Angst vor einem „Bruch der Guru-Hingabe“
Beinahe jeder klassische Text über die Schüler-Mentor-Beziehung enthält einen Abschnitt über das Höllenleiden als Folge dessen, was üblicherweise als „Bruch der Guru-Hingabe“ übersetzt wird. Diese Texte gründen sich hauptsächlich auf Ashvaghoshas anschaulichen Beschreibungen der Schrecken der Höllen, die wiederum einige Passagen aus den Tantras zusammenfassen. Obwohl es hier speziell um die Beziehung zu tantrischen Meistern geht, glauben die meisten tibetischen Autoren, dass es eine Ebene der Bedeutung gibt, die sich auch auf die Beziehung zu Sutra-Meistern anwenden lässt.
Wenn Westler diese Belehrungen studieren, hat das oft zur Folge, dass ein Element der Angst Eingang in die Beziehung zum spirituellen Meister findet, das verheerend wirkt. Die Angst vor der Hölle führt leicht dazu, dass sich eine Sektenmentalität entwickelt und macht die Menschen empfänglich für den Missbrauch durch skrupellose Lehrer. Die Schüler fürchten sich, gegen unangebrachtes Verhalten zu protestieren oder ihren Lehrer zu verlassen, aus Angst dann in der Hölle brennen zu müssen. Um solch ungesunde Beziehungen zu vermeiden, müssen die buddhistischen Lehren sorgfältig studiert werden.
Zuerst müssen wir genau wissen, welche Geisteshaltung und welche Verhaltensweisen gemeint sind, wenn in den Texten davon gesprochen wird, dass diese einen in die Höllen führen. Denn wenn die Übersetzung des Begriffs „Guru-Hingabe“ uns schon in die Irre geführt hat, wird der fragwürdige Ausdruck „Bruch der Guru-Hingabe“ uns nur noch weiter verwirren. Als Nächstes müssen begreifen, was mit dem buddhistischen Konzept der Höllen gemeint ist. Und schließlich müssen wir uns der psychologischen Implikationen bewusst werden, die sich, im Rahmen unserer westlichen Kultur, aus der Angst ergeben.
Selbstzerstörerische Handlungen in Bezug auf einen spirituellen Mentor
Die verheerenden selbstzerstörerischen Handlungen in Bezug auf einen spirituellen Meister lassen sich in drei Kategorien unterteilen: (1) eine Schüler-Mentor-Beziehung zu einem irreführenden Lehrer aufbauen, (2) an den guten Qualitäten zweifeln, die der eigene Mentor besitzt, und mit einer verzerrten, feindseligen Geisteshaltung an diese Qualitäten zu denken (3) sich in verdrehter Weise auf den eigenen korrekt qualifizierten Meister beziehen. Die Handlung, bei der man sich in verfälschter Weise auf den Lehrer zu beziehen, steht im Widerspruch zum ersten tantrischen Wurzelgelübde, das lautet: Es zu vermeiden suchen, den eigenen tantrischen Meister zu verachten oder sich über ihn lustig zu machen. Es beinhaltet auch den Bruch der ersten beiden im „Kalachakra-Tantra“ niedergelegten tantrischen Gelübde: Den Geist des eigenen tantrischen Meisters stören und seinen Anweisungen zuwiderhandeln.
Die beiden Punkte, sowohl mit einer verzerrten, feindseligen Geisteshaltung zu denken, als auch eine pervertierte Beziehung zu Lehrer zu unterhalten, beziehen sich im Zusammenhang mit einem Bruch der Guru-Hingabe darauf, dass der Schüler sein Verhalten gegenüber seinen qualifizierten Mentoren verändert, nachdem er bereits eine gesunde Schüler-Mentor-Beziehung zu ihnen aufgebaut hat. Bei diesen beiden Punkten geht es nicht um Schüler, die anderen spirituellen Mentoren als den eigenen gegenüber feindlich gesinnt sind oder sich anderen Mentoren gegenüber feindselig betragen. Genauso wenig beziehen sich diese beiden Aspekte auf andere Menschen, die den eigenen Mentoren gegenüber feindliches Denken oder Handeln an den Tag legen – obwohl man natürlich sagen muss, dass es grundsätzlich destruktiv ist, wenn ein Mensch einem anderen Menschen feindseliges Denken und Handeln entgegenbringt.
Ein irreführender Lehrer ist jemand, der von störenden Emotionen wie Gier, Anhaftung, Zorn oder Naivität beherrscht wird, jemand, der vorgibt, bestimmte Qualitäten zu besitzen, die er in Wirklichkeit nicht hat, oder jemand, der seine tatsächlichen Mängel versteckt hält. Darüber hinaus hat ein solcher Mensch einen schwach ausgeprägten Sinn für Ethik, lehrt um des persönlichen Gewinns willen oder gibt falsche Informationen und Unterweisungen. Naive spirituell Suchende können das Fehlverhalten solcher Lehrer fälschlicherweise als Werte deuten oder ihnen Qualitäten zuschreiben, die sie überhaupt nicht besitzen. In der Folge entstehen pervertierte Beziehungen, die auf Täuschung und Lüge basieren.
Mit einer verzerrten, feindseligen Geisteshaltung zu denken, ist eine der zehn grundlegenden destruktiven Handlungen, die der Buddhismus beschreibt; eine solche Handlung zieht den Bruch eines der Bodhisattva-Gelübde nach sich. Ein solches Denken bedeutet, etwas Wahres über eine Sache oder einen Menschen zu leugnen oder nicht anzuerkennen, und es beinhaltet den Wunsch, die eigenen vorurteilsbehafteten Meinungen auch anderen mitzuteilen. In diesem Zusammenhang bezieht sich die verzerrte, feindselige Geisteshaltung auf Schüler, die die guten Qualitäten ihrer Meister leugnen oder nicht anerkennen, und die planen, falsche Informationen über diese Lehrer zu verbreiten. Diese zerstörerische Art des Denkens geht weit über die bloßen Zweifel an den guten Qualitäten der Mentoren hinaus.
