Der buddhistische Kontext für die Analyse von Phänomenen
Heute Abend werden wir darüber reden, auf welche Weisen Phänomene im Buddhismus analysiert werden.
Der Grund, warum wir Phänomene verstehen und ein System für das Verstehen von Phänomenen haben sollten, ist der, in der Lage zu sein, erkennen zu können, wie Dinge existieren und zu wissen, was existiert und wie es existiert. Außerdem wollen wir es verstehen, weil Dinge auf verwirrende und trügerische Weise zu existieren scheinen. Es ist nicht unsere Schuld, dass Dinge so erscheinen. Unser Geist lässt sie im Grunde so erscheinen, weil wir, um es einmal computertechnisch auszudrücken, eine begrenzte Hardware haben. Denken wir einmal darüber nach: zum Sehen stehen uns nur diese zwei Löcher auf der Vorderseite unseres Schädels zur Verfügung. Wir können beispielsweise nicht sehen, was sich hinter uns befindet und wir können nur Dinge wahrnehmen, die in diesem Moment geschehen. Wir können nichts sehen, was bereits stattgefunden oder noch nicht stattgefunden haben. Die Hardware ist begrenzt und für uns Menschen ist auch der Bereich innerhalb des visuellen Spektrums dessen, was wir mit unserer Hardware wahrnehmen können, beschränkt. Adler können andere Dinge wahrnehmen und Hunde andere Dinge hören. Es ist also ein Hardware-Problem.
Wegen dieser täuschenden Erscheinung, die unser begrenzter Geist aus Dingen produziert, neigen wir zu glauben, Dinge würden so existieren, wie sie für uns erscheinen. Beispielsweise denken wir, wir wären die Einzigen im Universum. Wir schließen unsere Augen und dann scheint niemand mehr zu existieren und so ist es, als wären wir das Zentrum des Universums und von größter Bedeutung. Und weil wir das glauben, entstehen jede Menge störender Emotionen: wir werden wütend, wenn es nicht nach unserem Kopf geht, wir sind gierig, egoistisch usw. Das führt wiederum zu unkontrollierbar sich wiederholenden Problemen und Wiedergeburten.
Das ganze Ziel im Buddhismus besteht darin, davon befreit zu werden und dann darüber hinaus zu gehen und den Zustand der Erleuchtung eines Buddhas zu erlangen, damit wir allen anderen helfen können und um zu wissen, wie wir anderen bestmöglich von Nutzen sein können, damit auch sie Befreiung erlangen. Um Befreiung oder Erleuchtung zu erlangen, ist es nicht nur notwendig, nicht weiter an diese täuschenden Erscheinungen zu glauben – wenn wir aufhören, daran zu glauben, entstehen keine störenden Emotionen und wir erlangen Befreiung – sondern auch darüber hinaus zu gehen und unseren Geist nicht weiter diese täuschenden Erscheinungen produzieren zu lassen. Wenn wir das tun, werden wir zu allwissenden Buddhas, denn dann sind wir in der Lage, all die Ursachen zu verstehen und zu kennen, die jede einzelne Person seit anfangsloser Zeit in ihre jetzige Situation geführt haben. Auch wären wir uns im Klaren darüber, dass die Dinge, die wir einer Person beibringen, nicht nur auf sie eine Auswirkung haben werden, sondern auch auf alle anderen, mit denen sie in Kontakt kommt, bis weit in die Zukunft hinein.
Um wirklich zu wissen, wie wir anderen helfen können, ist es notwendig, unseren Geist aus seinen Begrenzungen hinaus zu führen. Ein Buddha ist kein begrenztes Wesen. Ein Buddha ist auch kein fühlendes Wesen. Als Buddhas sind wir quasi in der Lage wahrzunehmen, wie alles miteinander verbunden ist. Diese Beschreibung all der verschiedenen Phänomene, der Arten des Verstehens usw. ist nicht nur irgendein intellektuelles Konstrukt. Der ganze Sinn und Zweck all dessen besteht vielmehr darin, uns zu helfen, die Wirklichkeit zu verstehen, unsere Verwirrung zu beseitigen und schließlich Befreiung und Erleuchtung erlangen zu können. Das ist der Sinn.
Existente und nicht-existente Phänomene
Wie unterteilen wir „Dinge?“ Zunächst ist es notwendig, existente Phänomene (tib. yod-pa) von nicht-existenten Phänomenen (tib. med-pa) zu unterscheiden. Hier werden wir jetzt nicht darüber diskutieren, ob man nicht-existente Dinge als Phänomene bezeichnen kann. Ein existentes Phänomen wird als etwas definiert, das gültig erkannt werden kann. Ein nicht-existentes Phänomen ist etwas, das nicht gültig erkannt werden kann.
Menschliche Lippen sind beispielsweise existente Phänomene, die gültig erkannt werden können. Hühnerlippen sind nicht-existente Phänomene. Man kann Hühnerlippen nicht gültig erkennen: man könnte sich menschliche Lippen bei einem Huhn vorstellen, jedoch keine Hühnerlippen bei einem Huhn. Es ist sehr wichtig, diesen Unterschied zu kennen, denn obwohl unser Geist Dinge auf unmögliche Weise erscheinen lässt, existieren sie nicht wirklich auf diese Weise. Sie sind nicht-existent. Sie können nicht gültig erkannt werden. Mir scheint es so, als wäre ich das Zentrum des Universums und der wichtigste Mensch, aber das bezieht sich nicht auf die Realität. Ein „Ich“ oder ein „Du“ als Zentrum des Universums, als das Allerwichtigste, ist ein nicht-existentes Phänomen. Es kann nicht gültig erkannt werden.
Daraus ergeben sich einige Konsequenzen. Ich denke, es sollte immer nach meinen Vorstellungen laufen, ich sollte immer Recht haben und ich sollte immer an erster Reihe stehen, aber niemand existiert auf diese Weise. Das ist also ein nicht-existentes Phänomen. Wenn ich auf diese Weise denke, handelt es sich dabei nicht um eine gültige Denkweise. Oder wenn ich meine, all meine Probleme würden einfach so von selbst verschwinden, während ich nur dasitze und nichts tue – das ist unmöglich. Wie gesagt, müssen wir verstehen, dass all das darauf abzielt, uns zu helfen, mit schwierigen Situationen umzugehen und sie zu überwinden.
