Auf die Befreiung hinarbeiten
(9) Die Übung der Bodhisattvas ist, mit regem Interesse nach dem höchsten, unvergänglichen Zustand der Befreiung zu streben, denn die Annehmlichkeiten der drei Bereiche zwanghafter Existenz sind Phänomene, die nur einen kurzen Augenblick währen und dann dahinschwinden wie Tautropfen auf der Spitze von Grashalmen.
Wir hören unseren Gurus zu und lesen viele Bücher, doch auch wenn wir viel Inspiration daraus ziehen, denke ich, dass wir oft auch irgendwo ein wenig blockiert sind. Darum geht es vermutlich in diesem Vers. In gewisser Weise sind wir wie Insekten. Das ist nur ein Beispiel; ich sage nicht, wir wären Insekten! Seht nur, wie Insekten zu der Flamme einer Kerze hingezogen werden, die wir anzünden, wie sie um sie herumschwirren und dann durch ihre Anziehung zur Flamme sterben. All die Bemühungen in Samsara, alles, was wir tun und anstreben, kann man damit vergleichen. Wir fühlen uns zu Dingen hingezogen und genießen, was wir tun, doch am Ende, wenn alles getan ist, bleibt nur eine Erinnerung daran.
Stellt euch vor, euer Chef würde euch für ein Jahr freistellen und ihr könntet Urlaub machen und die Zeit so verbringen, wie ihr gerade möchtet. Ihr würdet hierhin und dorthin reisen, tolle Dinge essen und wunderbare Menschen treffen. Ihr würdet das Jahr genießen und dann zurückkommen. Jeder würde euch fragen, was ihr gemacht habt und was ihr am schönsten fandet. Ich würdet erzählen, wie ihr an diesen und jenen Orten wart, doch alles, was ihr teilt, wäre nur eine Erinnerung. Das ist alles, was uns bleibt.
Der große Meister Shantideva sagte, dass alles wie die Erfahrung in einem Traum ist und nur zu einer Erinnerung wird. Wir machen so viele Bilder von uns selbst und stellen sie online, um mehr „Likes“ zu bekommen. Doch was gibt uns das? Alles, was wir bekommen, sind ein paar „Likes“ und vielleicht den Kommentar „Wie schön!“; das ist alles.
Ich gebe meinem Hund etwas Schönes zu fressen und sehe die Blicke der anderen Hunde. Sie bewundern ihn oder sind vielleicht eifersüchtig! Mein Hund hingegen sieht mich immer an, wenn ich esse, und denkt wahrscheinlich: „Der hat es gut!“ Und ich betrachte diese Millionäre, die jeden Tag erlesene Speisen essen und einfach mühelos alles kaufen können, wann immer sie wollen. Sie bekommen viele Dinge, die wir uns wünschen und brauchen, einfach kostenlos!
Es gibt jene, die unglaublich reich sind, wie Bill Gates, doch sie haben wahrscheinlich das Gefühl, dass wir hier unten viel glücklicher sind, auch wenn wir nicht so viel Geld haben. Vermutlich fühlen sie sich durch ihren Ruhm und Reichtum ziemlich beschränkt. Alles, was sie tun, erscheint in den Zeitungen und wird öffentlich. Sogar ihre Söhne und Töchter können wegen der Paparazzi nichts ungebunden tun. Wenn wir schlechte oder gute Dinge tun, kümmert es niemanden. Wir haben mehr Freiheiten und das ist es, was reiche Leute sehen, wenn sie uns betrachten.
Erlangen große Meditierende Shamatha, ist ihr Geist so kontrolliert, ihr Geisteszustand wird so subtil, dass ihr Geist eine Stufe erreicht, auf der es keine Aufregungen und Sorgen gibt, sondern nur Frieden. Wir können diesen Gipfel erreichen und befinden wir uns auf dieser Ebene, haben wir wirklich das Gefühl, die glücklichsten Menschen zu sein. Doch da gibt es ein Ablaufdatum. Man muss zurückkehren, denn dieser Geisteszustand dauert nur so lange an, wie die Meditation.
