Hintergrund
In den indischen Klöstern des Mahayana-Buddhismus, wie in Nalanda, studierten die Mönche vier Systeme der buddhistischen Lehren. Zwei davon – das Vaibhashika und das Sautrantika – waren Unterteilungen der Sarvastivada-Schule des Hinayana, während die anderen beiden – das Chittamatra und das Madhyamaka – Unterteilungen innerhalb des Mahayanas waren. Die Tibeter haben diese Gepflogenheit beibehalten, doch sie haben innerhalb dieser vier Systeme weitere Unterteilungen vorgenommen. So haben sie beispielsweise innerhalb des Madhyamaka das Svatantrika-Madhyamaka vom Prasangika- Madhyamaka unterschieden. Die Gelug-Schule hat außerdem indische Autoren des Svatantrika-Madhyamakas entweder als Vertreter des Yogachara-Svatantrika oder des Sautrantika-Svatantrika klassifiziert, während die anderen Schulen das Madhyamaka auf wiederum andere Arten unterteilt haben.
Ferner haben in allen tibetischen Traditionen verschiedene Meister die unterschiedlichen indischen buddhistischen Lehrsysteme jeweils anders interpretiert. Im Allgemeinen kann man sagen, dass die Sakya-, Kagyü- und Nyingma-Traditionen eine frühere Interpretation gemeinsam haben. Was das Madhyamaka angeht, stützt sich diese frühere Interpretation besonders auf die Yogachara-Svatantrika-Richtung der beiden Meister aus Nalanda, die den indischen Buddhismus in Tibet einführten: Shantarakshita und Kamalashila. Aus diesem Grund enthält die Darstellung des Tantra in den Traditionen, die nicht der Gelug-Linie angehören, ein großes Maß an Chittamatra-Terminologie. Tsongkhapa stützte sich auf die Werke Buddhapalitas, eines weiteren Meisters aus Nalanda, und interpretierte die Lehrsysteme auf radikale Weise um – insbesondere das Svatantrika und das Prasangika. Die Gelug-Tradition folgt seiner Interpretation.
Die Unterschiede zwischen diesen beiden hauptsächlichen Interpretationslinien lassen sich bereits anhand weniger Beispiele erkennen. Diejenigen Traditionen, die nicht der Gelug-Linie angehören, vertreten zum Beispiel den Standpunkt, dass sich die Erklärungen von Svatantrika und Prasangika nicht unterscheiden im Hinblick auf die Objekte, die durch Leerheit negiert werden, und im Hinblick auf die emotionalen und kognitiven Schleier sowie die Stadien, durch die wir uns von ihnen befreien. Der Unterschied zwischen diesen beiden Unterarten des Madhyamaka liegt hauptsächlich in ihrer Herangehensweise an die Logik und in ihren Aussagen dazu, ob man über irgendetwas eine positive Aussage treffen kann. Die Vertreter der Gelug-Linie dagegen vertreten den Standpunkt, dass diese beiden Unterteilungen des Madhyamaka bezüglich der genannten Punkte (die Objekte, die durch Leerheit negiert werden, die emotionalen und kognitiven Schleier und die Stadien, durch die man sich davon befreit) verschiedene Aussage machen. So gilt aus der Sicht der Traditionen, welche nicht Gelug sind, die Darstellung des Stufenweges im „Filigranschmuck der Verwirklichungen“ (tib. mNgon-rtogs rgyan, Skt. Abhisamaya-alamkara) für das gesamte Madhyamaka, während sie aus der Sicht der Gelug-Linie nur für das Svatantrika gilt; dies liegt daran, dass die Vertreter der Gelug-Linie eine davon stark unterschiedene Prasangika-Darstellung herausarbeiten. In ähnlicher Weise akzeptieren die Nicht-Gelug-Traditionen die grundlegende Sautrantika-Darstellung der Erkenntnistheorie, während die Gelug-Tradition eine davon unterschiedene Prasangika-Darstellung der Erkenntnistheorie als tiefgründigste Erklärung annehmen.
Doch selbst innerhalb der Gelug-Tradition haben verschiedene Meister etliche Details unterschiedlich dargestellt. Wir werden unsere Diskussion hier auf die allgemeine Gelug-Präsentation beschränken.
Die Lehrsysteme als Stufenpfad für die Meditation
Unabhängig von den Interpretationen der Besonderheiten eines jeden Lehrsystems haben die tibetischen Meister die indischen Systeme als Stufenpfade der Meditation gelehrt, die dann auf das alltägliche Leben angewandt werden müssen. Wenn man also die Textabschnitte liest, die sich in Chandrakirtis „Ergänzung zu (Nagarjunas grundlegenden Strophen über) den Mittleren Weg“ (tib. dBu-ma-la ‘jug-pa, Skt. Madhyamaka-avatara) und in Shantidevas „Eintritt in das Verhalten der Bodhisattvas“ (tib. sPyod-‘jug, Skt. Bodhisattvacarya-avatara) mit dem „unterscheidenden Gewahrsein“ befassen, ist es also wichtig, nicht zu denken, die darin enthaltenen Widerlegungen derjenigen Systeme, die nicht Prasangika sind, hätten vor allem den Zweck, siegreich aus den Debatten gegen die Vertreter anderer Systeme hervorzugehen. Sie haben vielmehr den Zweck dazu beizutragen, dass sich unser eigenes Verständnis vertieft.
