Verständnis verschiedener Interpretationen und Analyse in buddhistischen Schulen
Wir haben die Sautrantika-Weise der Beschreibung verschiedener Arten der Wahrnehmung präsentiert und wenn wir in unseren Studien tiefer gehen, werden wir sehen, dass es bestimmte Varianten gibt. In Asangas Darstellung des Chittamatra-Systems gibt es beispielsweise das grundlegende Bewusstsein (Skt. ālayavijñāna) und das verblendete Bewusstsein. Doch was in den meisten unserer Studien von Bedeutung ist, sind die Prasangika-Variationen.
Wir müssen erkennen, dass die Sautrantika-Erklärung der Wahrnehmung und wie Wahrnehmung funktioniert auf der Sautrantika-Analyse beruht, wie Dinge existieren. Wenn wir die Prasangika-Art des Verstehens der Daseinsweise der Dinge vorstellen, hat das einen Einfluss auf die Wahrnehmung. Doch wir sollten verstehen, dass es nicht nur in den verschiedenen indischen Lehrsystemen unterschiedliche Darstellungen der Arten der Wahrnehmung gibt, sondern dass auch jede der verschiedenen buddhistischen Traditionen Tibets ihre eigene Interpretationen der indischen Lehrsysteme hat. Hier werden wir die Prasangika-Position besprechen, wie sie von den Gelug-Meistern präsentiert wird.
Das ist ein wichtiges Prinzip, das wir verstehen sollten, wenn wir etwas über die anderen indischen Lehrsysteme neben denen des Gelugpa lesen und lernen. So ist zum Beispiel die Sakya-Interpretation und das Sakya-Verständnis der indischen Lehrsysteme ganz anders, als wie wir sie im Gelug finden. Ihre Interpretation wird in der Regel vom Nyingma akzeptiert, während sie vom Karma-Kagyü größtenteils, jedoch mit einigen Variationen, akzeptiert wird.
Um ein Verständnis der Darstellungen der Leerheit (Leere) und vieler anderer Themen der verschiedenen tibetischen Schulen zu haben, ist es notwendig, ihre Darstellungen der Erkenntnistheorie zu verstehen. Fügen wir dieses Teil ihren Erklärungen nicht hinzu, ergeben ihre Erklärungen keinen vollständigen Sinn. Wir sehen nicht das gesamte Bild. Alle Teile ihrer Behauptungen müssen daher zusammengefügt werden. Es ist notwendig, all die Lehren eines bestimmten Systems ganzheitlich zu betrachten und zu erkennen, dass es zahlreiche variierende Erklärungen von fast allem im Buddhismus gibt. Das ergibt sich aus Buddhas Methode, verschiedene Menschen auf geschickte Weise unterschiedlich zu unterrichten, um jeder Person auf ihrer Ebene des Verstehens und der Erfahrung mit den jeweiligen Unterweisungen von höchstem Nutzen sein zu können.
Gelug-Prasangika
Frische Wahrnehmung und nachfolgende Wahrnehmung werden nicht berücksichtigt
Im Prasangika wird gültige Wahrnehmung einfach als Wahrnehmung definiert, die nicht irreführend, also mit anderen Worten korrekt und entschieden ist. Die Sautrantika-Qualifikation gültiger Wahrnehmung als frisch wird der Definition entnommen, da man im Prasangika vertritt, dass keine Wahrnehmung aus eigener Kraft entsteht. Ginge eine Wahrnehmung aus eigener Kraft als „frisch“ hervor, würde das bedeuten, sie hätte selbst-begründete Existenz (tib.rang-bzhin-gyis grub-pa). Doch da alles abhängig von zahlreichen anderen Faktoren entsteht, kann nichts selbst-begründet sein. Daher streicht man im Prasangika die nachfolgende Wahrnehmung aus dem Schema der Arten der Wahrnehmung.
