Heute möchte ich mit der Besprechung eines wichtigen Textes beginnen, dem so genannten „Rad scharfer Waffen“ (tib. mTshon-cha ’khor-lo). Das erste Mal habe ich ihn vor langer Zeit, in den siebziger Jahren, mit einem meiner Lehrer, Geshe Ngawang Dhargyey, in Indien studiert und ihn unter seiner Anleitung zusammen mit Sharpa Rinpoche, Khamlung Rinpoche und Jonathan Landaw übersetzt. Diese erste Übersetzung war eine poetische Interpretation, die sich schön anhören sollte, wenn man sie rezitiert. Viel später habe ich dann eine wörtliche Übersetzung erstellt, während ich den Text in Berlin, in einem Zeitraum von mehreren Jahren, langsam und systematisch durchgegangen bin. Die Aufnahmen, die sich davon auf der Webseite befinden, sind immer noch dabei, transkribiert zu werden.
Hintergrund und Geschichte des Textes
Der Text stammt aus der Lojong-Tradtion (tib. blo-sbyong) des Geistestrainings und wurde vom indischen Meister Dharmarakshita Ende des 10., Anfang des 11. Jahrhunderts verfasst. Er war einer der Lehrer Atishas, der insgesamt 157 Lehrer hatte. Die Menschen sind oft verwirrt in Bezug darauf, wie man damit klarkommt, mehrere Lehrer zu haben. Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagte, man solle sie sich wie den Avalokiteshvara mit 11 Gesichtern und 1000 Armen vorstellen. Sie sind wie verschiedene Gesichter einer Figur und befinden sich alle sehr harmonisch und verflochten miteinander im Einklang, was wirklich hilfreich ist.
Atisha war ein großer indischer Meister, der nach Sumatra in Indonesien reiste, um eine bestimmte Übertragungslinie der Lehren des Geistestrainings zu bekommen. Daraufhin kehrte er wieder nach Indien zurück und wurde dann nach Tibet eingeladen. Er war derjenige, der nach dem Rückgang des Dharmas am Ende der ersten Überlieferung, von der die Nyingma-Lehren ausgehen, die zweite Überlieferung aus Indien nach Tibet brachte.
Von diesem Text gibt es keine Originalversion im Sanskrit und in der tibetischen Version wird in der Schlussformel keiner der Übersetzer aufgeführt, was seltsam ist. Normalerweise gibt es in tibetischen Übersetzungen indischer Texte zu Beginn den Titel des Werkes im Sanskrit und am Ende den Namen der Übersetzer. In diesem Fall steht im tibetischen Text nur, dass er von Atisha an Dromtönpa, seinen tibetischen Schüler, weitergegeben wurde, und danach wird die Übertragungslinie aufgelistet. Ich habe den Verdacht, dass Atisha ihn nur mündlich von Dharmarakshita empfangen hatte und er erst später in Tibet, vielleicht von Dromtönpa oder jemandem, der nach ihm kam, aufgeschrieben wurde. Das wird auch durch die Tatsache bestätigt, dass die Sprache und der Stil des Textes rein tibetisch ist und ganz und gar nicht den Stil von Texten hat, die aus dem Sanskrit übersetzt wurden.
Wie dem auch sei, laut Dromtönpa hatte Atisha drei Lehrer in Bodhichitta, zwei in Indien, Dharmarakshita und Maitriyogi, und einen in Sumatra, Serlingpa, sein Lehrer der Goldenen Insel, wie Sumatra zu jener Zeit genannt wurde. Wie überliefert wurde, besaß Dharmarakshita solch großes Mitgefühl, dass er ein Stück Fleisch von seinem Bein schnitt, um es einem Kranken als eine Art Medizin zu geben. Maitriyogi war in seiner Praxis des Tonglen so fortgeschritten im Geben des eigenen Glücks und dem Annehmen des Leides der anderen, dass er selbst einen blauen Fleck an seinem Bein bekam, als ein Hund geschlagen wurde. Er war in der Lage, diese Verletzung auf sich zu nehmen. Laut Atisha war die eigentliche Quelle seiner Lehren des Geistestrainings jedoch Serlingpa.
