ungerechtigkeit aufhört. Der emotionale und geistige Zustand ist dabei nicht stabil. Weil es uns in diesem Zustand an Klarheit mangelt, können wir nicht ganz klar überlegen, was zu tun ist und wie sich unsere Absicht tatsächlich am besten umsetzen lässt. Infolgedessen können wir uns nicht beherrschen. Wir helfen vielleicht jemandem bei etwas, während es eigentlich hilfreicher wäre, ihn das selbst tun zu lassen. Nehmen wir an, wir hätten eine erwachsene Tochter und wollen ihr beim Kochen oder im Haushalt oder bei der Kinderbetreuung helfen, doch in vielen Fällen ist das im Grunde eine Einmischung in ihre Angelegenheiten. Vielleicht schätzt unsere Tochter es nicht sonderlich, wenn man ihr beim Kochen oder bei der Kindererziehung dreinredet. Aber wir möchten geliebt werden und möchten uns nützlich machen, und deswegen drängen wir uns auf. Wir tun etwas Konstruktives, aber indem wir es tun, haben wir keine Selbstkontrolle, die uns veranlassen würde zu überlegen, dass es vielleicht besser wäre, den Mund zu halten, nicht dauernd unsere Meinung abzugeben und unsere Hilfe anzubieten.

Selbst wenn wir in einer Situation helfen, in der es angemessen ist, tun wir das nicht auf entspannte Weise, weil wir vielleicht etwas dafür erwarten. Wir wollen geliebt werden, wir wollen gebraucht werden, wir wollen, dass man uns schätzt. Wenn unser Geist von dieser Art von sehnsüchtigem Verlangen geprägt ist und die andere Person dann nicht so reagiert, wie wir es erwarten, sind wir sehr aufgebracht.

Kurz: Egal, ob wir destruktiv oder konstruktiv handeln – wenn es von störenden Emotionen motiviert und begleitet wird, wird unser Verhalten zu Problemen führen. Zwar können wir nicht genau vorhersagen, ob es für andere Menschen zu Problemen führen wird oder nicht, aber in erster Linie wird es uns selbst Probleme einbringen. Diese Probleme müssen nicht unbedingt gleich auftreten; es handelt sich um langfristige Probleme in dem Sinne, als das Handeln unter dem Einfluss störender Emotionen die Gewohnheit aufbaut, immer wieder auf verstörte Art zu handeln. So entwickeln wir durch zwanghaftes Verhalten, das auf störenden Emotionen beruht, langfristig problematische Verhaltensweisen. Unser Geist ist nie im Frieden.

Ein klares Beispiel dafür ist es, wenn wir motiviert sind, anderen zu helfen und ihnen einen Gefallen zu tun, weil wir uns geliebt und geschätzt fühlen möchten. Dahinter steckt im Grunde ein Gefühl von Unsicherheit. Doch soviel wir auch mit dieser Art von Motivation handeln, so stellt es uns doch nie zufrieden; wir haben nie das Gefühl: „Ja, nun werde ich ausreichend geliebt, mehr brauche ich nicht.“ Dieses Gefühl stellt sich nie ein. Folglich verstärkt sich unser Verhalten weiterhin und festigt die Gewohnheit des zwanghaften Gefühls: „Ich muss geliebt werden, ich muss das Gefühl haben, dass ich wichtig bin und geschätzt werde.“ Man verausgabt sich immer weiter in der Hoffnung, dafür geliebt zu werden, doch man wird immer frustriert – selbst wenn jemand sich bedankt, kommt das Gefühl auf: „Der meint das eigentlich gar nicht“ usw. Nie stellt sich innerer Frieden ein; die Befindlichkeit verschlimmert sich vielmehr, weil das Syndrom sich dauernd wiederholt. Das nennt man übrigens „Samsara“ – eine sich zwanghaft wiederholende problematische Situation.

Diese Art von Syndrom ist nicht so schwer zu erkennen, wenn die störende Emotion uns veranlasst, negativ bzw. destruktiv zu handeln. Wenn wir z.B. ständig gereizt sind und deswegen bei jeder Kleinigkeit ärgerlich werden, werden wir im Umgang mit anderen barsch reden und herzlose Dinge sagen, und es ist offensichtlich, dass man uns dann nicht mag, andere nicht gern mit uns zusammen sind und unser Verhalten zu Problemen in unseren Beziehungen zu anderen Menschen führt. In dem Fall ist ziemlich leicht zu erkennen, was passiert. Wenn die störende Emotion positiven Handlungen zugrunde liegt, ist das nicht so leicht zu erkennen. Wir müssen dies jedoch in beiden Fällen erkennen.