Nach der Erklärung der Prasangika-Madhyamaka-Schule kann unter das Denken, das durch eine verzerrte, feindselige Geisteshaltung beeinflusst wird, auch fallen, dass man etwas hinzufügt, was nicht da ist. Das destruktive Denken wäre hier dadurch gegeben, dass ein Schüler sich negative Qualitäten ausdenkt und auf seinen Mentor projiziert, die der Lehrer objektiv betrachtet gar nicht hat.
Nach Tsongkhapas Werk „Eine umfassende Darstellung der aufeinander folgenden Stufen des Pfades“ muss die Motivation, die dem Denken, das durch eine verzerrte, feindselige Geisteshaltung geprägt ist, von fünf weiteren störenden Emotionen und Geisteshaltungen begleitet werden: (1) Man muss hartnäckig blind für die tatsächlichen Qualitäten von jemandem sein. (2) Man muss streitsüchtig sein, weil man eine perverse Freude daran hat, sich negativ zu verhalten. (3) Aufgrund von falschen Überlegungen und Analysen muss man von der Verzerrung im Denken überzeugt sein. (4) Man muss gemein sein und es nicht akzeptieren können, dass andere gute Qualitäten haben. (5) Man muss störrisch das Ziel verfolgen, den anderen Menschen fertig machen zu wollen, ohne dabei sein eigenes Handeln für falsch zu halten und sich auch nur ein wenig dafür zu schämen.
In einer verzerrten, feindseligen Weise über seinen Lehrer nachzudenken, umfasst nicht all jene Gedanken, die man sich in Bezug auf die Grenzen der Fähigkeiten oder die Unzulänglichkeiten macht, die der eigene Lehrer oder die eigene Lehrerin tatsächlich hat. Auch wenn Schüler denken, dass ihr Mentor wohl nicht völlig erleuchtet sein kann, weil er nicht alle Sprachen der Erde beherrscht, fällt das nicht in diesen Bereich destruktiven Denkens. Ebenso wenig gehört die Ansicht dazu, dass es sich bei den tatsächlich vorhanden Fehlern und Mängeln des Mentors in Wirklichkeit um konventionelle Fehler und Mängel handelt. Ähnliches gilt, wenn Schüler nicht mit der Meinung ihres traditionellen Mentors übereinstimmen, wie beispielsweise mit der Meinung, dass Frauen geringere spirituelle Fähigkeiten haben als Männer. Auch der Entschluss, einen respektvollen Abstand zu einem Mentor zu halten, der andere Menschen missbraucht, gehört nicht in die Kategorie destruktiven Handelns.
Andererseits könnte man sich einen Schüler vorstellen, der auf tatsächlich vorhandenem Fehlverhalten und Unzulänglichkeiten seines Mentors herumreitet und den Wunsch hat, diese öffentlich zu machen. In seinem Denken leugnet er nicht die tatsächlich vorhandenen guten Qualitäten des Mentors und er erfindet auch keine fiktiven schlechten Charaktereigenschaften. Darum handelt es sich bei dieser Form der geistigen Handlung nicht um verzerrtes, feindseliges Denken. Wenn jedoch irgendeine der fünf störenden Emotionen oder Geisteshaltungen, die Tsongkhapa beschriebt, das Denken begleitet, dann ist diese Handlung als negativ zu bewerten und schafft Leiden.
Das Übertreten tantrischer Gelübde in Bezug auf die Interaktion mit einem Mentor
Wenn Schüler ihre Mentoren verächtlich oder lächerlich machen, verlieren sie ihre einst respektvolle und wertschätzende Einstellung ihren Lehrern gegenüber und bringen ihnen nur noch Verachtung entgegen. Das selbstzerstörerische Verhalten kann beinhalten, dass die Schüler ihren Mentoren unrecht tun oder sie lächerlich machen; es kann auch beinhalten, dass sie sich absichtlich respektlos oder unhöflich verhalten. Das selbstzerstörerische Verhalten kann ferner umfassen, dass die Schüler denken und sagen, dass die Unterweisungen ihrer Mentoren nutzlos seien. In dem Text „Eine erhellenden Lampe“ gibt Chandrakirti das Beispiel eines Schülers, der aufgrund der Unterweisungen seines Mentors und aufgrund seines sorgfältigen Nachdenkens über diese Unterweisungen ein intellektuelles Verständnis der Leerheit gewonnen hatte. Während des ganzen Prozesses war der Schüler von der Qualifikation seines Mentors überzeugt und voller Wertschätzung für seine Güte, die den Mentor dazu bewegt hat, seinem Schüler dieses Thema lehren. Zu einem späteren Zeitpunkt kam der Schüler jedoch zu der Ansicht, dass diese Lehren nichts Besonderes seien und der Schüler begann seinen Lehrer zu verachten. Solange der Schüler diese negativen Einstellungen beibehielt, war es ihm unmöglich, in der Meditation ein tiefes Verständnis der Leerheit zu erlangen. In dem Text „Von Verunreinigungen befreites Gold“ legt der Dritte Dalai Lama dar, dass die Herabsetzung des eigenen Mentors gewöhnlich die Folge eines Herumreitens auf seinen Fehlern ist, seien sie nun echt oder eingebildet.
Den Geist des Mentors zu stören oder negativ zu beeinträchtigen bedeutet, dass Schüler ihren Lehrer beleidigen, indem sie aufgrund störender Emotionen oder Geisteshaltungen destruktiv sprechen oder handeln und die ganze Zeit über dabei nicht einmal daran denken, damit aufzuhören. Destruktive Handlungen beinhalten: Leben zu nehmen, jemanden körperlich zu verletzten, stehlen oder sich in unangemessenen sexuellem Verhalten betätigen. Destruktive Rede beinhaltet: lügen, Zwietracht säen, barsche oder ausfallende Rede, und eitles Geschwätz. Ob die Schüler die destruktiven Handlungen gegen ihre Lehrer oder andere Menschen richten, oder ob die Schüler in destruktiver Weise zu ihren Lehrer oder an anderen Menschen sprechen, in jedem Fall würden diese Handlungen in Wort und Tat den Mentor beleidigen und ihm nicht gefallen.