In dieser Zeit, und viele Jahrhunderte davor, gab es zwischen Indien und Indonesien, insbesondere Sumatra, einen großen Seehandel. Zu der Zeit entfaltete sich dort ein mächtiges buddhistisches Königreich und vor kurzem fand man die Ruinen der monastischen Einrichtung in Sumatra, in der Serlingpa vermutlich Atisha unterrichtete. Dieses Zentrum der Bildung war eine riesige Anlage, sogar größer als die Nalanda-Universität. Was den indonesischen Buddhismus betrifft, so gab es in dieser Richtung wenig Nachforschungen, jedoch wurden zahlreiche Texte ins Alt-Javanische übersetzt, sie hatten dieses riesige Bildungszentrum und Serlingpa war ein großer Meister dieser monastischen Universität. Die Ort heißt Muara Jambi und die Menschen versuchen, ihn als Stätte des Weltkulturerbes anerkennen zu lassen, um Hilfen für weitere archäologische Ausgrabungen dieser Entdeckung zu bekommen.
Obwohl Atisha davon sprach, dass die Hauptquelle der Lehren des Geistestrainings in Sumatra lag und von Serlingpa kam, habe ich die Theorie, dass er vor seiner Reise dorthin bereits ähnliche Lehren erhielt, wie diesen spezifischen Text „Das Rad scharfer Waffen“ und einen zweiten von Dharmarakshita, mit dem Namen „A Peacock’s Destruction of Poison“ (tib. rMa-bya dug-’joms), wörtl. „Eines Pfaus Vernichtung von Gift“. Die Lehren dieser Texte haben viel mit den Lehren des Geistestrainings gemein und daher denke ich, dass Atisha mehr darüber erfahren wollte, nachdem er in Indien an diese Unterweisungen herangeführt wurde. Um dies zu bewerkstelligen, war es notwendig nach Sumatra zu reisen, sie in vollständiger Form nach Indien zurückzubringen und sie später nach Tibet zu überliefern.
Die Frage ist im Grunde, ob dieser Text ein Teil der Tradition des Geistestrainings oder ein Vorreiter ist. Als was betrachten wir ihn? Sehen wir uns die Sammlung von Texten des Geistestrainings aus dem 14. Jahrhundert „Hunderte Arten des Geistestrainings“ an, so enthält sie zwei Texte von Dharmarakshita. In manchen Ausgaben wird dem Titel sogar hinzugefügt: „Ein Mahayana-Geistestraining, Das Rad scharfer Waffen“, was nicht zum Titel gehört, den Dharmarakshita selbst dem Text gab.
Der Text hat viele Aspekte mit jenen der Lehren des Geistestrainings gemein, insbesondere der Praxis des „Tonglen“, des Gebens und Nehmens, die Niederlage auf sich zu nehmen und anderen den Sieg zu schenken. Der Ursprung dieser beider Lehren ist Nagarjunas Text „Eine kostbare Girlande“:
(484) Mögen alle negativen Potenziale der anderen in mir heranreifen und mögen all meine konstruktiven Potenziale in ihnen zur Reife kommen.
Shantideva lehrt ebenfalls im „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ die Praxis des Gebens und Nehmens im Widmungsgebet am Ende dieses Textes, wo er schreibt:
(X.56) Welche Leiden die wandernde Wesen auch immer erfahren könnten, mögen sie alle bei mir zur Reife kommen, und mögen die wandernden Wesen durch die Versammlung der Bodhisattvas Glück genießen.
Diese Tradition des Gebens und Nehmens, mit seiner langen Geschichte in Indien, wurde von Dharmarakshita in diesem Text mit Betonung auf die Nachteile der Selbstbezogenheit erörtert. Solch eine selbstzentrierte Geisteshaltung hindert uns daran, tatsächlich die Leiden anderer mit Mitgefühl auf uns nehmen und mit Liebe Glück schenken zu können.
Liebe und Mitgefühl sind die Grundlage für das Entwickeln von Bodhichitta. Bodhichitta ist der auf unsere eigene individuelle Erleuchtung ausgerichtete Geist, die noch nicht stattgefunden hat, aber auf der Basis unserer Faktoren der Buddha-Natur stattfinden kann. Es wird von der Absicht begleitet, diese Erleuchtung zu erlangen und allen Wesen dadurch zu nützen. Bodhichitta richtet sich insbesondere auf den Dharmakaya-Aspekt unserer noch nicht stattfindenden Erleuchtung.
