Heute werdet ihr mir zuhören, aber die Worte, die aus meinem Mund kommen, wurden bereits viele Male vom Buddha selbst und von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama gesprochen. Gyalse Togme Zangpo, der Autor des Textes, belehrt uns auf indirekte Weise.
Hier haben wir, als Dharma-Freunde, bereits viele Male Seiner Heiligkeit und anderen Lehrern zugehört, aber dennoch sind wir wie Steine. Es hat sich nicht viel geändert. Wenn wir das Zufluchtsgebet rezitieren, sollten wir versuchen, über die Drei Juwelen und die Gründe der Zufluchtnahme nachzudenken. Wir nehmen Zuflucht, weil wir das Gefühl haben, dass es notwendig ist, nicht nur für unseren eigenen Nutzen und dem unserer Familie oder unseres Landes, sondern zum Nutzen aller fühlenden Wesen. Alle fühlenden Wesen haben das Recht glücklich zu sein und das Recht nicht unglücklich zu sein. Daran sollten wir denken. Auf diese Weise halten wir alle fühlenden Wesen in unserem Herzen. Rezitieren wir dann das Zufluchtsgebet, werden es nicht nur leere Worte sein, die aus unserem Mund kommen, sondern etwas, was von Herzen kommt. Lasst uns nun unsere Motivation festlegen, indem wir Zuflucht nehmen.
Bis zur Erleuchtung nehme ich Zuflucht in die Buddhas, den Dharma und die höchste Gemeinschaft. Möge ich durch die positive Kraft meines Gebens und so weiter zum Wohle aller Wesen Buddhaschaft erlangen.
Unser kostbares menschliches Leben nutzen
(2) Die Übung der Bodhisattvas ist, den Heimatort zu verlassen, wo uns einerseits die Anhaftung an Freunde aufwühlt wie Wasser und andererseits der Ärger über Feinde wie Feuer in uns brennt, und wo uns Naivität in Dunkelheit hüllt, sodass wir vergessen, was anzunehmen und was aufzugeben ist.
Wir können sagen, dass nichts wirklich falsch daran ist, unsere Familie zu lieben und an ihr zu hängen, sowie unsere Feinde nicht zu mögen. Doch all das ist relativ. Wir müssen in der Lage sein, Grenzen zu setzen. Natürlich muss es Liebe und Anhaftung geben, wenn wir uns um unsere Familie kümmern. Warum würden wir uns sonst überhaupt mit ihr befassen? Und wenn jemand schlechte Dinge über uns oder unsere Familie sagt und uns fälschlicherweise beschuldigt, etwas Schlimmes getan zu haben, können wir natürlich sagen: „Nein, das war ich nicht! Du beschuldigst mich ohne Grund!“
In diesem Vers geht es um Anhaftung und Klammern, was in allen von uns zu finden ist. Das Problem besteht darin, dass wir Dinge nicht einfach loslassen können. Was wir tun müssen, ist, sie loszulassen, aber das können wir nicht so einfach. Ein gutes Beispiel hierzu stammt von einem meiner Lehrer. Seine Schwester war verheiratet, doch die Beziehung war schlecht, weil ihr Mann sie betrog. Sie war tief bekümmert und rief meinen Lehrer einmal an, als ich gerade bei ihm saß. Sie begannen miteinander zu reden und ich habe gut zugehört. Er deutete mir an zuzuhören, obwohl das Telefongespräch recht persönlich war und ich fragte mich, ob er versuchte, mich damit indirekt zu belehren! Sie klagte ihm also ihr Leid und er hörte zu. Dann stellte er ihr nur eine Frage: „Liebst du deinen Mann sehr?“ Mit Tränen erwiderte sie: „Natürlich tue ich das.“ Er sagte: „Warum lässt du ihn dann nicht einfach gehen, wenn er mit einer anderen glücklich ist?“
Es ist so schwer, das zu tun, doch im Grunde ist es reine Liebe. Solche Dinge passieren uns und sind uns selbst mit großer Wahrscheinlichkeit schon in unserem eigenen Leben und dem unserer Familie passiert. Ist die Person kein Praktizierender, kann es schwer sein, ihr diese Unterweisung zu erklären. Geben wir diesen Rat unseren Freunden, werden sie wahrscheinlich denken, wir hätten ein Herz aus Stein! Was können wir also tun, wenn wir mit solch großen Problemen, wie die Schwester meines Lehrers, konfrontiert werden? Nun, haben wir irgendein Problem, gibt es immer zwei Möglichkeiten: klammern oder loslassen. Fühlen wir uns verloren, hoffnungslos und einsam, muss das nicht so sein. Das Problem ist, dass wir immer klammern. Wir können Dinge nicht einfach loslassen. Das ist Samsara.