Gültige Phänomene und Ungültige Phänomene
Nun gibt es auch gültige Phänomene (tib. srid-pa) und ungültige Phänomene (tib. mi-srid-pa). Hier fängt es an, ein wenig kompliziert zu werden. Gültige Phänomene finden gegenwärtig irgendwo statt und können daher in diesem Moment gültig erkannt werden. Ungültige Phänomene finden gegenwärtig nirgendwo statt und können daher in diesem Moment nicht gültig erkannt werden.
Hier müssen wir uns etwas näher mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft befassen. Zunächst einmal handelt es sich bei Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft um westliche Sichtweisen in Bezug auf die Zeit. Es ist nicht die Art und Weise, wie Buddhisten die Zeit betrachten. Das ist eine Überraschung, nicht wahr? Es ist nicht so, als würden Vergangenheit oder Zukunft irgendwo existieren und man tatsächlich in die Zukunft gehen könnte! Das ist, gemäß der buddhistischen Analyse, eine völlig falsche Art des Verstehens. Wir reden stattdessen davon, dass etwas „noch nicht stattfindet“ (tib. ma-‘ong-ba), dass etwas „gegenwärtig stattfindet“ (tib. da-lta-ba) und dass etwas „nicht länger stattfindet“ (tib. ‘das-pa). Die Reihenfolge ist also: noch nicht stattfinden, gegenwärtig stattfinden, nicht länger stattfinden. Wenn wir es genauer betrachten, können wir sehen, dass die Reihenfolge genau umgekehrt von dem im Westen ist. Wir meinen Vergangenheit kommt zuerst, dann Gegenwart und dann Zukunft. Hier ist es jedoch: noch nicht, gegenwärtig und nicht länger.
Sehen wir uns das an einem Beispiel an. Wir haben das Jahr 2010, also das gegenwärtig stattfindende Jahr 2010. Es kann gegenwärtig gültig erkannt werden und ist daher ein gültiges Phänomen. Das nicht länger stattfindende Jahr 2009 ist gültig, wir können es erkennen – ich kann mich an das Jahr 2009 erinnern, das nicht länger stattfindende Jahr 2009. Es ist gültig, ein gültiges Phänomen. Und das noch nicht auftretende Jahr 2011, auch das kann ich erkennen. Ich kann darüber nachdenken und Dinge für dieses Jahr planen. Es ist ein gültig erkennbares Phänomen und bei allen handelt es sich um existente Phänomene.
Aber ein gegenwärtig stattfindendes 2009 ist ein ungültiges Phänomen, denn ich kann ein gegenwärtig stattfindendes Jahr 2009 derzeit, im Jahr 2010, nicht erkennen, denn es findet nicht länger statt. Können Sie dem folgen? Ein gegenwärtig stattfindendes 2009 ist ein existentes Phänomen, aber es kann gegenwärtig nicht gültig erkannt werden. Jedoch findet ein gegenwärtig stattfindendes 2009 nicht irgendwo anders statt. Es findet nirgendwo statt. Es findet nicht statt, Punkt. Aber es ist ein existentes Phänomen, da es gültig erkannt werden kann. In ähnlicher Weise kann auch ein gegenwärtig stattfindendes 2011 nicht gültig erkannt werden. Es ist ein ungültiges Phänomen. Aber es ist ein existentes Phänomen: es könnte gültig erkannt werden – wenn es stattfindet.
Dieses Wissen ist hilfreich, wenn wir uns mit dem, was wir im Westen als Vergangenheit und als Zukunft bezeichnen, befassen, sowie damit, an was wir uns tatsächlich erinnern und was wir tatsächlich planen können.
Es gibt auch ungültig existente Phänomene, sowie ungültig nicht-existente Phänomene (in gewissem Sinne ein Phänomen, das nie Gültigkeit hat). Einen gegenwärtig stattfindenden „Alex, der das Zentrum des Universums ist“ gibt es derzeit nicht. Und einen nicht länger stattfindenden „Alex, der zwanzig Jahre alt und das Zentrum des Universums ist“ gibt es derzeit auch nicht. Man könnte ihn nie kennen. Er war nie gültig. Der nicht länger stattfindende „Alex, das Zentrum des Universums“ ist ein ungültiges, nicht existentes Phänomen.
Wo findet das seine Anwendung? Es findet seine Anwendung, wenn ich mich von dem Gedanken befreien kann, ich wäre das Zentrum des Universums und nun erkenne, dass es völliger Unsinn ist. Aber es ist nicht so, dass es vorher einen „nicht länger stattfindenden“ gab, als ich nicht befreit und nicht erleuchtet war, als dieser „Alex, das Zentrum des Universums“, den es derzeit nicht mehr gibt, tatsächlich ein existentes Phänomen war. Er war nie ein existentes Phänomen. Können Sie dem folgen? Er war nie gültig erkennbar. Die Tatsache, dass es ihn derzeit nicht gibt, findet nicht länger statt – sie fand nie statt. Es ist nicht so, dass es etwas Existentes war, das gegenwärtig nicht mehr stattfindet. Es ist etwas, das es nie gab. Es war nie existent.
Jemand hat beispielsweise Paranoia und denkt, alle wären gegen ihn. Dann ist er davon geheilt, aber es ist nicht so, dass diese Visionen der Paranoia jemals real waren. Man könnte meinen, nun, es war real, aber jetzt habe ich es erkannt und weiß, dass ich es nicht mehr so sehe. So ist das nicht. Ist es wie das nicht länger stattfindende Jahr 2009? Ich kann ein nicht länger stattfindendes Jahr 2009 erkennen und es gab ein gegenwärtig stattfindendes 2009. Aber bei den nicht länger stattfindenden „Monstern, die mich angreifen“ war es nicht so, dass es gegenwärtig stattfindende „Monster, die mich angreifen“ gab und die es jetzt nicht mehr gibt. Das ist ein großer Unterschied hier.
