Überblick
Wir haben darüber gesprochen, dass wir im Buddhismus mit dem Begriff „ Geist“ eine Aktivität meinen, die pausenlos fortläuft, ohne Anfang und Ende. Es ist die geistige Aktivität des Erlebens bzw. der Erfahrung von etwas, ein individuelles, subjektives Erleben von Dingen. Wir sprechen hier nicht über Erfahrungen als Ereignisse, die sich, eines nach dem anderen, anhäufen. Wir sprechen auch nicht von Erfahrung als emotionales Ereignis, wie wenn wir sagen: „Ich habe gestern eine tolle Erfahrung gemacht“. Die Erfahrung muss auch nicht bewusst ablaufen. Wenn wir etwa schlafen, ist es uns üblicherweise nicht bewusst, dass wir schlafen – und doch erleben wir den Schlaf. Etwas geschieht: das ist es, worum es hier geht. Sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen und denken – all dies sind Arten, etwas zu erleben. Schlafen, träumen, geboren werden und sterben sind alles Instanzen des Erlebens. Selbst wenn wir uns im Koma befinden, erleben wir immer noch etwas – das Koma.
Dieses Erleben von etwas ist individuell und subjektiv. Wenn ich mir denselben Film ansehe wie ihr, unterscheidet sich mein Erleben des Filmes von eurem. Unser Erleben besitzt ungebrochene Kontinuität, die im Moment der Empfängnis nicht einfach aus dem Nichts auftaucht und zum Zeitpunkt des Todes nicht endet, ohne einen weiteren Moment der Kontinuität zu haben. Die Behauptung, dass ein Nichts zum Erleben von etwas werden kann oder dass das Erleben von etwas zu einem Nichts werden kann, ergibt absolut keinen Sinn. Dies lässt uns schließen, dass dieses subjektive, individuelle Erleben weder einen Anfang noch ein Ende hat. Und dies bedeutet, dass es eine Kontinuität von Leben gibt: die Wiedergeburt.
Unser Erleben kann mit Verwirrung vermischt oder aber frei von ihr sein. Wenn es mit Verwirrung vermischt ist, dann erleben wir Samsara, den Kreislauf unkontrollierbar sich wiederholender Wiedergeburt. Unser Erleben ist mit unterschiedlichen Arten von Problemen angefüllt. Wenn unser Erleben frei von Unwissenheit ist, sind wir aus Samsara befreit. Sind wir derart frei davon, dass sie nie wieder auftaucht, geht die Kontinuität unseres Erlebens von etwas immer noch von Leben zu Leben weiter, doch es steht nicht mehr unter der Kontrolle der Unwissenheit. Wenn wir auf die Erleuchtung hinarbeiten oder bereits erleuchtet sind, wird die Kontinuität unseres Erlebens vom Mitgefühl angetrieben. Die treibende Kraft dafür, die Dinge weiter in Samsara zu erleben, ist der Drang zu versuchen, ein scheinbar solides „Ich“ zu schaffen und abzusichern. Wir wollen weiterleben und wenn wir frei von Verwirrung sind, besteht treibende Kraft, die uns zum weiterleben antreibt, in dem Wunsch anderen helfen zu können.
Die Unwissenheit, die das erste Glied des abhängigen Entstehens darstellt, ist die Unwissenheit darüber, wie wir und die anderen existieren – in erster Linie geht es darum, wie wir existieren. Es fühlt sich so an, als würden wir als ein solides, festes „Ich“ existieren. Aber wir sind uns nicht wirklich bewusst darüber, dass dies nur eine Erscheinung oder ein Gefühl ist, das nicht der Realität entspricht. Oder wir denken, es würde der Realität entsprechen und diese Unwissenheit verwirrt uns. Unser Geist hat keine klare Vorstellung davon, wie wir existieren, so dass wir uns unserer selbst nicht sicher und unentschlossen sind. Da wir uns in Bezug auf uns selbst nicht sicher sind, halten wir uns stur an allem fest, wofür wir uns entschieden haben, um irgendwie sicher zu sein. Da wir unsicher darüber sind, wie wir existieren, und meinen ein festes „Ich“ zu sein, möchten wir dieses imaginäre solide „Ich“ absichern. Tatsächlich wird unser ganzes Leben von dem Zwang angetrieben, diesem soliden „ Ich“ eine Sicherheit zu geben und dieser Zwang ist zum Zeitpunkt des Todes am stärksten. Wir sehnen uns verzweifelt danach, dass das solide „Ich“ weiter existiert, egal was passiert. Dies ist die treibende Kraft, die uns zu weiteren Wiedergeburten führt, in denen wir weiterhin voller Unwissenheit darüber sind, wie wir existieren.
Wir haben gestern gesehen, dass diese Verwirrung über unsere Existenzweise zwei Ebenen hat. Es gibt die doktrinär bedingte Unwissenheit und die automatisch entstehende Unwissenheit. Die doktrinär bedingte Unwissenheit ist etwas, das wir lernen. Ihre authentische Form erwerben wir, indem wir die Konzepte einer der nichtbuddhistischen indischen Lehrsystemen gelernt und akzeptiert haben. Eine analoge Form kann entstehen, indem wir durch unsere Familien, Gesellschaft, Fernsehen, verschiedene Ideologien, Propaganda, Werbung usw. konditioniert werden. Diese Konditionierung lässt tief verwurzelte Neurosen entstehen. Die automatisch entstehende Unwissenheit dagegen braucht uns niemand beizubringen und niemand muss uns beeinflussen, damit wir sie annehmen. Alle verfügen jederzeit einfach aufgrund der begrenzten Weise, in der unsere geistige Aktivität die Dinge erscheinen lässt, darüber. Dadurch scheint es, als würden wir als ein solides „Ich“ (das so genannte falsche „Ich“) existieren und es fühlt sich auch tatsächlich so an.
Wir haben Folgendes festgestellt: wenn wir dieses Gefühl eines soliden „Ichs“ beschreiben wollten, dann würden wir ihm drei Eigenschaften zusprechen. Das oberflächliche Gefühl darüber, wie wir existieren ist das Gefühl, dass es ein solides „Ich“ gibt, das von den Ereignissen unbeeinflusst bleibt, das immer gleichbleibend ist und das als eine Entität existiert, die von unseren Erfahrungen getrennt ist. Aufbauend auf diesen drei Eigenschaften gibt es noch eine subtilere. Diese subtile Form der Unwissenheit wird oft in stark vereinfachender Weise erklärt, obwohl ihre tatsächliche Bedeutung viel tiefgreifender und komplexer ist. Wir glauben, dass diese Form des „Ichs“ der Boss ist, der kontrolliert was geschieht. Es ist der Beobachter, der Entscheidungsfäller, der Kontrollierende, der die Kontrolle behalten muss, da sonst alles außer Kontrolle gerät.
Wir haben einige Beispiele betrachtet, die die Unwissenheit über unsere Existenzweise illustrieren. Was die doktrinär bedingte Unwissenheit betrifft, so wird uns beispielsweise gesagt – und wir glauben das dann auch – „Sei einfach Du selbst. Sei dir selbst treu“ . Das macht völlig Sinn für uns. „Man selbst zu sein“ bedeutet, unbeeinflusst und getrennt von jeglicher Situation zu sein. Gleichermaßen wird uns geraten, „einzigartig zu sein“ und „uns selbst zu finden“ – ein Selbst, das immer gleich sein wird, egal was passiert.
Diese drei Aspekte überschneiden sich. Wir haben das Gefühl: „Ich bin getrennt von meiner Erfahrung; doch wenn ich Erfahrungen mache, muss ich ,ich selbst‘ sein, einzigartig und immer gleich“. Diese Form des soliden „Ichs“ muss alles unter Kontrolle haben. Man sagt uns: „kontrolliere dich“, „lass niemanden auf dir rumtrampeln“, „beherrsch dich“. All diese Dinge sind tief in uns verwurzelt. Wir sagen „Ich muss mich vor Verletzungen schützen“, als ob es an einer Stelle in uns eine kleine Entität gäbe und an einer anderen Stelle eine andere, welche die erste vor Verletzungen schützen müsste. Wenn wir es genauer betrachten, können wir erkennen, dass dies die Quelle für Selbstbezogenheit, Sorge, Nervosität usw. ist. All das potenziert sich durch diese Unwissenheit. Wir denken: „Ich muss ein gutes Schauspiel abliefern, denn wenn ich das nicht tue, werden sie mein wahres ,Ich‘ sehen“. Diese Annahme basiert auf dem Glauben, dass es ein wahres „Ich“ gibt. Oder wir denken: „Du sagst, du liebst mich, aber du kennst mein wahres ,Ich‘ nicht, denn dann würdest du mich nicht lieben“. Und deshalb haben wir dann Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass uns jemand liebt. Oft ist es doch so, dass wir von der Arbeit nach Hause kommen, die Schuhe ausziehen und denken „Ah, jetzt kann ich endlich ,ich selbst‘ sein“. Das ist ziemlich merkwürdig, nicht wahr?
Das Gegenteil davon ist es, die Dinge von Augenblick zu Augenblick zu erleben, während wir uns unserer Motivation und dem bewusst sind, was in anderen Menschen vor sich geht, und voller Mitgefühl schädliches Verhalten zu unterlassen. Wir handeln einfach, kommunizieren, setzen uns mit Dingen auseinander, fühlen Emotionen und erleben etwas von Augenblick zu Augenblick, ohne uns übermäßig unserer Selbst bewusst zu sein und ohne dem bloßen Erleben noch etwas hinzuzufügen.
Das Problem ist, dass es sich für uns so anfühlt, als gäbe es in unserem Erleben ein solides „Ich“. Dies ist die automatisch entstehende Unwissenheit. Es erscheint ganz automatisch so, als gäbe es ein solides „Ich“, das von den Ereignissen unbeeinflusst bleibt. Wir essen ein riesiges Stück Schokoladenkuchen und da wir im nächsten Moment nicht dick werden, sagen wir: „Es hat mich nicht beeinflusst. Mich beeinflusst gar nichts“. „Ich habe mir selbst wehgetan, doch hier bin ich. Es hat mich nicht wirklich beeinflusst“. Wir gehen schlafen und wenn wir morgens aufwachen, fühlt es sich so an, als wären wir wieder da, dasselbe „Ich“, das immer gleich ist.
Es fühlt sich so an, als wären wir getrennt von dem, was uns passiert, weil wir uns von unseren Erfahrungen distanzieren können. Ich erinnere mich, wie ich einmal auf einem Betonweg stürzte und mir meine Rippen brach. Damals habe ich ganz deutlich ein von der Erfahrung getrenntes „Ich“ erlebt, das nichts damit zu tun haben wollte. Wenn unser Partner anfängt zu weinen oder zu schreien, dann distanzieren wir uns oft vollständig davon. Es fühlt sich tatsächlich so an, als gäbe es ein abgetrenntes „Ich“, das das, was vor sich geht, nicht erleben möchte. Am Morgen nach einer durchzechten Nacht sagen wir: „Ich war gestern Nacht nicht ich selbst“. Auch sagen wir manchmal ganz automatisch: „Ich fühle mich heute nicht so gut. Ich bin heute nicht ganz bei mir“. Und die ganze Zeit ist da diese leise Stimme in unserem Kopf. Es fühlt sich so an, als wäre dies die Stimme dieses soliden, kontrollierenden „Ichs“, das ganz offensichtlich getrennt vom Geschehen ist, da es dieses immer kommentiert. Diese Stimme in unserem Kopf macht das Phänomen der Sorge sogar noch konkreter. Sie verstärkt unsere Verwirrung. Sie ist automatisch da und wir mussten nicht lernen, wie es funktioniert.
Das ist das Schreckliche am Samsara: diese Unwissenheit darüber, wie wir existieren, pflanzt sich selbst immer weiter fort, wegen des automatisch entstehenden Mechanismus, der sie bestärkt. Je mehr wie verstehen, was vor sich geht, desto angewiderter werden wir. Es ist so, wie wenn man denkt, dass unsere berufliche Situation im Büro okay ist, nur um dann herauszufinden, dass der Chef nicht ehrlich war. Wenn wir den Betrug entdecken, sind wir angewidert. Wir entwickeln die Entschlossenheit, frei davon zu sein. Dies wird üblicherweise „Entsagung“ genannt. Es ist die Entschlossenheit, sich aus Samsara zu befreien, und der starke Wille, es aufzugeben.
Mit „Dharma light“ denken wir „Ich will frei sein“, aber wir glauben, nichts aufgeben zu müssen. Dharma light ist wie Cola light: köstlich, aber nicht „das Echte“. Dharma light ist völlig in Ordnung. Es kann nützlich sein, doch müssen wir noch weiter gehen. Um aus unseren Problemen herauszukommen, müssen wir sie aufgeben. Wir müssen die Unwissenheit, die die Probleme verursacht, und die Muster und Angewohnheiten, die unsere Unwissenheit bestärken, aufgeben.