Es gibt zwei Ebenen: konventionelles und tiefstes Bodhichitta. Konventionelles Bodhichitta richtet sich auf den Dharmakaya-Aspekt des tiefen Gewahrseins, also auf den erleuchteten Geist der Allwissenheit, mit seiner konventionellen Natur, die Formkörper oder Erscheinungen eines Buddhas hervorbringen zu können. Tiefstes Bodhichitta richtet sich auf den Svabhavakaya, den Dharmakaya der essentiellen Natur, also die Leerheit oder Leere des erleuchteten Geistes und dessen wahre Beendigungen.
Die Struktur des Textes
Zunächst möchte ich einen Überblick über den Text geben, bevor wir tiefer in ihn einsteigen, damit wir eine Vorstellung von der Struktur des Ganzen bekommen, sowie davon, wie die vier Sektionen, in die man ihn aufteilen kann, zusammenpassen.
Der Text besteht aus 118 Versen und er beginnt mit einer Verneigung vor den Drei Juwelen: Buddha, Dharma und Sangha, sowie dem Titel „Das Rad scharfer Waffen – den Lebensnerv des Feindes treffen“. Als nächstes kommt eine Verneigung vor Yamantaka, auch bekannt als Vajrabhairava, der kraftvollen Form Manjushris. Es ist ziemlich ungewöhnlich, sich hier vor Yamantaka zu verneigen, und wir müssen verstehen, warum Yamantaka solch einen wichtigen Platz in den zwei Werken Dharmarakshitas einnimmt.
Yamantaka
Yamantaka ist die kraftvolle Form Manjushris. Manjushri repräsentiert das unterscheidende Gewahrsein oder die Weisheit der Leerheit (Leere), welche den Feind vernichtet, der unsere Unwissenheit, unser Greifen nach einem unmöglichen falschen Selbst ist, welches in keinster Weise existiert, sowie unsere Selbstbezogenheit, die sich daraus ergibt. Die einzige Weise, sie zu überwinden, besteht darin zu erkennen, dass das, was wir in Bezug auf das Selbst projizieren, nicht der Realität entspricht. Wir benötigen dieses unterscheidende Gewahrsein der Leerheit, um zwischen dem zu unterscheiden, was Realität und dem was eine reine Fantasie-Projektion ist.
Die Unterscheidung zwischen dem konventionellen und dem falschen Selbst
Es ist äußerst wichtig zu verstehen, um was es hier wirklich geht, wenn wir uns einen Text ansehen, der sich mit dem Greifen nach einem Selbst auseinandersetzt, sowie damit, wie man dies überwinden und beseitigen kann. Ist im Buddhismus die Rede von einem Selbst oder einer Person, ist es notwendig, zwischen dem konventionellen und dem falschen Selbst zu unterscheiden.
Das konventionelle Selbst existiert tatsächlich. Natürlich könnten wir hier in eine tiefe, philosophische Diskussion darüber anfangen, was es heißt zu existieren; aber um es einfach zu halten, gehen wir davon aus, dass es um das Funktionieren geht. Das Selbst erfüllt eine Funktion; wir tun Dinge. Wir handeln auf positive oder negative Weise und erfahren die Resultate unseres Verhaltens. In diesem Sinne beteiligen wir uns an Ursache und Wirkung, und wir können nicht sagen, dass das Selbst gar nicht existiert. Das wäre das nihilistische Extrem.
Wir gehen jedoch weder in eternisierende noch in nihilistische Extreme. Die Nihilisten sagen, es gäbe kein Selbst; wäre das aber der Fall, würde es völlig egal sein, was wir tun, denn es gäbe keine Konsequenzen für unsere Handlungen und wir würden keine Resultate auf unser Verhalten erfahren. Das entspricht ganz gewiss nicht der buddhistischen Lehre. Die eternisierende Position besteht darin, ein solides Selbst zu besitzen, welches sich nie ändert, durch nichts beeinflusst wird und unabhängig von Körper und Geist existieren kann. In der Befreiung geht es dann auf eine transzendentale Ebene der Befreiung oder moksha und existiert einfach eigenständig. Das würde auch die Vorstellung von Ursache und Wirkung negieren. Wäre es statisch und durch nichts beeinflusst, würde es wiederum egal sein, was wir tun und wir würden keine Auswirkungen dadurch erfahren. Auch das wird von den buddhistischen Lehren widerlegt.
