Die zwei Insider-Traditionen: Bhante und Bön
Meiner Meinung nach ist der tibetische Begriff nang-pa „Insider“ – wörtlich jemand, der nach innen schaut, was das gebräuchliche Wort für einen Buddhisten ist – nicht nur auf die Anhänger einer bestimmten spirituellen Tradition beschränkt. Ein „Insider“ bezieht sich auf alle, Mann oder Frau, die Zuflucht in die drei kostbaren Juwelen nehmen. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen einem „Insider“ und einem „Outsider“, also ob jemand Zuflucht in die drei Juwelen genommen hat oder nicht. Unter den „Insiders“ werden jene unterschieden, die den großen oder kleinen Fahrzeugen folgen, also ob Bodhichitta hervorgebracht wird oder nicht.
In Tibet gibt es im Grunde zwei Arten von „Insider“-Anhängern des großen Fahrzeugs: jene, die den Lehren des großen Lehrers Tönpa Shenrab Miwo (tib. sTon-pa gshen-rab mi-bo) folgen, und jene, die den Lehren Shakyamuni Buddhas folgen. Die Anhänger beider Traditionen bezeichnen sich selbst mit dem gleichen tibetischen Begriff, nangpa, Insider. Ob jemand die Lehren der Bhantes (ban-de, Skt. bhavanta; ehrwürdige buddhistische Mönche) oder der Bönpos folgt, bleibt einem selbst überlassen. Man kann nicht sagen, eine Lehre wäre besser und die andere schlechter. Beides sind die Lehren der erleuchteten Buddhas. Ob man nun dem Bön oder Dharma folgt, das letztendliche Ziel besteht darin, die Leiden der fühlenden Wesen zu lindern.
Es stimmt, dass es zwischen den Anhängern dieser zwei „Insider“-Traditionen zahlreiche Auseinandersetzungen gab, aber es bringt nichts, darüber zu reden. Wichtig ist es, zu erkennen, was man aus diesen Auseinandersetzungen lernen kann. Es wäre schön, wenn die Bhantes und Bönpos in Tibet, im Land des Schnees, wie die Mitglieder einer Familie in Harmonie miteinander leben könnten. Mit den Worten des großen Gyalwa Nyamme Сhenpo (tib. rGyal-ba mNyam-med chen-po Shes-rab rgyal-mtshan) (1356–1415) [aus seinem Kommentar zu „Rituelle Lampe zum Überwinden von Spaltungen“ (tib. rNam-’byed ’phrul-gyi sgron-me’i rang-’grel)]:
Hänge nicht an deiner eigenen Sicht; verabscheue nicht die Sicht anderer. Legst du deine philosophische Sichtweise so dar, wird sie zu einer Quelle der Weisheit und einer wunderbaren Methode zur Schulung der reinen Sicht. Das ist die Tradition der Geweihten.
Könnte sich jeder darin üben, den anderen auf die besagte Weise mit reiner Sicht zu sehen, wäre das wunderbar.
Werfen wir einen Blick zurück auf die Geschichte, so gab es eine Zeit, in der die Bhantes und Bönpos harmonisch zusammenlebten. Schon im achten Jahrhundert, während der Herrschaft von Tri Songdetsen (tib. bTsan-po Khri-srong lde-btsan), versammelten sich die Anführer der Bhantes und Bönpos, zusammen mit dem König Tri Songdetsen selbst und seinen Ministern an einem Ort mit dem Namen Zurphug-kyang (tib. Zur-phug rkyang). Dort legten sie vor den königlichen Gräbern, Schriften und acht Klassen von Geistern den feierlichen Eid ab:
Solange die Erde und der Himmel so bleiben, wie sie sind, werden die zwei Gemeinschaften der Bhantes und Bönpos zusammen auf dieser Erde leben und, so, wie die Sonne und der Mond Tag und Nacht am Himmel scheinen, gegenseitiges Misstrauen, Anhaftung und Wut, sowie Projektionen und Dementierungen aufgeben. Die Bhantes und Bönpos werden nicht gegeneinander kämpfen oder sich durch Konflikte der Eifersucht gegenseitig verletzen.