Mein Lehrer redete seiner Schwester mehrere Male gut zu und schließlich entschied sie sich, ihr Klammern aufzugeben. Sie sagte zu ihrem Mann: „Gut, wenn du mit einer anderen Frau zusammen sein willst, dann geh, du bist frei!“ Jetzt, sechs oder sieben Jahre später, hat ihr Mann große Wertschätzung ihr gegenüber und reine Liebe für sie. Ich traf ihren Mann und wir redeten über den Rat meines Lehrers und darüber, wie sie praktizierte und viel weinte. Er merkte, dass er etwas Furchtbares getan hatte. Das ist die Kraft der Praxis. Es ist nicht einfach, aber wir können es tun.
Im Vers heißt es, dass unsere Anhaftung an Familie und Freunde wie ein reißender Strom ist. Anhaftung bringt alles zusammen. Laut dem Buddha haben wir unseren Körper aufgrund von Anhaftung bekommen. Unser Geist denkt ständig: „dies mag ich; das brauche ich; das will ich, jenes mag ich nicht“ und so weiter. Das ist unsere Anhaftung. Sie ist so stark. Sogar, wenn wir wütend werden, geschieht es oft aus Anhaftung gegenüber uns selbst oder unseren Besitztümern. Wir sehen, wie jemand unsere Dinge durcheinanderbringt und sofort werden wir wütend. Nachdem wir uns beruhigt haben, erkennen wir wahrscheinlich, wie dumm wir waren und dass wir nicht so handeln sollten. All diese körperlichen und geistigen Taten passieren, um uns vor etwas zu „beschützen“. Daher kämpfen wir. Jemand sagt etwas Schlechtes über uns und wir können uns nicht kontrollieren. Alles, was wir tun wollen, ist diese Person zu vernichten.
Wenn wir jedoch einmal darüber nachdenken, ist es doch so: Wenn jemand etwas Verletzendes sagt und wir uns dagegen wehren wollen, sind es die Worte, die uns ärgern. Sollten wir also gegen die Worte ankämpfen? Wir denken allerdings nicht klar und verlieren die Kontrolle. In „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ sagt Shantideva, dass wir so wütend werden, wenn jemand uns mit einem Stock schlägt, aber nicht wütend auf den Stock sind – den eigentlichen Gegenstand, der uns körperlich wehtut. Vielmehr werden wir zornig auf die Person, die den Stock benutzt. So, wie wir nicht auf den Stock, sondern die Person wütend werden, die ihn hält, sollten wir laut Shantideva unsere Wut auf das lenken, was die Person beherrscht: ihr eigenes mangelndes Gewahrsein, ihren Zorn und ihre Anhaftung. Logisch gesehen ergibt das einen Sinn, doch es ist schwierig für uns, so zu denken.
Wenn wir Wut und Abneigung empfinden, können wir die Situation nicht klar durchschauen. Haben wir starke Anhaftung, klammern wir und fühlen uns hoffnungslos. Ich habe Probleme mit Anhaftung und daher frage frage ich stets einen meiner Lehrer deswegen um Rat. Ich bitte ihn nie, mir Belehrungen über den Lam-rim zu geben! Ich sage: „Ich habe Gefühle für diese oder jene Frau. Ich habe bereits versucht, einige der Lehren anzuwenden, doch ohne großen Erfolg, daher bitte ich um ein paar Tips.“ Nicht jeder Lehrer kann auf solche Fragen direkte Antworten geben, doch er versteht mich auf dieser zwischenmenschlichen Ebene. Und ich sage, dass er mir bitte keine Rede über die Vergänglichkeit halten soll! Der typische Rat lautet, über die Vergänglichkeit nachzudenken und darüber, dass der Körper aus Blut, Knochen und all diesen Dingen besteht. Sogar wenn man zu einer öffentlichen Einäscherung geht und sieht, wie das Gehirn herauskommt, hilft es nicht weiter. Ich habe so viele Freunde, die Ärzte sind und ihre Frauen betrügen. Jeden Tag operieren sie und entnehmen Organe, doch trotz allem haben sie eine starke Anhaftung an den menschlichen Körper!