Es gibt ein konventionelles Selbst. Wir alle stimmen dem zu und erfahren es auf gleiche Weise als eine Zuschreibung der fünf Aggregate oder, einfacher ausgedrückt, des Körpers und Geistes. Was wir wahrnehmen, die Emotionen und all die Mechanismen, mit denen der Geist arbeitet, wie Aufmerksamkeit, Konzentration, Interesse und diese Dinge, finden gleichzeitig statt. Diese vielen verschiedenen Dinge, wie jene, denen wir unsere Aufmerksamkeit schenken, die Emotionen und Empfindungen in unserem Körper, all diese Dinge ändern sich unterschiedlich schnell. Das Selbst existiert nicht als etwas Getrenntes davon, noch ist es identisch mit irgendeinem dieser Dinge, sondern ist eine so genannte „Zuschreibung“ auf deren Grundlage.
Zuschreibung
Die Zuschreibung ist im Grunde eine schwierige Vorstellung und ich denke, man kann sie am einfachsten in der Beziehung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen verstehen. Die Beziehung zwischen dem Selbst und seinen Aggregaten ist nicht genau dasselbe, aber es kommt der Vorstellung sehr nahe. Es gibt viele Teile, aber es gibt auch ein Ganzes. Wir können nicht sagen, dass das Ganze nicht existiert, aber das Ganze kann nicht getrennt von seinen Teilen existieren. Man kann das Ganze auch nicht in einem der individuellen Teile finden; doch es gibt so etwas wie ein Ganzes. Was ist die Beziehung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen? Sie besteht darin, dass das Ganze eine so genannte Zuschreibung der Teile ist.
In gewisser Hinsicht würden wir sagen, dass es objektiv so ist, dass es so etwas wie ein „Ganzes“ gibt, weil wir uns laut Konvention darauf geeinigt haben. Somit haben wir die Konvention, dass es ein Selbst gibt und wir es fühlen.
Das falsche Selbst
Allerdings ist das Problem, dass das Selbst wegen unserer begrenzten Hardware, unseres begrenzten Geistes, selbst-begründet und unabhängig zu sein scheint. Es sieht so aus, als hätte es keine Teile, würde sich nie ändern und als wäre es etwas, das wir als Stimme in unserem Kopf erleben. Es ist, als gäbe es da ein „Ich“ in uns, einen Kontrollierenden, der spricht, lamentiert und zu allem eine Bemerkung hat. Wir haben dieses ziemlich zwingende Gefühl, es gäbe ein „Ich“ in uns, das irgendwie in unserem Kopf oder unserem Körper lebt und ständig Kommentare abgibt, wie: „Was soll ich jetzt tun? Jeder schaut mich an. Was halten die Leute von mir?“ Es ist stets unsicher und versucht Wege zu finden, um sicherer zu werden.
Aus dieser Unsicherheit kommen die Mechanismen der störenden Emotionen, wie sehnsüchtiges Verlangen und Begierde. Wir meinen: „Wenn ich etwas an mich bringen und daran festhalten kann, wird mich das sicher machen.“ Sind wir wütend, meinen wir: „Wenn ich es von mir wegschieben kann, wird mir das Sicherheit verleihen“; oder mit Naivität denken wir: „Wenn ich einfach so tue, als würde es das nicht geben und Mauern um mich hochziehe, wird mich das sicher machen.“
Aber natürlich wird keine dieser Strategien jemals funktionieren und durch Wut, Gier oder Naivität führen sie zu unserem zwanghaften Verhalten. Das ist alles, worum es beim Karma geht und es führt zu Problemen. Augenscheinlich führt unser zwanghaftes Verhalten auch zu Problemen für andere, aber besonders für uns verursacht es Probleme, weil wir dadurch starke Gewohnheiten aufbauen, dieses Verhalten zu wiederholen. Wir geraten also in eine Endlosschleife und werden fast süchtig nach unserem selbstzerstörerischen Verhalten.