Die Methode besteht darin, dass man sich schrittweise dem Verständnis der ausgefeiltesten Erklärung annähert – so, wie man zuerst die Newtonsche Physik lernt, diese dann durch Einsteins Relativitätstheorie verfeinert, und diese wiederum durch die Superstring-Theorie verfeinert. Jede dieser Theorien ist relativ wahr und zweckdienlich; sie unterscheiden sich lediglich in ihrem Präzisionsgrad.
Deshalb ist es wichtig, dass man versucht, die einzelnen Lehrsysteme eins nach dem anderem zu verstehen und zu versuchen, die Realität aus dessen Sicht zu sehen. Schließlich war es Buddha, der die allgemeinen Grundlagen für all diese Systeme gelehrt hat, und die großen indischen Meister, die ihre Einzelheiten ausgearbeitet haben. All diese Systeme stammen aus gültigen Quellen und sie alle haben den Zweck, den Menschen zu helfen, das Leiden zu überwinden. Zudem müssen wir uns in der richtigen Reihenfolge durch diese Theorien emporarbeiten, ohne irgendeine von ihnen zu überspringen. Wenn man die weniger ausgefeilten Systeme überspringt und sofort mit den tiefgründigeren beginnt, macht das für gewöhnlich die tiefgründigeren Theorien trivial.
Die Methode, um unser Verstehen zu vertiefen, geht auf Shantideva zurück. Er schrieb, dass eine sinnvolle Debatte nur dann möglich ist, wenn beide Parteien ein gemeinsames Beispiel akzeptieren, etwa, dass „alle Dinge wie eine Illusion sind“, und wenn beide akzeptieren, dass Ursache und Wirkung konventionell funktionieren, obwohl die Dinge wie eine Illusion sind. Dies gilt auch für die Meditation, während derer wir versuchen, immer tiefere Einsichten zu gewinnen. Wir wollen nun dieses Beispiel – „alle Dinge sind wie eine Illusion“ – verwenden und zunächst auf einer einführenden, gröberen Ebene darüber sprechen.
Die Anlagie der Illusion
Der wesentliche Punkt der Analogie, dass die Dinge wie eine Illusion sind, ist, dass eine Illusion real zu sein scheint, aber nicht tatsächlich so existiert, wie es scheint. Zum Beispiel: ein geringeltes Seil kann Grundlage für die Illusion sein, dass es als Schlange existiert. Es scheint, als würde das Seil als Schlange existieren, aber es existiert nicht tatsächlich so. Trotzdem hat die Grundlage für die Illusion, nämlich das Seil, das auf täuschende Weise als Schlange erscheint, die Wirkung, uns zu erschrecken. Man kann nicht sagen, dass das, was die Illusion zu sein scheint, nämlich die Schlange selbst, uns erschreckt, da die Schlange ja nicht tatsächlich existiert – obwohl die Erscheinung von etwas, das einer Schlange ähnelt, auftritt und folglich existiert. Die Illusion ist die Erscheinung einer Schlange, die auf der Grundlage des Seils auftritt. Das Seil selbst ist nicht die Illusion; das Seil, indem es einem getäuschten Geist erscheint, ist nur wie eine Illusion.
Kurz, sowohl die Grundlage für die Illusion als auch die Erscheinung der Illusion existieren beide und beide üben eine Wirkung aus. Das, was die Illusion zu sein scheint, existiert nicht und funktioniert auch nicht.
Dieselbe Analyse ist auf eine schwierige Lebenssituation anwendbar, die als unlösbares Problem zu existieren scheint. Eine schwierige Situation kann beispielsweise dazu führen, dass wir unsere Arbeit verlieren; doch ihre Erscheinungsweise als unlösbares Problem ist wie eine Illusion. Die schwierige Situation und ihr Erscheinen als unlösbares Problem existieren, doch unlösbare Probleme existieren nicht. Es gibt immer irgendeine Lösung für eine schwierige Situation – auch wenn es möglicherweise keine ideale Lösung ist.
Methodik: Beispiele aus dem Alltagsleben erkennen
Um uns mit der Analogie dafür zu befassen, dass die Dinge wie eine Illusion sind, müssen wir in unserem alltäglichen Leben etwas erkennen, das in irgendeiner Weise wie eine Illusion ist und das dennoch seine Wirkung tut. Wir müssen ein Beispiel finden. Wenn wir dieses persönliche Beispiel erkennen und wirklich akzeptieren, können wir unser Verständnis dessen, was die Illusion ist, vertiefen. Wie vertiefen wir unser Verständnis? Nehmen wir das Beispiel Liebe. Wir haben eine Vorstellung davon, was Liebe bedeutet. Wir lernen eine neue Definition und schauen dann, wie sie wirkt. Wenn sie ihre Funktion besser erfüllt, lassen wir uns möglicherweise davon überzeugen, die neue Definition zu akzeptieren.
Wir können dasselbe Beispiel – dass die Dinge wie eine Illusion existieren -, sowohl auf individuelle Wesen (Personen) als auch auf Phänomene im Allgemeinen anwenden. Betrachten wir zuerst, wie dieses Beispiel auf individuelle Wesen angewandt wird.
Das Fehlen einer „Seele“, die unmöglich existieren kann, bei einer Person
Alle buddhistischen Lehrsysteme akzeptieren die konventionelle Existenz eines Selbst, eines „Ich“ . Das konventionelle „Ich“ allerdings scheint auf eine Weise zu existieren, die nicht dem entspricht, wie es tatsächlich existiert. Das konventionelle „Ich“ scheint in der Art einer „Seele“ (tib. bdag, Skt. atman) zu existieren, die unmöglich existieren kann. Ein Selbst, das in einer solchen, fälschlichen Weise existiert, ist als das falsche „Ich“ bekannt, das „Ich,“ das widerlegt werden muss. Somit gilt:
- Das konventionelle „Ich“ ist wie eine Illusion und es existiert,
- die Erscheinung eines falschen „Ich“ ist die Illusion und sie existiert,
- was der Illusion entspräche – ein tatsächliches falsches „Ich“ – existiert nicht.