Dieser äußerst gütige Lehrer sagt mir immer, dass Anhaftung unser größter Feind ist. Wenn wir über Anhaftung sprechen, sollte unser Geist ganz automatisch die Nachteile erkennen. Der erste Nachteil der Anhaftung ist, dass es keine Garantie dafür gibt, erfolgreich zu sein, auch wenn wir noch so sehr versuchen, etwas zu bekommen. Wir verlieben uns, doch dann sehen wir, wie das Objekt unserer Anhaftung mit anderen ausgeht, was so schwer zu ertragen ist. Das ist der erste Schmerz der Anhaftung.
Der zweite ist, dass es keine Grenzen für unsere Anhaftung gibt, auch wenn wir etwas bekommen. Seht nur, wie viele Beziehungen nach nur wenigen Monaten oder auch nach vielen Jahren in die Brüche gehen. Wir greifen immer nach etwas Neuem oder Aufregendem, und nicht nur in Bezug auf Beziehungen, sondern auch was Nahrungsmittel, technische Geräte und Kleidung betrifft. Dank unserer Anhaftung macht Apple so gute Geschäfte! Und auch wenn wir bereits so viele Sachen zum anziehen haben, sehen wir irgendeine neue Mode und denken: „Das muss ich auch haben!“ Wir sind nie zufrieden und das heißt, wir können nie „gewinnen“. Wir werden nie zu dem Punkt kommen, an dem wir zufrieden sind und sagen: „Jetzt reicht es.“
Mein Lehrer meinte, dass selbstverständlich niemand von uns so denkt, wenn wir uns mitten in der Anhaftung befinden, doch so sollten wir versuchen, uns darin zu schulen. Es geht nicht darum, sich nicht mehr zu verlieben oder kein neues Telefon mehr zu kaufen, doch wir sollten uns bewusst über die Nachteile sein und mit ihnen rechnen.
Gyalse Togme Zangpo sagt, dass wir den Heimatort verlassen sollen. Doch was heißt das? Sollen wir unsere Familie verlassen, unsere Pässe abgeben oder soll ich weit weg von meiner Heimat Spiti in Indien ziehen? Nein, das bedeutet es nicht. Es bedeutet, unser Klammern, unsere Anhaftung und unsere Wut aufzugeben. Wenn wir merken, dass diese Dinge hochkommen, lassen wir sie los. Sagt unser Freund dann etwas Gutes oder Schlechtes zu uns, sind wir bereit, es zu akzeptieren und reagieren nicht auf verrückte Weise. Wenn unser Freund uns nervt oder verletzt – nun, wir sind nicht perfekt und warum sollte unser Freund perfekt sein? Sagt unser Feind schlechte Dinge über uns und hasst uns, haben wir einen gewissen Abstand und können uns damit arrangieren. Unseren Heimatort zu verlassen bedeutet, unsere gewöhnliche Weise des Reagierens mit Anhaftung und Wut hinter uns zu lassen.
Mache ich beispielsweise meine Gebete und Praktiken, habe ich eine Tendenz, besonders an das Glück meiner Eltern, Begleiter und Sponsoren zu denken, doch das ist nicht richtig. Unsere Motivation beim Beten sollte unvoreingenommen sein, so wie bei den Buddhas und Bodhisattvas. Bete ich nur für meine Familie und jene, die mir nahestehen, und vergesse all die anderen zahllosen Wesen, ist das Klammern. Damit würde ich meinen Heimatort fördern. Den Heimatort zu verlassen ist also eine mentale und keine körperliche Sache.