Den Anweisungen des Mentors wird dann zuwidergehandelt, wenn die Schüler im Verborgenen irgendeine der zehn destruktiven Handlungen begehen oder ein Gelübde brechen, nachdem sie spezifische Unterweisungen erhalten haben, dass sie ein solches Verhalten vermeiden müssen. Bei den zehn destruktiven Handlungen kommen zu den eben erwähnten körperlichen und verbalen Handlungen noch die folgenden Handlungsweisen des Denkens hinzu: Begehrliches Denken, übelwollendes Denken und Denken, dass mit einer verzerrten, feindseligen Geisteshaltung verbunden ist. Die Motivation muss dabei stets eine störende Emotion oder Geisteshaltung sein. Die Schüler müssen erkennen, dass ihr Mentor destruktives Verhalten missbilligt, und sie sollten nicht einmal daran denken, so zu handeln.
Anders als in dem Fall, wo man den Geist des Mentors stört, muss der Lehrer in diesem Fall nicht unbedingt vom Fehlverhalten des Schülers erfahren oder sein Missfallen äußern. Den Anweisungen des Lehrers wird nicht zuwidergehandelt, wenn ein Schüler sich höflich weigert, destruktiv zu handeln oder seine Gelübde zu brechen, obwohl der Lehrer es von ihm fordert. Auch wenn der Schüler sich respektvoll davon entbindet, eine Handlung auszuführen, weil das Ausführen der Handlung seine Fähigkeiten oder Mittel übersteigen würde, kann man nicht davon sprechen, dass den Anweisungen des Mentors zuwidergehandelt worden wäre.
Die selbstzerstörerischen Gedanken und Handlungen im Zusammenhang mit dem eigenen Mentor sind also von sehr spezifischer Art, und es erfordert einen äußerst negativen Geist, um sie tatsächlich in vollem Umfang zu begehen. Selbst wenn man in verzerrter, feindseliger Weise über den Lehrer denkt, seine Person herabsetzt, seinen Geist stört und wenn man seinen Anweisungen zuwider handelt, so müssen darüber hinaus noch vier zusätzliche bindende Faktoren vorhanden sein, bevor sich daraus völlig katastrophale Folgen ergeben: (1) Der Schüler muss die negativen Handlungen als unschädlich betrachten. Er darf in den negativen Handlungen nur Vorteile sehen und muss die Handlungen ohne jedes Bedauern ausführen. (2) Nachdem er die negative Gewohnheit angenommen hat, darf er nicht mehr die Absicht haben, die Handlungen jetzt oder in Zukunft zu unterlassen. (3) Er muss Gefallen an den negativen Handlungen finden und sie mit einer perversen Freude genießen. (4) Er darf kein Schamgefühl besitzen, muss frei sein von jeglichen Bedenken, Schande über seine Familie oder seine Lehrer zu bringen, und er darf keinerlei Absicht hegen, den Schaden, den er sich selbst zugefügt hat, wieder in Ordnung zu bringen.
Und selbst wenn sich Schüler in irgendeiner Weise so gegenüber ihrem Meister verhalten, dass sie sich dabei selbst zugrunde richten würden – ganz unabhängig davon, ob bei ihrer Handlung alle vier Faktoren gegenwärtig waren oder nur einige Faktoren – können sie auch dann noch verhindern, die verheerenden Konsequenzen solchen Handelns erfahren zu müssen. Das hat Ashvaghosha deutlich gezeigt. Die Schüler müssen ihr destruktives Verhalten oder Denken vor ihren Mentoren bekennen, das Handeln als ein Fehlverhalten erkennen und sich dafür entschuldigen. Bei der Entschuldigung ist es notwendig, dass sie ihr Verhalten wirklich bedauern – nicht aber das sie Schuldgefühle verspüren. Ferner müssen sie versprechen, dass sie ihr Bestes zu tun werden, dieses Verhalten nicht zu wiederholen. Dann bekräftigen sie nochmals, dass sie ihrem Leben eine sichere Ausrichtung geben möchten und bestätigen nochmals ihre Bodhichitta-Motivation. Um das positive Potenzial zu stärken, das aus der Beziehung mit dem Lehrer entstanden ist und um die enge Verbindung zu bestätigen, würden die Schüler ihren Mentoren auch noch eine kleine Gabe darbringen, als Symbol für ihre Wertschätzung und ihren Respekt. Selbst wenn der Mentor zwischenzeitlich verstorben sein sollte, können die Schüler diese ganze Prozedur auch immer noch vor einer Abbildung ihres Lehrers ausführen oder indem sie sich vorstellen, dass die Lehrer tatsächlich anwesend sind. Westliche Schüler müssen allerdings sorgfältig darauf achten, dass sie nicht dem Missverständnis anheim fallen, dass das Darbringen von Gaben an ihren Mentor eine Art Ablass sei, mit dem sie sich von ihren Sünden freikaufen können.
Höllische Geisteszustände
Die Bedeutung des Sanskritwortes für Hölle, naraka, ist „freudloser Zustand“. Die tibetische Übersetzung, nyalwa (tib. dmyal-ba), bezeichnet einen Ort, den man nur schwer wieder verlassen kann. Bei dem buddhistischen Konzept einer Hölle handelt es sich also um einen gequälten, gepeinigten geistigen Zustand, der eine körperliche Entsprechung hat; es handelt sich um einen geistigen und körperlichen Zustand, in dem es keinerlei Freude gibt und in dem man sich gefangen fühlt, ohne Hoffnung auf Entkommen. Obwohl es in den klassischen Texten sehr lebendige Beschreibungen von Höllen gibt, sind die wesentlichen Aspekte, um den es hier geht, der gepeinigte Geisteszustand und das ihn begleitende körperliche Gefühl.