Genauere Analyse des Gliedes der Unwissenheit
Wenn wir dieses erste Glied genauer betrachten, stellen wir fest, dass wir uns auf das konventionelle „Ich“ konzentrieren und es falsch begreifen: als ob es als falsches „Ich“ existieren würde – getrennt, unbeeinflusst, immer ein und dasselbe, der Boss. Es ist wie das Kind, das ein Geräusch der Katze unter dem Bett hört und glaubt, dass es sich hierbei um das Geräusch eines Monsters handelt. Das Kind glaubt tatsächlich, dass da ein Monster unter dem Bett ist und ist entsprechend verängstigt. Es ist nicht alles nur imaginär, sondern es gibt eine Basis hierfür. Da ist tatsächlich eine Katze unter dem Bett, und genauso haben wir ein konventionelles „Ich“ – doch die Art, wie wir es wahrnehmen und wie es sich für uns anfühlt, entspricht nicht der Art und Weise, wie es tatsächlich existiert.
Das konventionelle „Ich“ ist, in einfachen Worten, eine Abstraktion. Alles was geschieht, ist das von Augenblick zu Augenblick individuelle, subjektive Erleben des Aufwachens, des Zähneputzens, des Frühstückens usw. Wollten wir all diese Augenblicke zusammenfügen und sie als etwas bezeichnen, so würden wir sie als „Ich“ bezeichnen. Aber dieses konventionelle „Ich“ ist nichts Solides, es ist bloß eine Abstraktion der Gesamtheit aller Momente unseres Erlebens. Es ist, in Fachbegriffen ausgedrückt, eine Zuschreibung, mit der die ungebrochene Kontinuität der Momente unserer individuellen, subjektiven geistigen Aktivität geistig bezeichnet wird.
Was ist beispielsweise eine Linie auf einem Computermonitor? Eine Linie ist etwas solide Erscheinendes, doch wenn man es genauer betrachtet, handelt es sich nur um eine Reihe von zusammengefügten Punkten oder Pixel. Eine Linie ist nur eine Abstraktion, mit der man sich auf eine Reihe von Punkten bezieht. Sie existiert nicht wirklich als eine solide Linie. Genauso ist es mit unserem Erleben. Jeder Moment ist wie ein Punkt, den wir mit anderen Momenten zusammenfassen und „ Ich“ und „mein Leben“ nennen. Es scheint wie die Linie auf einem Computermonitor etwas Solides zu sein, doch das ist es nicht. Die Linie existiert, aber sie existiert nicht als etwas Solides und Unabhängiges von der Reihe von Punkten. Ebenso existieren wir; doch wir existieren nicht als etwas Solides und Abgetrenntes von der Reihe von Momenten unserer Erfahrungen. Man braucht sehr lange, um das wirklich zu verdauen. Es ist wirklich wichtig, dass wir anfangen, daran zu arbeiten.
In jedem Moment unseres Lebens nehmen wir das konventionelle „ Ich“ wahr, das nicht solide ist, und begreifen es als etwas Solides. Damit beginnen unsere Probleme: wir konzentrieren uns auf das existierende „Ich“, das aber lediglich eine Abstraktion ist, und das doch nicht auf diese Art zu existieren scheint. Die Unwissenheit und die Verwirrung, die jeden Moment unserer geistigen Aktivität begleitet, lassen es als etwas Solides erscheinen. Wie nehmen es als solches wahr und glauben, dass es in Wirklichkeit als etwas Solides existiert. Das verwirrt uns sogar noch mehr und wir fühlen uns deshalb nicht sicher.
Verblendete Auffassung von einem vergänglichen Netzwerk
Dann entsteht eine ganz grundlegende störende Geisteshaltung und begleitet unser Erleben von Dingen. In der Fachsprache wird es eine „verblendete Auffassung von einem vergänglichen Netzwerk“ (tib. ‘jig-lta) genannt. Diese Geisteshaltung zielt auf unser Erleben ab. Insbesondere zielt sie auf eine bestimmte Konfiguration der fünf Aggregate ab, die jeden Moment unseres Erlebens bilden, und betrachtet sie als das solide, falsche „Ich“. In einfachen Worten geht es um die irreführende Geisteshaltung, durch die wir uns auf solide Art und Weise mit einem bestimmten Moment in unserem Erleben identifizieren, ob es nun um eine Stimmung, einen Vorfall oder was auch immer geht. Anders als die Unwissenheit darüber, wie ein Mensch existiert, die sich als Verwirrung darüber, wie wir oder andere existieren, manifestieren kann, betrifft die verblendete Auffassung gegenüber einem vergänglichen Netzwerk nur die Frage, wie wir existieren.
„Vergänglich“ bedeutet, dass sich der Inhalt unseres Erlebens ständig verändert: unser Erleben besteht aus vielen, sich wandelnden Teilen. Durch die verblendete Auffassung betrachten wir die Konfiguration der Teile, die aus einer Erfahrung bestehen, und nehmen an, dass sie eine solide Identität für das solide „Ich“ konstituiert. Wir tun dies nicht nur mit jeglicher Konfiguration von Elementen, die unsere Erfahrung ausmachen. Wir ersetzen auch im Verlauf eines Tages eine Selbstidentität mit einer anderen. Manchmal identifizieren wir uns mit etwas, das nur wenige Momente andauert, wie beispielsweise wenn wir den Klang der Worte einer Beleidigung hören. Wir fühlen uns beleidigt und, während wir uns mit diesem Erleben identifizieren, fühlen wir „Du hast ,mich‘ gerade beleidigt“. Wir identifizieren uns vielleicht auch mit etwas, das wir über einen langen Zeitraum hinweg erleben, wie beispielsweise das jung oder alt zu sein, ein Mann oder eine Frau zu sein, verheiratet oder allein zu sein.
Die verblendete Auffassung von einem vergänglichen Netzwerk hat zwei Aspekte, die oft übersetzt werden als das, was unsere Erfahrungen im Sinne von „ich“ und „mein“ betreffen. Basierend auf dem Gefühl und dem Glauben, dass wir als ein solides „Ich“ existieren, identifizieren wir uns manchmal nicht nur mit dem, was wir als „Ich“ erleben, sondern auch manchmal als das, was wir als den Besitz dieses soliden „Ichs“ erleben. So sagen wir: das ist „meins“. Beispielsweise glauben wir vielleicht nicht nur, dass wir als jemand existieren, der sexy ist; wir glauben vielleicht auch, dass unser Körper der Besitz dieses sexy „Ichs“ ist. Da es jetzt Objekte gibt, die es besitzt, kontrolliert und die es gebrauchen kann, wie es möchte, stellt dies eine weitere Verfestigung unseres so genannten falschen „Ichs“ dar. Im Fall des Körpers bedeutet es, dass es einen Ort gibt, wo das solide „Ich“ lebt. Oder wir erleben die Geburt von Kindern und basieren unsere Identität auf unser Elternsein. Dann glauben wir: „meine Kinder gehören mir“, als wären sie unser Besitz, und als könnten wir sie kontrollieren.
Entsprechend der Gelug-Prasangika-Interpretation konzentriert sich die verblendete Auffassung von einem vergänglichen Netzwerk eher auf das konventionelle „Ich“ als auf die Aggregate. Das konventionelle „Ich“ ist, wie die Aggregate, auch vergänglich und ein Netzwerk, das aus vielen Momenten und Facetten besteht. Mit dieser verblendeten Auffassung betrachten wir das konventionell existierende „Ich“ entweder als ein solides „Ich“, das die solide Identität der Aggregate hat, oder als einen soliden Besitzer, dem die Aggregate gehören.
Weitere störende Emotionen und Geisteshaltungen
Haben wir einmal angefangen, das „Ich“ als eine solide Identität und als soliden Besitzer der Dinge zu betrachten und diese auf solide Art und Weise als „meine“ anzusehen, entwickeln wir viele weitere störende Emotionen und Geisteshaltungen. Sie motivieren uns, unsere Identitäten festzustellen und diese Identitäten zu beweisen, da die begleitende Unwissenheit uns immer noch verunsichert. Oft verläuft dieser Prozess vollkommen unbewusst. Wir denken beispielsweise unbewusst: „Ich bin eine Mutter. Ich besitze diese Kinder, sie gehören ,mir‘. Sie müssen mir Aufmerksamkeit schenken und mir gegenüber gehorsam sein. Da es ,meine‘ sind, müssen sie so sein, wie ich sie mir wünsche und erst dann bin ich eine gute Mutter. Ich muss meine Identität als Elternteil verteidigen, indem ich ihnen sage, was sie zu tun haben. Andernfalls habe ich als Mutter oder Vater nicht die Kontrolle. Darin besteht meine ganze Identität.“
Anhaftung oder Gier bedeutet, etwas, wie beispielsweise Gehorsam, zu bekommen, von dem wir uns erhoffen, dass er unsere soliden Identitäten als Eltern stärken wird. Wir werden ärgerlich und versuchen alles, was unsere solide Identität als Eltern möglicherweise bedroht, z.B. Ungehorsam, loszuwerden. Wenn wir richtig wütend sind, schlagen wir vielleicht unsere Kinder, weil ihr Ungehorsam so bedrohlich ist.
All dies tritt gemeinsam mit der störenden Emotion auf, die ich gerne mit „Naivität“ übersetze (tib. gti-mug, Skt. moha). Naivität ist eine Unterkategorie der Unwissenheit. Die Unwissenheit kann jeden beliebigen Moment des Erlebens begleiten, während die Naivität jene Unwissenheit ist, die nur Augenblicke destruktiven Verhaltens begleitet – destruktives Denken, Sprechen oder Handeln. Naivität ist vielleicht nicht die beste Übersetzung für diesen Ausdruck, aber mir ist bis jetzt noch keine bessere in den Sinn gekommen. Früher habe ich den Begriff mit „Engstirnigkeit“ übersetzt, aber Engstirnigkeit betont nur den Aspekt der Sturheit im Unwissen. „Naivität“ ist ein weitreichenderer Begriff, bei dem es auch um Unschuld geht, was was sehr passend ist, da dem Buddhismus das Konzept fremd ist, in Bezug auf destruktive Handlungen schlecht oder schuldig zu sein.
So wie die Unwissenheit, kann auch die Naivität verhaltensbedingte Ursachen und Wirkungen betreffen und die Art, wie wir, andere und alles existieren. In unserem Beispiel sind wir naiv, weil wir denken ein Elternteil zu sein, dem Gehorsam geschenkt werden muss. Wir glauben, unser Selbstwertgefühl entstehe aus unserem Elternsein. Wir sind naiv in Bezug auf das Kind und in Bezug auf die Auswirkungen unseres Verhaltens, wenn wir beispielsweise glauben, dass das Schlagen des Kindes es dazu bringt, uns zu gehorchen. Diesem ganzen Szenario liegt die Naivität zugrunde zu glauben, dass der Wert eines soliden „Ichs“ nur an dem gemessen werden kann, wie das Kind, das man besitzt, handelt.
Hier ein weiteres Beispiel: Wir sehen, wie unser Kind vor dem Fernseher sitzt. Eine störende Geisteshaltung kommt hoch, mit der wir denken: „Von mir wird erwartet, dass ich Vater oder Mutter bin und ein erfolgreiches Kind habe. Dieses Kind ist mein Besitz, es gehört „mir“, und meine Identität ist abhängig davon, ob ich als Mutter oder Vater erfolgreich bin. Ich muss das Kind davon abbringen, ungehorsam zu sein und muss es dazu bringen, mir zu gehorchen, damit ich mir sicher darüber sein kann, wer ich bin.“ Diese Gedanken können bewusst oder unbewusst ablaufen. Meisten sind sie unbewusst.
Dann taucht der Drang auf, dem Kind etwas zu sagen. Mit Anhaftung daran, es dazu zu bringen, uns zu gehorchen, müssen wir es anweisen, etwas zu tun, selbst wenn es nichts zu tun gibt: „Hör auf fernzusehen und schenk mir Aufmerksamkeit!“. Es könnte auch Ärger mitschwingen: „Was tust du da, du fauler Kerl! Besorg dir einen Job und heirate (um mir Sicherheit zu geben, denn meine Freunde fragen mich, warum mein Kind noch nicht verheiratet ist)“. Wenn das Gefühl, und dann der Drang etwas zu sagen, hochkommt, leben wir ihn aus. Entweder sagen wir etwas Grobes oder wir gehen zu dem Kind und schlagen es, weil wir das, was es tut, als etwas Bedrohliches erleben. Zusätzlich sind wir auch noch naiv darüber, wie das Kind darauf reagieren wird.