Wie wir erkennen, wann wir unter dem Einfluss eines störenden Geisteszustands, einer störenden Emotion oder Einstellung stehen

Nun stellt sich die Frage: Wie erkennen wir, dass wir unter dem Einfluss einer störenden Emotion oder Geisteshaltung stehen? Es muss nicht immer eine Emotion sein; es kann sich auch um eine bestimmte Einstellung gegenüber dem Leben oder uns selbst handeln. Um solche Einflüsse zu erkennen, ist etwas Feingefühl erforderlich; wir müssen nach innen horchen und spüren, wie wir uns innerlich fühlen. Dafür ist die Definition einer störenden Emotion oder Einstellung recht hilfreich: Eine störende Emotion bewirkt, dass wir unseren inneren Frieden verlieren und uns nicht beherrschen können.

Wenn es also der Fall ist, dass wir uns, kurz bevor wir etwas sagen oder tun, innerlich etwas nervös fühlen, sind wir nicht ganz entspannt – das ist ein Zeichen dafür, dass irgendeine störende Emotion vorhanden ist.

Es kann sein, dass wir uns ihrer nicht bewusst sind – tatsächlich ist sie uns oft unbewusst -, aber dennoch steht hinter der betreffenden Handlung eine störende Emotion.

Nehmen wir an, wir versuchen jemandem etwas zu erklären. Wenn wir merken, dass wir ein etwas verspanntes Gefühl im Magen haben, während wir mit der Person sprechen, ist das meist ein Hinweis darauf, dass ein gewisser Stolz damit verbunden ist. Vielleicht haben wir das Gefühl, ausgesprochen klug zu sein, weil wir bestimmte Inhalte verstehen und jemand anderem helfen können, sie zu verstehen. Unser Wunsch, der anderen Person mit unseren Erklärungen zu helfen, kann durchaus aufrichtig sein, aber wenn dabei etwas Verspannung im Magen spürbar ist, ist ein Element von Stolz daran beteiligt. Das passiert vor allem dann, wenn wir darüber sprechen, was wir selbst erreicht haben, oder über unsere guten Qualitäten. Sehr oft verspüren wir dabei ein gewisse Anspannung im Bauch.

Oder betrachten wir als Beispiel einer störenden Geisteshaltung die Einstellung, dass jeder uns Aufmerksamkeit zollen sollte – diese Einstellung ist recht verbreitet. Wir wollen nicht ignoriert werden – niemand möchte ignoriert werden -, und deshalb meinen wir, dass andere uns beachten und auf uns hören sollten usw. Auch das kann mit einer gewissen Nervosität einhergehen, insbesondere wenn wir die erwartete Aufmerksamkeit nicht erhalten. Aber warum sollten andere uns Aufmerksamkeit schenken? Wenn man genauer darüber nachdenkt, findet man eigentlich keinen Grund dafür.

Das Sanskrit-Wort „klesha“ – auf Tibetisch „nyon-mong“ -, ist ein schwieriger Begriff, den ich hier als „störende Emotion“ oder „ störende Geisteshaltung“ übersetze. Es handelt sich um einen schwierigen Begriff, weil einige störende Faktoren sich nicht so recht in die Kategorien „Emotion“ oder „Geisteshaltung“ einordnen lassen. Ein Beispiel dafür ist Naivität. Es kann sein, dass wir sehr naiv in Bezug darauf sind, wie sich unser Verhalten auf andere oder auf uns selbst auswirkt. Wir können auch naiv in Bezug auf eine Situation sein bzw. auf die Realität dessen, was geschieht. Wenn wir zum Beispiel insofern naiv sind, dass wir keine Ahnung haben und uns nicht darum kümmern, ob jemand sich gerade unwohl fühlt oder aufgewühlt ist, sind wir sicherlich auch naiv in Bezug darauf, was es für Auswirkungen hat, ihm in dieser Situation etwas zu sagen. Es kann sein, dass er oder sie dann ungeachtet unserer guten Absichten ziemlich ärgerlich wird.

Wenn wir uns in einem solchen, sagen wir: störenden Geisteszustand befinden, haben wir nicht unbedingt ein unwohles Gefühl dabei. Aber wie wir festgestellt haben: Wenn unser Geist nicht im Frieden ist, werden die Gedanken und Empfindungen unklar. Auch wenn wir naiv sind, ist unser Geist nicht klar; wir leben in unserer eigenen kleinen Welt. Es mangelt uns dann insofern an Selbstbeherrschung, als wir – eben weil wir in unserer eigenen kleinen Welt leben – nicht unterscheiden, was in der jeweiligen Situation angebracht und hilfreich ist und was nicht. Aufgrund dieser mangelnden Unterscheidung verhalten wir uns weder angemessen noch feinfühlig. Mit anderen Worten: Wir haben nicht genug Selbstbeherrschung, um angemessen handeln zu können bzw. uns davon zurückhalten zu können, etwas Unangemessenes zu tun. In dieser Hinsicht entspricht auch Naivität der Definition eines störenden Geisteszustands, auch wenn es schwer ist, sie als eine Emotion oder geistige Einstellung einzustufen. Wie gesagt, es ist nicht leicht, für den Begriff „klesha“ eine wirklich gute Übersetzung zu finden.