Folgt man einem irreführenden Lehrer, kann einem das Unheil widerfahren, mit unzuverlässigen Methoden üben zu müssen oder man erlebt sogar den Katastrophenfall spirituellen Missbrauchs. Durch diese Desaster kann man seinen ganzen Enthusiasmus für den spirituellen Pfad verlieren. Auf diese Weise können aus geistig aufgeschlossenen Suchenden verbitterte Zyniker werden, die sich gegenüber jedem weiteren Schritt in Richtung Befreiung und Erleuchtung völlig verschließen. Dem freudlosen, desillusionierten Geisteszustand solcher Menschen ist nur schwer beizukommen. Wenn man sich in einem solchen Geisteszustand befindet, so ist das eine sehr reale glühende Hölle. Wir können die Qual eines solchen Geisteszustandes vielleicht nachvollziehen, wenn wir uns in eine vergleichbar ungesunde Beziehung einfühlen, in der wir dadurch verletzt werden, dass ein scheinbar aufrichtiger Partner oder Freund unser Vertrauen missbraucht. Diese verheerende Erfahrung kann uns so niederschmettern, dass wir uns emotional verschließen und uns davor fürchten, neue Beziehung einzugehen. Vielleicht leugnen wir sogar den Wert von Beziehungen überhaupt.
Ähnlichen Qualen erleben Schüler, die zunächst von den tatsächlich vorhandenen Qualitäten ihrer Mentoren überzeugt sind und ihre wirklich vorhandene Güte zu schätzen wissen, die aber dann, aus was für Gründen auch immer, ihre Meinung ändern. Sobald das geschieht, leugnen sie zwanghaft alle Qualitäten und jegliche Güte ihrer Mentoren, projizieren erfundenes Fehlverhalten auf die Mentoren oder reiten in morbider Weise auf den tatsächlich vorhandenen Fehlern herum. Möglicherweise empfinden sie dann nur noch Verachtung für ihre Mentoren und handeln destruktiv, oder sie brechen aus Groll gegen die Mentoren ihre Gelübde und zwar in der Hoffnung, dass sie ihre Mentoren damit verletzen können.
Ein ähnlicher Zwischenfall kann sich mit unseren echten Freundinnen und Freunden oder mit unseren liebevollen, freundlichen Lebenspartnern ereignen. Ein solch plötzlicher Sinneswandel kommt vielleicht durch tiefer liegende psychologische Faktoren zustande, wie etwa durch ein geringes Selbstwertgefühl oder durch Wahnvorstellungen. Weil wir uns nicht würdig fühlen, Güte oder Liebe erfahren zu dürfen, leugnen wir nun die Aufmerksamkeit oder Zuneigung, die wir in Wirklichkeit bereits erfahren haben. Aus Angst verlassen zu werden, weisen wir die Partnerin oder den Partner ab, um dem Schmerz aus dem Weg zu gehen, später selbst abgewiesen zu werden. Vielleicht versuchen wir sogar, unseren Partner zu verletzen oder ihn dazu zu zwingen, uns zu verlassen, indem wir uns fürchterlich aufführen oder sogar ein Verhältnis anfangen. Ein Sinneswandel kann auch durch den Einfluss von irreführenden Freunden zustande kommen.
Ein solcher Geisteszustand ist wirklich eine Qual. Er schafft eine persönliche Hölle, die völlig freudlos ist und der man nur schwer entfliehen kann. Ein solcher Geisteszustand kann sogar unser Immunsystem schwächen und so eine Krankheit auslösen oder eine schon bestehende Krankheit verschlimmern. So wie das Konzept von Karma im Buddhismus erklärt wird, manifestieren sich die Folgen der meisten negativen Handlungen erst in einem zukünftigen Leben. Wenn sich jemand allerdings in äußerst destruktiver Weise gegenüber einem Menschen verhält, der außerordentlich gute Qualitäten besitzt oder besonders gütig ist, können die Folgen dieser Tat auch schon in diesem Leben reifen. Die höllischen Folgen, die sich daraus ergeben, dass man in einer verzerrten und feindseliger Weise an seine Mentoren denkt, oder ihnen gegenüber in einer irregeleiteten und feindseligen Weise handelt, werden häufig schon kurz nach der Tat sichtbar.
Angst im westlichen Kontext
Weil es vielen spirituell Suchenden des Westens an Klarheit in Bezug darauf fehlt, welche Gedanken und Handlungen welche höllischen Folgen nach sich ziehen werden, fürchten sie sich stets davor, etwas zu denken oder zu tun, was in Wirklichkeit aber überhaupt nicht zu einer Katastrophe führen würde. So mögen sie beispielsweise Fehler richtig erkennen, die die Mentoren auch tatsächlich machen, wie etwa, dass sie zu Fehleinschätzungen kommen, missbräuchliches Verhalten an den Tag legen oder in spirituelle Machtpolitik verstrickt sind. Die Schüler denken dann aber, dass jede Handlung ihrer Mentoren makellos sein müsse, weil sie ihre Mentoren für voll erleuchtete Buddhas halten.
Wenn die Schüler das Konzept der Guru-Hingabe und die Aufforderung, den Guru als ein Buddha zu betrachten, falsch verstehen, kann das wie eine Gehirnwäsche wirken. Die Schüler glauben dann vielleicht, dass sie die Wahrheit leugnen müssten. Ein solcher Konflikt führt unvermeidlich zu Ängsten und Spannungen. Die Schüler haben dann Angst, von ihren Dharma-Freunden zurechtgewiesen zu werden, wenn sie etwas ansprechen, was sie am Lehrer des Dharma-Zentrums stört oder wenn sie etwas ansprechen, was ihnen nicht richtig erscheint. Folglich sprechen sie nicht über das Fehlverhalten der Mentoren, das sie wahrnehmen, weil sie fürchten, als schlechte Schüler und als Häretiker gebrandmarkt zu werden, die dann später in der Hölle schmoren müssen.
Außerdem leiden manche Schüler unter Schuldgefühlen, wenn sie auch nur für einen Augenblick anzweifeln, dass ihr Mentor wirklich ein erleuchtetes Wesen ist. Es ist typisch für Suchende im Westen, dass sie das Gefühl haben, es sei etwas mit ihnen nicht in Ordnung, wenn sie die Allwissenheit ihres Mentors in Frage stellten. Auf diese Weise verstärkt die Furcht vor Bestrafung das im westlichen Kulturkreis häufig zu findende Gefühl von inhärenter Schuld und Unzulänglichkeit. Die Furcht vor Bestrafung verstärkt auch das im Westen häufig vorhandene geringe Selbstwertgefühl. Die Furcht wird zudem noch durch ein Gefühl der Hilflosigkeit vergrößert, denn gemäß dem biblischen Denken währen die Höllenqualen bis in alle Ewigkeit, ohne das es einen Ausweg aus der Hölle gäbe.