Wenn uns eines der nicht-buddhistischen Lehrsysteme gelehrt worden wären und wir daran glauben würden, dann würden wir das Greifen nach einem falschen „Ich“ erfahren, das auf einer Doktrin beruht. Wie eine Illusion würde uns dann das konventionelle Selbst („Ich“) als eine „Seele“ erscheinen, die eine wahre Identität als monolithische, von nichts beeinflusste (dauerhafte) Entität existiert, die unabhängig von Körper und Geist (den fünf Aggregaten) existiert und diese, wie eine Art Vorgesetzter, beherrscht, beobachtet oder bewohnt. Auch wenn wir in diesem Leben keine derartigen nicht-buddhistischen Theorien studiert haben, kann es uns aufgrund von Studien in vorangehenden Leben so vorkommen, als existiere das Selbst auf diese Weise, und es würde sich auch so anfühlen. Hat es denn nicht den Anschein, als sei dasjenige, was in unserem Kopf das Sagen hat, ein „Ich“, das von unserem Körper und Geist unabhängig ist? Doch dieses ist in dem Sinne „wie eine Illusion“, dass das Selbst nicht so existiert, wie es scheint. Obwohl es eine Illusion ist, erfüllt das konventionelle Selbst Funktionen. Ich kann essen; ich kann Leiden erfahren; ich kann die Befreiung vom Leiden erlangen.
Sobald wir diese unmögliche Existenzweise, die negiert (widerlegt) werden muss, eliminiert haben, müssen identifizieren, was an ihrer Stelle zurückbleibt. In diesem Fall bleibt ein Selbst übrig, das
- nicht unbeeinflusst, sondern beeinflusst von den Dingen ist und sich somit von Augenblick zu Augenblick verändert;
- nicht monolithisch ist, sondern Facetten oder Teile hat;
- nicht getrennt ist vom Körper und vom Geist, sondern ihnen zugeschrieben (geistig benannt) ist.
All diese Lehrsysteme akzeptieren, dass eine weitere Negierung einer noch subtileren unmöglichen Existenzweise notwendig ist. Was nun negiert werden muss, ist, dass ein solches Selbst (eine beeinflusste, sich ständig verändernde, nicht-monolithische Entität, die den Aggregaten zugeschrieben wird) als etwas existiert, das eigenständig erkennbar ist. Der Grund dafür ist, dass auch noch nachdem wir das zu widerlegende Objekt negiert haben, das Selbst dennoch weiterhin automatisch so erscheint, als wäre es eigenständig erkennbar. Mit anderen Worten: es scheint etwas zu sein, dass allein und für sich genommen erkannt werden kann, ohne dass gleichzeitig eine Grundlage für dessen Zuschreibung erkannt wird. Niemand braucht uns dies beizubringen. Es ergibt sich zum Beispiel, wenn wir uns wünschen, dass jemand „mich“ liebt, mich nicht nur für meinen Körper, meine Intelligenz oder mein Geld liebt. Ein solches „Ich“, stellen wir uns vor, könnte mit Liebe wahrgenommen werden, ganz für sich alleine, ohne dass mit Liebe gleichzeitig auch ein Körper, ein Geist oder Besitz wahrgenommen würden. Es fühlt sich automatisch so an, als gäbe es ein solches „Ich“, obwohl dieses wie eine Illusion ist, und wir sehnen uns danach, dass es geliebt wird.
Man beachte, dass wir auch dann automatisch das Gefühl haben, es gäbe ein „Ich,“ das eigenständig erkannt werden kann, wenn wir die Vorstellung haben, dass dieses „Ich“ als eine von nichts beeinflusste, monolithische Entität existiert, als etwas, dass unabhängig von unserem Körper und Geist ist und diesen übergeordnet ist, sie bewohnt oder beherrscht. Ein solches „Ich“ ist natürlich wie eine Illusion. Viel subtiler und schwieriger festzustellen ist allerdings die Tatsache, dass ein beeinflusstes, sich ständig veränderndes, nicht monolithische „Ich“, das einem Körper und Geist zugeschrieben werden kann, auch nicht für sich alleine erkannt werden kann.
Sobald wir diese subtilere unmögliche Existenzweise widerlegt und eliminiert haben, stellen wir fest, dass das konventionelle „Ich“ nur in der Art und Weise einer Zuschreibung erkannt werden kann. Uns bleibt nun ein konventionell existierendes Selbst, ein „Ich,“ bei dem es sich um ein beeinflusstes, sich ständig veränderndes, gültig erkennbares Phänomen handelt, das einem Körper und Geist zugeschrieben werden kann, das jedoch nicht erkannt werden kann, ohne dass auch gleichzeitig irgendeine Facette der Grundlage für die Zuschreibung wahrgenommen wird. Trotzdem fühlt es sich weiterhin so an, als sei ein solches „Ich“ wahrhaft und auffindbar existent (inhärent existent). Mit anderen Worten: es fühlt sich weiterhin so an, als gäbe es irgendeine auffindbare typische Eigenart seitens eines solchen durch Zuschreibung erkennbaren „Ichs“ – eine Eigenart, die aus eigener Kraft die Person wahrhaft und einzigartig zu einem „Ich“ und nicht jemand anderem macht. Es fühlt sich so an, als müsse es da etwas geben, das man finden kann und das es rechtfertigt, diesen individuellen Strom der Kontinuität von Aggregaten richtig als „Ich“ zu bezeichnen. Alle Lehrsysteme mit Ausnahme des Prasangikas akzeptieren ein solches inhärent existierendes „Ich“.