Auf YouTube habe ich mir eine Belehrung meines früheren Lebens, des vergangenen Serkong Rinpoche, angesehen. Eine schöne Sache, die er seine Schüler fragte, war: „Wie lange werdet ihr noch in Samsara bleiben?“ Wir müssen immer wieder zurückkommen. Einmal war er in Frankreich und einige Leute luden ihn ein, auf den Eiffelturm zu steigen. Später sagte er zu seinem Übersetzer Alex Berzin: „Was ist der Sinn, dort hoch zu gehen? Ist man einmal oben, geht es nicht weiter und es bleibt einem nur übrig, wieder nach unten zu gehen. Egal wie sehr man es auch dort oben genießt, man muss irgendwann wieder gehen und hinuntersteigen.“
Das ist Samsara. Im Leben geht es auf und ab. Zuweilen müssen wir das durch andere Menschen oder durch etwas lernen, was um uns herum geschieht. Manchmal sind wir gesund, manchmal krank. Der Bodhisattva Gyalse Togme Zangpo sagt in dem Text, dass all die Erfahrungen der drei Bereiche nur für einen Moment andauern. In unserem Alter – ich bin in meinen 30igern – sind wir auf viele Probleme gestoßen. Bisweilen haben wir geweint und geschrien, doch jetzt ist es vorbei. Es war nur ein Augenblick. Das können wir alle sehen, ob wir nun Zuflucht genommen haben oder nicht, ob wir Buddhisten sind oder nicht. Alles, was wir erlebt haben, scheint jetzt nur wie ein Moment in der Vergangenheit zu sein. Und dann ist da die Zukunft, das, was noch kommt. Wir werden weiterhin in unserem Leben auf Gutes und Schlechtes stoßen. Zum Zeitpunkt des Todes werden wir sagen, dass alles nur wie ein Augenblick war, soviel ist sicher. Aus diesem Grund sagt Gyalse Togme Zangpo, dass alles Glück der drei Bereiche nur einen Moment andauert und so schnell verschwindet, wie ein paar Tautropfen im Gras.
Nun stellt sich die Frage: „Gibt es etwas Besseres als das?“ Gyalse Togme Zangpo sagt: ja, das tut es. Es ist der höchste, sich niemals verändernde Zustand der Befreiung.
Wenn wir uns an die erste Lehre Buddhas, die vier edlen Wahrheiten, erinnern, so lehrte er über das Leiden und sagte, dass wir über das Leiden Bescheid wissen sollten. Um Leiden gut zu verstehen, sollten wir die Ursachen des Leidens kennen. Dann sollten wir nicht die Hoffnung verlieren, denn die dritte edle Wahrheit ist die Beendigung. Das ist Befreiung, immerwährende Befreiung. Hat man einmal die Beendigung erreicht, wird das Leiden, egal welches, nicht mehr wiederkehren. Keine der negativen Emotionen kann zurückkommen. Wir haben diesen intelligenten Geist und wenn wir uns schon für etwas bemühen, sollten wir unsere Bemühungen darauf richten, unseren Geist zu entfalten.
Um Befreiung zu erlangen, ist es notwendig, dass wir studieren und Leerheit verwirklichen. Nur das kann uns helfen, Befreiung zu erlangen. In Bezug auf Körper und Geist würde ich sagen, dass wir 50% negativ und 50% positiv sind. Manchmal überwiegt das Negative und manchmal das Positive. Erlangen wir Befreiung und werden all das Negative los, welche Garantie haben wir, dass das negative Zeug nicht wieder zurückkommt? Das habe ich mich seit meiner Kindheit gefragt. Ich bin mir nicht sicher, welche Garantie wir dafür haben! Beseitigen wir all die negativen Emotionen und das Greifen nach einem Selbst, was garantiert uns dann, dass nicht noch ein kleiner Rest in uns bleibt und sich eines Tages wieder entfaltet?