Konzeptuelle und Nicht-konzeptuelle einfache Wahrnehmung
Im Prasangika wird auch das, was die Sautrantikas als „bloße Wahrnehmung“ bezeichnen, neu definiert. In der Sautrantika-Erklärung ist die bloße Wahrnehmung immer nicht-konzeptuell. Sie erfasst ihr Objekt ohne eine geistige Kategorie als Zwischenmedium und muss immer frisch sein, was daran liegt, dass man im Sautrantika die Vorsilbe „pra“ des Sanskrit-Wortes pramana, für gültige Wahrnehmung, mit neu oder erstmalig übersetzt. Im Prasangika versteht man die Bedeutung jedoch anders und übersetzt sie mit korrekt oder gültig. Dieses Verständnis ergibt sich aus einer anderen Etymologie des Sanskrit. Aus diesem Grund bedeutet auch der Sanskrit-Begriff „pratyaksha“, der im Sautrantika-System mit bloßer Wahrnehmung übersetzt wird, im Prasangika einfache Wahrnehmung.
Gemäß dem Prasangika ist die einfache Wahrnehmung eine nicht irreführende – mit anderen Worten eine korrekte und entschiedene – Wahrnehmung, die sich nicht auf eine Argumentationskette stützt. Sie kann entweder nicht-konzeptuell oder konzeptuell sein. Da es keine Festlegung gibt, dass die Wahrnehmung frisch sein muss, wird das, was im Sautrantika als nachfolgende bloße Sinneswahrnehmung vertreten wird, im Prasangika als nicht-konzeptuelle einfache Sinneswahrnehmung klassifiziert. Sie stützt sich nicht direkt auf eine Argumentationskette.
Wenn eine Wahrnehmung abhängig von einer Argumentationskette entsteht, ist sie eine schlussfolgernde Wahrnehmung, was konzeptuell ist. Vom zweiten Augenblick an stützt sich unsere schlussfolgernde Wahrnehmung nicht mehr direkt auf die Argumentationskette. Daher wird sie im Prasangika als konzeptuelle einfache Wahrnehmung klassifiziert. Im Prasangika geht man nicht, wie im Sautrantika, von einer nachfolgenden schlussfolgernden Wahrnehmung aus.
Was den Unterschied zwischen schlussfolgernder Wahrnehmung und konzeptueller einfacher Wahrnehmung betrifft, können wir ihn verstehen, wenn wir die Unterteilung zwischen mühevollem und mühelosem Bodhichitta untersuchen. „Mühevoll“ (tib. rtsol-bcas) bedeutet, eine Kette von Argumenten durchgehen zu müssen, um den gewünschten Geisteszustand zu erreichen. Für Bodhichitta ist es notwendig, die Argumentationskette durchzugehen, die damit verbunden ist zu erkennen, dass jeder schon einmal unsere Mutter gewesen ist, sich an ihre Güte zu erinnern, dankbar zu sein, diese Güte erwidern zu wollen und so weiter. Das ist die siebenteilige Bodhichitta-Meditation über Ursache und Wirkung. Es handelt sich dabei um eine Argumentationskette, auf die wir uns stützen, um einen Geisteszustand von Bodhichitta zu erzeugen, der sich auf unsere individuelle, noch nicht stattfindende Erleuchtung richtet, die von den Geistesfaktoren der Liebe, des Mitgefühls und der Absichten begleitet wird, diesen Zustand zu erreichen und allen Wesen dadurch zu nützen. Wenn wir tatsächlich diesen Bodhichitta-Geisteszustand erzeugen, ist der erste Moment oder die erste Phase eine schlussfolgernde Wahrnehmung.
Müheloses (tib. rtsol-med) Bodhichitta entsteht, wenn wir in der Lage sind, einen Geisteszustand von Bodhichitta hervorzubringen, ohne uns auf eine Argumentationskette stützen zu müssen. Unsere Wahrnehmung von Bodhichitta entsteht automatisch und ist nun eine einfache konzeptuelle Wahrnehmung dessen. Sie ist nach wie vor konzeptuell, weil wir uns nur durch die konzeptuelle Kategorie „Erleuchtung“ auf unsere noch nicht stattfindende Erleuchtung richten können, bevor wir Erleuchtung erlangen. Doch nun sind wir so vertraut mit Bodhichitta, dass wir nicht diese siebenteilige Meditation über Ursache und Wirkung oder das Gleichsetzen und Austauschen von uns und anderen durchgehen müssen. Wir haben einfach unmittelbar Bodhichitta, idealerweise jederzeit. Das ist unser Ziel – müheloses Bodhichitta.