Geistige Stabilität durch Zurückgezogenheit schaffen
(3) Die Übung der Bodhisattvas ist, sich der Einsamkeit abgelegener Orte anzuvertrauen, wo die störenden Emotionen und Einstellungen nach und nach verblassen, indem wir von der Beschäftigung mit abträglichen Objekten ablassen, und wo unsere aufbauenden Aktivitäten auf natürliche Weise zunehmen, weil es keine Ablenkungen gibt, und, indem wir unser Gewahrsein läutern, die Gewissheit hinsichtlich des Dharma wächst.
In der Regel tun wir das. Haben wir Probleme mit der Familie oder auf der Arbeit, wollen wir davonlaufen und einen abgelegenen Ort finden, wandern gehen oder was auch immer. Das Wochenende ist im Westen ziemlich wichtig. Ihr wollt es gut nutzen, indem ihr an den Strand, in den Wald oder zum Grillen geht. Der Samstag ist schnell um und der Sonntag auch. Ich habe in Kanada studiert, daher weiß ich es. Die Wochentage verbringt man auf der Arbeit mit dem Chef und den Kollegen. Am Wochenende haben wir dann das Bedürfnis davonzulaufen und mit der Familie, oder vielleicht sogar auch ohne sie, einen abgelegenen Ort aufzusuchen. Dort wollen wir etwas inneren Frieden finden. Auf der einen Seite ist das ein Schritt in die richtige Richtung, aber das ist nicht wirklich genug. Es ist ein bisschen so, als würde man sich betrinken und in einen Rauschzustand versetzen, doch nach ein paar Stunden ist alles wieder im Normalbereich und wir müssen uns der Realität stellen. Doch wir tun es immer und immer wieder.
Bodhisattvas gehen an abgelegene Orte, um sich selbst darauf vorzubereiten, gegen Probleme und Hindernisse angehen zu können. Wenn es keine Ablenkungen gibt, bauen wir ganz natürlich Stärke auf. Aus diesem Grund hat Buddha den Pfad für Mönche und Nonnen geschaffen, denn für gewöhnlich gibt es weniger Ablenkungen, was samsarisches Leben betrifft, wenn man ein Mönch oder eine Nonne ist. Der Buddha hat ziemlich viele Einschränkungen festgelegt, Dinge, die man tun oder lassen sollte. Sie alle sind hilfreich für unsere Praxis.
Bodhisattvas müssen einen abgelegenen Ort aufsuchen und dort in meditativer Ausgewogenheit bleiben, doch das können sie nicht ewig tun. Das sagte der Buddha. Bodhisattvas können meditative Ausgewogenheit praktizieren, um gegen störende Emotionen anzugehen und sich auf Leerheit zu fokussieren. Sie können es für Wochen und Monate tun, jedoch nicht für Jahre und Zeitalter. In den Sutras heißt es, dass Bodhisattvas in tiefer Meditation von den Buddhas aufgeweckt werden. Man kann das mit einem Schnipsen oder einem Wecker vergleichen, keinem echten Wecker, doch etwas, was es im Geist der Bodhisattvas bereits gibt. Manchmal merken wir, dass wir aufwachen, bevor unser Wecker klingelt. Das ist mir heute passiert. Ich bin etwa fünf Minuten vorher aufgewacht. Genauso verhält es sich mit Bodhisattvas. Sie sind überaus engagiert und ihr Sinn und Zweck besteht darin, anderen zu helfen. Es ist ihre Praxis, anderen zu helfen und daher können sie nicht einfach irgendwohin gehen und ewig meditieren.
Wir versuchen, in den Fußstapfen der Bodhisattvas zu folgen. Es ist wichtig, dass wir unsere negativen Emotionen untersuchen und versuchen zu verstehen, wie sie entstehen. Was ist das Gegenmittel für unsere störenden Emotionen? Wir beginnen damit, Shamatha, einen still gewordenen und zur Ruhe gekommenen Geisteszustand zu entwickeln. Was uns fehlt, sind nützliche Gewohnheiten. Doch zum Glück ist alles vorübergehend und daher können wir uns ändern. Es verhält sich wie mit den Bläschen im Ozean. Es gibt so viele wunderschöne Bläschen im Ozean, sie kommen für ein paar Sekunden hoch und dann sind sie verschwunden. Wenn wir die Unterweisungen von großen Lehrern, wie Seiner Heiligkeit, hören, tun wir es am Morgen, doch schon am Nachmittag sind sie alle wieder aus unserem Geist verschwunden! Um die Lehren im Geist behalten zu können, ist es notwendig, sich mit Shamatha zu fokussieren. Um Shamatha zu entwickeln, können wir nicht damit fortfahren, unsere Leben so zu führen, wir wir es normalerweise tun. Wir müssen uns wirklich fokussieren. Daher gehen Bodhisattva an einen abgelegenen Ort. Schädliche und störende Emotionen lösen sich allmählich auf und dann haben sie die Möglichkeit, sich mehr auf die Vorteile von Bodhichitta und Leerheit zu richten. Auf diese Weise bemüht man sich, Shamatha zu entwickeln.