All das basiert auf dieser Projektion, wie das Selbst zu existieren scheint. Es scheint, als gäbe es da diese solide Entität in mir und das wird in unserem Text als der „Feind“ bezeichnet. Unser wahrer Feind ist diese falsche, imaginäre Projektion, die wir auf das konventionelle Selbst projizieren. Hier müssen wir vorsichtig sein. Das konventionelle Selbst sitzt nicht in unserem Körper und auch nicht in unserem Geist. Vielmehr projizieren wir dieses falsche Selbst, greifen danach und meinen, es würde der Realität entsprechen.
Greifen nach einem Selbst
Wenn wir den Begriff des „Greifens nach einem Selbst“ benutzen, so geht es hierbei um zwei Ebenen der Bedeutung. Beim „Greifen“ (tib. ’dzin) handelt es sich um das gleiche Wort, als wenn wir etwas als dessen Objekt annehmen. Auf der ersten Ebene der Bedeutung, nimmt der Geist etwas als sein Objekt an; der Geist projiziert diese Erscheinung und es scheint, als gäbe es jemanden, der in unserem Kopf spricht – das „Ich“. So nehmen wir es wahr. Der zweite Aspekt des so genannten Greifens ist, dass wir denken, dies würde der Realität entsprechen und die Dinge würden tatsächlich so existieren.
Von dieser Glaubensvorstellung müssen wir uns lösen. Sie ist Unsinn oder wie eine Illusion. Wie eine Illusion scheint sie der Realität zu entsprechen, aber das stimmt nicht. Zunächst müssen wir uns von diesem verblendeten Glauben trennen, wir müssen ihn abschneiden, und dann gilt es unseren Geist dazu zu bringen, damit aufzuhören diese trügerische Erscheinung hervorzubringen. Je mehr wir völlig überzeugt davon sind, dass es sich dabei um Unsinn handelt und je mehr wir uns auf die Abwesenheit von dem fokussieren, was unserer Projektion entspricht, also auf die Leerheit, desto weniger werden wir nach einem Selbst greifen.
Für shunyata ziehe ich im Englischen den Begriff „voidness“ (Leerheit) dem Begriff „emptiness“ vor. Shunyata deutet nicht darauf hin, dass es da ein auffindbares konventionelles Selbst gibt, sondern auf die Leerheit oder Abwesenheit des falschen Selbst. Es ist nicht so, als gäbe es ein Glas auf dem Tisch, in dem sich kein Wasser befindet. Das ist nicht die Bedeutung von shunyata. Shunyata heißt, dass es so etwas wie dieses unmögliche oder falsche Selbst nicht gibt. Ungeachtet dessen steht dies nicht im Widerspruch zu der Tatsache, dass wir Dinge tun und die Resultate unseres Verhaltens erfahren. Karma ist trotz allem am Werke; Ursache und Wirkung arbeiten nach wie vor.
Uns geht es vielmehr darum, die Kontinuität der Glaubensvorstellung zu brechen, dass diese Erscheinung eines falschen Selbst der Realität entspricht. Je mehr wir uns auf „so etwas nicht“ fokussieren, desto eher sind wir in der Lage, die Willkür unseres Geistes zu brechen, diese Projektion hervorzurufen. Während der völligen Vertiefung in Leerheit, in der wir uns nichtkonzeptuell auf „so etwas nicht“ fokussieren, ruft der Geist keine Erscheinung eines falschen Selbst hervor. Auf diese Weise wird das Beharrungsvermögen und die Kraft unseres Geistes gebrochen, der es immer wieder erscheinen lässt. Unsere Projektion und die falschen Glaubensvorstellungen werden immer schwächer, je mehr wir uns nichtkonzeptuell auf die Leerheit richten.
Somit wird der Geist irgendwann damit aufhören, diesen Müll, diese Projektion hervorzubringen. Auf diese Weise überwinden wir es und das ist überaus wichtig zu verstehen, denn dabei handelt es sich um das eigentliche Thema, um das es in diesem Text geht. Dies ist der Feind: das Greifen nach einem unmöglichen Selbst. Mit anderen Worten lässt der Geist etwas erscheinen und glaubt dann, es würde der Realität entsprechen.