Zusammenfassung
Das erste Glied ist die Unwissenheit darüber, wie wir und andere existieren. Wir glauben, dass wir als ein solides „Ich“, und andere als ein solides „Du“ existieren. Diese Unwissenheit ist sowohl doktrinär bedingt als auch automatisch entstehend. Sie entsteht automatisch, da es sich so anfühlt, als gäbe es hier ein solides „Ich“ und da draußen ein solides „Du“.
Das läuft auf verschiedenen Ebenen ab. Zunächst ist da das Gefühl eines soliden „Ichs“ und eines soliden „Dus“. Dann gibt es die verblendete Auffassung von einem vergänglichen Netzwerk, mit der wir, basierend auf dem was wir erleben, dem soliden „Ich“ eine solide Identität geben. Auf Grundlage dieser störenden Geisteshaltung, dieser verdrehten Art, die Dinge zu sehen, wird unsere Verwirrung immer stärker. Dies führt zu störenden Emotionen und Geisteshaltungen. Deshalb glaubt man, auf bestimmte Weise denken, sprechen oder handeln zu müssen, dem dann der Drang folgt, dies auch zu tun. Wir leben diesen Drang dann in einem Energieimpuls aus, in dem wir dann tatsächlich etwas sagen oder tun. Das fördert den gesamten Samsara-Prozess und führt uns zum zweiten Glied des abhängigen Entstehens.
Es ist nötig zu erkennen, dass der gesamte Prozess in Form unserer störenden Geisteshaltungen abläuft – in erster Linie gegenüber uns selbst. Wir müssen auch erkennen, dass andere Menschen dieselbe Unwissenheit besitzen wie wir. Wir sind nicht einzigartig. Außerdem verläuft dieser Prozess meistens unbewusst. Wir wissen noch nicht einmal, dass wir diese tief verwurzelten, störenden Geisteshaltungen haben und auch andere Menschen wissen nicht, dass sie sie besitzen.
Der erste Schritt besteht darin, sich darüber bewusst zu werden, was vor sich geht. Gestern sprachen wir darüber, selbst-gewahr zu werden. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt, wenn man im Dharma eine sichere Richtung einschlagen und Zuflucht finden möchte. Um die Ursache unserer Probleme zu erkennen und um die Schuld nicht bei anderen zu suchen, müssen wir nach innen schauen und sehen, was vor sich geht. Wir neigen dazu, andere für unsere Probleme verantwortlich zu machen, doch wie das Sprichwort schon sagt: „dafür braucht es immer zwei“.
Wenn uns jemand ein Geschenk gibt und wir es nicht annehmen, wem gehört es dann? Und wenn wir jemandem etwas schenken und es wird nicht angenommen, wem gehört es? Wenn uns jemand mit allem möglichen Müll, mit seinen störenden Emotionen und Geisteshaltungen bewirft und wir fangen alles mit einem großen Fanghandschuh auf, dann nehmen wir doch daran teil, oder? Wir haben den Müll angenommen und denken: „Ja, ich bin eine schlechte Mutter bzw. Vater“. In schwierigen Beziehungen mit anderen ist es wichtig zu beachten, dass beide Seiten beteiligt sind. Es ist sehr schwierig, die andere Person davon abzuhalten, uns mit ihrem Müll zu bewerfen. Doch wenn wir diesen nicht annehmen und wenn wir wissen, dass er aus einer tief verwurzelten Unwissenheit in der anderen Person herrührt, können wir damit auf eine emotional reife Weise umgehen.
Das ist eine heikle Angelegenheit. Wir sitzen ruhig vor dem Fernseher und unser Vater kommt rein und wirft uns einen bösen Blick zu, der sagen will: „steh auf und tu etwas Sinnvolles!“. Vielleicht fangen wir an, uns schuldig zu fühlen. Mit ein bisschen Verständnis würden wir erkennen, dass es keinen Grund dafür gibt, sich schuldig zu fühlen. Selbst wenn wir uns schuldig fühlten, würden wir nicht glauben, dass wir wirklich eine schlechte Person sind. Es braucht viel Zeit, zu erreichen, dass die Schuldgefühle aufhören, automatisch zu entstehen. Sie sind psychisch tief verwurzelt und entstehen automatisch. Dann müssen wir aufpassen, nicht naiv zu sein und die Realität dessen zu leugnen, was unsere Eltern fühlen und dass wir etwas damit zu tun haben. Wir können in eine andere Dimension der Verwirrung gelangen, wenn wir uns damit identifizieren, dass alles gerade wunderbar ist und dann wütend werden, weil unser Vater dies zerstört.
Wir müssen einfühlsam sein, um das, was der Vater fühlt, zu verstehen. Abgesehen davon nicht anzunehmen, dass wir schuldig und schlecht sind, könnten wir auf eine Weise reagieren, die unserem Vater helfen würde. Wir sollten uns selbst gründlich prüfen: „Was mache ich hier vor dem Fernseher? Bin ich tatsächlich gerade faul?“. Wenn wir tatsächlich gerade einfach faul sind und unsere Zeit verplempern, dann sollten wir auch reif genug sein, das auch vor unseren Eltern zuzugeben. Oder wir können so reif sein und erklären, dass wir den ganzen Tag viel gelernt oder hart gearbeitet haben und nun eine Pause machen. Wir müssen die andere Person und ihre Gefühle ernst nehmen und auf eine reife Weise reagieren, auf eine Art, die sowohl auf die andere Person, als auch auf uns selbst Rücksicht nimmt. Dies nennt man, mit „geschickten Mitteln“ zu handeln.
Auch ist es notwendig, gefühlvoll zu reagieren. Ich erinnere mich, wie ich nach meinen ersten zwei Jahren in Indien zurück in die USA kam, um meine Familie zu besuchen. Meine Schwester sagte zu mir: „ Du bist so ruhig, dass ich kotzen könnte!“, denn ich hatte keine intensive emotionale Reaktion auf das, was geschah, gezeigt. Wenn man den buddhistischen Weg geht, gilt es insbesondere in Bezug auf das Ruhiger-Werden darauf zu achten, nicht so ruhig zu werden, dass wir auf andere in einer unpersönlichen Art reagieren.
Unsere Selbstreflexion betrifft nicht nur unsere Motivationen und Emotionen. Wir müssen tiefer und tiefer gehen, um unsere grundlegende Unwissenheit darüber, wie wir existieren, aufzudecken. Sie ist die Basis, auf der jegliche weitere Verwirrung entsteht. Wenn wir diese automatisch entstehende Unwissenheit bereinigen können, wird all die andere Verwirrung nicht mehr weiter nachfolgen. So wie der große indische Meister Shantideva sagte: „Wenn du das Ziel nicht klar erkennst, kannst du auch nicht ins Schwarze treffen“. Auch wenn es ein kleiner Schock sein mag, die Unwissenheit aufzudecken, so ist es doch ein notwendiger erster Schritt, um daran zu arbeiten, sie loszuwerden. Wir sollten nicht erwarten, dass unsere Unwissenheit sofort verschwindet. Wir können auf Anregungen und Richtlinien für das hoffen, wonach wir Ausschau halten müssen, wenn wir uns in den Prozess der Selbstreflexion begeben.
Lasst uns einige Minuten innehalten, um über das, worüber wir gesprochen haben, nachzudenken. Versteht es bitte nicht nur als eine Art theoretisches System. Versucht es vielmehr mit eurer persönlichen Erfahrung zu verbinden. Ich denke, wir alle sind in der Lage, diese Unwissenheit und unsere Verhaltensmuster zu erkennen. Wir müssen deshalb nicht deprimiert sein, denn dies bedeutet nur, dass wir das Ziel erkennen. Während wir damit immer vertrauter werden, beginnen wir zu erkennen, wie es die ganze Zeit in uns und in anderen arbeitet.
Das zweite Glied: Beeinflussende Impulse
Dies führt uns zum zweiten Glied des abhängigen Entstehens, das ich „beeinflussende Impulse“ nenne (tib. ‘du-byed, Skt. samskara). Es wird manchmal mit „karmische Formationen“ übersetzt, was sich auf einen karmischen Impuls bezieht – insbesondere auf ein werfendes Karma (tib. ‘phen-byed-kyi las) – welcher das Bewusstsein beeinflussen wird, sich auf weitere Leben einzulassen.
Innerhalb der indischen buddhistischen Lehrsysteme gibt es zwei grundlegende Erklärungen in Bezug auf das Karma und in jeder wird das zweite Glied etwas anders dargestellt. Eine Erklärung stammt aus dem Vaibhashika-System und wird auch vom Sautrantika-Svatantrika-Zweig des Madhyamaka, sowie vom Prasangika-Zweig vertreten. Im Sautrantika, Chittamatra und dem Yogachara-Svatantrika-Zweig des Madhyamaka vertritt man hingegen eine zweite Interpretation. Da es sich hierbei um ein weniger kompliziertes System handelt, werden wir uns dieses zuerst ansehen.
Die Erklärung im Sautrantika, Chittamatra und Yogachara-Svatantrika
Gemäß der Sichtweise, die man sich, mit nur kleinen Abweichungen, in den Lehrsystemen des Sautrantika, Chittamatra und des Yogachara-Svatantrika teilt, ist Karma ausschließlich ein Geistesfaktor. Es ist der geistige Drang (tib. sems-pa), der das Bewusstsein und begleitende Geistesfaktoren beeinflusst, sich auf ein Objekt als Fokus mit dem begleitenden Geistesfaktoren der Absicht (tib. ‘dun-pa), also dem Wunsch etwas gegenüber dem Objekt zu denken, zu sagen oder zu tun, zuzubewegen. Es findet unmittelbar vor dem Ausführen dieser Handlung statt und bringt uns dazu, diese Handlung einzuleiten, weiterzuführen und schließlich zu beenden. Der Drang kann sich auf eine Handlung des Geistes, des Körpers oder der Rede beziehen. Karma ist jedoch nie die Handlung selbst und daher sollten wir Karma als einen „karmischen Impuls“ bezeichnen.
Wenn eine starke störende Emotion oder Geisteshaltung den karmischen Impuls vor oder während einer Handlung begleitet, wird dieser Impuls zu einem werfenden Karma. Grob gesagt hat er dann die Kraft, unser geistiges Kontinuum in zukünftige Wiedergeburten in spezifische Wiedergeburtszustände zu werfen. Ansonsten ist er ein vervollständigendes Karma (tib. rdzogs-byed-kyi las), welches lediglich die Kraft hat, die Bedingungen und Details dieser Wiedergeburt zu vervollständigen. Das zweite Glied des abhängigen Entstehens, die beeinflussenden Impulse, bezieht sich nur auf werfende karmische Impulse. Obwohl karmische Impulse in Übereinstimmung mit den störenden Emotion oder Geisteshaltungen, die sie begleiten, konstruktiv, destruktiv oder unspezifisch – also von Buddha als weder konstruktiv noch destruktiv spezifiziert – sein können, ist werfendes Karma ausschließlich entweder konstruktiv oder destruktiv.
Die Erklärung im Vaibhashika, Sautrantika-Svatantrika und Prasangika
Laut den Systemen des Vaibhashika, Sautrantika-Svatantrika und Prasangika ist die obige Erklärung in Bezug auf Karma nur gültig für karmische Impulse von Handlungen des Geistes. Sie stimmen darin überein, dass ein geistiger Drang, zusammen mit der Absicht etwas gegenüber dem Objekt zu denken, zu tun oder zu sagen, das Bewusstsein und die begleitenden Geistesfaktoren zum Objekt hinzieht. Der eigentliche karmische Impuls für Handlungen des Körpers oder der Rede sind jedoch zwei Arten von Formen physischer Phänomene, und nicht der geistige Faktor des Dranges, der sie hervorruft. Sie werden als „offenbarende Formen“ (tib. rnam-par rig-byed-kyi gzugs) und „nichtoffenbarende Formen“ (tib. rnam-par rig-byed ma-yin-pa‘i gzugs) bezeichnet. Erstere offenbart die motivierende Emotion, durch die sie hervorgerufen werden, während die Zweite dies nicht tut. Der Unterschied zwischen dem werfenden und dem vervollständigendem Karma gleicht dem des vorangegangenen, weniger komplexen Systems. Unterschieden wird abhängig von der Stärke der störenden Emotion oder Geisteshaltung, die den karmischen Impuls für die Handlung des Geistes oder den offenbarenden karmischen Impuls für die Handlung von Körper oder Rede begleitet.