Zum Glück gab der große Meister Dharmakirti viele Beispiele. Wenn wir einmal Selbstlosigkeit und Leerheit praktizieren und verwirklichen, dienen sie als Gegenmittel in Bezug auf all unsere negativen Emotionen und das Greifen nach einem Selbst. Es ist nicht wie mit kochendem Wasser, welches abkühlt, sobald man die Herdplatte zurückdreht. Die Leerheit hat hier keine Beschränkungen.
Seine Heiligkeit der Dalai Lama ist eine große Inspiration für mich. Er redet viel mit Wissenschaftlern. Während einem dieser Gespräche, sprach eine Frau über Untersuchungen, die mit Kleinkindern gemacht wurden. Kleinen Kindern wurden Figuren in einer Animation gezeigt und wenn eine Figur von einer anderen umarmt wurde, bestand die natürliche Reaktion der Kinder darin, zu lächeln und die Areale im Gehirn, die mit Liebe verbunden werden, leuchteten auf. Zeigten die Wissenschaftler den Kindern jedoch, wie eine Figur einer anderen wehtat, kam es bei den Kindern automatisch zu unzufriedenen und betrübten Reaktionen. Daraus können wir verstehen, dass die innewohnende Natur kleiner Kinder „unschuldig“ ist oder sie zumindest eine unvoreingenommene Denkweise haben. Ihnen wurde noch nicht beigebracht, dass es gut ist, sich um andere zu kümmern, und schlecht, ihnen zu schaden. Ihre natürlichen Reaktionen darauf, diese Animationen zu sehen, zeigt, dass unsere Natur positiv und gut ist.
Das gibt Anlass zu großer Hoffnung. Als Seine Heiligkeit dies von den Wissenschaftlern erfuhr, hatte er das Gefühl, etwas tun zu können; es wurde zu einer Grundlage für alles. Durch die Untersuchungen dieser Wissenschaftler an Menschen ohne jeglichen Glauben in Buddhismus bekam er eine direkte Unterweisung darin, dass im Menschen von Natur aus etwas ausgesprochen Positives ist. Die Tatsache, dass die Natur fühlender Wesen positiv ist, stimmt wirklich hoffnungsvoll. Wir können dies als natürliche positive Einstellung der Buddha-Natur bezeichnen. Es ist eine großartige Lehre von den Wissenschaftlern und Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama.
Eine Bodhichitta-Ausrichtung entwickeln
(10) Die Übung der Bodhisattvas ist, die altruistische Absicht von Bodhichitta zu entwickeln, die darauf abzielt, die unendlich vielen Lebewesen zu befreien, denn wozu soll unser eigenes Glück gut sein, wenn unsere Mütter, die uns seit anfangsloser Zeit geliebt haben, leiden?
Die Praxis aller Bodhisattvas besteht darin, Bodhichitta hervorzubringen. Das Ziel ist, allen zahllosen fühlenden Wesen Freiheit zu bringen. Wie können wir jemals wahres Glück finden, wenn unsere Mütter, die sich in allen Zeiten so sehr um uns gekümmert haben, solchen Schmerz erfahren?
Hier geht es nicht nur um dieses Leben, sondern um all unsere Leben. In all unseren Leben hatten wir eine Mutter, die sich um uns gekümmert hat und gütig zu uns war. Fällt es uns schwer, die Reinheit der Liebe unserer Mutter in diesem Leben zu erkennen und über Zeitalter und endlose Leben nachzudenken, ist es vielleicht besser, diesen Vers zu überspringen und uns dem nächsten zuzuwenden.