Mit den Monstern, die mich nicht mehr angreifen, war es nicht so, dass sie mich jemals angegriffen haben? Jetzt weiß ich, dass es keine Monster mehr gibt, die mich angreifen, genauso, wie ich weiß, dass das Jahr 2009 nicht mehr stattfindet. In ähnlicher Weise erkenne ich, dass es ein Nicht-Länger-Stattfinden von Monstern gibt, die mich angreifen. Es findet nicht länger statt. „Stattfinden“ ist das wichtigste Wort hier. Es geht um Erfahrung, nicht einfach nur darum, dass etwas „existiert.“ Aber ein gegenwärtig stattfindendes 2009 war etwas, das stattgefunden hat. Es bezog sich auf etwas Reales, ein existentes Phänomen. Gegenwärtig stattfindende „Monster, die mich angreifen“ gab es jedoch zu keinem Zeitpunkt. Das ist ein nicht-existentes Phänomen. Nur weil ich es nicht mehr so erlebe, heißt das nicht, es hätte irgendwann nicht länger stattfindende Monster gegeben.
Lassen wir das für einen Moment einwirken. Das sind schwierige Themen und normalerweise würde man einige Wochen hin und her diskutieren, um es schließlich richtig verstehen zu können. Kürzen wir es auf ein, zwei Minuten ab und versuchen einfach nur dieses Konzept zu verstehen. Noch nicht stattfinden, gegenwärtig stattfinden, nicht länger stattfinden.
Ein gültiges Phänomen: es findet gegenwärtig statt; ich kann es gültig erkennen. Ein ungültiges Phänomen findet gegenwärtig nirgendwo statt. Es kann gegenwärtig nicht gültig erkannt werden. Sowohl das Jahr 2009 und die Monster, die mich angreifen, sind Beispiele. Bei einem davon handelt es sich um ein existentes Phänomen: das Jahr 2009. Bei dem anderen handelt es sich um ein nicht-existentes Phänomen: die Monster, die mich angreifen. Beide finden gegenwärtig nicht statt.
Lassen sie das für einen Moment einwirken. Denken Sie darüber nach.
[Pause]
Ein nicht länger stattfindendes „Baby Alex“ oder ein nicht länger stattfindendes „Baby Corinna“: das sind Dinge, die ich gegenwärtig kennen kann. Es handelt sich um ein existentes Phänomen. Es ist gültig, ein gültiges Phänomen. Aber ein gegenwärtig stattfindendes „Baby Alex“ oder ein gegenwärtig stattfindendes „Baby Corinna“ gibt es gegenwärtig nicht. Und es findet auch nicht irgendwo anders statt. Es ist nicht gültig, aber es existiert – es hat existiert. Meine Mutter hat das gegenwärtig stattfindende „Baby Alex“ gesehen, aber derzeit findet es nicht statt.
Es handelt sich nicht nur bei dem nicht länger stattfindenden „Baby Alex“ um ein existentes Phänomen, sondern auch bei dem „Nicht-Länger-Stattfinden“ des „Baby Alex.“ Ich kann gültig erkennen, dass es nicht länger stattfindet. Ist es nicht so? Ich weiß, dass ich kein Baby mehr bin. Das ist wirklich recht interessant, denn viele von uns, die schon älter sind, werden nicht akzeptieren, dass es einen nicht länger stattfindenden jungen Mann gibt. Ich denke immer noch, dass ein „junger Mann Alex“ gegenwärtig stattfindet, aber dem ist nicht so.
Sehen sie die praktische Anwendung all dessen? Wir müssen hier also zwischen „existieren“ und „gegenwärtig stattfinden“ unterscheiden. Das sind verschiedene Kategorien. Und das ist der Unterschied, den wir hier aufzeigen wollen. Einige von den Dingen, die gegenwärtig nicht stattfinden, haben existiert und einige nicht; es gab sie nie.
Nichtstatische Phänomene
Hier haben wir einige Begriffe, die von den meisten Übersetzern benutzt werden, jedoch wirklich irreführend sind und die ich daher in dieser technischen Darlegung nicht benutze. Es geht um „beständig“ (tib. rtag-pa) und „unbeständig“ (tib. mi-rtag-pa). Das Problem ist, dass diese Wörter zwei verschiedene Bedeutungen haben. Eine Bedeutung ist „statisch“ und „nichtstatisch.“ Statisch heißt, es ändert sich nicht und nichtstatisch heißt, es ändert sich. Aber dann gibt es ein weiteres Paar, nämlich „vorübergehend“ und „ewig.“ Leider können diese Begriffe „beständig“ und „unbeständig“, zumindest im Englischen, aber vielleicht auch im Deutschen, beide Bedeutungen haben und dann ist es recht verwirrend. Auf welche Bedeutung beziehen wir uns? In einem Zusammenhang bedeutet es eine Sache und in einem anderen eine andere. Es ist also besser, sie in jedem dieser Kontexte anders zu übersetzen.
Denn, wie sich zeigt, gibt es einige nichtstatische Phänomene, die vorübergehend sind. Und in ähnlicher Weise gibt es einige statische Phänomene, die vorübergehend und einige, die ewig sind. Ich lache, weil wir uns beim Debattieren dann auch den Kopf darüber zerbrechen, bei welchen dieser vier es sich um gültige und bei welchen um ungültige Phänomene handelt. Die Überschneidung all dieser Gruppen wird dann ziemlich komplex.
Sehen wir uns zunächst nichtstatische Phänomene an. Wenn wir etwas über beständige und vergängliche Phänomene hören, geht es normalerweise um diese Unterteilung in statisch und nichtstatisch. In der Regel handelt es sich nicht darum, ob etwas vorübergehend oder ewig ist. Nichtstatische Phänomene sind jene Dinge, die entweder aus Ursachen und Bedingungen entstehen oder von ihnen beeinflusst und gefördert werden. Sie ändern sich von einem Moment zum anderen und sie erzeugen Auswirkungen. Es gibt vier Möglichkeiten. Einige dieser Dinge, die sich ändern, haben einen Anfang und ein Ende. Einige haben weder Anfang, noch Ende, sie sind ewig. Einige haben keinen Anfang, aber ein Ende. Und manche haben einen Anfang, aber kein Ende. Von den Dingen, die einen Anfang und ein Ende haben, gibt es einige, die von Natur aus degenerieren (tib. nyams), sich also verschlechtern, und andere, die von Natur aus nicht degenerieren.