Gemäß den Interpretationen des Sautrantika-Svatantrika und des Prasangika ist die offenbarende Form einer Handlung des Körpers, dessen Bewegung als Umsetzung einer Methode zum Ausführen der karmischen Handlung. Die offenbarende Form einer Handlung der Rede ist das Aussprechen von Worten, auch als Umsetzung einer Methode zum Ausführen der karmischen Handlung. Hierbei handelt es sich ebenfalls nicht um die Handlungen selbst. Eine Handlung, wie in den zehn destruktiven Handlungen, ist im Grunde der Pfad eines karmischen Impulses (tib. las-kyi lam). Sie umfasst eine Basis, auf die die Handlung gerichtet ist, ein motivierendes Netzwerk einer Absicht, eine bestimmende und eine störende Emotion, die Umsetzung einer Methode zum Ausführen der Handlung und ein Endziel. Somit ist der karmische Impuls, der die offenbarende Form einer Handlung von Körper oder Rede ist, lediglich Teil einer Handlung und nicht die Handlung selbst. Die offenbarende Form beginnt mit den vorbereitenden Handlungen und führt hin bis zum Begehen einer spezifischen karmischen Handlung, wie sich an ein Reh heranzuschleichen, und endet entweder mit der tatsächlichen Ausführung der Handlung, wenn der Schuss abgegeben wird, der das Reh tötet, oder mit den nachfolgenden Handlungen, falls es sie gibt, wie dem Häuten, Braten und Essen des Reh-Fleisches.
Die nichtoffenbarende Form ist eine subtile, unsichtbare Form des geistigen Kontinuums des Ausführenden einer Handlung von Körper oder Rede, die mit den vorbereitenden Handlungen beginnt, jedoch nur, wenn sie durch eine starke destruktive oder konstruktive Emotion motiviert wurde. Sind die vorbereitenden Handlungen nicht auf diese Weise motiviert, entsteht die nichtoffenbarende Form im geistigen Kontinuum, wenn die Handlung tatsächlich ausgeführt wird, und setzt sich auch nach dem Abschluss aller nachfolgenden Handlungen im geistigen Kontinuum des Ausführenden weiter fort, bis die Person sich entscheidet, die gleiche Handlung nicht mehr zu begehen. Um unsere Darstellung zu vereinfachen, bezeichnen wir sie als „grobe und subtile karmische Energie“. Die subtile karmische Energie ist vielleicht etwas, das wir als „Schwingung“ bezeichnen würden. Sie setzt sich so lange fort, wie wir beabsichtigen, entweder bewusst oder unbewusst die Handlung zu wiederholen und nicht die Absicht haben, sie aufzugeben.
Normalerweise betrachten wir Schwingungen als etwas „da draußen“ und sagen beispielsweise: „Ich kann deine Schwingung fühlen“. Hier geht es jedoch um eine Schwingung als das Gestalten unserer eigenen subtilen Energie, die unseren fortgesetzten Strom subjektiven, individuellen Erfahrens von Dingen begleitet. Für gewöhnlich sind wir uns dessen völlig unbewusst, aber wenn wir uns beruhigen, ist es vielleicht möglich, andeutungsweise zu verstehen, wovon hier die Rede ist. Würden wir uns ruhig hinsetzen, nachdem wir eine große Szene gemacht und herumgeschrien haben, können wir fühlen, dass unsere Energie angespannt ist. Das Herz schlägt schneller und das Blut wird verstärkt durch unsere Arterien gepumpt. Werden wir feinfühliger, bekommen wir das mit. Die subtile Energie des Körpers wird durch das, was wir getan haben, geformt, und auch wenn wir keine groben körperlichen Symptome dieser Energie mehr fühlen, findet weiter ein Formen dieser Energie statt, die unser subjektives, individuelles Erleben von Dingen begleitet.
Zusammenfassend kann man sagen, dass sich diese Gruppe von Lehrsystemen, sowie das zweite Glied des abhängigen Entstehens, die beeinflussenden Impulse, nur auf werfende karmische Impulse beziehen. Sie umfassen stark motivierte karmische Impulse für Handlungen des Geistes und stark motivierte grobe karmische Energien der Handlungen des Körpers und der Rede.
Das werfende Karma und das konventionelle „Ich“
Gleichgültig, welchem Erklärungsschema wir folgen, ist das werfende Karma immer das Karma, das unsere kommenden Wiedergeburtszustände formt. Beispielsweise kann es eine Wiedergeburt als Hund hervorbringen. Das vervollständigende Karma ist das Karma, das entscheidet, ob wir als Straßenhund oder als Pudel einer sehr netten Person wiedergeboren werden, die uns gut füttert, uns eine rosa Bergkristallkette um den Hals hängt und unsere Zehennägel rosa lackiert.
Wir glauben vielleicht, dass wir in dieser Wiedergeburt als Hund ein Mensch wären, der als ein Pudel mit rosa lackierten Zehennägeln wiedergeboren würde, aber das ist falsch. Ich könnte zum Beispiel voller Unwissenheit denken, dass ich wahrhaftig und solide „Alex, der Mensch“ bin. Das ist die wahre Identität meines „Ichs“. Dann werde ich vielleicht voller Schrecken denken „Ich will nicht, dass Alex, der Mensch, als Fiffi, der Pudel, wiedergeboren wird“, als ob das solide „Ich, Alex, der Mensch“ im Pudel stecken würde. Ich würde denken: „die Menschen werden nicht mein wahres ,Ich‘ erkennen. Sie werden mich ,Fiffi‘ nennen und rosa Nagellack auf meine Zehennägel streichen. Wie abstoßend.“
Hier herrscht totale Verwirrung darüber, wie die Wiedergeburt vor sich geht. Es gibt kein solides „Ich“ mit einer soliden Identität, das von einem Leben zum nächsten wiedergeboren wird. Auch wenn das „Ich“, als der konventionelle Alex, der Mensch, die Dinge als „ich“ erlebt, so tut das auch die Kontinuität des konventionellen „Ichs“ als der konventionelle Pudel Fiffi. Fiffi erlebt die Dinge im Sinne eines „Ichs“ und „Ich selbst, der Besitzer“ – der Besitzer des Teils eines Hauses, welches „meines“ ist und der Besitzer eines Herrchens, welcher „meiner“ ist. Es ist derselbe samsarische Trip. Es ist nur eine Fortsetzung der vorigen, verwirrten Art und Weise, die Dinge zu erleben. In der Episode dieses speziellen, individuellen, geistigen Kontinuums identifiziere ich mich auf solide Weise mit Alex, dem Menschen. In der nächsten Episode identifiziere ich mich auf solide Weise mit einer anderen Konfiguration des Erlebens, als Fiffi, der Hund. Es gibt kein solides „Ich“ das immer ein und dieselbe solide Identität, oder verschiedene solide Identitäten in jedem Leben hat. Es gibt nicht einmal ein konventionell existierendes „Ich“, das immer ein und dieselbe Identität besitzt.
Wir müssen dies sehr genau betrachten. Es gibt nur die Kontinuität des individuellen, subjektiven Erlebens von etwas. Die Abstraktion „Ich“ bezieht sich auf das Gesamte. Das konventionelle „Ich“ existiert, doch wir verwandeln es ihn etwas Substantielles und stülpen ihm eine Identität über, die auf unserer Erfahrung dessen, was geschieht, basiert.
Das werfende Karma ist die stärkste Art karmischer Impulse. Wenn wir beispielsweise in Form eines soliden „Ichs“ denken und uns mit der Erfahrung, von unseren Eltern abgelehnt zu werden, identifizieren, glauben wir, dass wir eine Identität besitzen, die auf dieser Erfahrung basiert. Wir meinen: „ Ich bin nicht gut genug. Mit mir stimmt etwas nicht“. Folglich haben wir vielleicht immer wieder den sehnsüchtigen Wunsch, jemanden zu finden der uns liebt und unser „ wahres Ich“ schätzt, sodass mit uns wieder alles in Ordnung ist. Aber da wir uns damit identifizieren, nicht gut zu sein, sabotieren wir unbewusst jede Beziehung, um zu garantieren, dass die andere Person uns ablehnt und damit bestätigt, dass wir nicht gut sind. Häufige unverbindliche Affären oder das zwanghafte Ausschauhalten und Herumsuchen nach einem Partner könnten stark motiviert sein von dieser Unsicherheit und dem Verlangen danach, geliebt zu werden. Die karmischen Impulse, die mit einem solchen Verhalten verknüpft sind, hätten die Stärke eines werfenden Karmas.
Wenn wir einfach vom Standpunkt des Formens karmischer Energie denken, das mit diesem Verhalten verbunden ist, dann bekommen wir vielleicht eine bessere Vorstellung vom werfenden Karma. Wenn wir den Drang haben, rauszugehen und einen Partner zu finden, und wir losgehen und durch die Bars oder auf jede Party gehen, um jemanden aufzugabeln, wie verhalten wir uns dann? Wir verhalten uns wie ein streunender Straßenhund, der an den Hintern anderer Hunde schnüffelt, der sich auf Geschlechtsverkehr mit anderen Hunden einlässt und dann weiterzieht. Insbesondere, wenn wir es immer wieder wiederholen, wird das Formen stärker und stärker. Es handelt sich eindeutig um werfendes Karma, als Straßenhund wiedergeboren zu werden.
Eine Handlung von dessen motivierender Emotion unterscheiden
Außerdem müssen wir eine Handlung von der motivierenden Emotion für eine Handlung unterscheiden. Wir können eine destruktive Handlung mit einer negativen Motivation ausführen. Beispielsweise können wir einen Moskito töten, weil er uns ärgert, während wir versuchen zu schlafen. Wir denken hierbei an ein solides „Ich“ und ein solides „Du, der Moskito“. Wir werden wütend auf den Moskito und begeben uns auf eine Safari-Jagd um ihn zu „erwischen“. Wenn wir ihn dann getötet haben, sind wir wirklich froh darüber. Die damit verbundenen karmischen Impulse werden zum werfenden Karma, um als etwas wie ein Raubtier, oder als etwas, das von einem solchen Tier gejagt wird, wiedergeboren zu werden.
Wir könnten auch eine destruktive Handlung mit einer positiven motivierenden Emotion ausführen. Wir könnten diesen Moskito aus Liebe und Sorge um unsere Kinder töten, da wir nicht möchten, dass sie gebissen werden und Malaria bekommen. Da die Motivation und die Handlung auf eine Weise ethisch widersprüchlich sind, ist die karmische Kraft des Impulses zu töten zu schwach, um als werfendes Karma zu funktionieren. Es würde zu einem vervollständigenden Karma werden.
Genauso können wir konstruktive Handlungen mit einer negativen motivierenden Emotion vornehmen. Wir können ein gutes Mahl für unsere erwachsenen Kinder mit der störenden Motivation zubereiten, dafür geschätzt, geliebt und gebraucht werden zu wollen. Wir könnten das Mahl auch mit einer positiven Motivation zubereiten, aus Liebe und um die Kinder glücklich zu machen. Nur der konstruktive Impuls des Letzteren wäre ein werfendes Karma. Aber bitte denkt daran, dass bei jeder Möglichkeit immer noch die zugrunde liegende Unwissenheit darüber, wie wir existieren, vorhanden ist: Wir denken und fühlen, als gäbe es ein solides „Ich“, einzigartig, unbeeinflusst usw.
Die karmischen Impulse funktionieren als werfendes Karma, wenn die karmischen Impulse unserer Handlungen und die motivierenden Emotionen, die sie begleiten, stark und ethisch nicht widersprüchlich sind und wenn sie diese Unwissenheit darüber, wie wir existieren, in sich tragen. Es ist immer noch Samsara, egal ob es sich um einen destruktiven karmischen Impuls handelt, der einen schlechteren Wiedergeburtszustand hervorbringt oder um einen konstruktiven karmischen Impuls, der einen besseren Wiedergeburtszustand hervorruft.
Das ist das zweite Glied des abhängigen Entstehens – diese Abermillionen werfenden Karmas, der stark motivierte karmische Impuls, der unsere zukünftigen Wiedergeburten beeinflussen und gestalten kann. Immer wenn wir mit einer starken nicht widersprüchlichen Motivation handeln, wird der damit verbundene karmische Impuls die Stärke haben, als werfendes Karma zu funktionieren. Wir verhalten uns nicht die ganze Zeit wie Straßenhunde, sondern handeln auf verschiedenste Art und Weise. Es gibt viele Möglichkeiten, die durch unsere Unwissenheit und unser Verhalten verstärkt werden. Es ist nicht so, dass wir gerade erst anfangen, werfendes Karma anzuhäufen. Wir haben dies schon immer ohne Anfang getan.