Lasst uns jedoch einmal an die Güte unserer Mutter in diesem Leben denken. Im Grunde ist die bemerkenswerteste Sache, die jeder von uns erfahren hat, die Güte unserer Mutter. Bevor wir geboren wurden, hat sie sich während ihrer Schwangerschaft nie gefragt, wer da in ihr ist, oder gedacht: „Ich will diesen Fremden nicht in mir haben.“ Die meisten Mütter fragen sich nicht, wer da ihn ihnen ist, nicht einmal bei den Tieren. Sie stellen überhaupt keine Fragen. Und doch tun die Mütter alles, um das Baby in ihnen zu beschützen, sogar bevor sie es gesehen haben. Neun Monate achten die Mütter genaustens darauf, was sie tun, was sie essen und was sie trinken. Auch wenn es zu ihrem eigenen Nachteil ist, tun Mütter was sie können, solange es dem Baby hilft. Versucht einmal darüber nachzudenken und die Güte euer Mutter zu fühlen. Diese Art der Güte kann nicht zurückgezahlt werden, indem man ihr Nahrung, etwas Teures zum Anziehen oder ein schönes Haus gibt. Sogar wenn man ein Milliardär wäre und ihr ein Zehn-Millionen-Dollar Haus kaufen würde, käme das nicht einmal in die Nähe eines Vergleichs zu ihrer Güte. Man kann sie nicht vergleichen. Ohne jeden Zweifel hat sie uns neun Monate in sich getragen. Und nachdem wir geboren wurden, hat sie sich um uns gekümmert, als wir noch nicht laufen oder reden konnten und hat uns Dinge beigebracht. Natürlich helfen die Väter hier auch, doch in der Regel haben wir in dem Alter eine stärkere körperliche Verbindung zur Mutter. Und man kann auch sagen, dass die Mutter im Allgemeinen mehr Zuneigung und Liebe gegenüber dem Kind empfindet.
Meditieren wir darüber, wird die Güte unserer Mutter nicht mehr fragwürdig sein. Nach der Geburt hat sich unsere Mutter ständig um uns gesorgt. Bis zu ihrem Tod sorgt sich die Mutter nicht nur um uns, sondern um alles in Beziehung zu uns. Sie will sich auch um unsere Partner und Kinder kümmern, als wären sie ihre eigenen. Wenn man an diese Art der Güte unserer Mutter denkt, kann man sich dann vorstellen, diese Güte gegenüber allen fühlenden Wesen zu empfinden? Keine Chance! Manche Menschen, die ich im Westen getroffen habe, scheinen Probleme mit ihren Müttern zu haben. Das ist eine individuelle Sache. Doch im Allgemeinen können wir sagen, dass unsere Mutter wirklich unglaublich gütig zu uns war.
Heutzutage sage ich oft zu jungen Leuten, dass es zweitrangig sein kann, in Buddha, Dharma und Sangha Zuflucht zu nehmen. Die meisten von ihnen haben ganz einfach kein Interesse an zukünftigen Leben. Sie wollen nur ein ganz normales und schönes Leben. Manchmal fühlt es sich an, als wäre es reine Zeitverschwendung, über Buddha, Dharma und Sangha zu reden, denn es interessiert sie überhaupt nicht.
Aus diesem Grund sagte Buddha: „Belehre nicht jene, die ohne Glauben sind.“ Stattdessen sage ich ihnen immer, dass sie nicht die Güte vergessen sollten, die sie durch die Liebe ihrer Mutter in diesem Leben bekommen haben, wenn sie ein perfektes Leben in Samsara haben wollen. Sie sollten sich darauf ausrichten und jeden Tag damit beginnen, daran zu denken. Für uns Buddhisten, die wir Zuflucht genommen haben, betreffen Mutter und Vater nur dieses Leben. Der Guru sowie Buddha, Dharma und Sangha sind da, bis wir Erleuchtung erlangen. Das ist unsere Priorität.