Sie legten diesen feierlichen Eid ab und nahmen die acht Klassen von Geistern des höchsten Gipfels unkontrollierbar sich wiederholender Existenz bis hin zu den drei Körpern der Glückselig Gegangenen und den Massen der niedrigsten Höllen als Zeugen. Das erscheint in der Schlussformel von „Die Linie der zeitweiligen Herrscher“ [von Kopo Lodrö Togme (tib. Kod-po Blo-gros thogs-med)].
Die Bön-Tradition hat in Tibet eine viel längere Geschichte als die Bhante-Tradition des Buddhismus. Gemäß unserer Tradition wurde die Bön-Tradition von dem großen Lehrer Tönpa Shenrab Miwo vor 18,000 Jahren in Olmo Lungring (tib. ’Ol-mo lung-ring) am östlichen Rand des Landes Tagzig (tib. sTag-gzig), [westlich von Tibet] gegründet. Von dort breitete sie sich in das Königreich Zhang-zhung (tib. Zhang-zhung) im westlichen Tibet aus. Zur Zeit des ersten Königs von Tibet, König Nyatri Tsenpo (tib. gNya’-khri btsan-po) [der Yarlung- (tib. Yar-klungs) Dynastie, die 127 v. u. Z. gegründet wurde], hatten sich diese Lehren bereits bis nach Zentraltibet verbreitet. Im Gegensatz dazu kam der Buddhismus, der in Indien durch den großen Lehrer Shakyamuni gegründet wurde, nicht vor dem siebten Jahrhundert u. Z. nach Tibet.
Die neun Fahrzeuge des Bön
Was diese Insider-Lehren der Anhänger des großen Lehrers Tönpa Shenrab Miwo betrifft, umfassen sie die neun-stufigen Fahrzeuge des Geists des Bön (tib. bon theg-pa rim-dgu). Dies sind:
- das Fahrzeug des Geistes der Weisheit der Prophezeiung (tib. phyva-gshen theg-pa) – Astrologie (tib. rtsis), Vorhersage (tib. mo), Analyse von Krankheitsursachen (tib. dpyad) und Beschützer-Rituale (tib. gto);
- das Fahrzeug des Geistes der Weisheit von Erscheinungen (tib. snang-gshen theg-pa) – die Ursprünge und Natur der Götter und Geister in dieser Welt und Methoden, sie zu kontrollieren;
- das Fahrzeug des Geistes der Weisheit von Ritualen der Austreibung (tib. ’phrul-gshen theg-pa) – Austreibungsrituale (tib. mdos) zum Vertreiben schädlicher Geister, indem man sie einem Sündenbock überträgt, und dem Aufsagen von Zauberformeln (tib. zor);
- das Fahrzeug des Geistes der Weisheit der Weiterexistenz (tib. srid-gshen theg-pa) – Bestattungs- und Bardo-Rituale zum Geleiten der Toten zur Befreiung oder zumindest zu einer besseren Wiedergeburt;
- das Fahrzeug des Geistes von Laien (tib. dge-bsnyen theg-pa) – die zehn konstruktiven und zehn destruktiven Handlungen, sowie die zehn weitreichenden Geisteshaltungen (Vollkommenheiten);
- das Fahrzeug des Geistes von Asketen (tib. drang-srong theg-pa) – die Gelübde und Verhaltensregeln für Ordinierte;
- das Fahrzeug des Geistes des weißen A (tib. a-dkar theg-pa) – die Praktiken und Rituale des Tantra;
- das Fahrzeug des Geistes der ursprünglichen Weisheit (tib. ye-gshen theg-pa) – der tantrische Meister, der Ort für tantrische Praxis, die Beschreibung von Mandalas, sowie die Erzeugungs- und Vollendungsstufen des höchsten Tantra;
- das Fahrzeug des Geistes der Unübertrefflichen (tib. bla-med theg-pa) – die große Vollkommenheit, Dzogchen (tib. rdzogs-chen) und die Stufe der Erleuchtung.