Das dritte Glied: Aufgeladenes Bewusstsein
Das dritte Glied des abhängigen Entstehens nenne ich nicht einfach „Bewusstsein“, sondern „ aufgeladenes Bewusstsein“ (tib. rnam-shes) um deutlicher zu machen, was hiermit gemeint ist. Dieses Glied ist in zwei Teile unterteilt: Der erste Teil heißt wörtlich „das aufgeladene Bewusstsein zum Zeitpunkt der Ursache“ (tib. rgyu-dus-kyi rnam-shes). Was hiermit bezeichnet wird, ist unser geistiges Kontinuum (d.h. unser von Moment zu Moment stattfindendes, individuelles, subjektives Erleben von etwas), das mit der karmischen Hinterlassenschaft des werfenden Karmas aufgeladen ist, welches als Ursache für eine spätere Wiedergeburt wirken kann. Es ist die karmische Hinterlassenschaft des werfenden Karmas, nicht das werfende Karma selbst, das uns in unsere nächste Wiedergeburt wirft. In Fachbegriffen ausgedrückt „ reift“ (tib. smin-pa) die karmische Hinterlassenschaft des werfenden Karmas, indem sie die fünf Aggregate unseres nächsten Wiedergeburtszustandes und unsere Erfahrungen in diesem Wiedergeburtszustand zur Folge hat.
Die karmische Hinterlassenschaft
Was ist nun diese „karmische Hinterlassenschaft“ des werfenden Karmas, mit dem unser Bewusstsein aufgeladen ist in der Periode, nachdem die Handlung, die mit diesem werfenden Karma verknüpft ist, aufgehört hat und bevor sie aktiviert wird und zu einer zukünftigen Wiedergeburt heranreift? Zunächst müssen wir wissen, dass es nach Aussage der Mahayana-Lehren zwei allgemeine Arten von karmischer Hinterlassenschaft gibt: eine intermittierend reifende und eine kontinuierlich reifende. Die erste produziert nur zeitweise Ergebnisse und wenn sie erschöpft ist und keine Ergebnisse mehr hervorbringt, hört sie auf natürliche Weise auf, als etwas zu existieren, das in unseren geistigen Kontinua präsent ist. Die zweite Art von karmischer Hinterlassenschaft produziert in jedem Moment unserer Existenz Ergebnisse – bis zur Erleuchtung. Sie wird nie verschwinden, es sei denn, wir können ihr gegenüber eine wahre Beendigung (tib. ‘gog-bden, wahres Ende) erlangen. Diese letztere Art von karmischer Hinterlassenschaft bezieht sich auf karmische ständige Gewohnheiten (tib. bag-chags).
Die Hinayana-Lehrsysteme akzeptieren nicht, dass es ständige Gewohnheiten gibt. Deshalb behaupten sie auch nicht an, dass es diese zweite Art von karmischer Hinterlassenschaft gibt. Da die zwölf Glieder des abhängigen Entstehens eine Erklärung ist, die von Hinayana und Mahayana gemeinsam akzeptiert wird, handelt es sich bei der karmischen Hinterlassenschaft, mit der das dritte Glied, das aufgeladene Bewusstsein, aufgeladen ist, ausschließlich um die intermittierend reifende karmische Hinterlassenschaft.
Es gibt zwei Arten von intermittierend reifenden karmischen Hinterlassenschaften: die Netzwerke karmischer Kraft und die karmischen Tendenzen (tib. sa-bon, Samen). Sehen wir uns zunächst die Erklärungen an, die in den Systemen des Sautrantika, des Chittamatra und des Yogachara-Svatantrika gegeben werden.
Die Erklärung im Sautrantika, Chittamatra und Yogachara-Svatantrika
Der werfende karmische Impuls (ein geistiger Drang) und die karmische Handlung von Körper, Rede oder Geist, die er mit sich bringt, bilden ein Kontinuum, das im weitesten Sinne als ein Kontinuum konstruktiver oder destruktiver karmischer Energie betrachtet werden kann. Hören die karmischen Handlungen auf, gehen die Kontinuitäten der konstruktiven und destruktiven karmischen Energien eine Phasenumwandlung durch, ähnlich wie wenn Eis beim Schmelzen zu Wasser wird. Ihre Kontinuität nimmt die essentielle Natur (tib. ngo-bo) einer karmischen Tendenz (tib. sa-bon, Samen) an; sie wird zu einer nichtstatischen Abstraktion (tib. ldan-min ‘du-byed, nichtkongruente beeinflussende Variable), einem Zuschreibungsphänomen auf der Basis des geistigen Kontinuums des Ausführenden der Handlung. Wir werden sie „karmische Potenziale“ nennen. Nichtstatische Abstraktionen sind weder Formen physischer Phänomene, noch Weisen sich etwas gewahr zu sein. Sie entstehen aufgrund von Ursachen, ändern sich von Augenblick zu Augenblick und erzeugen Wirkungen. Als Zuschreibungsphänomene sind sie an ihre Basis „gebunden“ und können getrennt von ihrer Basis weder existieren noch gekannt werden.
Lasst uns den Begriff „karmische Kraft“ als Oberbegriff für das gesamte Kontinuum eines werfenden karmischen Impulses und die Phasen von karmischer Energie und karmischem Potential verwenden, die er mit sich bringt. Bitte vergesst nicht, dass diese Begriffe von mir geprägt wurden; es gibt weder im Sanskrit noch im Tibetischen äquivalente Begriffe für karmische Energie, karmisches Potential oder karmische Kraft.
Karmische Kraft ist immer entweder konstruktiv (tib. dge-ba, tugendhaft) oder destruktiv (tib. mi-dge-ba, nicht tugendhaft). Jene mit konstruktivem Verhalten verbundenen Kräfte sind positive karmische Kräfte (tib. bsod-nams, Skt, punya, Verdienste), die mit destruktiven Handlungen verknüpfte Kräfte sind negative karmische Kräfte (tib. sdig-pa, Skt. papa, Sünde). Ich ziehe die Übersetzungen „konstruktiv“, „destruktiv“, „positive karmische Kräfte“ und „negative karmische Kräfte“ den normalerweise benutzten Begriffen „tugendhaft“, „nicht tugendhaft“, „Verdienste“ und „Sünde“ vor, da sie durch ihre Vorstellungen von moralischem Urteil, Belohnung und Bestrafung oft zu Missverständnissen führen. Diese Konzepte haben im Buddhismus keine Bedeutung und daher denke ich, dass es besser ist Begriffe zu wählen, die Missverständnisse verringern können, die entstehen, wenn wir ungewollt Konzepte von anderen Systemen auf den Buddhismus projizieren, die ganz einfach nicht passend sind.
Nur der Teil des Kontinuums einer karmischen Kraft, die ein karmisches Potenzial ist, ist die karmische Hinterlassenschaft, die im geistigen Kontinuum des Ausführenden einer Handlung hinterlassen wurde, nachdem die karmische Handlung durch das Erreichen des Endziels vollendet wurde. Als ein Zuschreibunsphänomen auf der Grundlage all der Kontinua der karmischen Kraft, die noch im geistigen Kontinuum präsent sind, gibt es auch ein Netzwerk (tib. tshogs, Ansammlung) karmischer Kraft im geistigen Kontinuum der Person. Es ist, wie das karmische Potential, auch eine nichtstatische Abstraktion und weder die Form eines physischen Phänomens, noch eine Weise sich etwas gewahr zu sein. Die Bedeutung des Fachausdruckes „Netzwerk positiver Kraft“ (tib. bsod-nams-kyi tshogs, Ansammlung von Verdiensten) wird normalerweise eingegrenzt und bezieht sich auf erleuchtungsschaffende Netzwerke positiver Kraft: die positive Kraft, die mit Bodhichitta aufgebaut und unserer Erlangung der Erleuchtung und dem Ziel, allen anderen zu helfen, gewidmet wurde. Ich denke jedoch, wir können die analogen Begriffe „Netzwerk der samsarabildenden positiven karmischen Kraft“ und „Netzwerk der samsarabildenden negativen karmischen Kraft“ prägen, die mit karmischen Handlungen zusammenhängen, die nicht durch Entsagung oder Bodhichitta geschaffen wurden, und die weder unserer Befreiung noch unserer Erleuchtung gewidmet sind. Um die Diskussion zu erleichtern, verwende ich die Begriffe „erleuchtungsbildende Netzwerke positiver Kraft“ und „Netzwerke karmischer Kraft“.
Neben den Netzwerken karmischer Kraft sind die karmischen Tendenzen die zweite Form der intermittierend reifenden karmischen Hinterlassenschaft, mit der unser Bewusstsein „aufgeladen“ ist. Wenn die positive oder negative karmische Energie einer konstruktiven oder destruktiven Handlung ihre Phasenumwandlung zu einem karmischen Potential durchmacht, sobald die Handlung aufhört, lässt diese karmische Energie auch eine karmische Tendenz (einen karmischen Samen) entstehen. Sie ist, wie das karmische Potential, eine nichtstatische Abstraktion, die ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage des geistigen Kontinuums des Ausführenden der Handlung ist. Doch anders als das karmische Potential oder die karmische Energie ist eine karmische Tendenz nicht spezifiziert; sie ist ethisch neutral. Folglich ist eine der zwei Arten intermittierend reifender karmischer Hinterlassenschaften – die Netzwerke karmischer Kraft – entweder konstruktiv oder destruktiv, während die andere – karmische Tendenzen – nicht spezifiziert ist. Beide sind jedoch nichtstatische Abstraktionen. Das Bewusstsein ist nicht, wie in die Erde gesetzte Samen, im physischem Sinne mit ihnen beladen (engl. loaded) – auch wenn traditionell diese Analogie benutzt wird, um dieses Glied auf stark vereinfachte Weise zu erklären. Das Bewusstsein ist lediglich in der Hinsicht mit karmischen Tendenzen „beladen“, indem das Bewusstsein als deren Grundlage für die Zuschreibung (tib. gdags-gzhi) dient.
Zusammenfassend ist das werfende Karma, laut dem üblichen Erklärungssystem der Lehrsysteme des Sautrantika, des Chittamatra und des Yogachara-Svatantrika, ausschließlich der stark motivierte konstruktive oder destruktive geistige Drang, der eine ebenfalls stark motivierte konstruktive oder destruktive physische, verbale oder geistige Handlung hervorbringt. Es ist nicht die Handlung selbst. Die Hinterlassenschaft des werfenden Karmas und die Handlungen, die es hervorbringt, hat zwei Aspekte, die intermittierend reifen. Beide sind nichtstatische Abstraktionen, die Zuschreibungsphänomene des geistigen Kontinuums sind – grundsätzlich in Bezug auf das Kontinuum des aufgeladenen geistigen Bewusstseins. Als nichtstatische Abstraktionen sind sie weder Formen physischer Phänomene, noch Weisen, sich etwas gewahr zu sein. Das karmische Potential und das damit verbundene Netzwerk karmischer Kraft ist konstruktiv oder destruktiv, während die karmische Tendenz ethisch neutral ist (tib. lung ma-bstan): Buddha hat sie weder als konstruktiv noch destruktiv spezifiziert.
Oft stößt man auf eine einfache Erklärung für das, womit unser geladenes Bewusstsein aufgeladen ist. Es ist mit karmischen Samen (tib. sa-bon) aufgeladen, so, als würde man Samen in die Erde pflanzen. Wie ihr euch bestimmt erinnern könnt, habe ich „karmische Samen“ mit „karmische Tendenzen“ übersetzt. In dieser Erklärung wird „karmische Samen“ sowohl als Oberbegriff für karmische Potentiale als auch für karmische Tendenzen verwendet. Nur karmische Tendenzen sind tatsächlich karmische Samen, da karmische Samen wesensgemäß ethisch neutrale Phänomene sind. Karmisches Potential ist lediglich karmische Kraft in der essenziellen Natur eines karmischen Samens, jedoch kein wirklicher karmischer Samen. Das ist so, weil es als karmische Kraft – entweder als so genannter „Verdienst“ oder als „Sünde“ – entweder konstruktiv oder destruktiv ist. Der Begriff „Samen“ wird als Metapher benutzt: eine Pflanze produziert einen Samen, der dann wiederum eine andere Pflanze hervorbringt. Gleichermaßen produzieren karmische Impulse karmische Samen, die karmische Ergebnisse hervorbringen, die wiederum zum Entstehen weiterer karmischer Impulse führen.
Im Gegensatz zu echten Samen sind diese karmischen Samen allerdings keine Formen physischer Phänomene. Sie sind Potenziale und Tendenzen, die nichtstatische Abstraktionen sind. Potenziale und Tendenzen entstehen auch aus etwas und bringen etwas hervor. Sie sind jedoch abstrakte Phänomene, die den karmischen Prozess zutreffender beschreiben.
Die Erklärung im Vaibhashika, Sautrantika-Svatantrika und Prasangika
Die Darstellung im Vaibhashika, Sautrantika-Svatantrika und Prasangika ist etwas komplexer. Im Falle karmischer Impulse geistiger Handlungen sind die Hinterlassenschaften dieselben wie oben beschrieben: ein destruktives oder konstruktives karmisches Potenzial mit dem damit verbundenen Netzwerk karmischer Kraft und einer unspezifizierten karmischen Tendenz.