Das ist nicht so einfach und es gibt ein paar Beispiele dazu, damit ihr diese Unterschiede etwas besser verstehen könnt.
Dieser gegenwärtige Körper, der aus Ursachen und Bedingungen entstanden ist, wird von Ursachen und Bedingungen beeinflusst. Er ändert sich von einem Moment zum anderen. Er bringt Resultate hervor: Ich kann Dinge aufnehmen, ich kann mich bewegen usw. – der Körper kann all diese Dinge tun. Er hat einen Anfang und er hat ein Ende. Und er zerfällt allmählich, er wird älter und degeneriert.
Hier werden wir uns ein wenig dem Karma zuwenden müssen. Wir haben beispielsweise eine bestimmte Handlung ausgeführt. Vielleicht haben wir jemanden verletzt, angeschrien oder getötet und daraus ergibt sich ein bestimmtes karmisches Potenzial, ein negatives Potenzial, das dadurch aufgebaut wird. Es wird durch das geistiges Kontinuum getragen. Es tut mir leid, wenn das ein eher schwieriges Beispiel ist, aber mir fällt gerade kein anderes ein. Das Potenzial wird schließlich dazu heranreifen, ebenfalls von jemandem getötet zu werden. Wenn wir also jemanden getötet haben, werden wir von jemanden getötet werden. Oder wenn wir jemanden angeschrien haben, werden wir die Erfahrung machen müssen, von jemandem angeschrien zu werden. Wir fügen jemandem Schmerzen zu und daraus ergibt sich dann ein Potenzial, ebenfalls Schmerzen im Gegenzug zu erfahren, um es einmal auf sehr vereinfachte Weise auszudrücken.
Dieses Potenzial hat ein Beginn, wenn wir jemandem wehtun und dieses Potenzial wird ein Ende haben – fachlich ausgedrückt kommt es „zum Reifen“ – wenn jemand uns im Gegenzug wehtun wird. Aber so lange dieses Potenzial, während dieses Zeitraumes der Existenz des Potenzials, sich nicht von selbst abschwächt, wird es weiter andauern. Es ist nicht so, dass es sich, wie der Körper, von selbst erschöpft, wenn wir nur lange genug warten. Wir können dieses Potenzial beeinflussen. Wenn wir noch mehr schreien und anderen immer weiter Schaden zufügen, gewinnt das Potenzial an Kraft. Bedauern wir es aber und helfen anderen stattdessen, wird das Potenzial schwächer. Es kann sich also von einem Moment zum anderen ändern. Von selbst wird es jedoch nicht weggehen; es wird nicht zerfallen, wie der Körper.
Gemäß dem Buddhismus gibt es Methoden, sich von diesem Potenzial zu reinigen, so dass es überhaupt nicht zur Reife kommt und auf diese Weise wird es dann nie heranreifen. Wir sollten jedoch verstehen, dass die Anwendung darin besteht, sich mit den negativen Potenzialen, den Konsequenzen der negativen Dinge, die wir getan haben, auseinanderzusetzen. Es wird nicht von selbst einfach so weggehen. Haben wir einer Person oder unserer Umgebung Schaden zugefügt, können wir nicht einfach nur abwarten, dass es sich von allein auflöst. Diese Dinge werden sich nicht auflösen, wir müssen uns damit auseinandersetzen. Wir können es verbessern oder verschlechtern, aber von selbst wird es nicht weggehen. Auf diese Weise können wir es hier anwenden.
Das ist wirklich sehr tiefgreifend, wenn wir einmal darüber nachdenken. Was immer wir tun, wird Konsequenzen haben. Es beginnt, wenn wir etwas tun und endet, wenn die Konsequenzen folgen. Und was die Konsequenzen betrifft, ist es nicht so, dass es, wenn wir lange genug warten, keine Konsequenzen mehr geben wird. Können Sie dem folgen? In Bezug auf den Umgang mit den Konsequenzen unseres Verhaltens ist das eine ausgesprochen tiefgründige Sache. Wir können nicht einfach nur so tun, als würden sie von selbst weggehen.
Es gibt bestimmte Dinge, die sich von einem Moment zum anderen ändern werden, die ewig sind, also keinen Anfang und kein Ende haben. Das Beispiel hierzu ist das geistige Kontinuum und jetzt wird es kompliziert. Aus buddhistischer Sichtweise gibt es jedoch eine recht große, aber begrenzte Anzahl geistiger Kontinua – einzelner Individuen. Erlangen wir Erleuchtung ist es nicht so, wie es im Hinduismus dargestellt wird, dass wir uns wie die Flüsse im Ozean vereinen und alle Eins werden. Das ist die hinduistische, jedoch nicht die buddhistische Sichtweise. Geistige Kontinua sind individuell, sie haben keinen Anfang und kein Ende und auch wenn man Erleuchtung erlangt hat, bleibt man ewig weiter bestehen.
Vom buddhistischen Blickwinkel aus gesehen ist das ein äußerst wichtiger Punkt. Wären wir alle Eins, müssten wir keine individuelle Verantwortung dafür übernehmen, was wir getan haben. Wir wären alle Eins – eine Art große einheitliche „Suppe“ – die dann eine Menge Konsequenzen, im Sinne von Verantwortung für unser Verhalten, für unsere Taten und dessen Auswirkungen, hätte. Wir sind jedoch individuell. Wir haben mit anderen Austausch. Es ist nicht so, als würde es feste Mauern um uns herum geben. Das bilden wir uns nur ein. Aber wir sind individuell. Wir existieren nicht als Individuen mit Mauern um uns herum, oder in Plastikfolie verpackt, unabhängig von allem anderen. Obwohl wir jedoch individuell sind, haben wir natürlich Austausch miteinander. Aber dadurch werden wir nicht alle zu einer großen Suppe.
