Weiteres Material als Hintergrund
Der Umfang der Analyse
Da das Thema des freien Willens versus Determinismus vom Verständnis des „noch nicht Stattfindenden“ abhängt, lassen Sie uns in unserer Untersuchung zunächst darauf konzentrieren.
Wir wollen unsere Erörterung überdies auf die Gelug-Prasangika-Erklärung des „noch nicht Stattfindenden“ als nicht-statisches, implizierendes Negations-Phänomen beschränken. Anders als im Gelug-Chittamatra- und -Yogachara-Svatantrika-System wird im Gelug-Prasangika-System die Existenz äußerer Phänomene akzeptiert. Also kann das „noch nicht Stattfindende“ im Hinblick auf innerlich oder äußerlich auftretende Abfolgen von Ursache und Resultat spezifiziert werden. Innerlich auftretende Abfolgen sind Abfolgen von Momenten, die im geistigen Kontinuum von jemanden auftreten.
- Innerlich auftretende Abfolgen können Abfolgen karmischer Erfahrung sein, z.B. destruktives Handeln als karmische Ursache und die Erfahrung von Leiden als karmisches Resultat.
- Sie können auch Abfolgen von Episoden des Enstehens geistiger Faktoren sein, z.B. Wut oder Geduld als Resultat ursächlicher Tendenzen dafür.
- Oder sie können kognitive Abfolgen sein, z.B. wenn man ein Blatt von einem Baum auf den Boden fallen sieht.
Zu den äußerlich auftretenden Abfolgen gehört z.B. die Positionsveränderung eines Blattes, während es vom Baum zu Boden fällt, oder der Prozess, wenn ungebrannter Ton zu einem Tonkrug wird.
Lassen Sie uns zuerst über die Abfolge der Erfahrungen von karmischer Ursache und Resultat bei jemandem sprechen, z.B. wenn jemand voller Wut eine andere Person mit einem Gegenstand schlägt und das karmische Resultat erlebt, dass er von jemanden mit einem Tonkrug auf den Kopf geschlagen wird und dann die Person, die ihn geschlagen hat, wiederum schlagen will.
Karmische Impulse und karmische Tendenzen
Karma ist ein komplexes Thema, das viele Variablen beinhaltet. Karma (tib. las) ist ein befleckter Impuls im geistigen Kontinuum von jemandem, der eine konstruktive, destruktive oder nicht-spezifizierte geistige, körperliche oder sprachliche Handlung begeht oder jemand anderen veranlasst, eine körperliche oder sprachliche Handlung zu begehen.
- Karma ist in dem Sinne befleckt (tib. zag-bcas, „verunreinigt“), als die Gewohnheit des Greifens nach wahrhaft begründeter Existenz im geistigen Kontinuum der Person, die der Ausgangspunkt der karmischen Handlung ist, eine Erscheinung von wahrhaft begründeter Existenz erzeugt.
Im Prasangika-System gemäß Gelug-Tradition gilt:
- Der karmische Impuls, der eine geistige, körperliche oder sprachliche Handlung hervorbringt, ist ein Geistesfaktor, nämlich der zwingende Drang (tib. sems-pa). Dieser zieht das geistige Kontinuum zusammen mit allen begleitenden Geistesfaktoren in Richtung eines Objekts und beteiligt dieses in Übereinstimmung mit dem Geistesfaktor der Absicht (tib. ‘dun-pa) an einer körperlichen, sprachlichen oder geistigen Handlung in Bezug auf das Objekt.
- Der erzwungene karmische Impuls einer körperlichen Handlung ist die offenbarende Form (tib. rnam-par rig-byed-kyi gzugs) der Bewegung des Körpers als der Methode, um die körperliche Handlung zu bewerkstelligen, und die nicht-offenbarende Form (tib. rnam-par rig-byed ma-yin-pa‘i gzugs), die zeitgleich damit einhergeht und der körperlichen Handlung folgt.