Im Falle karmischer Impulse von Handlungen des Körpers und der Rede ist nur die grobe Energie, welche die offenbarende Form der Handlung ist, das werfende Karma. Sowohl diese grobe Energie und die karmische Handlung, sowie die subtile Energie, welche die nichtoffenbarende Form der Handlung ist, sind konstruktive oder destruktive karmische Kräfte. Die karmische Tendenz und das karmische Potenzial der groben karmischen Energie beginnen sobald die Handlung aufgehört hat. Die subtile Energie jedoch dauert auch noch an, wenn die Handlung schon geendet hat. Sie geht so lange weiter wie wir, bewusst oder unbewusst, die Absicht haben, weiterhin auf dieselbe Weise zu handeln, wie die Handlung, die sie geschaffen hat, und wir nicht vorhaben, jemals damit aufzuhören. Diese subtile karmische Energie, die nach dem Ende der Handlung andauert, ist immer noch eine karmische Kraft, jedoch keine karmische Hinterlassenschaft. In dem Moment, in dem wir die Absicht aufgeben, weiterhin auf die gleiche Weise zu handeln, verwandelt sich die subtile karmische Energie in ein karmisches Potenzial und wird dann zu einer karmischen Hinterlassenschaft. Unsere subtile karmische Energie verwandelt sich zum Zeitpunkt unseres Todes auf natürliche Weise in karmisches Potenzial, außer wir haben ein Gelübde abgelegt, solches Verhalten auch in unseren zukünftigen Leben beizubehalten – beispielsweise wenn wir die Bodhisattva-Gelübde mit der Absicht ablegen, uns bis zur Erleuchtung in Bodhisattva-Verhalten zu üben.
Folglich ist das aufgeladene Bewusstsein, wie in der einfacheren Darstellung des Karmas, aufgeladen mit (1) konstruktivem oder destruktivem karmischen Potential und seinem, mit ihm verbundenen, Netzwerk karmischer Kraft, und (2) nicht spezifizierten karmischen Tendenzen. Das karmische Potential, das Netzwerk karmischer Kraft, und karmische Tendenzen sind nichtstatische Phänomene und kein werfendes Karma.
Die aus dem Geworfenen entstandenen Glieder
Das erste Glied, das zweite und die erste Hälfte des dritten Gliedes sind Unwissenheit, positive oder negative werfende Karmas und unsere geistigen Kontinua, die mit den karmischen Hinterlassenschaften dieser werfenden Karmas aufgeladen sind. Diese zweieinhalb Glieder nennt man „ die kausalen Glieder, die werfen“ (tib. ‘phen-byed-kyi yan-lag): Sie werfen uns in eine nächste Wiedergeburt. Dann haben wir „die aus dem Geworfenen entstandenen Glieder“ (tib. ‘phangs-pa’i ‘bras-bu’i yan-lag). Sie beschreiben die Entwicklung des Wiedergeburtzustandes, der durch das werfende Karma entsteht. Es geht darum, wie sich der ganze Mechanismus in einen Fötus oder einem Ei entwickelt, um Samsara weitergehen zu lassen. Lasst uns nur über den Fötus in einer Gebärmutter sprechen.
Der zweite Teil des dritten Gliedes ist das aufgeladene Bewusstsein zum Zeitpunkt des Ergebnisses (tib. ‘ bras-dus-kyi rnam-shes). Es ist das von Moment zu Moment individuelle, subjektive Erleben von etwas, das in eine neue Wiedergeburt geworfen wurde, als Ergebnis der gereiften Hinterlassenschaften des werfenden Karmas. Es ist die Basis für das Erfahren aller karmischen Ergebnisse, die in diesem Leben auftauchen werden.
Viele karmische Ergebnisse werden intermittierend während einer zukünftigen Wiedergeburt reifen. Der Buddhismus bietet uns eine komplexe Analyse von Ursache und Wirkung, mit sechs Ursachentypen und fünf Ergebnistypen. Sowohl das Netzwerk karmischer Kraft, als auch die karmischen Tendenzen sind für jeden von ihnen Ursache, wenn auch als unterschiedliche Ursachentypen für jedes Ergebnis. Entsprechend ist das, was sich aus ihnen entwickelt, ein jeweils anderer Ergebnistyp, auch wenn spezifischen Dingen, die sich entwickeln, der Name des dominierenden Ergebnistypen, dem sie angehören, gegeben wird. Wir sollten auch nicht glauben, dass, was auch immer wir in unserer zukünftigen Wiedergeburt erleben, ausschließlich durch die Hinterlassenschaften unseres Karmas bestimmt wird. Der Buddhismus ist kein solipsistisches System. Sowohl interne als auch externe Umstände spielen eine Rolle im kausalen Prozess, genauso wie viele andere Ursachen, wie die Samenzelle und die Eizelle unserer Eltern, einschließlich ihrer Gattung und persönlichen DNA. Da alles irgendwie miteinander verbunden und abhängig voneinander ist, stellt die Thematik Ursache und Wirkung das komplexeste Thema überhaupt dar.
Das wichtigste karmische Ergebnis, das mit dem Mechanismus der zwölf Glieder des abhängigen Entstehens erklärt wird, ist das gereifte Ergebnis (tib. rnam-smin-gyi ‘bras-bu). Es bezieht sich auf die grundlegenden Aggregate (tib. phung-po) unserer nächsten Wiedergeburt, die sehr stark von der Lebensform beeinflusst sind, die wir annehmen werden. Die gereiften Ergebnisse schließen jedoch nur die unspezifizierten Teile innerhalb unserer Aggregate ein, wie unsere Körper, unseren Geist und unsere karmischen Tendenzen.
- Unsere Netzwerke karmischer Kraft sind ihre reifenden Ursachen (tib. rnam-smin-gyi rgyu). Sie bringen sie auf dieselbe Weise hervor, wie ein Obstbaum, wenn der ausgewachsen ist, Früchte hervor bringt.
- Unsere karmischen Tendenzen sind ihre Ursachen des gleichen Status (tib. skal-mnyam-gyi rgyu). Ursachen des gleichen Status haben denselben ethischen Status wie ihre Resultate, so wie ein Moment der Liebe einen Moment des Mitgefühls entstehen lässt.
- Unsere karmischen Tendenzen sind auch die herbeiführenden Ursachen für unseren Körper und unseren Geist. Sie lassen sie entstehen, so wie Samen einen Sprössling hervorbringen.
- In der Schule des Chittamatra wird erklärt, dass unsere karmischen Tendenzen auch die Ursprungsquelle (tib. rdzas) für alle von ihnen ist, so wie ein Ofen die Ursprungsquelle eines Brotlaibes ist. In allen anderen Schulen vertritt man die Meinung, dass die karmischen Tendenzen nur die Ursprungsquellen für jene Bestandteile in unseren Aggregaten sind, die Weisen sind, sich etwas gewahr zu sein, sowie nichtstatische Phänomene. Die Samen- und die Eizelle der Eltern und die externen Elemente sind die Ursprungsquellen der Bestandteile unserer Aggregate, die Formen physischer Phänomene sind.
In den gereiften Resultaten nicht enthalten sind die natürlich konstruktiven oder destruktiven Teile, wie die Kontinuitäten der Netzwerke karmischer Kraft, die in unserem nächsten Leben weiter gehen.
- Unsere Netzwerke karmischer Kraft sind ihre Ursachen des gleichen Status.
- Unsere karmische Tendenzen sind ihre herbeiführenden Ursachen und Ursprungsquellen
Die fünf Aggregate
Um zu verstehen, wie sich der gesamte Mechanismus im Mutterleib entwickelt, müssen wir die fünf Aggregate, die Faktoren, die jeden Moment unseres Erlebens der Dinge ausmachen, wenigstens grob verstehen. Die Art, wie wir die Dinge erleben und was wir erleben, ist ein Gemisch vieler Faktoren, die man in fünf Unterteilungen gruppieren kann. Sie existieren nicht wirklich in unterschiedlichen Schachteln. Dies ist nur ein Schema um das Material zu organisieren. Jede der fünf Kategorien besteht aus vielen Komponenten, deshalb werden sie „ Aggregat-“ Faktoren genannt. Es gibt jeweils eines oder mehrere Elemente aus jeder dieser fünf Unterteilungen, die das ausmachen, was wir in jedem Moment erleben und sie alle funktionieren als ein Netzwerk: sie alle sind miteinander verbunden. Ich gebe sie hier nicht in der traditionellen Reihenfolge wieder, sondern in einer Reihenfolge, die etwas leichter zu verstehen ist.
(1) Der Aggregatfaktor von Formen physischer Phänomene (tib. gzugs-kyi phung-po) besteht aus Ansichten, Klängen, Gerüchen, Geschmack und physischen Erfahrungen als auch aus den körperlichen Sensoren, den Sinneszellen, den Stäbchen und Zapfen der Augen usw. Wir können auch vom physischen Element des Körpers im Allgemeinen sprechen. Hier könnten wir in eine ausführliche Diskussion über die Formen, die in unseren Träumen erscheinen, geraten, aber vielleicht lassen wir das diesmal lieber.
(2) Als nächstes geht es um das, was üblicherweise das Bewusstseinsaggregat (tib. rnam-shes-kyi phung-po) genannt wird. Es enthält die verschiedenen Arten des Primärbewusstseins, welche mit unserem Erleben von etwas verbunden sind. Im westlichen Modell haben wir ein allgemeines Bewusstsein, das durch Augen, Nase, Zunge, Körper oder den Geist funktioniert. Im Buddhismus sprechen wir nicht von einem allgemeinen Bewusstsein, sondern von speziellen Bewusstseinsarten für jeden einzelnen der Sinneskanäle. Es gibt sechs Bewusstseinsarten: das Bewusstsein der visuellen Wahrnehmungen, der Klänge, der Gerüche, des Geschmacks, der physischen Erfahrungen und der geistigen Phänomene (wie Gedanken, Träume und Schlaf). Das Primärbewusstsein bezieht sich nur auf den grundlegenden Sinnesbereich, der uns bewusst ist. In jedem Moment des Erlebens befinden wir uns entweder auf dem einen oder dem anderen Kanal, also dem visuellen Kanal, dem Hör-Kanal, dem Denk-Kanal, usw.
(3) Dann haben wir ein Aggregat des Unterscheidens (tib. ‘ du-shes-kyi phung-po). Es wird oft „Erkennen“ genannt, doch um so etwas Anspruchsvolles geht es hier nicht, sondern vielmehr um etwas sehr Grundlegendes, das auch in jedem Moment des Erlebens eines Wurms erscheint. Der westliche Ausdruck „Erkennen“ bedeutet, dass man etwas sieht, das dem, was man zuvor schon mal erlebt hat, ähnelt; dann erinnern wir uns daran, was wir zuvor erlebt haben und vergleichen es mit dem, was wir jetzt erleben. Damit das Erkennen funktioniert, müssen wir erkennen, dass die beiden ähnlich sind. Das meinen wir aber nicht, wenn von diesem Aggregat die Rede ist. In der einfachsten Form geht es darum, etwas mit einem spezifischen Charakterzug aus einem Sinnesbereich abzugrenzen, so dass wir uns auf ihn konzentrieren und ihn erleben können.
So besteht beispielsweise der Sinnesbereich des Sehens aus sämtlichen Arten farbiger Formen. Das ist es, was wir mit unserem Primärbewusstsein sehen. Um uns auf etwas in diesem Sinnesbereich zu konzentrieren und uns damit zu beschäftigen, müssen wir vom Hintergrund eine bestimmte Anordnung farbiger Formen unterscheiden, die einige charakteristische Eigenschaften aufweisen. Es ist nicht nur wichtig, diese Unterscheidung zu treffen, sondern essentiell. Wären wir nicht fähig, in einem Sinnesbereich verschiedene Dinge zu unterscheiden, könnten wir in der Welt überhaupt nicht zurechtkommen. Alles was wir sehen, wäre dann eine undifferenzierte Masse farbiger Formen.
Innerhalb des Hörbereiches der Laute, müssen wir auch einen Laut von denen unterscheiden, die wir gleichzeitig hören. Wir müssen die Laute eines Sprechenden von den Verkehrsgeräuschen unterscheiden und wir müssen auch Worte unterscheiden. Es ist wirklich faszinierend, wenn man einmal darüber nachdenkt. Da entströmt ein Schwall von Lauten aus dem Mund von jemanden und wir sind fähig, es kleinzuhacken und Klangsequenzen in Silben und Wörter zu unterscheiden. Wie könnten wir sonst verstehen, was jemand sagt?
Jeder Moment unseres Erlebens enthält irgendeinen Aspekt des Unterscheidens. Wir müssen nicht wissen, was die Dinge sind oder ihnen Namen geben, um sie zu unterscheiden. Wir können beispielsweise ein schattenhaftes Ding da drüben in der Dunkelheit ausmachen. Manchmal möchten wir nicht einmal wissen was es ist, beispielsweise wenn man auf einem Dschungelpfad in den Büschen etwas rascheln hört.