Ein geistiges Kontinuum hat also keinen Anfang und kein Ende. Es wird von Umständen beeinflusst, aber es wird nicht aus Nichts erschaffen. Es gibt eine große Diskussion zu dem Thema: „Kann etwas aus Nichts entstehen?“ Oder: „Kann etwas zu nichts werden?“ Das sind tiefe philosophische Fragen. Man mag denken, etwas wäre einfach nur süß, aber dann hat es Konsequenzen, wie in dem Beispiel der Abtreibung. Wir denken, bis zu einem bestimmten Punkt wäre der Embryo ein Nichts und dann plötzlich, ist er etwas. Wenn wir denken, aus einem Nichts würde etwas entstehen, bringt das ethische Fragen mit sich. Wann wird es denn genau zu etwas? Und wie geschieht es? Das ist sehr interessant. Es sind nicht einfach nur triviale Spiele.
Es gibt also Dinge, die kein Beginn, aber ein Ende haben. Beispielsweise unsere Verwirrung, unsere Wut, oder ein noch nicht stattfindendes Jahr 2010. Diese Dinge haben keinen Anfang, aber sie können ein Ende haben. Das noch nicht stattfindende Jahr 2010 hat keinen Anfang. Hatte es einen Anfang? Wann begann ein noch nicht stattfindendes Jahr 2010? Wann begann das „Noch-nicht-Stattfinden?“ Aber es hat ein Ende – wenn es ein gegenwärtig stattfindendes Jahr 2010 gibt.
Dann gibt es auch Dinge, die einen Anfang, aber kein Ende haben, wie der Tod meines Vaters. Er hatte einen Anfang, als er starb. Mein Vater ist vor vielen Jahren gestorben. Aber hat er ein Ende? Er ist für immer tot. Hört er irgendwann auf, tot zu sein? Er könnte wiedergeboren werden, aber dann ist er nicht mehr mein Vater.
Uns fehlt die Zeit, uns mit all den Implikationen dieser Art des Analysierens von Dingen auseinanderzusetzen. Haben wir es aber erkannt, sind wir uns im Klaren darüber, dass wir diese Probleme haben, sie jedoch beendet werden können. Auch wenn sie ohne Anfang sind, sollten wir uns nicht entmutigen lassen. Es ist nicht so, dass etwas von jemandem erschaffen wurde, dass jemand diese Wut in mir produziert hat oder so etwas in der Art. Sie hat keinen Anfang und sie ist auch eins dieser Dinge, die sich von einem Moment zum anderen ändern, sich jedoch nicht von selbst auflösen. Es ist notwendig, Gegenmittel anzuwenden, damit sie aufhört und enden kann. Sie kann ein Ende haben, genau wie das noch nicht auftretende Jahr 2010. Und von Wut frei zu sein ist etwas, das ewig andauern könnte. Es könnte einen Anfang haben, wenn wir uns wahrhaft davon befreit haben und dann wird es keine Ende von diesem Zustand der Befreiung geben.
Statische Phänomene
Wir haben über nichtstatische Phänomene gesprochen und nun kommen wir zu statischen Phänomenen. Das sind Phänomene, die sich nicht ändern und die Beispiele dazu sind nicht wirklich einfach zu verstehen. Da geht es beispielsweise um Tatsachen. Eine Tatsache ist eine Tatsache. Sie ändert sich nicht. Die Tatsache, frei von Verwirrung zu sein, hat einen Anfang. (Für diese statischen Phänomene gibt es auch die verschiedenen Kategorien: manche sind ewig, andere vorübergehend usw.). Hier hat jedoch die Tatsache, endgültig frei von Verwirrung zu sein, einen Anfang: nämlich als ich mich für immer von Verwirrung befreit habe und diese Tatsache wird sich nie ändern. Sie ist statisch. Es bleibt immer eine Tatsache.
Ein anderes Beispiel bezieht sich auf Leerheit oder Leere, worüber im Buddhismus viel gesprochen wird. Leerheit ist die Abwesenheit von unmöglichen Existenzweisen. Das ist eine Tatsache in Bezug auf etwas, das nicht auf eine unmögliche Weise existiert. Es existiert nicht so, es ist ganz einfach nicht der Fall und daran ändert sich auch nichts. Es ist eine Tatsache und sie bleibt immer gleich. Aber sie kann einen Anfang und sie kann ein Ende haben. Die Abwesenheit der unmöglichen Existenzweise dieses Glases hatte einen Anfang, als das Glas hergestellt wurde. Es gab sie nicht, bevor es hergestellt wurde und sie wird enden, wenn das Glas zerbricht. Aber solange es das Glas gibt, ist es eine Tatsache, die diesbezüglich wahr ist.
Lasst mich das noch etwas ausführlicher erklären. Ich betrachte dieses Glas auf folgende Weise: „Das ist mein Glas. Bitte nimm es nicht, du machst es nur schmutzig.“ Ich denke: „Es ist meins“, als wäre es von Natur aus mein Glas. Und ich würde mich aufregen, wenn du es mit deinen Bakterien verschmutzt. Das entspricht nicht irgendetwas Realem. Das Glas existiert nicht von Seiten des Glases aus als „meins.“ Während diesem Vortrag steht es nun einmal auf diesem Tisch. Aber dann denke ich: „Das ist MEIN Glas!“ Das ist eine unmögliche Existenzweise, obwohl ich es, konventionell gesehen, jetzt benutze. Es ist jedoch nicht so, als würde es für immer meins sein.
Die Tatsache des Glases, nicht wahrhaft meins zu sein, ist nur wahr, wenn es ein gegenwärtig stattfindendes Glas gibt. Es beginnt, wenn das Glas hergestellt wird und endet, wenn das Glas zerbrochen ist. In der Zeit des noch nicht stattfindenden Glases, können wir von einem noch nicht stattfindenden Glas sprechen, das nicht wahrhaft meins ist, jedoch gibt es kein gegenwärtig stattfindendes Glas, das nicht wahrhaft meins ist. Das gleiche gilt, nachdem das Glas zerbrochen ist. In dem Moment können wir nur gültig von einem nicht länger stattfindendem Glas reden, das nicht wahrhaft meins ist, aber nicht von einem gegenwärtig stattfindendem Glas, das nicht wahrhaft meins ist.