Nach den buddhistischen Lehren führen ausschließlich spezifische, äußerst negative Gedanken und Handlungen, die sich gegen einen Mentor richten, in einen höllischen Geisteszustand. Und gleichgültig wie schrecklich ein solcher Geisteszustand sein mag – kein höllischer Zustand währt ewig. Durch Bedauern, offenes Bekennen der eigenen Fehler und andere Handlungen, können Schüler eine qualvolle spirituelle Havarie vermeiden oder von ihr genesen. Trotzdem stellen viele westliche Schüler den Nutzen in Frage, den eine Kontemplation darüber hat, welche höllischen Folgen es nach sich ziehen kann, wenn man sich in einer irregeleiteten Beziehung zu einem Mentor zu befinden. Dabei gehört diese Kontemplation bei der Guru-Meditation der Sutra-Ebene standardmäßig zu den vorbereitenden Schritten.
Warum die Höllen beschrieben werden
Wie bereits erläutert, leitet sich die westliche Ethik vom Glauben an Gesetze ab, die von Gott oder den gesetzgebenden Organen verkündet worden sind. Gehorsam gegenüber dem Gesetz definiert jemanden als guten, der Belohnung würdigen Menschen oder Bürger. Ungehorsam hingegen macht den Menschen schlecht, und er verdient Bestrafung. Daher betrachten viele spirituell Suchende im Westen die Erörterungen von Höllen unbewusst als eine Beschreibung der Strafe dafür, dass die Regeln blinder Guru-Hingabe nicht eingehalten wurden.
In der buddhistischen Ethik geht es niemals um Gehorsam und moralische Urteile. Menschen erschaffen sich ihr Leiden selbst, wenn sie – motiviert von Begehren, Anhaftung, Wut oder Naivität – destruktiv handeln. Wenn sie sich der Auswirkungen negativer Verhaltensweisen erst einmal bewusst geworden sind und verhindern wollen, dass sie weiteres Leid erfahren, müssen sie versuchen, diese Art des Handelns künftig zu vermeiden. Die Beschreibungen der Höllen in buddhistischen Texten sind also nicht dazu gedacht, Schuldgefühle zu erzeugen oder Menschen mit geringer Selbstachtung zum Gehorsam zu scheuchen. Die Beschreibungen dienen lediglich dazu, dass sich Menschen mit den Konsequenzen selbstzerstörerischen Handelns vertraut machen können.
Bei der ganzen Diskussion muss man aber auch die Eigenheiten traditioneller Tibeter berücksichtigen. Die meisten von ihnen leiden nicht gerade unter geringem Selbstwertgefühl. Die Beschreibungen der Höllen bringen sie also nicht dazu, sich schuldig zu fühlen oder bei dem Gedanken, heilige Gesetze zu missachten, panisch zu erschrecken. Die Unterweisungen über die Höllen können sie aber dazu bringen, ihr arrogantes, ungezügeltes Verhalten ein wenig einzuschränken. Menschen des Westens können von ihrem Beispiel lernen.
Moderne spirituell Suchende des Westens lehnen die Idee göttlicher Bestrafung gewöhnlich ab, trotzdem werden noch viele von Schuldgefühlen und einem geringen Selbstwertgefühl geplagt. Wenn sie sich nicht vor einem Bruch der Guru-Hingabe fürchten, kompensieren sie ihr schlechtes Selbstwertgefühl häufig durch ungezügelte Arroganz. Als ein Bestandteil des unbewusst ablaufenden Prozesses der Übertragung und der schädlichen Form der Regression, werfen sie einem Lehrer vermessener Weise, überholtes und rückwärts gewandtes Denken vor, wenn der Lehrer etwas lehrt, das ihnen nicht gefällt, wie beispielsweise Einzelheiten über die Leiden in den Höllen. Wie Heranwachsende, die sich ihren Eltern überlegen fühlen, sind solche Schüler hochmütig und haben das Gefühl, die Aussagen der westlichen Wissenschaft seien viel besser als der primitive tibetische Aberglaube, der ja doch nur Benzin ins Feuer der Schuldgefühle und der geringen Selbstwertgefühle gieße.
Denken wir auf diese Weise, täten wir besser daran, uns mit der psychologischen Wahrheit der höllischen Zustände zu befassen, die durch die irregeleitete Beziehung zwischen Schüler und Mentor hervorgerufen werden. Wenn wir diese qualvollen Zustände vermeiden wollen, müssen wir die Lehren richtig verstehen, die sich mit einer gesunden Beziehung zu einem spirituellen Mentor befassen.
Ängste im Umgang mit strittigen Fragen, die Dharma-Schützer und Tulku-Kandidaten betreffen
Heutzutage herrscht viel Verwirrung in Bezug auf Dharma-Schützer und Tulku-Kandidaten. Der eine große Meister unterstützt die eine Meinung, ein anderer Meister die gegenteilige. Viele der Probleme, die westliche Schüler mit diesen Kontroversen haben, lassen sich darauf zurückführen, dass es den Schülern an Klarheit bezüglich der buddhistischen Lehre mangelt und dass ungesunde Beziehungen zu ihren spirituellen Mentoren haben, die wiederum aus dieser Unklarheit heraus entstanden sind. So sind viele Schüler der festen Überzeugung, sie müssten die Meinung ihres Lehrers loyal unterstützen, aus lauter Angst, andernfalls einen Bruch der Guru-Hingabe zu begehen. Sie fürchten, dass sie ihre Mentoren dann nicht mehr als Buddhas betrachten würden und folglich in der Hölle schmoren müssten.
Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass wir für die gesamte Dauer der Beziehung zu einem spirituellen Mentor unser unterscheidendes Gewahrsein und unseren gesunden Menschenverstand aufrechterhalten müssen. Wenn wir in einigen Punkten nicht mit unserem Lehrer übereinstimmen, bedeutet das ja nicht, dass wir nicht mehr an die grundlegenden guten Qualitäten unseres Mentors glauben. Es heißt auch nicht, dass wir die Anweisung aufgegeben hätten, gemäß derer wir einen Mentor, von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus betrachtet, sowohl als einen gewöhnlicher Mensch, als auch als einen Buddha betrachten können. Was umstrittene Themen angeht, müssen wir jedoch zu eigenen Schlussfolgerungen gelangen. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wie wir hinsichtlich der strittigen Themen eine Entscheidung treffen können.