(4) Dann haben wir das Aggregat der Empfindungen, (tib. tshor-ba’i phung-po). Unsere Worte „Empfindung“ bzw. „Gefühl“ (engl. feeling) beinhalten viel mehr, als das, was hier gemeint ist. In den meisten westlichen Sprachen werden Gefühle mit Emotionen gleichgesetzt. Im Englischen können sich „Feelings“ auf Erfahrungen, wie heiß oder kalt, weich oder sanft beziehen; auf Emotionen, wie Leidenschaft oder Depression; Gesundheitszustände, wie gesund oder krank; Dinge wie: „ein Gefühl für Kunst zu haben“; eine Ebene der Empfindsamkeit wie: „er hat meine Gefühle verletzt“; Intuitionen wie: „ich habe das Gefühl, dass heute mein Glückstag sein wird“, oder Meinungen wie: „Was denkst du darüber?“ (engl.: What do you feel about this issue?). Aber um all diese Dinge geht es hier nicht. Wir sprechen hier nicht über Emotionen. Bei diesem Aggregat geht es lediglich darum, einige Ebenen von Glücklichsein oder Unglücklichsein zu erleben. In jedem Moment unseres Erlebens erfahren wir ein Objekt, begleitet von einem Gefühl, das sich irgendwo auf der Skala zwischen absolut glücklich und absolut unglücklich befindet. Es befindet sich selten in der Mitte oder im neutralen Bereich; es gibt immer mindestens einen subtilen Grad von Glücklichsein oder Unglücklichsein. Selbst wenn es so scheint, als würden wir nichts fühlen, sind wir doch nur unaufmerksam gegenüber dem, was vor sich geht.
(5) Das letzte Aggregat nenne ich das „Aggregat anderer beeinflussender Variablen“ (tib. ‘du-byed-kyi phung-po). Es wird manchmal als „ Willensregungen“ bezeichnet, doch damit pickt man sich nur ein Element aus dem Aggregat heraus, um die ganze Packung zu bezeichnen. Es ist also nicht die beste Übersetzung. Obwohl der Name dieses Aggregates und der Name des zweiten Gliedes des abhängigen Entstehens derselbe ist, bezieht sich „ beeinflussende Variablen“ im zweiten Glied nur auf das werfende Karma. Die beeinflussenden Variablen, die hier das Aggregat bilden, schließen alles mit ein, was unser Erleben jenseits der anderen vier Aggregate ausmacht. Es ist das Aggregat von allem anderen. Es beinhaltet alle Emotionen, positive wie negative, und andere geistige Faktoren, wie Aufmerksamkeit, Interesse, Konzentration, Schläfrigkeit und Langeweile. Es beinhaltet auch nichtstatische Abstraktionen, wie karmische Potentiale, Netzwerke karmischer Kraft und karmische Tendenzen, doch lassen wir diese zunächst unberücksichtigt.
Vereinfacht ausgedrückt könnte man sagen, dass wir einen Aggregatfaktor haben, der aus körperlichen Bestandteilen besteht und vier Aggregatfaktoren, die aus geistigen Bestandteilen bestehen, aus Weisen, sich etwas gewahr zu sein. Wenn wir glauben, „geistig“ würde sich nur auf unsere Gedanken beziehen, bekommen wir allerdings eine falsche Vorstellung davon. Es geht um jegliche Weisen, sich etwas gewahr zu sein. Sehen, unterscheiden, eine Ebene von Glücklichsein erleben, ärgerlich sein, usw. sind alles Weisen, sich etwas gewahr zu sein.
Das vierte Glied: Benennbare Geisteskräfte mit oder ohne fester Form
Wir kommen nun zum vierten Glied des abhängigen Entstehens, das ich „benennbare Geisteskräfte mit oder ohne fester Form“ (tib. ming-dang gzugs) nenne. Oft wird es einfach als „Name und Form“ bezeichnet.
Jedes der nächsten vier Glieder bezieht sich auf einen Zeitraum innerhalb der Entwicklung eines Fötus. Im Buddhismus sprechen wir über die Ebene der formlosen Wesen (tib. gzugs-med khams, formloser Bereich), die Ebene samsarischer Existenz, in der göttliche Wesen ohne grobe Form leben. Benennbare Geisteskräfte ohne grobe Form beziehen sich auf die Aggregate dieser Wesen auf dieser formlosen Ebene. Obwohl es auf dieser Ebene keine groben Formen gibt, gibt es doch sehr subtile Formen. Wesen auf der Ebene begehrenswerter Sinnesobjekte (tib. ‘dod-khams, Bereich der Begierde) haben grobe Formen, während Wesen auf der Ebene ätherischer Formen (tib. gzugs-khams, Bereich der Form) ätherische Formen haben. Benennbare Geisteskräfte mit grober Form beziehen sich auf die Aggregate der Wesen auf diesen beiden Ebenen der Existenz. In jedem Fall bezieht sich das vierte Glied auf den Moment der Empfängnis bis hin zum Moment kurz bevor die kognitiven Fähigkeiten des Sehens, Hörens usw. differenziert werden.
Was bedeutet das? Eine Samenzelle und eine Eizelle vereinen sich. Es gibt ein Formaggregat: Die Elemente des Körpers haben sich manifestiert. Die anderen vier Aggregate, die geistigen, die Weisen sich etwas gewahr zu sein, sind in Form von Latenzen (tib. bag-chags, Instinkte) vorhanden, doch sie haben sich noch nicht manifestiert und differenziert. Sie sind nur im Namen vorhanden, sie sind bloß benennbare Geisteskräfte.
Wir müssen hier ganz genau sein, denn es geht hier nicht um die Verbindung zwischen einer Samen- und einer Eizelle mit dem bloßen Potential des Erlebens, sondern um die Verbindung zwischen einer Samenzelle und einer Eizelle, die schon Geist in sich trägt. Es gibt schon eine geistige Aktivität, wenn auch keine bewusste geistige Aktivität im Sinne des Wortes „bewusst“. Der Fötus erlebt etwas, aber das Bewusstseinsaggregat ist noch nicht in Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Berühren und Denken differenziert und die vier geistigen Aggregate sind noch nicht voneinander unterschieden.
Diese Unterscheidung, ob man ein Potential für geistige Aktivität oder eine tatsächliche geistige Aktivität hat, wenn auch unbewusst und undifferenziert, ist sehr wichtig und nicht so offensichtlich. Wir müssen diese Unterscheidung treffen, um die Frage zu klären, wann das Leben beginnt, was ein wichtiger Punkt ist, wenn man sich mit der Frage der Abtreibung beschäftigt. Wann beginnt eine zukünftige Wiedergeburt? Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten. Wie weit müssen sich der Samen und die Eizelle entwickeln, bis sie nicht mehr lediglich das Potential besitzen, das Erleben zu unterstützen, sondern es auch tatsächlich unterstützen, selbst wenn dieses Erleben unbewusst ist und noch nicht in Sehen, Riechen, Schmecken usw. differenziert ist?
Ein fundamentalistischer Ansatz wäre, zu sagen, dass das vierte Glied im Moment der Empfängnis eintritt, so dass das Leben dort beginnt. Wenn wir es mit dieser Logik analysieren, gibt es keine logische Grundlage dafür, dass eine Samenzelle und eine Eizelle, mit dem Potential Leben zu unterstützen, auch tatsächliche Leben unterstützen. Leben bedeutet nicht einfach lebende Zellen, denn dann könnten wir sagen, dass eine Samenzelle oder eine Eizelle lebendig ist. Sind es fühlende Wesen? Nein. Dies ist ein sehr wichtiger Aspekt und Seine Heiligkeit der Dalai Lama hat gesagt, dass es wissenschaftlich untersucht werden muss. In Bezug auf Geburtenkontrolle und Abtreibung gibt es viele ethische Fragen.
Das fünfte Glied: Anreger der Wahrnehmung
Das fünfte Glied wird „Anreger der Wahrnehmung“ genannt (tib. skye-mched). Es bezieht sich auf den Zeitraum zwischen der Entwicklung der sechs verschiedenen Anreger der Wahrnehmung bis kurz bevor das Aggregat der Unterscheidung differenziert ist. Die sechs Anreger der Wahrnehmung sind die kognitiven Objekte und kognitiven Sensoren (tib. dbang-po) einer jeden der sechs kognitiven Fähigkeiten. Im Fall der fünf Sinneskräfte sind die Objekte und Sensoren Formen physischer Phänomene, wie Anblicke und lichtempfindliche Zellen. Im Fall der Geisteskräfte können die Objekte irgendein gültig erkennbares Phänomen sein, während die Sensoren die unmittelbar vorangehenden Momente der Wahrnehmung sind.
Das Aggregat der Formen ist jetzt unterschieden in visuelle Wahrnehmung, Laute usw., und ebenso in die Zellen, die diese Dinge spüren können. Der Fötus hat sich so weit entwickelt, dass er visuelle Sinneszellen besitzt, mit anderen Worten, Stäbchen und Zapfen in den Proto-Augen, Sinneszellen für das Gehör in den Proto-Ohren usw. Zusätzlich ist das Aggregat des Bewusstseins differenziert in Sehbewusstsein, Hörbewusstsein usw. Es ist nicht mehr nur eine benennbare Geisteskraft. Auf dieser Stufe gibt es jedoch keine Unterscheidung von Formen oder bestimmter Sinnesempfindungen; es gibt nur das Gewahrsein von Sinnesbereichen im Allgemeinen. Die anderen drei Geisteskräfte sind immer noch nur benennbar. Es ist sehr interessant, wenn man darüber von einem Entwicklungsstandpunkt aus nachdenkt. Es gibt ein Gewahrsein von physischen Sinnesempfindungen, aber keine Unterscheidung in heiß oder kalt usw.
Das fünfte Glied bezieht sich auf die Sinneszellen und Sinnesobjekte oder die durch sie erlebten Sinnesbereiche. Sie sind herangereifte Resultate und beziehen sich darauf, was passiert, wenn eine Lebensform Form annimmt. Um es mit der ungefähren Analogie eines Computers auszudrücken: bis jetzt haben wir die Hardware erörtert und nun müssen wir uns der Software zuwenden.
Das sechste Glied: Kontaktbewusstsein
Das sechste Glied ist das Kontaktbewusstsein (tib. reg-pa). Jetzt wirken das Unterscheidungsaggregat und wichtige Teile der Aggregate der anderen beeinflussenden Variablen. Sie sind nicht mehr nur benennbare Geisteskräfte.
Wenn man dieses Glied als „Kontakt“, seine übliche Übersetzung, bezeichnet, vermittelt dies den Eindruck, dass es um die physische Kontaktaufnahme mit einem Objekt geht, aber darum geht es nicht. Vielmehr handelt es sich um eine Weise, sich über ein Objekt gewahr zu sein, das, weil wir es unterscheiden, kontaktiert wird. Das Kontaktbewusstsein unterscheidet, ob so ein Objekt angenehm, unangenehm oder neutral ist. Wenn ein man ein Beispiel aus dem Feld physischer Erfahrungen nimmt, dann ist der Fötus jetzt fähig, das Erleben von heiß und kalt oder auf und ab zu unterscheiden, was er kognitiv kontaktiert. Er ist sich der physischen Erfahrung der Bewegung von auf und ab als etwas Angenehmes, Unangenehmes oder Neutrales bewusst.
Durch was wird dies bestimmt? Durch das Karma. Hier fangen karmische Resultate an zu reifen, die ihrer Ursache ähnlich sind (tib. rgyu-mthun-gyi ‘ bras-bu). Da wir in unseren vergangenen Leben angenehme oder unangenehme Situationen geschaffen haben, begegnen wir den Dingen, derer wir uns gewahr werden, auf dieser Entwicklungsstufe als etwas Angenehmes oder Unangenehmes. Obwohl das Unterscheidungsaggregat und andere beeinflussenden Variablen, wie das kontaktierende Bewusstsein, funktionieren, arbeitet das Aggregat der Empfindungen noch nicht. Es ist anwesend, jedoch noch in einer undifferenzierten Form, als benennbare Geisteskraft. Anders ausgedrückt, sind wir uns der Objekte, die wir kontaktieren, als etwas Angenehmes, Unangenehmes oder Neutrales bewusst, doch wir fühlen uns als Reaktion darauf noch nicht glücklich, unglücklich oder neutral.
Das siebte Glied: Das Empfinden eines Grades von Glück
Das siebte Glied ist das Empfinden eines Grades von Glück (tib. tshor-ba). Ab diesem Zeitpunkt funktioniert auch das Aggregat der Empfindungen. Das Empfinden wird definiert als die Art und Weise, wie wir das erleben, was durch unser Karma herangereift ist. Wir erleben Glück entsprechend dem Kontaktbewusstsein einer angenehmen physischen Erfahrung oder Unglück entsprechend dem Kontaktbewusstsein einer unangenehmen Situation. Oder wir erleben weder Glück noch Unglück, oder nur einen sehr niedrigen Grad von einem der beiden, in Übereinstimmung mit dem Kontaktbewusstsein eines neutralen Gefühls.