Es gibt Tatsachen in Bezug auf Dinge, die statisch sind, die sich nie ändern, so lange die Dinge, auf die sie sich beziehen, existieren und gegenwärtig stattfinden.
Viel komplizierter kann es eigentlich nicht mehr werden, aber das ist wahrscheinlich kompliziert genug. Nehmen wir uns einen Moment Zeit, um es zu verinnerlichen.
[Pause]
Vereinfacht ausgedrückt geht es darum, dass es bestimmte Tatsachen in Bezug auf Sachen gibt, die sich nie ändern, solange die Sache gegenwärtig stattfindet. Diese diesbezügliche Tatsache trifft zu, wenn die Sache erschaffen wird und sie trifft nicht mehr zu, wenn die Sache nicht mehr da ist. Die diesbezügliche Tatsache kann nur in Relation zu der Sache existieren, auf die sie sich bezieht.
Wir können das auch als Abwesenheit aller erkennbaren Dinge bezeichnen, die auf unmögliche Weise existieren. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, den alle erkennbaren Dinge haben keinen Anfang und kein Ende. Diese Abwesenheit von unmöglichen Existenzweisen ist eine Tatsache in Bezug auf alles, was gültig erkannt werden kann. Nun, da es eine ziemlich große Gruppe von gültig erkennbaren Dingen gibt, die weder Anfang noch Ende haben, gibt es immer gültig erkennbare Dinge und keins von ihnen könnte jemals auf unmögliche Weise existieren. Diese Abwesenheit unmöglicher Existenzweisen in Bezug auf diese Dinge hat weder Anfang noch Ende, denn das, worauf sich die Tatsache bezieht, hat weder Anfang noch Ende. Bezieht sich die Tatsache auf etwas, das einen Anfang und ein Ende hat, hat auch die Tatsache einen Anfang und ein Ende. Gibt es etwas, worauf sich eine Tatsache bezieht, das weder Anfang noch Ende hat, hat auch die Tatsache weder Anfang noch Ende.
Was mich betrifft, ist es eine Tatsache, dass ich kein Monster bin. Ich existiere nicht als ein Monster. Dieser Körper existiert nicht als ein grässliches und schreckliches Ding. Das ist eine Tatsache in Bezug darauf, die sich nie ändert. Sie begann zum Zeitpunkt meiner Empfängnis wahr zu sein und sie wird aufhören, wahr zu sein, wenn ich sterbe. Sie ist nur eine Tatsache in Bezug darauf, die gültig ist, solange der Körper existiert. Solange er existiert, kann man sagen, er existiert nicht als ein Monster. Das ändert sich nie.
Im Westen sagen wir, Materie und Energie können weder erschaffen noch vernichtet, sondern nur umgewandelt werden. Es gibt also keinen Anfang und kein Ende. Materie und Energie haben nie auf unmögliche Weise existiert. Diese Tatsache der unmöglichen Existenzweise in Bezug auf Materie und Energie als Ganzes hat weder Anfang noch Ende, denn Materie und Energie haben weder Anfang noch Ende. Was wäre unmöglich? Das Materie und Energie erschaffen oder vernichtet würden. Aber das können sie nicht. Es ist eine Tatsache, dass sie weder erschaffen, noch vernichtet werden können. Diese Tatsache trifft immer zu, sie ändert sich nie und sie hat weder Anfang noch Ende, denn Materie und Energie haben weder Anfang noch Ende.
Uns fehlt der eigentlich Begriff für die „Tatsache.“ Ich versuche dieses ganze Konzept etwas einfacher darzustellen, damit es verständlich wird. In unserer westlichen Denkweise bezeichnen wir es jedenfalls als eine „Tatsache“ und diese Tatsachen ändern sich nie. Bestimmte Dinge sind Tatsachen, andere nicht. Da müssen wir vorsichtig sein, denn nicht alle Tatsachen sind statisch. Das Gewicht von etwas oder der Siedepunkt von Wasser ist keine Tatsache. Er hängt von der Höhe über dem Meeresspiegel ab. Wir reden nur von bestimmten Tatsachen und daher benutzen wir dieses Wort „Tatsache“ eigentlich nicht, aber ich versuche, es etwas verständlicher zu machen.
Übrigens sind Kategorien ein weiteres Beispiel von statischen Phänomenen. Eine Kategorie ist statisch. Sie ändert sich nicht. Ein Beispiel ist die Kategorie „Computer“, in die zahlreiche Dinge hineinpassen. Als eine Kategorie ändert sie sich nicht. Wenn wir darüber nachdenken, könnte es etwas geben, das einen Computer repräsentiert – und das kann sich ändern. Aber das, was ein Computer als eine Kategorie ist, ändert sich nicht. Sie hat einen Anfang – als Computer erfunden wurden. Für die Menschen, die vor zweitausend Jahren gelebt haben, gab es die Kategorie „Computer“ nicht.
Bestätigungs-Phänomene und Negierungs-Phänomene
Nun gibt es auch Bestätigungs-Phänomene (tib. sgrub-pa) und Negierungs-Phänomene (tib. dgag-pa).
Bestätigungs-Phänomene sind Dinge, die durch das Festlegen oder Bestätigen einer Sache erfasst werden. Es handelt sich um Dinge, oder die Wahrheit von Dingen, die durch das Festlegen einer Sache definiert werden, ohne das dabei ein zu negierendes Objekt negiert oder ausgeschlossen wird. Ein Apfel ist beispielsweise ein Bestätigungs-Phänomen. Er wird durch Bestätigung erkannt. Man legt einfach fest: „das ist ein Apfel“; da gibt es nichts zu verneinen. Diese Dinge können wir gültig erkennen und da gibt es zahlreiche Beispiele.