Nicht störende Emotionen

Im Sanskrit und im Tibetischen gibt es kein Wort für „Emotionen“. In diesen Sprachen spricht man von Geistesfaktoren – das sind die unterschiedlichen Komponenten, die jeden Moment unseres geistigen Zustands ausmachen. Man unterteilt diese Geistesfaktoren in störende und nicht störende sowie in konstruktiver und destruktive. Diese beiden Begriffspaare sind nicht ganz deckungsgleich. Außerdem gibt es Geistesfaktoren, die in keine dieser Kategorien fallen. Das, was wir hier im Westen „Emotionen“ nennen, umfasst einige störende Geistesfaktoren sowie auch einige nicht störende. Es ist keineswegs so, dass im Buddhismus angestrebt wird, sämtliche Emotionen zu beseitigen. Man will die störenden Geistesfaktoren beseitigen. Das geschieht in zwei Schritten: Der erste Schritt besteht darin, nicht unter ihre Macht zu geraten. Der zweite Schritt ist, sie so zu beseitigen, dass sie gar nicht mehr auftreten.

Was wäre z.B. eine nicht störende Emotion? Nun, wir denken vielleicht, dass „Liebe“, „Mitgefühl“ oder „Geduld“ nicht störende Emotionen sind. Doch wenn wir diese Worte genau untersuchen, die in den europäischen Sprachen verwendet sind, entdecken wir, dass es von jeder dieser Emotionen störende und nicht störende Varianten geben kann. Wir müssen also bei der Verwendung dieser Worte etwas differenzieren. Wenn Liebe die Art von Gefühl ist, das etwa in den Worten zum Ausdruck kommt: „Ich liebe dich über alles, ich brauche dich, verlass mich bloß nie“, dann ist das eigentlich ein ziemlich störender Geisteszustand. Denn wenn die betreffende Person unsere Liebe nicht erwidert oder uns nicht braucht, regt uns das sehr auf. Wir ärgern uns und plötzlich ändert sich unser Gefühl: „Ich liebe dich nicht mehr.“

Wenn wir also diesen Geisteszustand untersuchen, den wir vielleicht als Emotion empfinden und „Liebe“ nennen, stellt sich heraus, dass er eigentlich eine Mischung aus mehreren Geistesfaktoren ist. Wir empfinden eine Emotion nicht einfach nur für sich allein. Unsere emotionalen Zustände sind immer eine Mischung; sie bestehen aus verschiedenen Komponenten. Die Art von Liebe, in der wir das Gefühl haben, ohne eine bestimmte Person nicht leben zu können, ist offensichtlich eine Art Abhängigkeit und das ist recht störend. Doch es gibt auch eine nicht störende Art von Liebe, nämlich einfach den Wunsch zu haben, dass die andere Person glücklich sein und die Voraussetzungen dafür haben möge, ungeachtet dessen, was sie tut. In dem Fall erwarten wir von ihr nichts dafür.

Möglicherweise empfinden wir diese nicht störende Liebe z.B. unseren Kindern gegenüber. Wir erwarten dafür nicht unbedingt etwas von ihnen. Einige Eltern tun das natürlich, aber normalerweise ist es so, dass wir das Kind lieben, ungeachtet dessen, was es tut. Wir möchten, dass es glücklich ist. Oft aber ist das wiederum mit einem anderen, störenden Zustand vermischt: Wir möchten, dass wir selbst es glücklich machen. Wenn wir etwas mit der Absicht tun, das Kind glücklich zu machen, etwa mit ihm ins Puppentheater gehen, und es sich dann nicht freut, sondern sich lieber mit seinem Computerspiel beschäftigen möchte, fühlen wir uns ziemlich ungut. Wir fühlen uns dann nicht gut, weil wir wollen, dass wir die Ursache dafür sind, dass das Kind glücklich ist, und nicht das Computerspiel. Trotzdem können wir das Gefühl gegenüber unseren Kind immer noch „Liebe“ nennen. Wir wollen, dass es glücklich ist, wollen versuchen, es glücklich zu machen – aber: Wir wollen die wichtigste Person in seinem Leben sein, die das zustande bringt.