Die Verbreitung des Bön in Tibet
Während der Herrschaft des Königs Nyatri Tsenpo, des ersten Königs von Tibet, verbreiteten sich die kausalen Bön-Lehren (tib. rgyu-bon) – [die ersten vier Bön-Fahrzeuge des Geistes] – in ganz Tibet. Während der Herrschaft von Mutri Tsenpo (tib. Mu-khri btsan-po), dem zweiten König von Tibet, verbreiteten sich die Bön-Lehren der Tantras und des unübertrefflichen Geistes – [das siebente, achte und neunte Bön-Fahrzeug des Geistes] – überall. Während der Herrschaft von Dingtri Tsenpo (tib. Ding-khri btsan-po), des dritten Königs von Tibet, verbreiteten sich die Vinaya-Lehren der Verhaltensregeln – [das fünfte und sechste Bön-Fahrzeug des Geistes] überall.
Kurzum, von der Herrschaft Nyatri Tsenpos, des ersten Königs von Tibet, bis zur Herrschaft von Namri Songtsen (tib. gNam-ri srong-btsan), des 32. Königs von Tibet [und Vater von dem Herrscher Songtsen Gampo] – [oder genauer gesagt:]
- von der Herrschaft der sieben mit dem Namen „khri“ vom Himmel (tib. gnam-gyi khri-bdun) [was Nyatri Tsenpo umfasst],
- den zwei mit dem Namen „sde“ von dem Raum dazwischen (tib. bar-gyi sde-gnyis),
- den sechs mit dem Namen „legs“ auf der Erde (tib. sa-la-legs-drug),
- den acht mit dem Namen „lde“ auf dem Wasser (tib. chu-la-lde-brgyad),
- den fünf mit dem Namen „btsan“ des Zwischenraums (tib. bar-gyi-btsan-lnga) [was Namri Songtsen und Songtsen Gampo umfasst],
- bis zu den vier prächtigen Bön-Königen (tib. phun-sum-tshogs-pa’i-bon-rgyal-bzhi) [bis hin zu Tride Tsugtsan (tib. Khri-lde gtsug-btsan), auch bekannt als Me Agtsom (tib. Mes ag-tshoms), Vater des Herrschers Tri Songdetsen (tib. Khri-srong lde-btsan) (742–789), während dessen Herrschaft sich die buddhistischen Insider-Lehren von Shakyamuni bis nach Tibet verbreiteten],
waren die Insider-Lehren [von Shenrab Miwo] einschließlich der drei (Klassen): Sutra, Tantra und Geist (tib. mdo-sngags-sems-gsum), weitverbreitet. Diese Lehren verbreiteten sich zuerst in Zhang-zhung und dann in Tibet.
Der Studiengang für den Bön-Geshe-Titel
Um in der Bön-Tradition den Geshe-Titel zu bekommen, muss man drei Klassen von Belehrungen – Sutra, Tantra und Geist – vierzehn bis sechzehn Jahre in einer monastischen Studienakademie (tib. bshad-grva) absolvieren. Jeden Tag muss man sich, ohne sich von der Hitze des Sommers oder der bitteren Kälte des Winters stören zu lassen, dem Sutra-Pfad des Aufgebens (tib. spang-lam mdo), dem Tantra-Pfad des Transformierens (tib. bsgyur-lam sngags) und dem befreienden Pfad der Klasse des Geistes (tib. grol-lam sems-phyogs) im Einklang mit dem Stundenplan widmen. Hinsichtlich der Jahresklassen gibt es das Studium:
- der gesammelten Themen und Logik (tib. bsdus-grva) im ersten Jahr,
- der gültigen Wahrnehmung (tib. tshad-ma) im zweiten Jahr,
- der philosophischen Lehrsysteme (tib. grub-mtha’) im dritten Jahr,
- der [zehn] Arten des Bhumi-Geistes und der [fünf] Arten des Pfadgeistes (tib. sa-lam) im vierten Jahr,
- des Prajnaparamita (tib. phar-phyin) im fünften und sechsten Jahr,
- des Madhyamaka (tib. dbu-ma) im siebten Jahr,
- des Abhidharma (tib. mdzod) im achten Jahr,
- des Vinaya (tib. ’dul-ba) im neunten Jahr,
- der vier Tantra-Klassen (tib. rgyud-sde bzhi) im zehnten und elften Jahr, sowie
- der großen Dzogchen-Texte, hauptsächlich jener der mündlichen Zhang-zhung Übertragungslinie des Dzogchen (tib. zhang-zhung snyan-rgyud) im zwölften und dreizehnten Jahr.