Selbstbezogenheit
Durch das Greifen nach einem Selbst entsteht „Selbstbezogenheit“. Selbstbezogenheit heißt, wir denken: „Ich bin der wichtigste Mensch und du zählst nicht. Du bist mir egal.“ Um diese Art der Geisteshaltung geht es. Im Westen sprechen wir eher davon, egozentrisch oder selbstsüchtig zu sein; wir denken immer nur „ich, ich, ich“, und dieses „Ich“ ist das falsche Selbst. Das kleine „Ich“ in unserem Kopf sagt: „Es muss alles nach meinen Vorstellungen laufen; ich bin der oder die Wichtigste und jeder sollte mir Aufmerksamkeit schenken. Ich sollte ganz vorn in der Reihe stehen und den besten Platz bekommen.“ Offenbar erleben wir das alle auf diese Weise und es ist ziemlich überwältigend, denn es scheint, als wäre es wirklich so. Das ist die Selbstbezogenheit, dieser Glaube, ich wäre der oder die Wichtigste und müsste mich zuerst um mich kümmern.“
Yamantaka, die kraftvolle Form Manjushris
Das ist es, was Manjushri charakterisiert: das unterscheidende Gewahrsein, welches zwischen dem unterscheidet, was tatsächlich existiert, also die Realität, und dem, was völlige Fantasie ist. Diese falsche Sicht gilt es auf kraftvolle Weise abzuschneiden. Yamantaka repräsentiert also diese äußerst kraftvolle Form Manjushris.
Manchmal hören wir, dass diese kraftvollen Formen als „zornig“ beschrieben werden. Ich denke aber, dass „zornig“ zumindest im Englischen nicht die passende Bedeutung hat, nach der wir hier suchen. „Zornig“ bezieht sich ja darauf, dass der Geist recht wütend ist und mit einem zornigen Geist wäre man ziemlich gestört. Obwohl es viele solche Bilder gibt und Dharmarakshita sie auch benutzt, denke ich doch, dass es hier um etwas sehr Kraftvolles geht. Wir wollen diese äußerst starke Energie gegen unsere störenden Emotionen und unser Greifen nach einem Selbst nutzen. Wir sollten uns selbst sagen, endlich damit aufzuhören, uns wie ein Baby oder wie ein Idiot zu benehmen. „Schneide es ab; höre einfach damit auf!“ Um diese Art der strengen und entschlossenen Haltung geht es. Das ist Yamantaka.
Das Rad der Waffen
Im zweiten Kapitel der Kurzfassung der Lehren des Vajrabhairava-Wurzeltantras, der Quelle der Yamantaka- oder Vajrabhairava-Lehren, gibt es eine Beschreibung von Ritualen, in denen verschiedene Gegenstände für extrem kraftvolle Handlungen gegen schädliche Wesen zum Einsatz kommen. Im Text gibt es im Grunde Anweisungen dazu, wie man diese Dinge für die Rituale herstellt und in einem dieser Rituale kann man die Konstruktion eines Waffenrades finden. Ein Waffenrad ist eine Art Wurfstern, wie er in der japanischen Ninja-Tradition bezeichnet wird. Er sieht aus wie ein Stern mit einem Loch in der Mitte und Klingen, die nach außen zeigen und gilt als eine schreckliche Waffe, die geworfen wird. Betrachtet man die Ikonografie verschiedener Figuren, wie Yamantaka, so kann man sehen, dass er dieses Waffenrad hält und es so dargestellt wird. Yamantaka hat vierunddreißig Arme und er hält es in einem von ihnen. Er nutzt es, um Krieg gegen den Feind zu führen, gegen unseren Feind, das Greifen nach einem falschen Selbst, dessen Existenz unmöglich ist.