Das Prasangika-System behauptet, dass auch diese Existenzweise unmöglich ist und das ein solches „Ich“ ebenfalls wie eine Illusion ist. Wenn diese unmögliche Existenzweise einmal negiert wurde bleibt uns ein konventionelles „Ich“, das lediglich im Sinne einer geistigen Bezeichnung zustande kommt. Es ist nur das, worauf sich die Bezeichnung „Ich“ bezieht, wenn sie der Grundlage eines sich ständig verändernden individuellen Strom von Kontinuität der fünf Aggregate zugewiesen wird. In anderen Worten: das konventionelle „Ich“ ist lediglich ein beeinflusstes, sich ständig veränderndes, nicht monolithisches Phänomen, das einem individuellen Kontinuum von Aggregaten zugeschrieben werden kann. Es kann nicht getrennt von diesen Aggregaten existieren (unabhängig von einem Körper und Geist); es ist kein Leiter dieser Aggregate, nicht etwas, das sie beherrscht oder in ihnen wohnt; und es kann nicht für sich allein, getrennt von diesen Aggregaten, erkannt werden. Ferner: seine Existenz liegt nicht in irgendeiner inhärent auffindbaren typischen Eigenart seitens der Aggregate begründet, die es erlaubt, diesen Aggregaten das Ich auf korrekte Weise zuzuschreiben (ihnen als Benennung zuzuweisen). Vielmehr ist die konventionelle Existenz des „Ich“ lediglich darin begründet (erwiesen), dass es den Aggregaten auf gültige Weise zugeschrieben werden kann. Wie eine Illusion scheint das Selbst jedoch auf eine Weise zu existieren, in davon verschieden ist. Doch trotz seiner täuschenden Erscheinung und obwohl es leer von der unmöglichen Existenzweise ist, die es zu haben scheint, erfülle „ich“ dennoch weiterhin meine Funktionen.
Zuerst verstehen, dass das Selbst wie eine Illusion ist
Auch wenn wir die Prasangika-Position bezüglich der illusionsgleichen Existenz des Selbst noch nicht verstehen, die diesbezügliche Sicht der Nicht-Prasangika hingegen schon, dann können wir anfangen, die Analogie einer Illusion auch auf andere Phänomene anzuwenden. Dies ist wichtig, da das Selbst nicht in Isolation von den anderen Phänomenen existiert. Das Selbst erlebt Phänomene. Es ist von Unwissenheit (Ignoranz) beeinflusst und erlebt daher die täuschenden Erscheinungen der Phänomene des Samsara. Es kann auch von unterscheidendem Gewahrsein oder vom Verstehen beeinflusst werden, und so kann das Selbst Befreiung erfahren. Deshalb ist es wichtig, zu verstehen, wie die Phänomene existieren. Die verschiedenen Lehrsysteme machen zwar – mit Ausnahme des Prasangika - nicht geltend, dass die Unwissenheit darüber, wie die Phänomene existieren, eine wahre Ursache für Samsara ist, aber immerhin sind samsarische Wesen doch in Unwissenheit oder Verwirrung über die Existenzweise der Phänomene. (Man beachte, dass alle Mahayana-Lehrsysteme außer dem Prasangika behaupten, dass die Unwissenheit bezüglich der Existenzweise der Phänomene ein kognitiver Schleier ist, also die Allwissenheit verhindert, und kein Schleier von Emotionen, der die Befreiung verhindert. Die Hinayana-Lehrsysteme stellen noch nicht einmal fest, dass es eine Reihe von Schleiern geben könnte, welche die Allwissenheit verhindern)
Wie wir bereits gesehen haben: wenn wir das Selbst („Ich“) im Blickpunkt haben, das den Aggregaten zugeschrieben wird, dann müssen die Aggregate dem Bewusstsein erscheinen. Deshalb – auch wenn für das Erlangen der Befreiung die Hauptaufmerksamkeit auf die Unwissenheit gerichtet wird, wie das „Ich“ existiert, werden Probleme zudem auch dadurch entstehen, dass wir hinsichtlich der Erscheinung der Aggregate verwirrt sind, die ja erscheinen müssen, wenn wir das „Ich“ im Blickfeld haben. Aus diesem Grund müssen wir korrektes Verständnis der beiden Wahrheiten bezüglich aller Phänomene erlangen, die mit den Bestandteilen der Aggregate erscheinen können, die jeden Moment unserer Erfahrung ausmachen. Dies gilt sogar in den Hinayana-Systemen, die nicht die Leerheit aller Phänomene annehmen.
Wenn wir verstehen, dass die Aggregate, die zugleich erscheinen wenn wir das „Ich“ wahrnehmen, wie eine Illusion sind, können wir immer noch denken, dass es ein „festes“ „Ich“ gibt, das unabhängig von diesen erscheinenden Aggregaten existiert und erkennbar ist. Dies könnte geschehen, wenn wir nicht schon verstanden haben, dass das Selbst wie eine Illusion ist. Deshalb müssen wir zuerst die Leerheit des Selbst erkennen, bevor wir zu stark darauf eingehen, die täuschenden Erscheinungen der Phänomene zu demontieren.