Ebenso gibt es in den säkularen Wissensgebieten (tib. rig-gnas) das Studium:
- der tibetischen Rechtschreibung (tib. dag-yig),
- der tibetischen Grammatik (tib. brda-sprod),
- der Dichtkunst (tib. snyan-ngag),
- der elementaren Astrologie (tib. ’byung-rtsis),
- der stellaren Astrologie (tib. skar-rtsis),
- der Sanskrit-Grammatik (tib. sgra),
- der rituellen Musik (tib. rol-mo),
- der Kalligrafie mit den Zhang-zhung-Schriftzeichen des „Marchen“ und „Marchung“ (tib. zhang-zhung smar-chen smar-chung),
- des Handwerks (tib. bzo),
- der Mantras und des Füllens von Statuen und Stupas mit Relikten (tib. gzungs-gzhug),
- der Raster für das Zeichnen von Mandalas (tib. dkyil-’khor thig-rtsa), und
- der vier Medizin-Tantras (tib. ’bum-bzhi).
Hat man all diese Studien abgeschlossen, wird einem der Titel des Geshe verliehen.
Obgleich die Studenten in den verschiedenen monastischen Bön-Akademien des Studiums und der Praxis die Lehrsysteme und Sichtweisen aller anderen Dharma-Traditionen untersuchen dürfen, studieren sie hauptsächlich die klassischen Schriften ihrer eigenen Tradition, die großen klassischen Bön-Texte. Zu diesen Texten gehören jene, die als die frühen, mittleren und späteren Lehrbücher (tib. yig-cha gong-’og-bar gsum) wohlbekannt sind.
- Die frühen Lehrbücher wurden von dem großen Meister mit den Augen der Bön-Lehren, Azha Drogon Lodro Gyaltsen (tib. ’A-zha ’Gro-mgon Blo-gros rgyal-mtshan) (1198–1263) verfasst.
- Die mittleren Lehrbücher wurden von dem großen, unvergleichlichen Siegreichen, Nyamme Sherab Gyaltsen (tib. mNyam-med Shes-rab rgyal-mtshan) (1356–1415) verfasst.
- Dies späteren Lehrbücher wurden von dem allwissenden Kunkyen Nyima Tenzin (tib. Kun-mkhyen Nyi-ma bstan-’dzin) verfasst.
Was das Studium des Madhyamaka betrifft, steht es den Studenten frei, die Texte von Nagarjuna und Chandrakirti zu studieren, doch sie sind nicht Teil des Lehrplans und ich habe keine Kommentare zu diesen Texten von Bönpo-Meistern gesehen.
Die Bön-Gelübde
Meines Erachtens sollten sowohl die Gelübde der Bhantes als auch die der Bönpos als „Insider“-Gelübde angesehen werden. Ein Gelübde [wörtlich eine „gelobte Enthaltung“] bezieht sich auf den Aspekt, die eigenen drei Tore [Körper, Rede und Geist] von negativem Verhalten abzuhalten. Was die Bön-Tradition betrifft, so gibt es den Brauch, die Gelübde in drei Gruppen zu unterteilen:
- die äußeren Gelübde der individuellen Befreiung (Pratimoksha) (tib. phyi so-so’i thar-pa’i sdom-pa);
- die inneren tantrischen Gelübde eines Wissensbewahrers (Vidyadhara) (tib. nang rig-’dzin sngags-kyi sdom-pa); und
- die geheimen Bodhisattva-Gelübde (tib. gsang-ba byang-chub sems-kyi sdom-pa).
[1] Die ethische Disziplin der Entschlossenheit, frei zu sein, mit der man es unterlässt, andere zu verletzen, wird zusammen mit ihrer Grundlage „das Gelübde der individuellen Befreiung“ genannt.
[2] Die ethische Disziplin der Entschlossenheit, frei zu sein, die mit der tiefgründigen Methode verbunden ist, Aspekte des Resultates zu übernehmen und sie als einen Pfad zu betrachten, wird „das tantrische Gelübde eines Wissensbewahrers“ genannt.