Wenn wir uns in Tugend üben, gibt uns das ganz automatisch Kraft. Mit dem klaren Fokus von Shamatha werden wir überzeugt von den Lehren. Das muss man nicht so lang machen, sondern es einfach ausprobieren, vielleicht jeden Tag eineinhalb Stunden. Doch man sollte es jeden Tag machen und dann wieder zu den Lehren Seiner Heiligkeit kommen.
Einmal redete ich mit einem Freund, der ein Laie ist, darüber, was Seine Heiligkeit uns rät und er hörte zu und praktizierte. Im Grunde sollte er mein Lehrer sein. Nach einem Jahr kam er wieder zurück und sagte: „Rinpoche, wenn ich mir jetzt die Lehren Seiner Heiligkeit anhöre, habe ich das Gefühl, er ist so viel besser geworden.“ Ich fragte: „Wie meinst du das?“ und er antwortete: „Vor zwei Jahren, als ich ihm zuhörte, habe ich nicht viel mitbekommen, doch jetzt fühle ich mich so mit ihm verbunden und seine Lehren geben mir so ein unfassbares Gefühl, dass ich es kaum beschreiben kann. Vielleicht ist Seine Heiligkeit ein besserer Lehrer geworden.“ Tatsächlich ist Seine Heiligkeit derselbe, doch mein Freund hat sich durch seine Praxis geändert.
Das können wir auch. Wenn wir uns fokussieren, können so viele wunderbare Dinge in unserem Geist geschehen. Gestern habe ich mich mit einem Freund unterhalten. Jemand hatte etwas wirklich Schlechtes zu ihm gesagt und er konnte daraufhin nachts nicht schlafen. Er wollte einfach nur mit ihm kämpfen. Es gab nicht viel, was ich tun konnte. Er war ziemlich engstirnig und voreingenommen, und so musste ich warten, bis er sich beruhigt hatte. Haben wir jedoch unsere eigene Praxis, müssen wir nicht auf andere hören. Oft ist es so, dass die Hilfe von Freunden eigentlich negativ für uns ist. Vielleicht sagen wir zu unserem Freund: „diese Person hat etwas Schlechtes zu mir gesagt“, worauf der Freund erwidert: „ja stimmt, diese Person ist wirklich schlecht!“ Unsere Freunde wollen uns beistehen, doch damit helfen sie uns nicht wirklich. Vielleicht hat jemand wirklich etwas Schlechtes zu uns gesagt, doch wenn unsere Freunde dann kommen und uns beistehen, wird diese Person zu 100% ein schlechter Mensch. Diese Art der Hilfe brauchen wir nicht von anderen!
Ich sage nicht, unsere Freunde, die versuchen uns zu helfen, hätten schlechte Absichten. Keineswegs. Doch die Weise, wie sie uns helfen, ist völlig falsch. Wenn wir unsere eigenen Praktiken haben, können wir uns diesen Problemen stellen. Einige meiner Freunde haben Probleme mit ihren „Feinden“ und dann sage ich: „Eigentlich sind sie gar nicht so und haben es nur gesagt, weil sie so ein Gefühl hatten, und auch du hast etwas falsch gemacht.“ Dann sagen sie: „Gut, da ist was Wahres dran. Morgen werde ich versuchen, meinem Feind ein Lächeln zu schenken.“ Einer meiner Freunde sagte später: „Ich habe ihm zugelächelt, als er mich nicht gesehen hat.“ Nun, das ist zumindest ein Anfang!