Diese viereinhalb Glieder – das resultierende aufgeladene Bewusstsein, benennbare Geisteskräfte mit oder ohne grobe Form, Anreger der Wahrnehmung, Kontaktbewusstsein und das Empfinden eines Grades von Glück – sind die resultierenden Glieder aus dem, was geworfen wurde. Jetzt funktioniert der vollends herangereifte Mechanismus aller fünf Aggregate. Alles ist vorhanden, um unsere samsarische Situation unkontrollierbar wiederkehren zu lassen.
Der Fötus im Bauch ist sich beispielsweise der Auf- und Abbewegung als eine ungenehme Situation bewusst. Er ist unglücklich und mag diese Sinnesempfindung nicht. Mit Widerwillen tritt er um sich, um es zu stoppen. Der Drang zu treten kommt hoch; er lebt den Drang mit einem Impuls von Energie aus und tritt. Dies verursacht, dass die Mutter mit Kontaktbewusstsein eine physische Erfahrung als etwas Unangenehmes erlebt; sie erfährt Unbehagen. Das ärgerliche Treten und das Schaffen von Umständen, die dazu führen, dass die Mutter Unbehagen erlebt, schafft die Ursachen dafür, sich in der Zukunft der Dinge als etwas Unangenehmes bewusst zu sein und Unglücklichsein zu empfinden. Ein anderer Fötus könnte dieselbe Erfahrung des Auf- und Abhüpfens als etwas Angenehmes und Entspannendes wahrnehmen und als Reaktion darauf glücklich und ruhig werden. Es rührt alles vom Karma her.
Fragen über die zukünftige Wiedergeburt
Reifen die Hinterlassenschaften des werfenden Karmas im nächsten oder im übernächsten Leben heran?
Die Hinterlassenschaften des werfenden Karmas können unmittelbar in der nächsten Wiedergeburt oder in irgendeiner Wiedergeburt danach heranreifen. Wenn es jedoch einmal aktiviert ist, wirft es uns in die unmittelbar folgende Wiedergeburt. Wir haben die Hinterlassenschaften Millionen werfender Karmas in unserem geistigen Kontinuum. Wenn die Nachwirkung eines bestimmten werfenden Karmas zum Zeitpunkt unseres Todes aktiviert wird, wirft es uns in die nächste Wiedergeburt und beginnt dabei mit dem Bardo-Übergangszustand. Im Bardo haben wir einen feinen Körper aus Licht, der schon die Form unserer nächsten Wiedergeburt aufweist. Wenn wir als ein Mensch wiedergeboren werden sollen, hat der Körper die Form der Erscheinung, die wir als Achtjähriger haben werden.
Es gibt Lehren, wonach das Bewusstsein im Bardo seine zukünftigen Eltern in sexueller Umarmung sieht. Woher weiß es, wann es einzutauchen hat?
Wie gesagt: es ist eine große Frage, wann genau die nächste Wiedergeburt beginnt. Dies ist eine sehr schwierige Frage. Es gibt klassische Beschreibungen darüber, wie das Bewusstsein erst die Vereinigung von Vater und Mutter beobachtet, dann in den Mund des Vaters eintritt, durch sein Sexualorgan zusammen mit seiner Samenzelle in den Bauch der Mutter gelangt und sich dort schließlich mit der Eizelle verbindet. Wenn das Bewusstsein als Mann wiedergeboren wird, dann fühlt es Abneigung gegen den Vater und Anziehung zur Mutter – und wenn es als Frau wiedergeboren wird, dann verhält es sich andersherum. Ich denke, wir können dies logisch ein bisschen weiter ausdifferenzieren, um Homosexuelle und Bisexuelle einzuschließen. Man könnte in einen männlichen Körper hineingeboren und Abneigung gegen die Mutter hegen usw. Das werfende Karma bestimmt, ob man Mann oder Frau wird, während das vervollständigende Karma bestimmt, welche sexuellen Vorlieben man hat.
Die Frage ist nun, ob man diese Beschreibung wörtlich oder metaphorisch verstehen sollte. Ob sich das Bewusstsein mit der Samenzelle und der Eizelle nun zum Zeitpunkt der Empfängnis verbindet oder nicht, es denkt auf jeden Fall nicht bewusst: „Wo sind meine Mutter und mein Vater? Ah, da sind sie!“. Es wählt nicht. Es steht nicht im Bardo herum, beobachtet Paare und wartet bis das richtige mit dem Geschlechtsverkehr beginnt. Es ist eher wie magnetische Anziehungskraft. Es gibt überhaupt keine Kontrolle. Ein Bewusstsein wird einfach zu einer bestimmten physischen Basis hingezogen. Ich tendiere dazu anzunehmen, dass die klassische Beschreibung des Weges des Bewusstseins durch den Mund des Vaters usw. nicht wörtlich verstanden werden sollte. Doch wenn wir etwas im Dharma diskutieren, müssen wir mit dharmischen Gründen argumentieren und nicht einfach sagen „Ich glaube nicht, dass es so ist“.
Diese Beschreibung der Wiedergeburt ist vorwiegend in Tantra-Quellen zu finden. Im Anuttarayoga, der höchsten Stufe des Tantra, will man den Prozess des Todes, Bardo und Wiedergeburt bereinigen. Um sie zu transformieren und zu reinigen meditieren wir in einem Prozess der analog zu Tod, Bardo und Wiedergeburt verläuft. Die Beschreibung des Universums im „Guhyasamaja-Tantra“, mit dem Berg Meru, den vier Kontinenten, den Elementen usw. ist dieselbe wie die Beschreibung in den Abhidharma-Texten des Sutra. Das „Kalachakra-Tantra“ hat eine andere Beschreibung, in der der Berg Meru und die elementaren Mandalas im Verhältnis zum menschlichen Körper stehen. Sich auf diese Darstellung stützend, können wir auf eine Art meditieren, in der das Kalachakra-Mandala dieselben Proportionen wie das Universum und der menschliche Körper hat. Auf diese Weise können wir gleichzeitig unsere interne und externe Situation bereinigen. Auf ähnliche Weise meditieren wir, wenn wir im Anuttarayoga-Tantra den Geburtsprozess bereinigen wollen auch in Analogie zum Geburtsprozess. Wir meditieren, dass unser Bewusstsein in den Mund der männlichen Gottheit eintritt und, mit einem Gefühl der Wonne, durch das männliche Organ in den Bauch der weiblichen Gottheit eintritt. Alle Figuren im Mandala werden durch Tropfen im Leib der weiblichen Gottheit erzeugt und diese Figuren kommen dann aus dem Mutterleib hervor und nehmen ihren Platz im externen Mandala ein.
Genau wie die Beschreibung des Universums im Kalachakra eine geeignete Beschreibung für die Meditation ist und nicht wörtlich genommen werden sollte, so ist auch die Beschreibung des Wiedergeburtsprozesses, die wir im „Guhyasamaja-Tantra“ finden, nicht wörtlich zu nehmen. Man bietet damit nur eine geeignete Analogie zum Zweck der Meditation. Ich denke, dass dies entsprechend der buddhistischen Logik ein überzeugendes Argument dafür ist, die Erklärung nicht wörtlich zu nehmen, die besagt, die Wiedergeburt beginne in dem Moment kurz bevor der zukünftige Vater in den Bauch der zukünftigen Mutter ejakuliert.
Was ist mit Retortenbabys und befruchteten gefrorenen Eizellen?
Laut der traditionellen Darstellung können wir durch den Mutterleib, durch ein Ei, durch Hitze und Feuchtigkeit oder durch Transformation geboren werden. In den klassischen Texten steht sogar, dass der Mensch auf alle vier Arten geboren werden kann. Wir müssen darüber nachdenken, worauf sich dies möglicherweise beziehen könnte. Vielleicht beziehen sie sich auf einige dieser modernen Arten des Geborenwerdens. Durch ein Ei geboren zu werden, bezeichnet man als „zweimal Geborenwerden“, weil man in ein Ei geboren wird und dann wieder aus dem Ei heraus geboren wird. Man kann sich einen ähnlichen, zweistufigen Prozess vorstellen, wenn eine Eizelle im Bauch der einen Mutter befruchtet und dann in den Bauch einer anderen Mutter implantiert wird. So wird man zweimal geboren. Wenn sich eine Samen- und eine Eizelle in einem Reagenzglas verbinden und dann in den Bauch einer Frau implantiert werden oder sogar in einem künstlichen Umfeld entwickelt werden, was bestimmt eines Tages kommen wird, könnten solche künstlichen Situationen der „Geburt durch Hitze und Feuchtigkeit“ ähneln. „Geburt durch Transformation“ hört sich für mich wie Klonen an; es gibt die Transformation einer Zelle in einen anderen Körper, ohne die Befruchtung einer Samenzelle und einer Eizelle. Wenn wir unsere Phantasie benutzen, könnten wir uns darauf einigen, dass es diese vier Arten von Geburten sogar bei Menschen gibt. Selbstverständlich bräuchten wir das Karma, um auf dem einen oder den anderen Weg geboren zu werden.
Im Falle gefrorener Embryonen ist es schwierig zu sagen, ob das Bewusstsein schon in einen Embryo eingetreten ist oder nicht. Es gibt offensichtlich beide Möglichkeiten. Doch selbst wenn es eingetreten ist, ist es einfach eine andere Erfahrung. Es gäbe das subjektive, individuelle Erleben eines Zustandes zeitweilig aufgehobenen Lebens oder Komas, da die physische Basis gefroren ist. Es ist ein Überbleibsel einer vorherigen Wiedergeburt in einer kalten Hölle. Solche Phänomene werden in den Gesetzen des Karmas beschrieben.
In welchem Moment beginnt der Fötus, neues Karma zu erzeugen?
Als Antwort auf das Empfinden von Glücklichsein oder Unglücklichsein, kommen störende Emotionen auf, da wir am Glücklichsein haften und es nicht loslassen wollen; oder, wir mögen das Unglücklichsein nicht und wollen es los werden. Als Reaktion auf Gefühle wie Glücklichsein oder Unglücklichsein tauchen störende Emotionen, wie Anhaftung oder Abneigung, auf. Diese störenden Emotionen motivieren uns, etwas dagegen zu tun. Auch eine Intention ist dabei. Dann gibt es den Energieimpuls, mit dem der Fötus die Mutter tritt. Das beginnt dann mehr Karma zu erzeugen.
Wir können sehen, dass das ganze Szenario wieder von vorne begonnen hat. Wenn die Mutter anfängt, Groll gegen das Wesen in ihrem Bauch zu hegen, das sie tritt und ihr ständiges Unwohlsein verursacht, könnte das der Beginn einer schlechten Beziehung zwischen der Mutter und dem Kind sein. Vielleicht hegt auch der Vater Groll gegen das Baby, weil es der Mutter so starkes Unwohlsein verursacht, dass sie nicht fähig ist, ihm Zuneigung und Aufmerksamkeit zu schenken. Das Karma reift in den Umständen, die das Baby erlebt. In diesem Beispiel wird es in eine Situation hineingeboren, in der die Eltern schon Groll gegen es hegen, da es die ganze Zeit getreten hat. Es wird wahrscheinlich die ganze Zeit treten und schreien, weil es alles als unangenehm erlebt und unglücklich und wütend ist. Die Eltern wünschen sich dann vielleicht umso mehr, dass das Baby still ist, was das Baby sogar als noch unangenehmer empfinden wird und noch mehr ausflippt. All dies zusammen ist das Heranreifen von Karma. Das Baby macht es, unkontrollierbar, nur noch schlimmer. Willkommen im Samsara!
Wenn sich aber die Mutter schon in einem Reinigungsprozess befindet, so ist dies eine begünstigende Voraussetzung für das Kind, oder?
Nicht notwendigerweise. Erinnert euch daran, als es darum ging, dass das Karma nicht auf lineare Weise heranreift. Wir können viel üben und jeden Tag meditieren und trotzdem Krebs bekommen und sterben. Das, was heranreift, kann aus lange zurückliegenden Leben kommen. Eine Mutter mag eine gute Praktizierende sein und kann trotzdem ein Baby haben, das schreit, weint und dem es immer schlecht geht. Es bedeutet nicht, dass ein Übender einen netten, kleinen Buddha bekommen wird.
Ein erleuchtetes geistiges Kontinuum nimmt aus Mitgefühl weiterhin Wiedergeburten an, mit absoluter Kontrolle, anstatt aus Verwirrung, und wird wiedergeboren wo, wann und unter den Umständen die er oder sie möchte. Ist das korrekt?
Korrekt.