[3] Die ethische Disziplin der Entschlossenheit, frei zu sein, die mit dem besonderen Gedanken verbunden ist, anderen zu nützen, wird „das Bodhisattva-Gelübde“ genannt. Es hat dieselbe Bedeutung wie das Erzeugen der Bodhichitta-Ausrichtung im Mahayana.
Was das Ablegen eines Gelübdes betrifft, so ist es wichtig, diesen Vorgang auch innerlich zu empfinden. Hat man das Gefühl, dass das Gelübde im eigenen Geisteskontinuum vorhanden ist, nachdem man es empfangen hat, besitzt man es.
Was die Gelübde für Laien betrifft, so gibt es sowohl Männer als auch Frauen, die es in ihrem Geisteskontinuum haben:
- Zufluchtsgelübde (tib. skyabs-’gro’i sdom-pa);
- eintägige Gelübde (tib. bsnyen-gnas sdom-pa);
- Laiengelübde (tib. dge-bsnyen sdom-pa);
- tantrische Gelübde; und
- Bodhisattva-Gelübde.
Ich weiß nicht, ob es sich dabei um dieselben Laien-Gelübde handelt, die in den fünf [tibetischen buddhistischen] Dharma-Traditionen (tib. chos-rgyud lnga) gegeben werden oder nicht. Es ist möglich, dass es verschiedene Weisen des Erteilens von Gelübden in jeder dieser [buddhistischen] Dharma-Traditionen gibt. Alle Lehrer haben ihre Art des Lehrens und alle Köche ihre Art des Kochens.
Historisch gesehen erteilte Buddha Tönpa Shenrab Miwo die Gelübde an alle [die darum baten], unabhängig davon, ob es Männer oder Frauen waren. Es gibt Gruppen von Gelübden für:
- vollkommen asketische Mönche (tib. drang-srong) [mit 250 Gelübden] und vollkommen asketische Nonnen (tib. drang-srong-ma) [mit 360 Gelübden. Beide Gruppen von Gelübden umfassen, keine Zwiebeln, Knoblauch, Fleisch oder Alkohol zu sich zu nehmen.]
- Novizen (tib. gtsang-gtsug) und Novizinnen (tib. gtsang-gtsug-ma) – [mit 25 Gelübden];
- männliche Laien (tib. dge-bsnyen) und weibliche Laien (tib. dge-bsnyen-ma) [mit 5 Gelübden]; sowie
- männliche Laien, die eintägige Gelübde einhalten (tib. bsnyen-gnas) und weibliche Laien, die eintägige Gelübde einhalten (tib. bsnyen-gnas-ma) [mit 8 Gelübden].
Heutzutage gibt es im Menri-Kloster beispielsweise etwa 80 Nonnen (tib. btsun-ma). In Tibet gibt es viele tausend Bönpo-Nonnen.
Merkmale der Bön-Tradition
Gebetsfahnen und Raum-harmonisierende Netze
Gebetsfahnen (tib. dar-lcog) werden im „Sutra über die Methoden des Erlangens höchster unvergleichlicher Brillianz“ (tib. gZi-brjid bla-med-go-’phang-sgrub-thabs-kyi mdo), im „Windgott-Tantra für die vollkommene Befreiung“ (tib. Kun-grol rlung-lha’i rgyud), im „Sutra für ein unzerstörbares, glücksverheißendes, reines Leben“ (tib. g.Yung-drung gtsang-ma’i -tshe mdo), in der „Dharani-Formel des Großen Siegreichen“ (tib. rNam-rgyal gzungs-chen), und im „Tantra des Hundert-Silben- [Mantra] (tib. Yi-ge brgya-pa’i rgyud) behandelt.