In Bezug auf die Erfahrungen, die man in der Meditation macht, kann beispielsweise mehr als eine Auffassung richtig sein. So unterscheiden sich zum Beispiel Kedrubje, Gyaltsabje und Kedrub Norzang Gyatso, drei Gelug-Meister von gleicher Gelehrsamkeit, in ihrer Meinung darüber, wie viele subtile Energietropfen man im zentralen Energiekanal stapeln müsse, um den Pfad des Sehens zu erreichen – d. h. den Zustand zu erreichen, in dem man die nicht-konzeptuelle Erfahrung von Leerheit macht. Jede ihrer Beschreibungen ist auf der Grundlage persönlicher Meditationserfahrung richtig. Aber mit Sicherheit hat nicht jeder Schüler der drei Meister die gleichen Meditationserfahrungen gemacht wie sein Meister.
In anderen Fällen kann eine Seite objektiv im Unrecht sein, unabhängig von der Auffassung der einen Partei und von der persönlichen Meditationserfahrung. Schüler können aber nur auf der Grundlage vertieften Studiums und verbesserten Geschicks in der Logik zu einer richtigen Schlussfolgerung gelangen. Wie dem auch sei, ganz unabhängig davon, ob es nun zutrifft, dass es sich bei einem umstrittenen Dharma-Schützer um einen Buddha handelt, oder ob ein bestimmter Tulku-Kandidat nun die echte Inkarnation eines Lamas ist oder nicht, es gibt keinerlei Grund, die jeweils andere Seite zu diskreditieren.
Wie man in Bezug auf äußerst verborgene Sachverhalte eine Entscheidung trifft
Mit Hilfe einer gültigen Meditationserfahrung und mit Hilfe von Logik lassen sich bestimmte Fragen klären, zum Beispiel die, ob die Leerheitssicht der Chittamatra-Schule alle Hindernisse zur Befreiung und Erleuchtung beseitigen kann oder nicht. Diese Methoden sind jedoch nicht brauchbar, wenn man in Bezug auf äußerst verborgene Phänomene wie Karma und Wiedergeburt zu einer Entscheidung kommen möchte. In diesen Fällen empfiehlt Dharmakirti in seinem „Kommentar zu Dignagas ‚Kompendium über gültig wahrnehmende Arten des Geistes’“, muss man sich auf gültige Informationsquellen verlassen. Er argumentiert folgendermaßen: Eigene Erfahrung und Logik können nur all das für gültig erklären, was der Buddha über offensichtliche und verborgene Phänomene wie zum Beispiel Konzentration und Leerheit erklärt hat. Die einzige Motivation des Buddha zu lehren war sein Mitgefühl für andere, d. h. der Wunsch, dass sie kein Leid erfahren mögen. Diese Motivation war ausreichend ernsthaft und stark, so dass er selbst die feinsten Eindrücke von Verwirrung überwinden konnte. Deshalb kann man sicher sein, dass der Buddha eine gültige Informationsquelle darstellt. Daher ist auch alles gültig, was der Buddha über äußerst verborgene Phänomene erklärt hat.
Wenn die Schüler sich jedoch einzig auf gültige Informationsquellen stützen, um einen Streit über ein kontroverses Thema beizulegen, werden sie in den buddhistischen Schriften und den gesammelten Werken der großen Meister Zitate finden können, mit denen sie so gut wie alles belegen und rechtfertigen können. Wenn die Schüler jetzt auch noch Ermächtigungen von tantrischen Meistern beider Seiten der Kontroverse erhalten haben und sie daher die Lehrer beider Parteien als allwissende Buddhas betrachten müssen und damit als gültige Informationsquellen ansehen müssen, können sie überhaupt nicht mehr feststellen, welche Seite sich denn nun im Recht befindet.
In dem Werk „Eine Lampe zur Erhellung der definitiven Bedeutung“, sagt Kongtrül Rinpoche, dass tantrische Meister, die die Übertragung ihrer Linie halten, keiner weiteren Überprüfung mehr bedürfen. Suchende können ihrer Gültigkeit als qualifizierte Mentoren vertrauen, weil die Übertragung einer Linie zu halten bedeutet, die authentischen Lehren zu verstehen und zu verkörpern. In manchen Fällen können aber auf beiden Seiten einer Kontroverse Linienhalter sein. Also hilft uns auch Kongtrüls Kriterium hier nicht weiter.
Buddha hat in vier Richtlinien gelehrt, auf was man sich verlassen sollte: (1) Verlasse dich nicht auf den Ruhm oder die Reputation eines Lehrers, sondern auf das, was er zu sagen hat. (2) Verlasse dich nicht auf die Eloquenz seiner Worte, sondern auf ihre Bedeutung. (3) Verlasse dich nicht auf die interpretierbare Bedeutung der Worte, die tiefer führen soll, sondern auf die letztendliche Bedeutung, zu der die Worte führen sollen. (4) Um die letzendliche Bedeutung auszumachen, verlasse dich nicht auf die gewöhnlichen Ebenen des Geists, sondern auf das tiefe Gewahrsein, das keine widersprüchlichen Erscheinungen hervorbringt.
Das bedeutet nicht, dass man sich auf das tiefe Gewahrsein dessen, was endgültig wahr ist, verlässt, um die Richtigkeit einer Aussage festzustellen, bei der es um das geht, was konventionell wahr ist. Ein Geist, der gültig die tiefste Wahrheit von etwas erkennt, kann lediglich die Gültigkeit in Bezug darauf feststellen, wie ein konventionelles Phänomen existiert (also seine Existenzweise). Man braucht einen Geist, der die konventionelle Wahrheit eines Phänomens erkennt, um die Gültigkeit dessen zu bestätigen, was ein Phänomen konventionell ist.