Durch Negierung erkannte Phänomene sind Dinge oder die Wahrheit in Bezug auf Dinge, die durch das Ausschließen von etwas anderem definiert werden, wie beispielsweise: „kein Apfel.“ Das ist kein Apfel. Ich weiß, dass das kein Apfel ist. Das ist ein durch Negierung erkanntes Phänomen. Kann man „keinen Apfel“ sehen? „Kein Apfel,“ so etwas gibt es, nicht wahr? Das kann gültig erkannt werden. Um aber zu wissen, dass das kein Apfel ist, müssen wir wissen, was ein Apfel ist. Um also erkennen zu können, dass es sich um keinen Apfel handelt, müssen wir schon vorher etwas erkannt und dann ausgeschlossen haben. Erkennen wir hingegen einfach nur, dass dies eine Uhr ist, schließen wir damit nichts aus.
Es gibt also Dinge, die durch Bestätigung und Dinge, die durch Negierung erkannt werden. Und es können existente Phänomene sein. Uns fehlt wirklich die Zeit, hier zu sehr in alle Einzelheiten zu gehen, denn es wird äußerst kompliziert. Einige von ihnen sind also statisch, andere nichtstatisch. Geht es um diese, durch Negierung erkannten, Phänomene, sind einige vorübergehend und andere ewig. Es gibt verschiedene Arten von Phänomenen, die durch Negierung erkannt werden. Eins davon bezeichnet man als implizierend (tib. ma-yin dgag). „Implizierend“ bedeutet: wenn wir etwas verneint haben, bleibt etwas anderes übrig, das impliziert ist. Wenn wir beispielsweise sagen: „das ist kein Glas“, bleibt „das ist etwas anderes“ übrig. Beim Negierungs-Phänomen „es gibt kein Glas“ bleibt jedoch nichts übrig. Hier gibt es also einen Unterschied. Und sagen wir „es gibt kein...“, dann ist das ein nicht-implizierendes (tib. med-dgag) Phänomen. Es könnte die Rede von diesem oder jenem sein, aber wir könnten auch sagen: „jetzt gibt es kein Glas.“ Allerdings gibt es solche Dinge wie Gläser, also könnte es ein Glas sein. Oder: „Es ist kein Hund in diesem Raum“, aber es könnte ein Hund in diesem Raum sein.
Man kann auch sagen: „Es gibt nicht so etwas wie...“ Diese Sache, die es nicht gibt, könnte etwas sein, das nicht existiert. „Es gibt kein Monster in dem Zimmer“ ist etwas ganz anderes, als: „es gibt keinen Elefanten in dem Zimmer.“ Die Abwesenheit eines Elefanten und die Abwesenheit eines Monsters sind nicht-implizierende Negierungen, aber das Eine ist die Abwesenheit von etwas, das existieren könnte und das Andere ist die Abwesenheit von etwas, das es nie geben könnte.
Diese Unterscheidungen sind von großer Wichtigkeit, wenn es um die Meditation über Leerheit geht. So etwas wie unmögliche Existenzweisen gibt es nicht. Das ist unmöglich. So etwas gab es nie und es bezieht sich auch auf nichts anderes. Es bleibt nichts anderes übrig, wenn wir darüber meditieren. Es hinterlässt nichts, es ist einfach nur: „so etwas nicht.“
Drei Arten nichtstatischer Phänomene
Es gibt drei Arten nichtstatischer Phänomene. Wir haben Formen oder Arten physischer Phänomene (tib. gzugs), also Form, Geräusch, Geruch, Geschmack, körperliche Empfindungen wie heiß und kalt, weich und hart. Das sind Arten physischer Phänomene; so genannte Formen physischer Phänomene. Dann gibt es die lichtempfindlichen Zellen, die geräuschempfindlichen Zellen usw. Wir haben lichtempfindliche Zellen, geräuschempfindlichen Zellen, geruchsempfindliche, geschmacksempfindliche und berührungsempfindliche auf unserem Körper. Manchmal werden sie auch als „Sinneskräfte“ (tib. dbang-po) bezeichnet, aber das ist eine falsche Übersetzung. Die Rede ist hier nicht von Kräften, sondern von Sensoren oder Zellen. Sie sind physisch.
Außerdem gibt es Formen physischer Phänomene, die man nur durch den Geist, nicht durch die Sinne, erkennen kann. Es gibt eine ganze Liste davon, aber leicht verständliche Beispiele wären Formen, Klänge, Gerüche usw., die wir in unseren Träumen erfahren. Sie werden nur durch den Geist wahrgenommen. Wir sehen oder hören diese Dinge nicht wirklich. Es gibt auch viele andere Dinge, wie beispielsweise Atome, die wir nicht wirklich sehen können, oder riesige astronomische Entfernungen. Auch das sind Formen physischer Phänomene. Im Grunde können wir sie nur verstehen, aber nicht wirklich sehen.
Dann gibt es Arten und Weisen, sich etwas gewahr zu sein (tib. shes-pa). Es als „geistige Phänomene“ zu übersetzen, wäre irreführend. Hier ist die Rede von einer Aktivität, einer Weise, sich etwas gewahr zu sein, entweder etwas zu sehen oder zu hören, über etwas wütend zu sein oder etwas zu mögen, glücklich zu sein usw. Das ist eine Weise, sich etwas gewahr zu sein. Sind wir über etwas wütend, empfinden wir Wut, Gier, Liebe und das sind dann Arten, sich etwas gewahr zu sein.
Und es gibt nichtstatische Phänomene, die entweder Formen physischer Phänomene sind oder Weisen, sich etwas gewahr zu sein (tib. ldan-min ‘du-byed). Ein Beispiel dazu wäre die Zeit. Zeit ändert sich von einem Moment zum nächsten. Sie ist nichts Physisches. Es ist keine Weise, sich etwas gewahr zu sein. Da gibt es zahlreiche Beispiele, die wir leider nicht alle durchgehen können. Es gibt eine lange Liste von ihnen, wie sie existieren, wie man sie erkennt usw.