Wenn wir uns an die Güte der Mutter in diesem Leben erinnern, versuchen wir zu begreifen, dass alle fühlenden Wesen in früheren Leben unsere Mütter waren und in einem zukünftigen Leben vielleicht unsere Mütter werden. Auch wenn sie in diesem Leben nicht unsere Mutter sind, versuchen wir, dasselbe gegenüber anderen fühlenden Wesen zu empfinden, als wären sie unsere Mutter.
Menschen, die sich an ihre früheren Leben erinnern, haben Eltern in diesem Leben, aber erinnern sich auch an ihre Mütter und Väter vergangener Leben. Wenn man sie fragt, sagen sie, dass sie gegenüber den Eltern in diesem Leben und jenen früherer Leben dasselbe empfinden. Biologisch sind es nicht die Eltern dieses Lebens, doch sie haben das Gefühl, sie zu kennen, und es fällt ihnen nicht schwer, „Mama“ zur Mutter ihres früheren Lebens zu sagen, denn sie erinnern sich daran.
Es ist aber nicht wichtig, ob wir uns daran erinnern oder nicht. Manchmal ist es besser, sich nicht an alles zu erinnern! Wir haben so viele schlechte Dinge getan, an die wir uns lieber nicht erinnern sollten. Doch all diese anderen fühlenden Wesen haben uns so viele Dinge gegeben und nun müssen wir ihnen viele Dinge zurückzahlen. Nicht nur Geld, Kleider und Ausbildung; nur ein Lächeln oder etwas Geduld ihnen gegenüber ist ein besseres Geschenk als diese physischen Dinge. Was wir jedoch wirklich tun sollten, ist, zu beginnen, an ihrer Befreiung von unkontrollierbar sich wiederholender Existenz zu arbeiten.
Der Buddha sagte, dass all die guten Verbindungen, die wir mit einer Person in vielen früheren Leben gemacht haben, automatisch zerstört werden, wenn wir eine starke Abneigung gegenüber ihr haben. Was das betrifft, bin ich mir nicht sicher, denn ich kann nicht erkennen, ob es wahr ist. Doch es steckt Logik dahinter, das spüre ich. Wenn man einmal mit jemanden kämpft, kann das die Freundschaft eines ganzen Lebens ruinieren. Nach einem Kampf braucht es so große Bemühung, die Person auch nur anzulächeln. Und auch wenn wir äußerlich lächeln, ist es unbeschreiblich, was in uns abläuft. In diesem Leben können wir sehen, wie Verbindungen völlig getrennt werden können. Unser Freund, den wir einst so mochten, wird plötzlich unausstehlich und rührt in uns einen unaufhaltsamen Hass an. Wir wünschen uns, wir hätten ihn nie kennengelernt. Und nicht nur aus unserem Mund, sondern auch in unserem Geist kommen all diese schlechten Dinge hoch. Ich kann wirklich sehen, wie all diese starken, negativen Emotionen nicht nur in diesem Leben, sondern auch im nächsten Verbindungen durchtrennen können. Was wir aufgebaut haben, wird völlig zunichte gemacht. Das ist der Punkt, wenn Buddha sagt, dass starke, negative Emotionen, wie Wut, die Verbindungen zerstören werden, die wir zusammen aufgebaut haben. Sie werden unsere Verdienste aus hundert Zeitaltern vernichten.
Sich selbst mit anderen austauschen
(11) Die Übung der Bodhisattvas ist, unser persönliches Glück wahrhaftig gegen die Leiden der anderen Wesen einzutauschen, denn unsere Leiden entstehen ausnahmslos aus der Begierde nach persönlichem Glück; vollkommene Erleuchtung hingegen entsteht aus der Absicht, anderen von Nutzen zu sein.