Was den Nutzen den Aufhängens von Gebetsfahnen betrifft, so heißt es im „Tantra des Hundert-Silben [-Mantra]:
Schreibt man die wunscherfüllende Essenz der Silben auf Brokat oder lediglich auf ein Tuch mit der Farbe eines kostbaren roten oder blauen Edelsteins und hängt es dann auf dem Gipfel eines Berges auf, werden die Wesen, die sich am Gras oder Wasser dieses Berges erfreuen oder es einfach mit ihren Augen sehen, die Ebene eines Buddhas erlangen. Hängt man es in der Nähe eines heiligen Berges auf, wird derjenige, der es aufgehängt hat, ohne jeden Zweifel in ein Buddhafeld gelangen. Hängt man es in der Nähe einer großen Stadt auf, werden alle Wesen, die dort wohnen, die Ebene eines Buddhas erlangen. Die Region wird nicht von Epidemien oder bösen Geistern befallen werden. Hängt man es in der Nähe eines einsamen Rückzugsortes auf, wird der spirituelle Lehrer, der dort wohnt, erfolgreich seine oder ihre konstruktiven Aktivitäten vollenden und jegliches Vernachlässigen der Pflichten reinigen.
In ähnlicher Weise heißt es im „Sutra für ein unzerstörbares, glücksverheißendes, reines Leben“:
Schreibt man diese „lebensverlängernde Dharana-Formel“, welche Hindernisse beseitigt, auf ein Stück blauen Papiers, blauen Brokats oder blauen Tuchs mit den Farben der fünf Arten von Edelsteinen – Gold, Silber, Türkis usw. – und trägt sie dann am Hals oder zeigt sie auf einem überfüllten Marktplatz, werden alle Wesen, die es sehen oder hören, ob Menschen oder Tiere, ihre Hindernisse reinigen und die Frucht, Erleuchtung, erlangen.
Obgleich es zahlreiche verschiedene [Sichtweisen] dazu gibt, in welchem Jahr, Monat, an welchem Tag und in welcher Stunde man Gebetsfahnen oder Windpferd-Fahnen (tib. rlung-rta, mit fünf aufgedruckten Tieren) aufhängen sollte, ist es meiner Meinung nach angebracht, sie am Morgen, vom 3. bis zum 16. des ersten mongolischen Monats (tib. hor-zla) gemäß dem tibetischen Kalender aufzuhängen.
Aus den Kernunterweisungen des glorreichen Shardza Tashi Gyaltsen (tib. Shar-dza bKra-bshis rgyal-mtshan) (1859–1933):
Was die Zeit des Aufhängens von Gebetsfahnen betrifft: Von den Jahren sollte es das Jahr der Ratte sein; von den mongolischen Monaten, sollte es der erste sein; von den Tagen sollte es der achte, fünfzehnte usw. sein; und was die Zeit betrifft, sollte es der Sonnenaufgang sein.
Aus dem „Sutra für die Augen der Erinnerung“ (tib. mDo gzer-mig):
Zum Wohle der wandernden fühlenden Wesen [sollte das Aufhängen von Gebetsfahnen] zu Beginn des [zwölfjährigen Tierzyklus-] Jahres, dem Jahr der Ratte, in der Mitte des Chaitya (tib. dpyid-zla) [dem ersten] der zwölf lunaren Monate, zu Beginn des Pushya (tib. rgyal), dem ersten der [siebenundzwanzig] Konstellationen, in der ersten Stunde nach Tagesanbruch, also wenn die Sonne aufgeht, stattfinden.
Kunkyen Nyima Tenzin sagte:
Alle, Ordinierte und Laien, sollten verstehen, dass sich im Allgemeinen alle konstruktiven Handlungen, die zwischen dem 1. und dem 15. des ersten mongolischen Monats [die positive Kraft dessen] um das 100.000-fache multipliziert.
Was „Namkhas“, Raum-harmonisierende Netze, betrifft (tib. nam-mkha), bieten die Textquellen für das Fahrzeug des Geistes der Weisheit der Weiterexistenz (tib. snang-gshen theg-pa) dazu [Lehren] für die großen Fadenkreuze der geheimen Weite des Raumes (tib. mkha-klong-gsang-ba’i mdos-chen). Im Allgemeinen werden Raum-harmonisierende Netze [verschiedenfarbiger Fäden als vorübergehende Aufenthaltsorte für Gottheiten während der Rituale] gefertigt, um die Körperfarben und Handsymbole der einzelnen Gottheiten entsprechend der Schriften darzustellen. Während dem großen Gebetsfest der allgemeinen Ebene (tib. spyi-rim-chen-mo) wird ein besonderes Raum-harmonisierendes Netz [in der Form des glücksverheißenden Symbols eines endlosen Knotens] gefertigt.