Die endgültige tiefste Wahrheit über ein Phänomen ist, wie es Hinblick auf Leerheit oder dem Geist des klaren Lichts existiert. Sämtliche Phänomene existieren als Erscheinungen des Geistes des klaren Lichts im Rahmen der Leerheit. Wenn man also etwas vom Ergebnisstandpunkt eines Buddhas her erklärt, dann ist nicht nur ein spezieller Dharma-Schützer oder Tulku-Kandidat eine Emanation des erleuchteten Geistes des klaren Lichts, sondern sämtliche Wesen existieren auf diese Weise. Darum kann die Argumentation vom endgültigen oder tiefsten Gesichtspunkt aus, die Frage nach der konventionellen Identität eines Dharma-Schützers oder eines Tulku-Kandidaten nicht beantworten.
Die Auflösung des Dilemmas, in dem sich ein Schüler befindet
Dharmakirti gab noch ein weiteres Kriterium, das bei der Auflösung des Dilemmas, mit dem sich viele Schüler in Anbetracht strittiger Themen konfrontiert sehen, vielleicht hilfreicher ist. Da dieses Kriterium hilfreicher ist, wird es wirksamer darin sein, die Ängste zu zerstreuen, dass man möglicherweise die Gelübde der Guru-Hingabe verletzt. Wenn der Buddha in seinen Lehren eine bestimmte Aussage immer wiederholt, sind alle seine Schüler dazu aufgefordert, diese Aussage als die wahre Absicht des Buddha ernst zu nehmen. Wenn eine Aussage hingegen nur in obskuren Texten erscheint, bedarf die Aussage entweder der Interpretation, oder er ist nur für ganz bestimmte Menschen gedacht und nicht für die allgemeine Öffentlichkeit.
In allen seinen Lehren hat der Buddha stets betont, dass spirituell Suchende sich auf die sichere Ausrichtung zu den Drei Juwelen (Zuflucht) und auf die Ansammlung konstruktiven Karmas stützen müssen, um sich vor Leid zu schützen. So gut wie nirgends hat der Buddha empfohlen, dass Suchende ihr Leben Dharma-Schützern anvertrauen sollten oder sich auch nur noch auf Dharma-Schützer verlassen sollten. In Situationen, in denen man sich in Bezug auf eine Frage nicht entscheiden kann, zum Beispiel die Frage, ob ein spezieller Dharma-Schützer ein erleuchtetes Wesen ist oder nicht, ist es am besten, Abstand zu halten und keine Meinung zu haben. Das Thema Dharma-Schützer ist für die Praxis zum Erlangen der Erleuchtung nicht wirklich wichtig. Am wichtigsten ist es, sich an die wesentlichen Lehren des Buddha zu halten, in denen er über eine sichere Ausrichtung und Karma spricht.
Der gleiche Rat gilt auch für die Frage, welchen von mehreren Tulku-Kandidaten man als Reinkarnation eines großen Meisters akzeptieren soll. Der Buddha sprach wiederholt von der Notwendigkeit, dass ein spiritueller Mentor über Gelehrsamkeit, Verwirklichung und ein gutes Herz verfügt. Über die Notwendigkeit einen bestimmten Titel zu führen oder Grundbesitz zu haben, hat er so gut wie nie gesprochen. Streitereien im Zusammenhang mit Tulku-Kandidaten hat es in der tibetischen Geschichte immer wieder gegeben, zum Beispiel bei dem sechsten Dalai Lama und der Wiedergeburt des Drugpa-Kagyü-Meisters Pema Karpo. Es gibt keine Möglichkeit, diese Fragen rational zu klären. Am besten erweist man beiden Kandidaten großen Respekt, bleibt gleichmütig gegenüber ihrer Identität und lässt die Lamas die Streitereien über die Hierarchie und den Klosterbesitz allein austragen. Das einzige angemessene Interesse eines Schülers kann nur darin liegen, Unterweisungen von den Kandidaten zu erhalten, sobald sie entsprechend qualifiziert sind. Welchen Titel und Besitz jeder der Kandidaten hat, ist ohne Einfluss auf die Qualität seiner Belehrungen.
Sich in Bezug auf heikle Themen wie Karma und Disziplin festlegen
Der Buddha hat die Gesetze von Karma nicht erschaffen; er hat auch niemandem verboten, destruktiv zu handeln. In seinen Unterweisungen über Karma und ethische Disziplin hat er lediglich dargestellt, welche Handlungen verheerende Folgen haben, und zwar für uns selbst, und – entweder direkt oder indirekt – auch für andere. Jeder Mensch muss sein eigenes unterscheidendes Gewahrsein benutzen und selbst entscheiden, wie er handeln will. In diesem Zusammenhang hat der Buddha unterschieden zwischen Handlungen, die natürlich destruktiv sind, wie etwa das Töten, und Handlungen, deren Vermeidung nur einer bestimmten Gruppe von Menschen zu einem ganz besonderen Zweck empfohlen wird. Ein Beispiel dafür ist die Regel, dass Ordinierte ab Mittags nicht mehr essen sollten, weil sonst die Klarheit ihres Geistes eingeschränkt werden würde, wenn sie sich am Abend und am darauf folgenden Morgen zur Meditation hinsetzen.
Nun wollen wir zwei Beispiele von Handlungen untersuchen, die nicht natürlicherweise destruktiv sind, sondern deren Vermeidung der Buddha bestimmten Gruppen von Menschen mit einer ganz spezifischen Absicht empfohlen hat. Die zu meidenden Handlungen sind: (1) Mönche und Nonnen in der Gemeinschaft der buddhistischen Ordinierten als Gleiche zu behandeln und (2) sich homosexuell zu betätigen, wenn man als buddhistisch Praktizierende das Gelübde abgelegt hat, unangemessenes sexuelles Verhalten zu vermeiden. Wenn traditionelle Mentoren unter Zuhilfenahme der Autorität der Lehren des Buddha betonen, dass diese Handlungen für Mitglieder der betroffenen Gruppen Probleme nach sich ziehen, können westliche Schülerinnen und Schüler das häufig nur schwer akzeptieren. Trotzdem wissen sie nicht, wie sie reagieren sollen. Sie fürchten, einen Bruch der Guru-Hingabe zu begehen, wenn sie anderer Meinung sind als ihr Lehrer und auf der Gleichberechtigung von Frauen oder Homosexuellen bestehen. Um den Konflikt zu lösen, müssen sie den Sinn und Zweck verstehen, die dem Ratschlag des Buddha zugrunde liegen.