Wenn wir hingegen ein anfängliches Verständnis davon haben, dass das Selbst wie eine Illusion ist, leer von unmöglichen Existenzweisen, dann verstärkt unser Verständnis, dass die Aggregate ebenfalls wie eine Illusion sind, unser Verständnis bezüglich des Selbst. Wenn die Basis für die Bezeichnung nicht solide ist, sondern wie eine Illusion, wie kann dann etwas, das ihr zugeschrieben wird, solide sein? Es muss ebenfalls wie eine Illusion sein.
Methodik: Die Aussagen der Lehrsysteme untersuchen
Eine Art, sich dem Verständnis der illusionsartigen Aspekte von Phänomenen zu nähern, ist mittels der Stufen, die die fortschreitend subtiler werdenden Aussagen der philosophischen Schulen des indischen Buddhismus aufzeigen. Obwohl diese Vorgehensweise nicht traditionell angewandt wird, möchte ich vorschlagen, dass wir denselben Schritten folgen können, die oben bezüglich der illusionsgleichen Aspekte des Selbst angewendet wurden. Mit dieser Vorgehensweise könnten wir durch die Widerlegen und Negieren zunehmend verfeinerter unmöglicher Existenzweisen auf ein zunehmend ausgefeilteres Verständnis der illusionsgleichen Aspekte der Phänomene hinarbeiten.
Diese Vorgehensweise basiert auf den Aussagen über die beiden Wahrheiten – die oberflächliche und die tiefste – in jedem Lehrsystem. In den Hinayana-Systemen sind die beiden Wahrheiten zwei Gruppen wahrer Phänomene. Obwohl oberflächlich (konventionell, relativ) wahre Phänomene die tiefsten wahren Phänomene verdecken, sieht man herkömmlicherweise im Hinayana die oberflächlichen Phänomene nicht als illusionsgleich an. In den Mahayana-Systemen dagegen sind die beiden Wahrheiten zwei Tatsachen bezüglich jedes Phänomens; und da die oberflächliche Wahrheit über etwas dessen tiefste Wahrheit verbirgt, werden oberflächliche Wahrheiten als illusionsgleich angesehen. Um ein System der Analyse zu schaffen, das sowohl das Hinayana als das Mahayana umfasst, betrachtet die nicht traditionelle Vorgehensweise, die hier vorgeschlagen wird, die beiden Wahrheiten im Hinayana auf Mahayana-Weise. Mit anderen Worten: sie betrachtet die beiden wahren Phänomene, die im Hinayana festgestellt werden, so. als seien sie zwei Wahrheiten bezüglich eines Phänomens – der Aggregate – und zielt darauf ab, uns eine Einsicht in die Tatsache zu verschaffen, dass alle Ebenen oberflächlicher Wahrheit über die Aggregate wie eine Illusion sind.
Vaibhashika
Der Ausdruck „die fünf Aggregate“ bezieht sich auf die sich ändernden Faktoren, die jeden Moment unserer täglichen Erfahrung ausmachen. Sie bestehen aus Formen physischer Phänomene, Arten, sich etwas gewahr zu sein, und bestimmten funktionalen Abstraktionen (wie Unbeständigkeit), die ihnen zugeschrieben werden können.
Die Formen physischer Phänomene, die wir erleben, – Objekte, die wir sehen oder fühlen usw. - erscheinen als solide. Dies ist allerdings wie eine Illusion, denn eigentlich sind sie Ansammlungen winziger Partikel. Ihre Erscheinung als solide Entität ist nur ihre oberflächliche (konventionelle) Wahrheit. Ihre tiefste (letztendliche) Wahrheit ist die Ansammlung der Partikel, aus denen sie bestehen.
Dieses Verständnis kann enorm hilfreich für uns sein. Obwohl das Vaibhashika-System nicht aussagt, dass die oberflächliche Wahrheit über etwas einer Illusion gleicht, können wir diese Analogie doch anwenden, um uns dabei zu helfen, das Leiden zu überwinden.
Wenn wir zum Beispiel einen Kratzer auf unserem Auto sehen und uns aufregen und wütend werden, können wir das Auto und den Kratzer in die Atome zergliedern, aus denen sie sich zusammensetzen. Was ist dann das Objekt unseres Ärgers? Die Festigkeit des Autos und des Kratzers sind wie eine Illusion. Auf der tiefsten Ebene sind das Auto und der Kratzer bloß Ansammlungen von Atomen. Sind wir wütend über Atome? Wenn wir Rückenschmerzen haben, sind es dann die Atome unseres Rückens, die uns den Schmerz bereiten ?
Wenn das erscheinende Objekt für die Ausrichtung auf das „Ich“ der Faktor der Aggregate ist, welcher die Erfahrung des Sehens einer Ansammlung von Atomen ausmacht, wird die Wut, die diesen Moment begleitet, vermindert, und es wird leichter, die Abwesenheit eines „Ich“ zu verstehen, das als festgefügte „Seele“ existiert.
Ähnlich gilt: die Sprache, die wir hören, wird aus den Klängen einzelner Silben gebildet. Der Klang jeder Silbe, die wir hören, existiert nur einen Augenblick lang und dann nicht mehr. Der Klang eines gesamten, gleichzeitig als solide Entität existierten Satzes ist also wie eine Illusion. Tatsächlich existiert nur der Klang einer Silbe zur Zeit. Wenn wir also einen beleidigenden Satz hören, der uns trifft, welches ist dann darin die Silbe, die uns wütend macht?
Die erste wichtige Einsicht aus dem Vaibhashika-System bezüglich der Phänomene, die wir im Samsara erleben, ist also, dass sie aus winzigen Teilen bestehen. Die zweite betrifft die Unbeständigkeit.