Als ich die poetische Übersetzung des Textes machte, nannte ich es „Rad scharfer Waffen“, was als Titel irgendwie hängenblieb und auch andere Leute benutzten ihn für diesen Text. Dieser Krieg gegen das falsche Selbst ist ein Bild, welches man in der gesamten buddhistischen Literatur finden kann. Buddha kam schließlich aus der Krieger-Kaste und so ist es ganz normal, diese Art der kriegerischen Bilder in der buddhistischen Literatur zu finden. Die tibetische Übersetzung eines Arhats, eines befreiten Wesens, ist laut Jeffrey Hopkins beispielsweise „Feind-Zerstörer“, jemand, der den Fein vernichtet. Eine Weise dies zu tun besteht darin, diesen Wurfstern, das Rad scharfer Waffen, zu benutzen.
Vishnus Kriegsscheibe
Die Prominenz eines Waffenrades kann man jedoch noch viel früher finden, in der Ikonografie des Hindu-Gottes Vishnu. Vishnu, den man bis hin zu den Veden zurückverfolgen kann, was sich sogar auf die Zeit vor Buddha bezieht, hält eine Kriegsscheibe, bei der es jedoch keine Messer gibt, die nach außen zeigen. Es wird das „Rad der korrekten Lehren“ genannt und es erscheint regelmäßig in all den indischen Lehren. Es repräsentiert Samsara, das Rad der wiederkehrenden Existenz. Es ist das Rad der korrekten Lehren in der frühen indischen nichtbuddhistischen Philosophie. Vishnu hält es in einer seiner vier Hände und es ist eine Repräsentation dafür, das Rad des Dharma oder das Rad der Lehren, wenn nötig durch Krieg, wiederherzustellen. Vishnu wirft es, um den Feind zu bezwingen und den reinen Dharma wiederherzustellen. Dieses Bild wird auch in den buddhistischen Lehren fortgeführt.
Geistestraining
Wie setzen wir dies nun im buddhistischen Kontext um? In der Tradition des Geistestrainings tun wir es, indem wir widrige Umstände in jene umwandeln, die uns helfen, auf dem Pfad der Erleuchtung voranzuschreiten. Ich denke, dies ist die Essenz der Lehren des Geistestrainings.
Der Begriff „Geistestraining“ ist ein häufig benutztes Wort, aber wir sollten etwas vorsichtig damit sein, worum es hierbei geht. Die Rede ist nicht nur davon, sich in Konzentration zu üben; das ist ganz und gar nicht der Punkt hier. Sprechen wir über den Geist, geht es um unsere Geisteshaltungen. Das tibetische Wort lo (blo) für „Geist“ in „Geistestraining“ wird oft für die Geisteshaltungen gebraucht, die wir haben und wie wir Dinge sehen. Unsere Geisteshaltung ist so wichtig: haben wir eine negative oder eine positive Geisteshaltung gegenüber einer Situation? Wir können unsere Erfahrung einer schwierigen Situation ändern, indem wir unsere Geisteshaltung ihr gegenüber ändern.
Seine Heiligkeit der Dalai Lama wurde einmal in Bezug auf Depression und wie man denn damit umgehen solle gefragt: Die Dinge in der Welt sind so furchtbar, besonders im Hinblick auf die Situation in Tibet; wie vermeiden Sie es diesbezüglich den Mut zu verlieren? Seine Heiligkeit antwortete: Wenn man nur ein wenig davon finden kann, was sich im Gegensatz zu vorher verbessert hat, gibt einem das Hoffnung; und Hoffnung ist der Schlüssel dafür, Depression und Entmutigung überwinden zu können.
Wenn wir unsere Geisteshaltung auf diese Weise ändern, erkennen wir, dass etwas Positives möglich ist, auch wenn es winzig zu sein scheint. Diese Änderung der Geisteshaltung im Hinblick darauf, wie wir Situationen sehen, versetzt uns in die Lage, widrige oder schwierige Umstände in positive zu verwandeln. Das Wort jong (sbyong), welches hier für „Training“ benutzt wird, bezieht sich auch auf „Reinigen“; wir wollen unsere negativen Geisteshaltungen in unserem Geist bereinigen und stattdessen etwas kultivieren – das tibetische Wort wird auch in dem Wort für Ausbildung benutzt. Wir wollen positive Geisteshaltungen kultivieren und wir tun dies in erster Linie durch dieses „Tonglen“, das Geben und Nehmen.