- Der erzwungene karmische Impuls einer sprachlichen Handlung ist die offenbarende Form des Von-Sich-Gebens von Sprache als der Methode, um die sprachliche Handlung zu bewerkstelligen, und die nicht-offenbarende Form, die zeitgleich damit einhergeht und der sprachlichen Handlung folgt.
Ungleich körperlichen Abfolgen von Ursache und Resultat, z.B. dem Antreten eines Balls und dessen Bewegung als unmittelbares Resultat davon, ist die Verbindung zwischen einem karmischen Impuls als Ursache und dem „Reifen“ als deren Resultat nicht so, dass beides unmittelbar aufeinander erfolgt. Die dazwischen liegenden Stufen beinhalten eine „karmische Hinterlassenschaft“ , die aus verschiedenen Faktoren besteht. Lassen Sie uns die Darstellung der karmischen Hinterlassenschaft nur auf die Erörterung von karmischem Vermächtnis (tib. sa-bon, Skt. bija , karmische Samen) begrenzen und die Erklärung vereinfachen, indem wir karmische Tendenzen und karmische Kräfte (auch übersetzt als karmische Potenziale) nicht genauer voneinander unterscheiden.
- „Karmisches Vermächtnis“ ist ein allgemeiner Begriff, der (1) karmische Tendenzen (tib. sa-bon) umfasst – die immer ethisch unspezifisch (tib. lung ma-bstan) sind – und (2) konstruktive karmische Kräfte (tib. bsod-nams, Skt. punya, Verdienst) und destruktive karmische Kräfte (tib. sdig-pa, Skt. papa, „Sünde“), wenn diese beiden die wesentliche Natur einer karmischen Tendenz (tib. sa-bon-gyi ngo-bor gyur-ba) angenommen haben.
- Ein karmisches Vermächtnis ist eine nicht mit den Kategorien Form oder Bewusstsein kongruente, beeinflussende Variable, die einem geistigen Kontinuum zugeschrieben ist.
Da das Hauptaugenmerk in den folgenden Kapiteln auf dem „noch nicht Stattfindenden“ liegt, und weil der Begriff „karmisches Vermächtnis“ Bezug zur Vergangenheit und der Begriff „karmische Tendenzen“ Bezug zur Zukunft hat, werden wir der Einfachheit halber das karmische Vermächtnis hier mit dem Ausdruck „karmische Tendenzen“ bezeichnen, um das Verständnis zu erleichtern.
Das Reifen von Tendenzen
Karmische Tendenzen von karmischen Impulsen reifen zu etwas heran wie z.B.:
- dem Primärbewusstsein (tib. rnam-shes), das beteiligt ist, wenn wir in unserem Verhalten oder unserer Erfahrung ein Resultat erfahren, das der Ursache ähnelt, z.B. das Körperbewusstsein der körperlichen Empfindung, mit einem Tonkrug von jemandem auf den Kopf geschlagen zu werden,
- dem Geistesfaktor des Gefallen-Daran-Findens (tib. dga’-ba) einen Menschen oder ein Tier zu schlagen, vergleichbar dem, was wir früher schon getan haben, verbunden mit der Absicht ähnliche Handlungen wieder vorzunehmen, z.B. die Person zurückschlagen wollen, die uns mit dem Tonkrug auf den Kopf geschlagen hat,
- dem Augenbewusstsein: dem Sehen der Person, die uns geschlagen hat, während wir Gefallen daran finden, andere zu schlagen und sie zurückschlagen wollen,
- dem Gefühl eines bestimmten Ausmaßes an Glücklichsein oder Unglücklichsein, das das Primärbewusstsein in jedem der obigen Fälle begleitet,
- unserem menschlichen Körper und seiner physischen Elemente, jedoch nur in dem Zusammenhang, dass sie als körperliche Basis für das oben erwähnte Primärbewusstsein und die Geistesfaktoren dienen,
- den physischen Sensoren unseres menschlichen Körpers, jedoch nur in dem Zusammenhang, dass sie als vorherrschende Bedingung (tib. dbag-rkyen) der betreffenden Körperwahrnehmung dienen, in diesem Fall der körperlichen Empfindung, auf den Kopf geschlagen zu werden.