Situationen, in die wir geraten – ob sie nun angenehm, unangenehm oder neutral sind – scheinen anhaltend zu sein, in dem Sinne, dass sie statisch, unveränderlich sind. Es ist, als wenn wir in eine Situation geraten (etwa, uns verletzt zu fühlen, weil wir von jemandem zurückgewiesen wurden), ein Foto davon machen, und das Bild des eingefrorenen Moments, der in dem reglosen Foto festgehalten wurde, wäre die tatsächliche Situation. Das ist es, was wie eine Illusion ist. Keine Situation existiert in der Art und Weise eines reglosen Fotos, das ist die unmögliche Existenzweise. Dies zu verstehen hilft uns, das Leiden zu überwinden.
Wir können diese Illusion auf zwei Ebenen verstehen. Die erste ist die Illusion, dass die Situation immer so sein wird, wie sie auf dem reglosen Foto erscheint. Wenn wir das widerlegen, bleibt uns weiterhin das Foto und lediglich das Verständnis, dass irgendwann in Zukunft die Situation enden wird. Bis dahin allerdings scheint es, als bliebe Situation im Grunde dieselbe. Auch das ist wie eine Illusion. Die Situation verändert sich in jedem Moment und sie kommt ihrem Ende näher. Das ist ihre subtile Unbeständigkeit.
Ferner: der Umstand, der schließlich das Ende der Situation einleitet, etwa, dass man jemand anderem begegnet, scheint die Ursache dafür zu sein, dass die Situation des Verletztseins endet. Auch das ist jedoch wie eine Illusion. Die eigentliche Ursache dafür, dass die Situation des Verletzseins zu einem Ende kommt, ist die Tatsache, dass die Situation überhaupt auftauchte; und ihr Auftreten ergibt sich aus einer Ansammlung vieler Ursachen.
Sautrantika
Sobald wir erst einmal imstande sind, die Erscheinungen der Dinge, die wir erleben, in ihre Einzelteile zu zerlegen, sodass wir erkennen, dass es illusorisch ist, sie als fest, ewig dauernd und nicht von Moment zu Moment veränderlich anzusehen, hilft uns die Sautrantika-Einsicht, tiefer zu gehen.
Warum schaffen uns die illusionsartigen Phänomene, die wir erleben, Probleme? Nicht jeder hat mit denselben Objekten oder Situationen Probleme, also muss es irgendwie mit unserem Geist zusammenhängen. Die oberflächliche Wahrheit über dieses Objekte sind die Projektionen, die wir auf sie werfen. Zum Beispiel: wir projizieren auf den Kratzer das Bild, das das eine Katastrophe ist – das Schlimmste auf der ganzen Welt, das größte Verbrechen des Jahrhunderts. Diese Existenzweise jedoch ist wie eine Illusion.
Die tiefste Wahrheit ist nur die objektive Realität des Objekts. Es ist einfach ein Kratzer, der aus einer Ansammlung von Atomen besteht, und er ist unbeständig. Die Ursache dafür, dass das Auto beschädigt werden konnte, ist, dass das Auto gebaut wurde. Die Tatsache, dass ein anderes Auto dieses Auto angefahren hat, war nur der Umstand dafür, dass der Schaden auftrat. Die Sautrantika-Einsicht, Projektionen von der objektiven Realität zu trennen, bringt uns also dem Verstehen des Verhältnis zwischen unseren Wahrnehmungen, unseren Problemen und den objektiven Tatsachen näher.
Chittamatra
Die Einsichten des Vaibhashika und des Sautrantika betreffen die Phänomene, die wir erleben, und die die Grundlage für die Bezeichnung „Ich“ sind – „ich“ erlebe sie in Gestalt von fünf Aggregaten. Aber auch mit diesen Einsichten über die Phänomene laufen wir weiterhin Gefahr, unsere Probleme der objektiven Realität zuzuschreiben. Mit dem Vaibhashika-Verständnis beseitigen wir unsere irrige Vorstellung, dass die Dinge solide und beständig sind. Mit dem Sautrantika-Verständnis gehen wir weiter und beseitigen alle anderen Projektionen. Doch es bleibt uns weiterhin eine objektive Realität, die da draußen liegt und darauf wartet, dass wir vorbeikommen, damit sie uns Probleme machen kann. Selbst wenn wir verstehen, dass unser Karma und dazu bringt, diesen Phänomenen der objektiven Realität zu begegnen, können wir doch weiterhin das Gefühl haben, dass objektiv reale Phänomene die Ursachen unserer Probleme sind.
Das Chittamatra-System hilft uns, unsere Aufmerksamkeit auf unseren eigenen Geist zu richten, und auf die Verwirrung, die mit ihm einhergeht und Ursache all unserer Probleme ist. Es ist also wie eine Illusion, dass die Objekte, denen wir begegnen, „da draußen“ liegen, gleich hinter der nächsten Ecke, und darauf warten, dass wir vorbeikommen und sie wahrnehmen. Wir müssen verstehen, dass das was wir wahrnehmen, in Wirklichkeit kognitive Erscheinungen sind.
Die Darstellungen des Vaibhashika und des Sautrantika bereiten den Weg für diese Einsicht. Gemäß Vaibhashika sehen wir äußere Objekte direkt und nicht durch irgendeine kognitive Erscheinung. Nach Gelug-Sautrantika sehen wir äußere Objekte durch transparente kognitive Erscheinungen, welche kognitive Repräsentationen der Objekte sind. Gemäß der Sicht des Nicht-Gelug-Sautrantika sehen wir tatsächlich nie äußere Objekte, da Moment A des Objekts bewirkt, dass im Moment B die kognitive Erscheinung davon entsteht. Im Moment B existiert der Moment A nicht mehr. Obwohl es also äußere Objekte gibt, sehen wir nur ihre kognitiven Erscheinungen.