Überlegung: Korrektes Verständnis als Einleitung für die Meditation
Nehmt euch einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken. Wir werden darüber reden, wie wir dieses Greifen nach einem Selbst überwinden. Es gibt einen Unterschied zwischen dem konventionellen Selbst und dem falschen Selbst. Das konventionelle Selbst, wie das Ganze, ist nicht das gleiche wie die Teile. Es ist nicht verschieden von den Teilen und es existiert nicht getrennt von den Teilen; dennoch gibt es ein Ganzes und trotzdem gibt es ein Selbst. Es ist tätig, auch wenn wir es nicht irgendwo lokalisieren können. Die Projektion, es gäbe da tatsächlich etwas wie ein kleines „Ich“, das in unserem Kopf sitzt, redet und versucht, die Kontrolle zu übernehmen – das ist unmöglich.
Ist die Rede davon, darüber nachzudenken, bedeutet dies, dass wir versuchen sollten zu verstehen, worum es dabei geht. Zunächst wiederholen wir in unserem Geist: „Ich existiere: es gibt das konventionelle „Ich“, aber ich existiere nicht so, wie ich zu existieren scheine, denn das ist eine Projektion und völliger Unsinn. Das heißt jedoch nicht, dass ich gar nicht existiere“. Darüber denken wir nach.
Haben wir zugehört und eine klare Erklärung bekommen, versuchen wir zu verstehen, was wir in unserem Geist wiederholt haben. Wenn wir die Bedeutung der Worte verstanden haben, sollten wir prüfen, ob sie einen Sinn ergeben und ob die Lehren korrekt sind. Hier sollten wir unsere Erfahrungen untersuchen und darauf achten, was geschieht, wenn wir so denken und sie akzeptieren. Auf diese Weise baut unser Verständnis auf all diesen Punkten auf.
Nur wenn wir überzeugt davon sind, dass die Lehren korrekt sind, widmen wir uns dem, was man als Meditation bezeichnet, um eine nützliche Gewohnheit zu schaffen. Die Lehren zu verstehen und davon überzeugt zu sein, dass sie korrekt sind, sind die wesentlichen Faktoren. Denn wenn wir über etwas meditieren, was wir nicht wirklich verstehen, und nicht richtig überzeugt von deren Korrektheit sind, wird uns das nicht sehr weit bringen.
Das ist die ganze Absicht des Debattierens in der tibetischen Tradition. Wir würden unser eigenes Verständnis nicht so kompromisslos und hartnäckig herausfordern, wie die anderen es beim Debattieren tun. Unsere Gegner beim Debattieren versuchen stets unser Verständnis herauszufordern und uns in Widersprüche zu verwickeln. Indem wir mit anderen darüber diskutieren – es muss keine formelle Debatte sein – prüfen wir unser Verständnis, um zu sehen, ob wir es wirklich richtig verstanden haben.
Sich auf ein fehlerhaftes Verständnis zu stützen kann verheerend sein. Wir wollen ein korrektes Verständnis haben und überzeugt davon sein, damit wir keine Zweifel mehr hegen. Haben wir Zweifel, wird dies „unentschlossenes Schwanken“ genannt, und das ist ein großes Hindernis in der Meditation über diese tieferen Punkte. Natürlich wollen wir auch nicht über das Mittagessen in geistiges Abschweifen geraten, aber das ist etwas anderes. Auf einer subtileren Ebene geht es jedoch um diese Unschlüssigkeit darüber, was etwas wirklich bedeutet, die uns davon abhält, uns tatsächlich auf sinnvolle Weise auf einen dieser Dharma-Punkte zu richten.
Beim Vorgang des Hörens, Nachdenkens und Meditierens bezieht sich das so genannte „Nachdenken“ auf das Kontemplieren und Analysieren. Das ist es, was wir versuchen zu tun. Die meisten von uns befinden sich nicht auf der Stufe, auf der sie so meditieren können, wie es in der Definition dessen beschrieben wird, was Meditation wirklich ist. Wir sollten schlicht und ergreifend versuchen, uns zuerst mit den Lehren auseinanderzusetzen und herauszufinden, was sie wirklich bedeuten.