Haben wir müheloses Bodhichitta erlangt, überschreiten wir die Grenze, ein echter Bodhisattva zu werden und haben den ersten der fünf Bodhisattva-Pfade des Geistes erlangt: einen Pfadgeist des Aufbauens, der für gewöhnlich als „Pfad des Ansammelns“ übersetzt wird. Mit mühelosem Bodhichitta als unserer Grundlage arbeiten wir nun daran, einen Zustand der Vereinigung von Shamatha und Vipashyana aufzubauen, der sich auf die sechzehn Aspekte der vier edlen Wahrheiten, auf die Leerheit dieser Wahrheiten und auf die Person richtet, die sie erfährt und die über sie meditiert.
Um es noch einmal zu wiederholen: das Prasangika-System ersetzt bloße Wahrnehmung mit einfacher Wahrnehmung und sie kann konzeptuell oder nicht-konzeptuell sein. Mit unserem Verständnis der Leerheit müssen wir beispielsweise anfangs viele Argumentationsketten durchgehen, um es zu erlangen. Doch schließlich wollen wir in der Lage sein, einfach unser korrektes Verständnis zu haben, ohne uns auf eine Argumentationskette stützen zu müssen. Unser Verständnis wird anfangs noch konzeptuell sein, doch schließlich kann es nicht-konzeptuell werden.
Kein reflexives Gewahrsein in der Prasangika-Darstellung
Im Sautrantika wird behauptet, dass das Objekt einer Wahrnehmung und der Geist, der sie wahrnimmt, getrennte, selbst-begründete, objektive Entitäten sind und daher durch getrennte geistige Fähigkeiten wahrgenommen werden. Das Objekt einer Wahrnehmung, wie ein Hund, wird durch das Sehbewusstsein wahrgenommen, während das begleitende reflexive Gewahrsein gleichzeitig das Sehbewusstsein und dessen begleitende Geistesfaktoren wahrnimmt, die den Hund wahrnehmen. Die Wahrnehmung durch reflexives Gewahrsein erlaubt uns, uns daran zu erinnern, das Objekt wahrzunehmen.
Im Prasangika wird sogar die konventionelle Existenz reflexiven Gewahrseins widerlegt. Würden wir eine getrennte geistige Fähigkeit innerhalb einer Wahrnehmung benötigen, um andere geistige Komponenten dieser Wahrnehmung zu erkennen und aufzunehmen, würde das zu einer unendlichen Regression führen. Wir würden immer noch eine weitere geistige Fähigkeit innerhalb dieser Wahrnehmung benötigen, um das reflexive Gewahrsein zu erkennen und aufzunehmen, was sich bis in die Unendlichkeit fortsetzen würde. Daher ergibt reflexives Gewahrsein keinen Sinn.
Außerdem vertritt man im Prasangika, dass das Objekt einer Wahrnehmung und der Geist, der sie wahrnimmt, beide frei von selbst-begründeter Existenz sind. Weil sie untrennbar voneinander sind, sind sie nicht-dual. Da Objekte in verschiedenen Klassen – wie ein Hund und das Sehen des Hundes – nicht beide in einem Moment eines Bewusstseins erscheinen können, begreifen wir beispielsweise mit der konzeptuellen Wahrnehmung des Erinnerns daran, dass wir den Hund gesehen haben, explizit den Hund und implizit unser Sehen des Hundes. Weil diese konzeptuelle Wahrnehmung auch implizit „nichts anderes als diesen Hund“ begreift, begreift sie ebenfalls implizit „nichts anderes als unser früheres Sehen des Hundes“. Mit dieser konzeptuellen Wahrnehmung des Erinnerns daran, den Hund gesehen zu haben, bestimmen wir daher entschieden und erkennen auf korrekte Weise sowohl den Hund als auch das Auftreten unseres früheren Sehens des Hundes.