Die obigen Phänomene reifen nicht alle aus derselben karmischen Tendenz heran. Gefühle des Glücklichseins und die Körper besserer Wiedergeburtszustände reifen im Allgemeinen aus konstruktiven Handlungen heran, Gefühle des Unglücklichseins und die Körper der Zustände einer schlechteren Wiedergeburt hingegen im Allgemeinen aus destruktiven Handlungen. Die anderen Phänomene, die im obigen Beispiel erwähnt sind, reifen aus der speziellen destruktiven Handlung heran, jemand anderen mit einem Gegenstand auf den Kopf geschlagen zu haben.
Karmische Tendenzen sind nicht die einzige Art von Tendenzen in unserem geistigen Kontinuum. Es gibt
- Tendenzen, die aus den Geistesfaktoren herrühren, welche frühere Momente der Wahrnehmung begleitet haben.
- Tendenzen, die mit Erinnerung zu tun haben – nämlich Tendenzen zu denken, etwas zu denken, das dem ähnelt, was wir früher erfahren haben, oder eine Handlung auf eine Art und Weise auszuführen, wie wir es früher getan haben, z.B. unseren Namenszug so zu schreiben, wie wir es auch früher schon getan haben.
Die erste dieser beiden Arten von Tendenzen ist hier relevant, nämlich die Tendenzen zu bestimmten Geistesfaktoren. Dabei kann es sich um Tendenzen handeln zu
- destruktiven Geistesfaktoren wie z.B. Wut,
- konstruktiven Geistesfaktoren wie z.B. Geduld,
- ethisch nicht eindeutig bestimmten Geistesfaktoren wie z.B. Konzentration.
Lassen Sie uns hier nur über der ersten dieser drei Tendenzen sprechen. Die Tendenz, die zu einer störenden Emotion, wie z.B. Wut, führt, bringt die störende Emotion von Wut hervor, welche das Primärbewusstsein begleitet, das aus einer karmischen Tendenz heranreift. In unserem obigen Beispiel wäre dies die Wut, die wir während der physischen Empfindung von Schmerz erleben, wenn wir von jemandem mit einem Tonkrug auf den Kopf geschlagen werden und die Person, die uns geschlagen hat, zurückschlagen wollen.
Karmische Tendenzen und Tendenzen, die aus Geistesfaktoren herrühren, reifen jedoch nicht zu Formen körperlicher Phänomene (tib. gzugs) heran, die Objekte unserer Wahrnehmung sind, aber nicht zu unserem geistigen Kontinuum gehören, z.B. dem Tonkrug selbst.
- Äußere Objekte, z.B. ein Tonkrug, bewirken einen Eindruck davon in unserem Bewusstsein.
- Dieser Eindruck ist ein geistiger Aspekt (tib. rnam-pa), der dem äußeren Objekt gleicht. Er entsteht in der Wahrnehmung etwa wie ein geistiges Hologramm, das dieses äußere Objekt repräsentiert.
Der Tonkrug selbst entsteht als Resultat zahlreicher Ursachen und Bedingungen, als da sind: der ungebrannte Ton, der Brennofen, die Hitze des Brennofens, die Töpferscheibe, der Töpfer usw. Die Beziehung zwischen unserem Karma und dem Tonkrug ist nur im Zusammenhang unserer Wahrnehmung der körperlichen Empfindung oder des Anblicks des Kruges erwiesen.