Die Struktur der Unterteilung von Phänomenen anwenden
Wie wir gesehen haben, ist die Thematik der Unterteilung von Phänomenen ziemlich kompliziert. Jedoch ist es ausgesprochen wichtig und hilfreich, nicht nur etwas über diese verschiedenen Arten zu lernen, sonder auch darüber, wie wir sie verstehen oder erkennen können. Eine Struktur, wie diese, kann uns helfen zu untersuchen, was wir tatsächlich erfahren. Der Sinn und Zweck, die Dinge, die wir erfahren, zu untersuchen, besteht darin, das Leid und die unbefriedigenden Aspekte dessen, was wir erfahren, zu beseitigen. Ich möchte diese Struktur (der meisten Elemente dieser Struktur) etwas anschaulicher darstellen, damit es vielleicht ein wenig klarer wird, wie man sie anwenden kann und was der Nutzen so einer Struktur ist.
Sehen wir uns das an dem Beispiel an, unter der Angst zu leiden, von Monstern angegriffen zu werden. Diese Angst ist ein existentes Phänomen (tib. yod-pa) und es findet gegenwärtig statt (tib. da-lta-ba). Die Monster jedoch sind nicht existent (tib. med-pa). Das gültige Phänomen (tib. srid-pa) ist hier die gegenwärtig stattfindende Angst und diese Angst ist ein Bestätigungs-Phänomen (tib. sgrub-pa). Auch das Noch-nicht-Stattfinden (tib. ma-’ong-pa) meiner Befreiung oder Loslösung von dieser Angst ist ein gültiges Phänomen. Ich kann es anstreben und das wäre dann ein Negierungs-Phänomen (tib. dgag-pa): sich von der Angst zu trennen, keine Angst mehr zu haben. Ein ungültiges Phänomen (tib. mi-srid-pa) ist eine gegenwärtig stattfindende Trennung oder Loslösung (tib. bral-ba) von dieser Angst. Sie findet nicht gegenwärtig statt. Ich mag denken, ich hätte mich davon gelöst, aber dem ist nicht so. Das ist also ein ungültiges Phänomen. Und ein nichtexistentes ungültiges Phänomen wären die gegenwärtig auftretenden Monster. Das Nicht-Länger-Auftreten (tib. ’das-pa) der Angst ist ein nichtstatisches Phänomen (tib. mi-rtag-pa). Es ist gültig und es findet gegenwärtig statt.
Eine Sache habe ich vergessen hier hinzuzufügen: ganz spezifisch geht es um Situationen der Angst, denn wir haben diese Ängste nicht ständig. Es gibt die Angstsituation Nummer eins, nennen wir sie Angst Nummer eins und dann gibt es Angst Nummer zwei, eine andere Situation in der Zukunft, die noch nicht stattgefunden hat. Gegenwärtig befinde ich mich in dem Zeitraum zwischen Angs Nummer eins und Angst Nummer zwei. Die nicht länger stattfindende Angst Nummer eins und die noch nicht stattfindende Angst Nummer zwei (ein anderes Ereignis) sind beide gültig. Es ist mir früher passiert und es könnte mir wieder passieren.
Die Nicht-Angst in diesem Zeitraum ist ein Negierungs-Phänomen. Es gibt einen großen Unterschied zwischen „negativ“ und „negieren“, da sollten wir also sehr vorsichtig sein, es nicht zu verwechseln. Die Nicht-Angst in diesem Zeitraum ist also ein Negierungs-Phänomen. Sie hat einen Anfang und sie hat ein Ende. Sie ist nichtstatisch, denn sie ändert sich mit der Zeit, von einem Moment zum nächsten. Anders ausgedrückt ist das Nicht-Länger-Stattfinden der Angst Nummer eins ein nichtstatisches Phänomen. Vor einer Minute fand sie nicht länger statt; das ändert sich zum Nicht-Länger-Stattfinden vor zwei Minuten und dem Nicht-Länger-Stattfinden vor drei Minuten. Es ändert sich. Auch der Zeitraum hat einen Anfang und ein Ende. Das Nie-Wieder-Stattfinden der Angst, wenn ich von der Angst befreit sein werde, wird einen Anfang, aber kein Ende haben. Es ist statisch. Dann gibt es keine Angst und das ist eine nicht-implizierende Negierung (tib. med-dgag). Es gibt keine Angst mehr, sie ist vorbei und impliziert auch nichts anderes. Was erfahre ich in dem Zeitraum, zwischen Nummer eins und Nummer zwei? Ich erfahre Nicht-Angst. Diese Nicht-Angst, dieses Glücklichsein, das ich empfinde ist keine Angst. Sie ist also implizierend (tib. ma-yin dgag, ein implizierendes Negierungs-Phänomen): ich empfinde etwas anderes.
Das Nie-Wieder-Auftreten von Monstern, die mich angreifen, diese Tatsache des Nie-Wieder-Auftretens ist eine nicht-implizierende Negierung, aber sein Objekt ist ein nicht-existentes Phänomen. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Nie-Wieder-Auftreten der Angst und dem Nie-Wieder-Auftreten von Monstern. Man kann sich für immer von Angst loslösen; aber man kann sich nicht für immer von Monstern loslösen, da Monster nie existiert haben.
Wenn wir unsere Situation der Angst vor Monstern mit diesen Kategorien untersuchen, wird es ziemlich deutlich, womit wir arbeiten: was ist statisch, was ist nichtstatisch und wovon können wir uns tatsächlich trennen. Es ist ausgesprochen hilfreich, um eine Behandlungsmethode zum Überwinden dieser Angst verstehen zu können; denn auch wenn es Monster nicht gibt, die Ängste gibt es sehr wohl. Es ist wichtig herauszufinden, welche Maßnahmen wir ergreifen werden. Holen wir uns Geisterjäger, um die Monster loszuwerden oder versuchen wir uns von unserer Angst zu lösen?
Ich hoffe, dieses Beispiel hilft euch, die Anwendung dieser Struktur etwas klarer zu machen. Natürlich muss man viel mit so einer Struktur arbeiten, um sie mit Leichtigkeit anwenden zu können.