Das Chittamatra-System betont die Tatsache, dass sowohl die kognitiven Erscheinungen, die wir sehen, als auch das Sinnesbewusstsein, dass sie wahrnimmt, aus derselben Ursprungsquelle kommen, nämlich aus demselben Samen karmischen Potenzials in unserem geistigen Kontinuum. Tatsächlich handelt es sich bei allem, was wir sehen, um kognitive Erscheinungen, und diese sind insofern wie Illusionen, als sie aus tatsächlich existierenden Objekten da draußen hervorzugehen scheinen, die darauf warten, uns Glück oder Leiden zu verschaffen. Allerdings existieren sie nicht in dieser unmöglichen Weise. Die Verantwortlichkeit oder Schuld an all den Erscheinungen, die wir erleben, liegt in unserem individuellen und kollektiven Karma. Wir können für unser Leiden nicht äußere Situationen oder andere Personen verantwortlich machen.
Die Erscheinung der äußeren objektiven Realität ist zwar wie eine Illusion, doch nichtsdestotrotz erfüllen die illusionsartigen Sinnesobjekte, die wir wahrnehmen, tatsächlich ihre Funktion. Wir wissen, dass sie ihre Funktion erfüllen, weil aus ihnen Momente des Erfahrens von Wirkungen entstehen, wie etwa Essen und das anschließende Sättigungsgefühl. Ursache und Wirkung funktionieren weiter, auch wenn sie Illusionen gleichen.
Svatantrika Madhyamaka
Die Chittamatra-Sicht hilft uns zu verstehen, dass die Erscheinungsweise der Sinnesobjekte, die wir erfahren, nicht von der Seite der Objekte her begründet ist, sondern von der Seite des Geistes her, der sie wahrnimmt. Die Erscheinungen der Sinnesobjekte, die wir wahrnehmen, sind also durch den Geist begründet. Dies gilt auch dann, wenn wir die falsche Auffassung beseitigt haben, dass die erscheinenden Objekte ein solides Ganzes wären (nicht aus Atomen oder Teilen zusammengesetzt) und dass sie beständig wären, und auch, nachdem wir auch alle anderen gedanklichen Projektionen beseitigt haben. Es gibt also keine Ausrede mehr dafür, etwas oder jemanden „da draußen“ für unsere Probleme verantwortlich zu machen.
Das Chittamatra-System vertritt allerdings den Standpunkt, dass nur die Sinnesobjekte, die wir erfahren, wie Illusionen sind. Es ist etwa so als würden wir feststellen, dass ein Film wie eine Illusion ist, aber daran festhalten, dass der Filmprojektor real sein muss, um den Film zu projizieren. Das Chittamatra-System wendet also die Analogie der Illusion nicht auch auf das Bewusstsein an, das die Sinnesobjekte wahrnimmt – auch wenn dieses Bewusstsein so erscheinen mag, als hätte es keine Teile und als besäße es eine projizierte Identität, etwa wie „so klug“ oder „so schlecht“. Daher können wir, wenn wir bloß das Chittamatra-Verständnis haben, weiterhin an unserem Geist haften oder uns über ihn ärgern.
Wir müssen tiefer gehen um zu verstehen, dass nicht nur die Erscheinungsweise der Objekte, sondern auch die Existenzweise der Objekte vom Geist begründet wird. Ferner müssen wir dies nicht nur in Bezug auf die Sinnesobjekten verstehen, sondern auch in Bezug auf das Bewusstsein, das sie wahrnimmt, und in Bezug auf alle anderen Phänomene.
Das bringt uns zur Erkenntnis des geistigen Benennens (Zuschreibung). Alle Lehrsysteme außer dem Prasangika behaupten, dass die Existenz aller Phänomene durch ihre eigenen, individuellen, sie definierenden Eigenschaften begründet ist, die auf ihrer eigenen Seite vorhanden sind und nicht nur dort zuzuschreiben sind. Das Svatantrika-System bejaht, dass es auf der Seite der gültig erkennbaren Phänomene etwas gibt, das ihre Existenz begründet. Diese auffindbaren, sie definierenden Eigenschaften können allerdings die Existenz von gültig erkennbaren Phänomenen nicht alleine aus eigener Kraft etablieren. Es mag so scheinen, als ob diese auf der Seite der Phänomene zu findenden Eigenschaften die Existenz der Phänomene aus sich selbst heraus etablieren, doch diese Erscheinung ist wie eine Illusion. Die Existenz von gültig erkennbaren Phänomenen wird nur durch die Tatsache begründet, dass sie auf der Grundlage dieser auffindbaren Eigenschaften gültig benannt (zugeschrieben) werden können.
Man betrachte Folgendes: Wenn wir denken, ein Hund sei eine Katze, und ihn dann geistig mit der Benennung „Katze“ versehen, macht dies den Hund zu einer Katze? Das Svatantrika-System erklärt: Bestimmte Tiere besitzen die Eigenschaften, die eine Katze definieren, welche irgendwo in ihnen, auf ihrer eigenen Seite, gefunden werden können, und nur daran liegt es, dass diese Tiere eine gültige Grundlage dafür sein können, geistig mit der Benennung „Katze“ versehen zu werden. Andernfalls könnte man beliebig alles als alles gültig benennen. Da aber ein Hund nicht die auffindbaren, sie definierenden Eigenschaften einer Katze besitzt, ist es keine gültige geistige Benennung, ihn als „Katze“ zu bezeichnen.