Als der Buddha seine Ordensgemeinschaft aufbaute, zögerte er zunächst, auch Nonnen zuzulassen. Weil er ein so starkes Mitgefühl für alle Wesen hatte, war es ihm sehr wichtig, dass die Gesellschaft die Methoden, die er zur Beseitigung des Leidens lehrte, nicht in ein schlechtes Licht rücken oder gar ablehnen konnte. Die indische Gesellschaft seiner Zeit hätte aber unvermeidlich sexuelles Fehlverhalten unterstellt, wenn seine Ordensgemeinschaft aus Mönchen und Nonnen bestanden hätte, die frei hätten miteinander umgehen können und gleiche Behandlung erfahren hätten. Daneben verfügten auch viele der Mönche nicht über die Reife, auf nicht-sexistische Weise mit Frauen umzugehen. Um also Respektlosigkeit und Ärger gegenüber seiner Gemeinschaft und den daraus folgenden Misskredit gegenüber seinen Lehren abzuwenden, gründete er die Gemeinschaft der Nonnen als eigenständige Institution, welche der Institution der Mönche unterstellt war. Zusätzlich formulierte er einige zusätzliche Gelübde für die Nonnen, um sicherzustellen, dass die monastische Ethik über jeden Verdacht erhaben blieb. Die Ordensgemeinschaft hat sich bis zum heutigen Tag an diese Vorgaben gehalten.
Unter der Kushan-Regierung im Kaschmir des dritten Jahrhunderts kam die indische Gesellschaft intensiv mit der persischen Kultur in Kontakt. Die Gebräuche der Perser jener Zeit unterschieden sich beträchtlich von den indischen Bräuchen, besonders was das allgemein akzeptierte Sexualverhalten anging. Der Vorgabe des Buddha folgend, dass Respekt für seine Gemeinschaft immer auch Respekt für seine Lehren nach sich zog, erweiterte Vasubandhu die traditionelle Liste unpassender Formen des Sexualverhaltens. Er fügte sexuelle Praktiken hinzu, welche die indische Gesellschaft seiner Zeit für fremdartig und „unzivilisiert“ hielt, wie etwa Inzest und Homosexualität.
Ob und in welchem Ausmaß die allgemeine indische Bevölkerung und besonders die indischen Buddhisten diese Sexualpraktiken auch schon vor dem Kontakt mit der persischen Kultur praktizierten, steht hier nicht zur Debatte. Es geht darum, dass Vasubandhu sich gegen diese Formen des Sexualverhaltens aussprach, um Ansehen und Ehrbarkeit der buddhistischen Gemeinde und ihrer Lehren zu verbessern. In der buddhistischen Ethik ging es schließlich schon immer darum, Handlungen zu vermeiden, die Probleme verursachen. Die Billigung oder gar Ausübung sexueller Bräuche, die von der Gesellschaft als unkultiviert angesehen wurden, hätte mit Sicherheit zu Streit und Ärger geführt. Und da sowohl der chinesische als auch der tibetische Buddhismus die Praxis ethischer Selbstdisziplin auf die Schriften Vasubandhus gründen, steht in ihren Übertragungslinien die Homosexualität immer noch auf der Liste des unangebrachten Sexualverhaltens.
Der Buddha hat aber auch klar gemacht, dass seine Gemeinschaft untergeordnete Regeln der Disziplin, das heißt Handlungsregeln, die nur für bestimmte Gruppen aus bestimmten Gründen gelten, in Zukunft durchaus ändern kann. Um eine Regel zu ändern, müsste ein Konzil ordinierter Älterer die Angelegenheit sorgfältig beraten und zu einem Konsens gelangen. Die modernen Gesellschaften des Westens missbilligen die Diskriminierung von Frauen und Homosexuellen. Wenn traditionelle Buddhisten diese Vorurteile gemäß ihrer Sitten stillschweigend dulden, dann könnte dieses Verhalten die buddhistische Gemeinschaft in der Gesellschaft in Verruf bringen, und damit wären dann auch die Lehren des Buddha diskreditiert. Um also den Richtlinien des Buddha gerecht zu werden, um Streit und Ärger zu vermeiden, müsste ein Konzil von Älteren die Angelegenheit neu bewerten. Seine Heiligkeit der Vierzehnte Dalai Lama unterstützt die Einberufung eines solchen Konzils, obwohl es, wie er zugab, nicht leicht sein wird, einen Konsens zu finden.
Die Angelegenheit ist also nicht offiziell geklärt. Deshalb haben die meisten buddhistischen Meister, die ja für die kontinuierliche Reinheit ihrer jeweiligen Übertragungslinien verantwortlich sind, das Gefühl, dass sie die traditionellen Lehren bewahren müssen. Und es wäre in ihrer Position und in ihrem Aufgabenbereich auch unverantwortlich, wenn sie dies nicht täten. Aber selbst dann, wenn unser Mentor sich auch so verhält, konstituiert es noch immer keinen Bruch der Guru-Hingabe, wenn wir anderer Meinung sind. Zu einem Bruch kommt es nur, wenn unsere gegenteilige Meinung zu der verdrehten, feindseligen Sichtweise entartet, dass unser Mentor ein intoleranter Reaktionär sei.
Westliche Anhänger und Schüler, die aufgrund solcher Fragen verwirrt oder ungeduldig sind, müssen verstehen, dass der Buddhismus keine Autoritätsreligion ist. Keine Einzelperson hat das Recht oder die Autorität, die Lehren zu verändern – weder das Oberhaupt einer Linie noch irgendein anderer spiritueller Mentor. Darum ist es einfach unangebracht, die Zustimmung eines traditionellen tibetischen Lamas einholen zu wollen, wenn es um die Stellung der Frau oder die eigene sexuelle Orientierung geht. Jeder Mensch muss versuchen, die der buddhistischen Ethik zugrunde liegenden Prinzipien zu verstehen. Dann müssen wir unser Unterscheidungsvermögen einsetzen, um zu entscheiden, wie wir Probleme und Ärger am besten vermeiden.