Chandrakirtis vier gültige Arten der Wahrnehmung
Chandrakirti vertritt in seinen „Klaren Worten“ (Prasannapadā), ein Kommentar zu Nagarjunas „Wurzelversen des Madhyamika“ (Mūlamadhyamaka-kārikā) vier gültige Arten der Wahrnehmung. Tsongkhapa bezieht sich in seinem Lam-rim chen-mo, der „Großen Darstellung des Stufenpfades“ auf sie. Wir mögen uns fragen, warum im Sautrantika gesagt wird, es gäbe nur zwei gültige Arten der Wahrnehmung, wenn Chandrakirti von vier Arten ausgeht. Dazu ist es notwendig, die Liste zu untersuchen, um zu erkennen, dass es keinen Widerspruch gibt:
- gültige einfache Wahrnehmung;
- gültige schlussfolgernde Wahrnehmung;
- gültige Wahrnehmung beruhend auf Autorität – das ist eine andere Bezeichnung für die dritte Art der schlussfolgernden Wahrnehmung: schlussfolgernde Wahrnehmung beruhend auf der Überzeugung, dass die Quelle der Information gültig ist; sowie
- gültige Wahrnehmung durch ein analoges Beispiel (tib. nyer-’jal tshad-ma, Skt. upamāna).
Gültige Wahrnehmung durch ein analoges Beispiel bezieht sich auf Beispiele, wie zu wissen, was ein Buckelrind ist. Es handelt sich dabei um eine Tierart in Indien, und man kann es mit einem weißen Bullen vergleichen, der einen Buckel auf dem Rücken und eine verlängerte Wamme unter dem Hals hat. Auf diese Weise können wir durch ein analoges Beispiel gültig wissen, was es ist.
Was ist beispielsweise ein Zebra? Wir haben vielleicht keine Ahnung, was ein Zebra ist, aber wir können anhand der Analogie schlussfolgern, dass es wie ein Esel mit schwarzen und weißen Streifen aussieht. Durch eine Analogie können wir daher gültig wissen, was etwas ist. Gewöhnlich wird ein Beispiel aus der Grammatik angeführt. Viele Sprachen haben verschiedene Flexionen des gleichen Wortes, also Fälle des Nominativ, Akkusativ und Genitiv: „ich“, „mich“ und „mein“, oder Formen des Präsens, Präteritum und Perfekt: „essen“, „aß“ und „gegessen“. Wie wissen wir, dass sich alle Flexionen auf dasselbe Wort beziehen und nur verschiedene Fälle oder Formen sind? Durch analoge Beispiele. Dasselbe trifft zu, wenn wir gültig wissen, wie wir unser Ziel erreichen, indem wir auf eine analoge Darstellung des Ziels einer Karte schauen.
Obgleich viele nicht-buddhistische Systeme auch gültige Wahrnehmung durch analoge Beispiele als gültig akzeptieren, betrachtet man diese vierte Art der Wahrnehmung im Sautrantika als unnötig. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie auch eine Art der Schlussfolgerung ist.
Im Prasangika erkennt man jedoch die Wahrnehmung durch ein analoges Beispiel als gültig an – wie zum Beispiel in dem Vers aus „Drei Übungen, die fortwährend ausgeführt werden sollten“ (tib. rGyun-chags gsum-pa): Betrachte beeinflusste Phänomene, dass sie sind wie die Sterne, etwas Verschwommenes, eine Fackel, eine Illusion, Tautropfen, eine Blase, ein Traum, ein Blitz oder Wolken.
Sieben Arten der Wahrnehmung auf das Verständnis der Leerheit angewandt
Der letzte Punkt, den ich machen möchte, ist die Anwendung dieser sieben Arten der Wahrnehmung, um ein korrektes Verständnis der Leerheit zu erlangen. Wenn wir die Weise kennen, auf die wir Leerheit wahrnehmen, können wir unseren Fortschritt leichter messen.