Sind wir wirklich glücklich, sollten wir nicht vergessen, was der Buddha uns über Glücklichsein und das Gesetz von Ursache und Wirkung gelehrt hat. Ist das Glücksgefühl, das wir empfinden, wenn wir mit unseren Freunden zusammen sind, mit denen wir alles teilen können und mit denen wir zusammen plaudern, trinken und tanzen, und die uns anscheinend solche Freude bereiten, echtes Glück? Ich sage überhaupt nicht, dass es nicht ein Teil davon sein könnte. Es ist möglich, doch schaut einmal genau hin und denkt darüber nach, warum wir unsere Freunde mögen. Wir sagen, sie wären uns wichtig, doch das stimmt nicht ganz, denn wir sagen es nur, weil sie bewirken, dass unser Glücksgefühl anwächst. Machen sie uns also glücklich, zählen wir sie zu unseren Freunden.
Dann können wir noch genauer hinsehen und uns fragen: „Warum bin ich wichtig? Warum will ich immer glücklich sein?“ Es ist, weil wir meinen, wir wären wichtig. Letztendlich dreht sich alles um uns. Wir sagen es nicht laut, doch tief im Innern ist es da. Natürlich sind wir wichtig, doch all die Entscheidungen, die wir treffen, die Menschen, die wir lieben, bei alledem geht es uns nur um uns selbst.
Das wäre ja alles nicht so schlimm, wenn unser Leben stets geradlinig verlaufen würde und wir immer glücklich wären, doch dem ist nicht so. Auch wenn wir nur an uns und unser Glück denken, leiden wir. Aus diesem Grund sagt Gyalse Togme Zangpo, dass alle Leiden daraus entstehen, sich nur um das eigene Glücklichsein zu kümmern. Das ist der Schlüssel.
Das Gegenteil davon sind die Bodhisattvas. Statt nur an sich selbst zu denken, geht es ihnen ausschließlich um das Wohlergehen aller fühlenden Wesen. Wenn in dieser Welt gewählt wird, sagen alle Kandidaten: „ich werde für euch alle, für euch Menschen, ein Diener sein“, und so gewinnen sie die Wahlen! Doch sobald sie die Wahlen gewonnen haben, handeln sie völlig anders. Sie sind nicht aufrichtig. Bodhisattvas hingegen praktizieren immer auf ehrliche Weise. Sie haben erkannt, dass Leiden darauf zurückzuführen sind, nur an sich selbst zu denken. Bodhisattvas stellen andere an erste und sich selbst an zweite Stelle.
Vor ein paar Tagen habe ich einen Straßenkampf miterlebt, keinen körperlichen Kampf, aber einen mit viel Geschrei und herben Worten. Ich habe zugehört und fand es langweilig, weil es schien, dass sie nicht anfangen würden, richtig zu kämpfen. Haha, ich mache natürlich Witze! Ich habe also zugehört und einer meinte: „Entschuldige dich und das Problem ist gelöst.“ Doch die andere Person war ziemlich stur und sagte: „Nein, ich werde mich nicht entschuldigen.“ Im Grunde haben sie sich um das Wort „Entschuldigung“ gestritten. Das ist das Ego. Nur „Entschuldigung“ zu sagen, hätte den Streit bereinigt, doch der Eine war nicht bereit nachzugeben.
Wenn sich jemand über Bodhisattvas ärgert, werden sie sich automatisch entschuldigen, egal worum es geht. Stellt man andere an erste und sich selbst an zweite Stelle, wird man ganz von selbst denken: „vielleicht habe ich ja etwas falsch gemacht“, und sich entschuldigen. Stellt man sich selbst jedoch an erste und andere an die zweite Stelle, wird es einem egal sein, wenn jemand wütend wird oder man wird einfach anfangen zu kämpfen. Es ist Zeit, diese Denkweise zu ändern.
Andere an die erste Stelle zu setzen, bedeutet nicht, sie wären dann unser Boss und wir kleine, arme Dinger, auf denen man herumtrampeln kann. So ist das keineswegs gemeint. Tatsächlich erfordert es unglaubliche Kraft und unfassbaren Mut, wie ein Bodhisattva zu sein. Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt stets, dass Bodhisattvas ziemlich clever sind, weil sie wissen, wie man sich selbst liebt. Wir hängen, was das betrifft, von anderen ab. Wenn wir andere glücklich machen können, werden wir selbst glücklich sein, denn wir gehören zu allen anderen mit dazu. Daher ist das Austauschen von uns selbst mit anderen ausgesprochen wichtig.