Die Besessenheit in Bezug auf dieses Leben aufgeben
(4) Die Übung der Bodhisattvas ist, vom ausschließlichen Trachten nach den Belangen des jetzigen Lebens abzulassen, in dem sich Freunde und Bekannte, die lange vereint waren, schließlich doch trennen müssen, Reichtum und Besitztümer, die mit Anstrengung zusammengetragen wurden, doch zurückgelassen werden müssen, und unser Bewusstsein, der Gast, das Gasthaus des Körpers verlassen muss.
In unserem Geist ist alles so festgeschrieben. Er ist Teil meiner Familie, sie ist meine Freundin und das sind unsere Feinde. Alles ist wie in Stein gemeißelt und das ist ein Zeichen dafür, dass wir uns von Beständigkeit beherrschen lassen. Wir meinen, alles wäre dauerhaft und davon müssen wir ablassen.
Unser Leben planen wir stets so, als wäre alles beständig. Gyalse Togme Zangpo sagt, dass eine Zeit kommen wird, in der wir uns auch von unserem besten Freund trennen müssen, dem wir so nahestehen, dass wir sogar den Teller und unsere Kleidung mit ihm teilen. Ganz egal wie viel wir verdienen und wie viele Tränen und Bemühungen wir hineinstecken, um Geld zu verdienen, wir werden uns von allem trennen müssen, was wir angesammelt haben. Das Schwerste ist, wenn unser Bewusstsein unseren kostbaren Körper verlässt. Unser Körper ist wie ein Gasthaus, doch diese Worte wollen wir nicht hören und erst recht nicht glauben. Doch unsere Körper sind Gasthäuser und wir werden 60 oder 80 Jahre in ihnen bleiben.
Betrachten wir das Leben, so sehen wir, dass Freunde sich ändern, Dinge alt werden und wir neue kaufen müssen, dass sich unser Körper und auch unser Geist verändert. Das ist bereits ein Zeichen dafür, dass wir alles zurücklassen werden müssen. Wir kaufen ein Haus und dann, nach einer gewissen Zeit, kaufen wir ein besseres Haus. All diese Dinge können wir ohne große Schmerzen ändern. Doch wenn unser Bewusstsein das Gasthaus dieses Körpers verlassen muss, löst das große Schmerzen aus. Diese Lektion haben wir noch nicht gelernt. Unsere Vorfahren und Großeltern, sogar Leute, die jünger sind als wir, sind von uns gegangen. Es macht uns traurig, doch wir denken nie, dass es eines Tages auch uns passieren wird. Wir haben immer das Gefühl, beständig zu sein.
Schauen wir Nachrichten, reden sie dort immer über diesen oder jenen Unfall, bei dem Menschen ums Leben gekommen sind. Wir sehen uns das an und vielleicht berührt es uns, doch wenn wir uns selbst nicht in dieser Situation sehen, fühlen wir uns ziemlich sicher. Doch all diese Menschen, denen der Unfall passiert ist, haben sich auch vorher die Nachrichten angesehen und genau dasselbe gedacht: mir wird so etwas nicht passieren. Wir wissen nie, was uns geschehen wird. Für gewöhnlich ist es jedoch so, dass wir es einfach verdrängen, wenn wir über die Möglichkeit nachdenken, dass so ein Unfall auch uns passieren könnte. Wir denken einfach nicht weiter.
In Tibet gab es einen großen Meister, der bemerkenswerte Gedichte verfasste. Er schrieb über Unbeständigkeit und darüber, dass wir Menschen ziemlich dumm sind, viel dümmer als Ziegen und Schafe. Diese Tiere werden zum Schlachter geführt, der eines nach dem anderen den Kopf abschneidet. Das nächste Tier an der Reihe zittert vor Furcht, weil es weiß, dass es getötet werden wird. Doch wir Menschen gehen in schwarzen Mänteln zu Beerdigungen und sagen nur: „Ruhe in Frieden“. Wir haben keine Angst und sind daher in mancherlei Hinsicht dümmer als Tiere.