Felder des Wissens
In der Bönpo-Tradition zählen die so genannten „Arten der Wahrnehmung“ (tib. rig-pa) zu den Textquellen des Wissens der Grammatik (tib. sgra rig-pa) unter den fünf großen weltlichen Wissensfeldern (tib. rig-gnas chen-po lnga).
Darüber hinaus sagte Buddha Tönpa Shenrab Miwo, dass „das Wissen des Handwerks“ (tib. bzo rig-pa) präsentiert wird, weil es eine [materielle] Grundlage für die Lehren der Buddhas schafft und für die Bedürfnisse der anderen sorgt.
Das Wissen der Sanskrit-Grammatik und der gültigen Wahrnehmung (tib. tshad-ma) werden präsentiert, um jegliche kritische Abhandlungen zu vermeiden, die auf Missverständnissen und Zweifeln basieren, und dann die letztendlichen Bedeutungen korrekt darzustellen.
Das Wissen der Medizin (tib. gso rig-pa) wird präsentiert, um die Qualen der Krankheiten wandernder Wesen zu lindern, ihre Körper zu heilen und ihre Lebenskraft wiederherzustellen.
Das Wissen äußerer Phänomene (tib. phyi rig-pa) wird präsentiert, um durch astrologische Kalkulation gute und schlechte [Zeiten des Handelns] zu offenbaren und der Welt der Erscheinungen Frieden und Glück zu bringen.
Das Wissen der inneren Phänomene (tib. nang rig-pa) wird präsentiert, um Hindernisse und böse Geister mit geschickten Mitteln zu überwinden, damit die letztendlichen und gewöhnlichen Ziele im eigenen Geisteskontinuum erreicht werden.
Studiert man den Pfad des Wissen der gültigen Wahrnehmung, wird die Fähigkeit des maßgeblichen Verständnisses beim Sonnenuntergang erlangt werden. Welcher Art die Praktiken auch sind, Sutra, Tantra oder Geist: ohne den Pfad des Wissens gültiger Wahrnehmung werden sie nicht korrekt sein. Was das Darlegen der Präsentation gültiger Wahrnehmung betrifft, so gibt es in den Lehren von Sutra, Tantra und Geist jeweils eine individuelle Weise der Darlegung. So ist es.
Kalachakra
Die Bön-Tradition hat ihr eigenes „Kalachakra-Tantra“. Die Erklärung unserer eigenen traditionellen geschichtlichen Darstellung ist, dass Buddha Tönpa Shenrab Miwo das Kalachakra-Tantra mit 8000 Kapiteln im südlichen Mön-Land (tib. Mon-yul) im Palast des Königs der Region Sumto Wangchen (tib. Sum-stod dbang-chen sa-bdag rgyal-po) lehrte. Das geschah während der Zeit des ersten Drehens des Rades seiner Lehren. Ich habe jedoch keine Tradition gesehen, in der die Lehren der großen Kalachakra-Ermächtigung später vollständig oder stufenweise übertragen wurden.
Körperliche Übungen
Körperliche Übungen (tib. ’phrul-’khor) sind ausgesprochen wichtig, um auf den höheren Pfaden der Praxis Fortschritt zu machen, den Körper vor Krankheiten zu schützen und ihn zu heilen. In den Bön-Texten gibt es dazu Lehren, die in zwei Gruppen unterteilt werden. Sie werden „körperliche Übungen zum Verbessern der eigenen Praxis“ (tib. bog-’don-gyi ’phrul-’khor) und „körperliche Übungen zum Beseitigen von Hindernissen“ (tib. gegs-sel-gyi ’phrul-’khor) genannt.
Kurzum handelt es sich dabei um die Übungen der Energiekanäle und Energiewinde (tib. rtsa-rlung). Durch sie werden die Knoten in den Energiekanälen für die Energiewinde geöffnet, die Pfade der Energiekanäle werden gereinigt und die verschiedenen Krankheiten und Probleme durch Geister beseitigt. Heutzutage bezeichnen die Menschen dies als „Yoga“. In den alten Bön-Texten gibt es eine unvorstellbar große Anzahl von körperlichen Übungen, die mit den Energiekanälen und Energiewinden verbunden sind.