Verzerrte Wahrnehmung
Zunächst haben wir als gewöhnliche Wesen eine verzerrte Wahrnehmung der Leerheit, die von mangelndem Gewahrsein begleitet ist. Wir nehmen Dinge wahr, als wären sie wahrhaft selbst-begründet, wie von Plastik umhüllt, ganz aus eigener Kraft existierend und unabhängig von allem anderen. Wir sind uns absolut nicht gewahr, dass dies falsch ist. Das ist die gewöhnliche Definition der Unwissenheit: wir wissen ganz einfach nicht, dass es falsch ist. Alles was wir wahrnehmen ist verzerrt in Bezug darauf, wie es existiert.
Wir könnten unserer verzerrten Wahrnehmung eine verzerrte und feindselige Geisteshaltung (tib. log-lta) hinzufügen. Mit solch einer verzerrten Geisteshaltung bestehen wir hartnäckig darauf, dass Dinge so existieren, wie wir sie wahrnehmen, und argumentieren auf feindselige Weise mit jedem, der unser Verständnis herausfordert. Das ist der echte Unruhestifter, der uns von einem korrekten Verständnis abhält.
Wenn diese störende, verblendete Geisteshaltung als „falsche Sichtweise“ übersetzt wird, vermittelt das nicht ihre volle Bedeutung. Eine falsche Sicht könnte einfach ein Trugschluss sein. Die verblendete Geisteshaltung hingegen bedeutet, so hartnäckig daran festzuhalten, Recht zu haben, und feindselig gegenüber jedem zu sein, der nicht unserer Meinung ist, sodass wir uns völlig verschließen, ein besseres Verständnis zu bekommen. Um Leerheit zu verstehen, müssen wir jedoch aufgeschlossen sein. Dafür gibt es viele Möglichkeiten, wie mitfühlender zu sein. Wenn wir anderen unser Herz öffnen, öffnen wir auch unseren Geist dafür, was andere uns vielleicht zu sagen haben.
Unentschiedene Wahrnehmung
Mit diesem offenen Geist können wir zur nächsten Ebene weitergehen, die darin besteht, sich eine Vorlesung über Leerheit anzuhören. Doch wenn wir ständig auf unser Telefon schauen, während der Lehrer erklärt, ist unser Hören über die Leerheit unentschieden. Schreiben wir jemandem gerade eine Nachricht, schenken wir der Vorlesung keine Aufmerksamkeit und werden nicht in der Lage sein, uns an ein Wort von dem, was gesagt wurde, zu erinnern.
Scheinbare bloße Wahrnehmung
Waren wir, als wir der Vorlesung zuhörten, in Gedanken verloren, hatten wir nur eine scheinbare bloße Wahrnehmung der Worte. Dann werden wir wieder nicht in der Lage sein, uns an das Gesagte zu erinnern, weil wir wieder nicht aufgepasst haben. Wir sind in Gedanken verloren.
Gültige akustische bloße Wahrnehmung, gefolgt von konzeptueller Wahrnehmung durch eine Hörkategorie
Doch wenn wir tatsächlich die Worte mit gültiger akustischer bloßer Wahrnehmung gehört haben und uns sicher darüber sind, was wir gehört haben und dass wir es korrekt gehört haben, sind wir in der Lage, konzeptuell den Klang des Wortes „Leerheit“ durch eine Hörkategorie wahrzunehmen. Dadurch wissen wir das nächste Mal, wenn wir hören, wie der Lehrer vielleicht sogar schon im nächsten Satz das Wort „Leerheit“ benutzt, dass er wieder dasselbe Wort sagt.
Fehlerhafte konzeptuelle Wahrnehmung durch eine bedeutungsbezogene Kategorie
Doch dann, wenn der Lehrer „Leerheit“ sagt, haben wir entweder keine Vorstellung davon, was es bedeutet oder wir haben eine fehlerhafte Vorstellung, auch wenn wir wissen, dass er das gleiche Wort sagt wie zuvor. Mit anderen Worten erkennen wir entweder nicht den Klang des Wortes „Leerheit“ durch eine bedeutungsbezogene Kategorie oder wir nehmen es konzeptuell durch eine falsche bedeutungsbezogene Kategorie wahr, wie zum Beispiel durch die bedeutungsbezogene Kategorie „Nichts“. Wir denken Leerheit bedeutet Nichts.