Worum geht es bei der Furcht? Ich sage nicht, dass wir uns vor dem Tod fürchten sollten. Gyalse Togme Zangpo sagt hier, dass wir uns davor fürchten sollten, unser kostbares menschliches Leben zu vergeuden. In diesem Leben können wir eigentlich erstaunliche Dinge tun, doch oft sind wir zu faul. Unsere Faulheit übernimmt und dann endet plötzlich unser Leben. Denkt nur an all die guten Dinge, die wir tun könnten. Suchen wir den Grund dafür, sie nicht getan zu haben, so liegt er darin, dass unser Geist voll von der Vorstellung der Beständigkeit ist. Wir denken, wir würden ewig leben, doch diese Denkweise ist vollkommen falsch. Wir sollten an Gebrechlichkeit, Krankheit und Tod denken, nicht so, dass es uns Angst einjagt, sondern damit wir die kostbare Gelegenheit, die wir mit diesem Leben haben, nicht vergeuden. Dadurch sind wir dann auch bereit dafür, wenn wirklich etwas passiert. Wir sollten bereit sein zu sterben. Wir sollten auf ausgesprochen positive Weise bereit sein, unsere Familien zurückzulassen.
Ich habe ein gutes Beispiel aus der Zeit, als ich in Kanada lebte. Dort wurde ich in ein Hospiz eingeladen, wo eine Frau lag, die in ihren Fünfzigern war und einen Hirntumor hatte. Sie hatte gehört, dass es einen Rinpoche in der Gegend gab und wollte mich treffen. Ich dachte, dass sie vielleicht Angst davor haben würde zu sterben. Ich ging zu ihr und sprach darüber, dass man keine Angst vor dem Sterben haben sollte. Sie hörte aufmerksam zu und ihr wisst, wie ich gern immer weiter rede und nicht aufhören kann. Schließlich hielt ich inne und sie sagte: „Ich habe 30 Jahre Buddhismus studiert und habe all meine Energie genutzt, um zu praktizieren. Daher habe ich überhaupt keine Angst vor dem Tod. Ich bin bereit zu sterben. Was mir Angst macht, sind die Medikamente, die ich von den Ärzten wegen der Schmerzen in meinem Körper bekomme. Unter diesen Medikamenten kann ich nicht an meine Praxis denken. Was wird mit meinem zukünftigen Leben, wenn ich sterbe, ohne an den Dharma zu denken?“
Das hatte ich nicht von ihr erwartet. Von dieser Frau hatte ich etwas gelernt. Ich saß dort für fünf Minuten in Stille und dachte nach. Dann erinnerte ich mich an eine wunderbare Unterweisung Seiner Heiligkeit. Laut ihm ist der Einfluss unserer Praxis einfach unglaublich. Halten wir etwas wirklich Kostbares in unseren Händen, wie beispielsweise das neuste und teuerste iPhone, halten wir es fest, sogar wenn wir einschlafen. Das ist mir selbst auch passiert! Obwohl unser Fokus nicht da ist, gibt es ganz automatisch diesen Einfluss und wir denken: „ich darf es nicht loslassen, ich muss es festhalten.“ Wenn ein neues iPhone herausgebracht wird, gibt es auch schon die Cover und Hüllen dafür zu kaufen. Sie wissen, wie unser Geist funktioniert. Wenn man schon so viel Geld für ein neues Telefon ausgegeben hat, wird man auch eine Hülle dafür kaufen. Man will es festhalten und nicht fallenlassen. Genauso verhält es sich mit unserer Praxis. Wenn man einmal ein Gefühl für Bodhichitta oder Leerheit entwickelt hat, wird man es nicht mehr loslassen. Hier geht es nicht darum, an etwas zu klammern, sondern zu erkennen, wie wertvoll etwas ist. Wenn man in einem Unfall stirbt, hat man keine Zeit zum praktizieren. Man denkt nicht an den Dharma, doch der Einfluss der Art des Praktizierens ist da. Man hält daran fest. Das habe ich zu ihr gesagt und sie hatte Tränen in ihren Augen. Sie dankte mir für mein Kommen und meinte, sie hatte diese Antwort erwartet. Im Grunde kannte sie die Antwort, aber brauchte einfach jemanden, der kam und es ihr sagte. Das ist etwas, das ich mit euch teilen wollte.