- Karmische Ursachen im geistigen Kontinuum der Person, die uns den Krug auf den Kopf schlägt, reiften zu dem Wunsch dieser Person heran, uns zu schlagen, und das führte zu ihrer Handlung, uns mit dem Krug zu schlagen.
- Karmische Ursachen in unserem geistigen Kontinuum reiften zu unserer Wahrnehmung der körperlichen Empfindung des Kruges, der auf unseren Kopf geschlagen wird, heran. Sie reiften nicht zu dem Wunsch der anderen Person heran, uns zu schlagen, oder zu deren Handlung, uns zu schlagen.
Obwohl unser Körper, der von jemandem mit dem Tonkrug auf den Kopf geschlagen wird, aus einer karmischen Tendenz herangereift ist, ist unser Körper nicht plötzlich als materielles Objekt aus einer karmischen Tendenz in unserem geistigen Kontinuum aufgetaucht. Unsere Körper haben viele andere Ursachen wie z.B. das Spermium und Ei der Eltern und der Bauch unserer Mutter.
Punkte, die zu untersuchen sind
Während des Zeitraums zwischen einem gegenwärtig stattfindenden karmischen Impuls, einer gegenwärtig stattfindenden karmischen Handlung, einer gegenwärtig stattfindenden karmischen Tendenz und einem gegenwärtig stattfindenden karmischen Resultat, die alle in einem individuellen karmischen Kontinuum auftreten, ist diesem geistigen Kontinuum nach dem Auftreten der gegenwärtig stattfindenden karmischen Handlung und vor dem Auftreten des gegenwärtig stattfindenden karmischen Resultats auch das „Noch-nicht-Stattfinden des Resultats“ zuzuschreiben. Bezogen auf unser Beispiel wären aber noch folgende Fragen zu klären:
- Ist das „Noch-nicht-Stattfinden des Resultats“ das „Noch-nicht-Stattfinden“ des Körperbewusstseins der körperlichen Empfindung und des Schmerzes, von jemandem mit einem Tonkrug auf den Kopf geschlagen zu werden?
- Ist es das „Noch-nicht-Stattfinden“ des unglücklichen Gefühls, das dieses Körperbewusstsein begleiten wird?
- Ist es das „Noch-nicht-Stattfinden“ von Wut, das dieses Körperbewusstsein begleiten wird?
- Ist es das „Noch-nicht-Stattfinden“ des Tonkrugs, der uns auf den Kopf treffen wird?
- Ist es das „Noch-nicht-Stattfinden“ unseres Körpers in dem Moment, in dem er mit dem Tonkrug geschlagen wird?
- Ist es das „Noch-nicht-Stattfinden“ der Person, die uns noch nicht mit dem Tonkrug auf den Kopf geschlagen hat, uns aber schlagen wird, oder das „Noch-nicht-Stattfinden“ ihres Körpers oder das „Noch-nicht-Stattfinden“ ihrer Handlung, uns mit dem Tonkrug zu schlagen?
- Oder ist es das gesamte „noch nicht stattfindende“ Ereignis, von jemandem mit einem Tonkrug auf den Kopf geschlagen zu werden, das als ein „Ganzes“ all diesen Bestandteilen zugeschrieben wird?
Was ist überdies der gegenwärtig stattfindende Status
- dieses Körperbewusstseins, das noch nicht stattgefunden hat?
- dieses unglücklichen Gefühls, das noch nicht stattgefunden hat?
- dieser Wut, die noch nicht stattgefunden hat?
- dieses Tonkrugs in dem Moment, kurz bevor er auf unseren Kopf treffen wird, während er uns gegenwärtig noch nicht getroffen hat?
- unseres Körpers in dem Moment, kurz bevor er geschlagen wird, wenn er gegenwärtig noch nicht geschlagen worden ist, usw.?
Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir weitere subtile Punkte hinsichtlich dessen unterscheiden, was genau ein „noch nicht Stattfinden von etwas“ ist und wie wir eines wahrzunehmen pflegen.