Abschließender Ratschlag
Es ist immer wichtig sich vorzubereiten. Bevor eine Flut kommt, muss man einen Damm bauen, und bevor Feinde kommen, muss man die Rituale zum Vertreiben der Feinde (tib. dgra-sgrub) ausführen. In dem Moment [wenn sie kommen] wird es schwierig sein, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Wacht man früh am Morgen auf, sollte der erste Gedanke folgender sein: „Welchen widrigen Umständen oder welchen Menschen ich heute auch begegne, die in mir zu Anhaftung, Wut oder Verblendung führen, ich werde mich nicht vom Verhalten der Bodhisattvas trennen“. Ist man in der Lage, die feste Verpflichtung dieses Gedankens aufrechtzuerhalten, wird das hervorragend sein.
Das Gegenmittel für Wut ist Liebe, das Gegenmittel für Neid und Eifersucht ist geistige Weite (tib. yangs-pa), das Gegenmittel für Naivität ist tiefes Gewahrsein (tib. ye-shes), das Gegenmittel für sehnsüchtiges Verlangen ist Großzügigkeit, und das Gegenmittel für Stolz und Arroganz ist das Beruhigen (tib. zhi-ba). Man sollte die feste Absicht haben, auf eine Weise zu handeln, die einen befähigt sie zu nutzen, indem man sie sich ins Geisteskontinuum einprägt und nicht nur in den Texten belässt.
Hat man solche Gedanken als wesentliches Ziel des gesamten Tages, wird er ohne jeden Zweifel konstruktiv und glücksverheißend sein. Ist man in der Lage, auf diese Weise zu praktizieren, wird jeder Monat, jedes Jahr, unser gesamtes Leben sinnvoll sein. Wir selbst werden glücklich sein, unsere Freunde werden glücklich sein, unsere Familie wird glücklich sein und das ganze Land wird zweifelsohne voller Glück sein.
Können wir die Dinge von einer breiteren Perspektive betrachten, wird das unsere Probleme ganz von selbst verringern. Bleiben wir hingegen engstirnig und voller Sorgen, werden unsere Probleme immer größer werden. Kurzum werden wir in der Lage sein, unsere Probleme zu beseitigen, wenn wir unseren Intellekt auf angemessene Weise entsprechend den Umständen nutzen können.
Abschließende Worte
Buddha Tönpa Shenrab Miwo sagte:
Legt man ein Feuer auf dem Boden, muss es in der Lage sein, die Erde zu verbrennen.
In ähnlicher Weise:
Was immer wir studieren, sollten wir vollkommen beherrschen; kommen uns dann viele Dinge in den Geist, die noch nicht erreicht sind, wird uns das nicht aus der Fassung bringen. Versuchen wir alles zu lernen, werden wir vielleicht nicht eine Sache vollenden; eignen wir uns jedoch eine Sache an, sollten wir zu dem Punkt kommen, sie vollkommen zu beherrschen.
Es wird gesagt: wenn wir etwas in unserem Leben studieren, sollte es eine Sache sein, die wir bis in ihre Tiefen verstehen können. Gibt es zu viele Dinge, an die wir denken und die wir uns einprägen müssen, wird unser Wissen zu Verwirrung führen. Müssten wir alles in einem menschlichen Leben lernen, wäre das ziemlich schwierig. All das bezieht sich auf die Aussage: „Wenn man sich [auch nur] eine grundlegende Sache aneignet, ist man ein gebildeter Mensch“.
Ist jemand, der eine Dharma-Lehre gibt, vollkommen qualifiziert, diese Lehre zu geben, ist es in Ordnung, an dem Unterricht dieser Person teilzunehmen. Doch heutzutage gibt es viele Leute, die Dharma-Lehren geben und die nicht qualifiziert dafür sind. Ist die Person, welche die Dharma-Lehre gibt, ein Heuchler und ist die Umgebung, in der sie gegeben wird, nach konventionellen Standards ein Schwindel, wird es keinen großen Nutzen haben.