Das Verhalten eines Bodhisattva: Wie man damit umgeht, wenn einem Leid zugefügt wird
(12) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn jemand unter dem Einfluss großer Begierde unsere Reichtümer stiehlt oder andere dazu veranlasst, ihm dennoch unseren Körper, unsere Ressourcen und unsere konstruktiven Handlungen aus allen drei Zeiten zu widmen.
Vergesst einmal für einen Moment alle anderen Verse und stellt euch Menschen vor, die nicht an den Buddhismus glauben und diesen Vers sehen. Sie würden denken, dies sei wirklich völlig verrückt, und sagen, dass es Grenzen gibt und wir so ein Verhalten keinesfalls tolerieren sollten. Wenn andere mir etwas stehlen, mir schlechte Dinge sagen oder mich schlagen, müssen wir solche Menschen verklagen. Wir sollten uns an ihnen rächen! So denken Menschen normalerweise, doch Bodhisattvas geben alles mit großer Leichtigkeit her. Warum ist das so? Für sie ist es einfach und ganz natürlich; es ist ganz und gar nicht verrückt. Für uns wäre es völlig verrückt und wir sind nicht bereit, so etwas zu tun. Ich bin auch nicht bereit dafür.
Natürlich würden wir gern in den Fußstapfen der Bodhisattvas folgen und wir bewundern sie von ganzem Herzen. Doch wir haben das Gefühl, nicht bereit dazu zu sein – wir können nicht einfach alles so leicht hergeben. Wir müssen uns also fragen, warum wir nicht bereit dazu sind. Der Grund ist ziemlich einfach. Es liegt daran, dass wir alle fühlenden Wesen nicht als so kostbar sehen, wie Bodhisattvas es tun. Geshe Langri Tangpa schreibt beispielsweise in den Acht Versen des Geistestrainings: „Fühlende Wesen sind für mich so besonders, wie ein kostbarer Schatz. Durch sie werde ich volle Erleuchtung erlangen. Sie sind wie kostbare Edelsteine.“
Bodhisattvas sehen in allen fühlenden Wesen unendliche Qualitäten. Der frühere Serkong Rinpoche sagte in einer seiner Belehrungen, dass die Güte des Buddhas, der Bodhisattvas, unserer Gurus und fühlender Wesen gleich ist. Die Güte aller fühlenden Wesen ist denen der Buddhas und Bodhisattvas ebenbürtig. Ihre Güte ist unermesslich. Wenn wir die Güte aller fühlenden Wesen nicht sehen, kann es recht schwierig sein, die guten Eigenschaften von ihnen allen zu erkennen.