Mit der Svatantrika-Einsicht verstehen wir also, dass eine Kombination äußerer und innerer Faktoren die Existenz der Phänomene begründet. Diese Einsicht erlaubt es, die Analogie der illusionsgleichen Existenzweise auf alle Phänomene anzuwenden – sowohl auf statische als auch auf die nicht statische (unveränderliche und veränderliche), nicht nur auf Sinnesobjekte.
Prasangika Madhyamaka
Mit dem Vaibhashika-Verständnis haben wir die illusionsgleiche Erscheinung zerlegt, gemäß derer Sinnesobjekte und Bewusstsein als solide und beständig erscheinen. Mit dem Sautrantika-Verständnis haben wir auch andere Projektionen über sie ausgeräumt. Dann haben wir mit dem Chittamatra-Verständnis die irrige Vorstellung ausgeräumt, dass die Erscheinungen der Sinnesobjekte von ihrer eigenen Seite begründet werden. Sie sind durch die karmischen Anlagen des Geistes begründet, der sie wahrnimmt. Mit dem Svatantrika-Verständnis haben wir zudem die falsche Auffassung beseitigt, dass jedes gültig erkennbare Phänomen ausschließlich von seiner eigenen Seite her begründet ist: die Existenz jedes gültig erkennbaren Phänomens ist durch eine Kombination von etwas, das auf seiner Seite auffindbar ist, und geistiger Benennung begründet.
Nach Prasangika gilt jedoch Folgendes: zwar scheint es so, als ob alle Phänomene auf ihrer eigenen Seite zu findende charakteristische Eigenschaften haben, die ihre Existenz als „dieses“ oder „jenes“ begründen in Verbindung damit, dass sie als „dieses“ oder „jenes“ benannt werden – doch dieser Anschein ist wie eine Illusion. Wenn es solche aufindbaren Eigenschaften gäbe, könnten sie bewirken, dass man daran festhält und haftet. Wir könnten weiterhin äußeren Objekten oder aber einem „Ich“ die Schuld für unsere Probleme geben: „Es muss doch irgendetwas inhärent Falsches in mir geben, das mich zu einer schlechten Person macht.“ Doch die wahre Ursache unserer Probleme ist, dass der Geist täuschende Erscheinungen unmöglicher Existenzweisen produziert und dass daraus Unwissenheit und Festhalten entstehen.
Da es der Geist ist, der täuschende Erscheinungen unmöglicher Existenzweisen produziert, ist es auch der Geist, der aufhören muss, sie zu projizieren. Wenn die Existenz eines Objektes als „dieses“ oder „jenes“ durch etwas auf der Seite der Objekte begründet wäre – auch wenn es in Verbindung mit geistigem Benennen steht – dann könnte dies den Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit davon weg leiten, dass es die Verwirrung des Geistes ist, die die Quelle unserer Probleme ist. Unsere Aufmerksamkeit könnte dann auf eine bloß äußere Analyse gelenkt werden, um jene inhärenten charakteristischen Eigenschaften zu finden, die das Objekt zu dem machen, was es ist, und das dadurch die korrekte geistige Benennung begründet. Das ist der Grund, warum wir die Existenz verstehen müssen, die ausschließlich durch geistiges Etikettieren begründet ist.
Die Existenz eines jeden Phänomens ist nach Prasangika lediglich durch die Tatsache begründet, dass es einer Grundlage für die Zuschreibung (Benennungsgrundlage) gültig zugeschrieben (sozusagen entsprechend etikettiert) werden kann. Worauf sich das Etikett bezieht, kann auf der Seite der Grundlage für die Zuschreibung nicht gefunden werden; dort finden sich noch nicht einmal die definierenden charakteristischen Eigenschaften dessen, worauf sich das Etikett bezieht. Was begründet, dass das Etikettieren des Phänomens eine gültige Benennung ist – und folglich, was begründet, dass das Phänomen, auf das sich die Benennung bezieht, ein existierendes Phänomen ist, welches gültig erkennbar ist – sind lediglich Kriterien von Seiten des Geistes, nämlich:
- Die Benennung muss eine wohlbekannte Konvention sein.
- Die Benennung darf nicht im Widerspruch stehen zu einen Geist, der die oberflächliche Wahrheit des Phänomens gültig erkennt.
- Die Benennung darf nicht im Widerspruch stehen zu einem Geist, der die tiefste Wahrheit des Phänomens gültig wahrnimmt.
Schluss
Die Lehrsysteme des indischen Buddhismus präsentieren gestufte Ebenen des Verständnisses, in welcher Weise die Dinge wie eine Illusion existieren. Und nicht nur das – sie präsentieren auch gestufte Ebenen des Verständnisses davon, wie Wahrnehmung funktioniert, und von zahlreichen anderen wichtigen Aspekten des Lebens. Wenn wir diese Systeme studieren, ist es wichtig, dass wir sie nicht bloß als trockene Theorien ansehen. Sie vermitteln wesentliches Material für die Meditation, um zu immer tiefer gehenden Arten des Verständnisses zu gelangen. Der Zweck dieses Erkenntnisgewinns besteht nicht darin, intellektuelles Wissen anzusammeln. Er besteht darin, ihn auf das tägliche Leben anzuwenden, um unsere jeweiligen Probleme zu überwinden und uns zu befähigen, anderen effektiver zu helfen, indem wir durch diese Einsichten Erleuchtung verwirklichen.