Unentschlossenes Schwanken
Danach beginnen wir, eine Vorstellung davon zu bekommen, was das Wort „Leerheit“ bedeutet, aber wir sind uns nicht sicher. Das ist unentschlossenes Schwanken. Hier können wir zwischen mehreren Schritten unterscheiden. Zunächst ist es notwendig sich zu entscheiden, ob es lohnenswert ist, zu versuchen, Leerheit korrekt zu verstehen oder nicht. Ist die Rede von Leerheit dasselbe, wie die Rede von höllischen Bereiche, Geistern und Dämonen, die wir als völligen Unsinn betrachten und somit nicht einmal versuchen herauszufinden, worum es überhaupt geht? Befindet sich die Leerheit in der gleichen Kategorie wie Feen und Elfen? Ist es so oder handelt es sich dabei um etwas, dem wir Zeit geben sollten, um herauszufinden, was es wirklich bedeutet und ob es wahr oder korrekt sein könnte? Wir haben diesbezüglich unentschlossenes Schwanken. Entscheiden wir uns für ein „ja“ auf beide dieser Fragen, spornt uns das an weiterzugehen und zu versuchen ein korrektes Verständnis darüber zu erlangen, was Leerheit bedeutet.
Als nächstes haben wir unentschlossenes Schwanken darüber, ob Leerheit einfach nichts oder die Abwesenheit von unmöglichen Existenzweisen bedeutet. Würden wir uns für eine Abwesenheit entscheiden, hätten wir unentschlossenes Schwanken darüber, ob es wahr ist. Zunächst neigen wir dazu, große Zweifel zu hegen. Wir denken, dass es nicht wahr ist, aber vielleicht ist es doch wahr und stimmt. Schließlich ist unsere Haltung ausgeglichen. Wir wissen es einfach nicht; vielleicht ist es wahr, vielleicht auch nicht. Letztlich denken wir dann, dass es vielleicht stimmt, aber wir verstehen es nach wie vor nicht.
Gültige Wahrnehmung, bei der die Bestimmung des Objektes durch eine andere Wahrnehmung herbeigeführt werden muss
Dann entscheiden wir, dass wir weitere Informationen benötigen, um die Leerheit wirklich zu verstehen und für wahr zu halten. Wir benötigen weitere Unterweisungen, müssen darüber nachdenken und meditieren.
Vermutung
Bekommen wir dann mehr Informationen und Verständnis, vermuten wir, dass sie wahr ist. Wir verstehen die Leerheit jedoch nicht wirklich und auch nicht, warum sie wahr ist. Obwohl wir die Argumentationskette aus den Texten zitieren können, verstehen wir sie nicht wirklich, aber vermuten, dass sie die Wahrheit der Leerheit beweisen.
Gültige schlussfolgernde Wahrnehmung
Um Gewissheit in Bezug auf die Leerheit zu erlangen, ist es notwendig als nächstes gültige schlussfolgernde Wahrnehmung davon zu haben. Dann wird unser Verständnis gültig sein. Das bedeutet, dass wir uns auf die Argumentationskette stützen müssen, um sie für uns selbst zu beweisen. Es ist nicht nur so, dass wir deren Wahrheit vermuten. Wir müssen sie auch logisch beweisen. Daher gilt es in unserer Meditation über Leerheit mit der Argumentationskette zu arbeiten. Wir können nicht einfach sagen, wir vermuten sie sei wahr, und uns dann auf die Tatsache richten, dass es so etwas wie eine unmögliche Existenzweise nicht gibt, wenn wir sie nicht wirklich durch das Beweisen mittels einer Argumentationskette verstanden und diesbezüglich Gewissheit erlangt haben.
Das ist gültige schlussfolgernde Wahrnehmung. Wir gehen eine Argumentationskette durch, kommen zur korrekten Schlussfolgerung und richten uns dann darauf aus. Nachdem wir zu dieser korrekten Schlussfolgerung beruhend auf Logik gekommen sind, fokussieren wir uns konzeptuell darauf.