Um uns an die Vorstellung zu gewöhnen, alles wegzugeben, ist es auch gut, über die Vergänglichkeit nachzudenken. Wir haben vielleicht Milliarden Doller auf unserem Konto, doch wenn es Zeit ist, diese Welt zu verlassen, wird nichts von dem Geld mit uns kommen. Es wird an die Kinder gehen, an Stiftungen, hierhin und dorthin. Und wenn wir im Krankenhaus sind, werden die Kinder wahrscheinlich kommen, vielleicht ein bisschen traurig sein, aber vermutlich große Ziele haben. Sie werden versuchen, das ganze Geld für sich zu bekommen. Vielleicht ist das Testament bereits unterschrieben. Ob es uns gefällt oder nicht: wir werden alles weggeben müssen. Wir können unseren Kindern nicht sagen: „Bitte schickt es alles zu mir in den Himmel.“
Bodhisattvas sind also bereit, was immer sie haben wegzugeben, wer auch immer es gerade braucht. Es gibt einen Geshe, der ein Freund und ein großer Praktizierender ist und in meinem letzten Leben mein Schüler war. Als mein jetziger Lehrer noch jung war, ging er zu diesem Geshe und bat ihn um Rat in Bezug auf die Meditation über Vergänglichkeit. Der Geshe sagte: „Ich weiß es nicht.“ Er ist ziemlich demütig, doch mein Lehrer war sehr hartnäckig und fuhr fort ihn zu fragen. Doch alles, was der Geshe sagen konnte, war: „Es fällt mir nichts dazu ein.“ Mein Lehrer wollte schließlich gehen und bat ihn um Erlaubnis, doch der Geshe bat ihn zu bleiben und gab ihm Tee, Mittag und Abendessen. Irgendwann sagte mein Lehrer: „Ich sollte jetzt gehen, es ist spät und es wird schon dunkel.“ Der Geshe lebte auf einem Hügel in einer Höhle. Der Geshe sagte also: „Gut, nun solltest du gehen.“ Dann zog er etwas unter seinem Bett hervor und gab es meinem Lehrer. Es waren 200 Rupies, was damals viel Geld war. Außerdem gab er meinem Lehrer ein Paar Socken. Der Geshe sagte: „Denk darüber nach, dass du alles zurücklassen musst, ob es dir passt oder nicht. Was kannst du vorher noch tun? Bereite dich vor.“ Für meinen Lehrer war das so eine erstaunliche Unterweisung.
Wenn wir sterben, müssen wir alles aufgeben. Uns bleibt keine Wahl. Ist es in dieser Hinsicht nicht besser damit anzufangen, bereits jetzt alles wegzugeben? Ihr könnt euch alle aufstellen und ich kann jedem von euch irgendwelche Dinge geben. Dann kann ich mit eigenen Augen sehen, wie glücklich ihr seid. Das wäre doch ziemlich heldenhaft, oder? In ähnlicher Weise können wir uns wünschen, all die positiven Potenziale, die wir haben, einfach anderen darbringen. Es ist, als würden ich ein Konto im Namen aller eröffnen und euch in diesem Leben 1000 Dollar geben. Aber im nächsten Leben werde ich dann 3000 Dollar von euch nehmen! Haha! Das war nur Spaß und war natürlich nicht ernst gemeint.
Widmung
Mein eigentliches Ziel besteht hier darin, euch meine Denkweise nahezubringen und zu zeigen, wie wichtig diese Praxis ist. Wenn ich ein wenig von dem, was ich von meinen Lehrern gelernt habe, mit euch teilen und die großartigen Qualitäten, die ich in meinen Gurus gesehen habe, damit zum Ausdruck bringen kann, wäre das toll. Und wenn es euch hilft, wäre das sogar noch besser. Doch auch, wenn es keine Hilfe ist, gibt es mir das gute Gefühl, meinen Lehrern zu dienen. Was sie mit mir geteilt haben, wird nicht verschwendet sein. Meine eigene Praxis ist nur 1% von 100%, doch wenn ich diese großartigen Belehrungen mit euch teilen kann, habe ich das Gefühl, große Arbeit für sie zu leisten. Dafür bin ich überaus dankbar.
Bitte widmet all die positiven Potenziale, die wir heute hervorgebracht haben, dem langen Leben und der Gesundheit Seiner Heiligkeit des Dalai Lama. Wir sollten, was Seine Heiligkeit betrifft, keine Zeit vergeuden, denn er wird alt. Er kam in der Form eines menschlichen Wesen. Jetzt ist er in seinen 80igern und bald wird er 90 Jahre alt sein. Wir können diese Realität nicht ignorieren. Er wird nicht mehr so lange unterrichten können. Früher bekamen wir zwei Sitzungen mit Unterweisungen am Tag, doch jetzt ist es nur noch eine. Wir sollten also nicht faul sein. Wenn wir Seiner Heiligkeit zuhören, werden wir mit Sicherheit viel mehr Inspiration in uns finden.