Worauf ich mit dieser ausführlichen Beschreibung hinweisen möchte, ist, dass es wirklich erforderlich ist, unsere emotionalen Zustände genauer zu untersuchen und uns nicht so sehr in den Wörtern zu verfangen, die wir zur Benennung verschiedener Emotionen verwenden. Es ist also notwendig, sie genauer zu erkunden, um herauszufinden, welche Aspekte unserer Geisteszustände störend sind und bewirken, dass wir unseren inneren Frieden, unsere Klarheit und Selbstbeherrschung verlieren. Das ist es, woran wir arbeiten müssen.

Mangelndes Gewahrsein als zugrunde liegende Ursache störender Emotionen

Wenn wir die störenden Geisteszustände bzw. Emotionen oder Einstellungen loswerden wollen, müssen wir zu ihrer Ursache vordringen. Wenn wir die Ursache beseitigen können, die ihnen zugrunde liegt, können wir uns von ihnen befreien. Es geht nicht nur darum, die störenden Emotionen selbst loszuwerden, die unsere Probleme bewirken, sondern wir müssen zu ihrer Wurzel vordringen und diese beseitigen.

Was ist die am tiefsten liegende Ursache für die störenden Geisteszustände? Bei genauer Untersuchung stoßen wir auf das, was oft als „Unwissenheit“ [engl. „ignorance“] übersetzt wird - ich bevorzuge jedoch den Ausdruck „mangelndes Gewahrsein“. Wir sind uns einer Sache nicht gewahr; es ist einfach so, dass wir etwas nicht wissen. Das englische Wort „ignorance“ klingt so, als ob es sich um Dummheit handeln würde. Es ist aber nicht so, dass wir dumm sind, sondern wir wissen Vieles einfach nicht oder es kann auch sein, dass wir in Bezug auf etwas verwirrt sind: Wir verstehen es nicht richtig.

In Bezug auf was sind wir verwirrt bzw. wessen sind wir uns nicht gewahr? Im Grunde betrifft es die Auswirkungen unseres Verhaltens und die entsprechenden Situationen. Wenn wir sehr verärgert oder aufgeregt sind oder sehr an etwas hängen, bewirkt das, dass wir uns in gewisser Weise zwanghaft verhalten. Dieses Verhalten beruht auf früheren Gewohnheiten und entsprechenden Tendenzen. Das ist es im Grunde, worum es bei Karma geht: um den zwanghaften Drang, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten, die auf einer störenden Emotion oder Einstellung beruht, sodass wir uns nicht beherrschen können. Diesem zwanghaften Verhalten liegt mangelndes Gewahrsein zugrunde: Wir waren uns nicht darüber im Klaren, welche Auswirkungen das haben würde, was wir gesagt oder getan haben. Oder wir waren in Bezug darauf verwirrt: Wir dachten, es würde uns glücklich machen, als wir uns unrechtmäßig etwas aneigneten, aber dem war nicht so. Oder wir haben gedacht, dass die Hilfe, die wir jemandem erwiesen habe, bewirken würde, dass wir uns geliebt und gebraucht fühlen, aber das war nicht der Fall. Wir wussten also nicht, welche Wirkung daraus hervorgehen würde. Wir haben gedacht, es würde helfen, aber das hat nicht geklappt. Wir haben gedacht, es würde uns oder jemand anderen glücklich machen, aber das tat es nicht. Ähnliches gilt in Bezug auf Situationen: „Ich wusste nicht, dass du beschäftigt bist“, „Ich wusste nicht, dass du verheiratet bist“, oder wir waren insofern verwirrt, als wir eine falsche Vorstellung hatten: „Ich dachte, du hättest jede Menge Zeit“ – aber so war es nicht. „Ich dachte, du lebst allein und wärst ungebunden, deswegen habe ich mir Hoffnungen auf eine romantische Beziehung gemacht“, doch das war unangebracht. Wir waren uns der Situation nicht bewusst: Entweder wussten wir nichts darüber oder wir haben sie falsch eingeschätzt bzw. etwas falsch verstanden.

Es stimmt zwar, dass mangelndes Gewahrsein die Wurzel zwanghaften Verhalten ist, aber es ist nicht so offenkundig, dass es auch die Wurzel der störenden Emotionen ist und dass störende Emotionen wiederum eng mit zwanghaftem Verhalten verbunden sind. Wir müssen diese Zusammenhänge also etwas genauer erkunden.

Video: Jetsünma Tenzin Palmo — „Die Wichtigkeit von Gewahrsein“ 
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