Jedes Mal, wenn wir ein besseres Verständnis darüber erlangen, was Leerheit bedeutet, werden wir die bedeutungsbezogene Kategorie, durch die wir uns konzeptuell auf „Leerheit“ richten, korrigieren oder ersetzen müssen. Das ist ein allmählicher Vorgang, in dem wir immer mehr Informationen und Verständnis erlangen. Wenn sich unser Verständnis entwickelt, ersetzten wir die bedeutungsbezogene Kategorie mit einer, die zutreffender ist.
Einfache konzeptuelle Wahrnehmung
Mit größerer Vertrautheit bezüglich der Meditation über Leerheit, ist es nicht einmal mehr notwendig, die logische Argumentationskette durchzugehen, um sich korrekt und entschieden auf Leerheit ausrichten zu können. Wir sind so überzeugt davon und vertraut damit, dass wir einfach unmittelbar zu diesem Verständnis kommen.
Einfache nicht-konzeptuelle Wahrnehmung
Mit immer mehr Praxis und gleichzeitigem Aufbauen positiver Kraft (Verdienst) durch die Meditation über Bodhichitta und dem Ausführen von Bodhisattva-Taten, wird unsere einfache Wahrnehmung der Leerheit schließlich nicht-konzeptuell werden. Sie wird nicht mehr durch eine Kategorie dessen stattfinden, was Leerheit bedeutet, sondern einfach nicht-konzeptuell und direkt sein.
Das sind die Ebenen zum Erlangen nicht-konzeptueller Wahrnehmung der Leerheit. Doch nur die Ebenen schlussfolgernder Wahrnehmung und sowohl konzeptueller als auch nicht-konzeptueller einfacher Wahrnehmung sind gültige Wahrnehmungen der Leerheit. Durch sie bauen wir immer größere Schwungkraft auf, um mit unserer nicht-konzeptuellen Wahrnehmung der Leerheit tatsächlich eine wahre Beendigung eines Teils unserer Ignoranz und eines Teils unseres Nicht-Wissens zu erlangen.
Das sind die Stufens, wenn wir Leerheit oder irgendetwas verstehen wollen. Sind wir uns bewusst, welche Stufen wir durchgehen müssen, können wir sorgfältig darauf achten, keine auszulassen. Am leichtesten überspringen wir das logische Beweisen, was für viele von uns gilt, jedoch nicht für alle, da manche Leute logisch funktionieren und gerne logische Beweise durchgehen. Leicht passiert es, dass wir nur vermuten, Leerheit wäre wahr und dann einfach versuchen, uns auf sie zu fokussieren, ohne sie für uns selbst bewiesen zu haben. Das trifft auf die Wahrheit der Leerheit, der Vergänglichkeit oder die Wahrheit von irgendetwas im Dharma zu. Unser Verständnis muss stets auf logische Weise auf gültigen Argumentationsketten beruhen.
Zusammenfassung
Das ist das grundlegende Material einer Einführung in die Arten der Wahrnehmung. Einführung bedeutet natürlich nicht, dass es leicht war, denn wir haben hier eine ganze Menge an Informationen. Doch es handelt sich dabei um ein wirklich hilfreiches Thema, auch wenn es weitreichend und komplex ist. Aber das Leben ist komplex und so sind die Weisen, wie unser Geist funktioniert, ebenfalls komplex. Es ist nicht einfach; je komplexer das System zum Verstehen der Komplexitäten des Lebens ist, desto präziser ist es. Vereinfachen wir die Funktionsweise unseres Geistes allzu sehr, erreichen wir damit nicht wirklich viel.
Doch am Anfang brauchen wir vielleicht ein einfaches Schema. Dann können wir immer mehr Einzelheiten hinzufügen und dieser allmähliche Pfad ist für die meisten am wirksamsten.
Fragen und Antworten
Wie können wir gültig die Qualitäten eines spirituellen Lehrers erkennen?
Wenn wir einen Lehrer sehen oder ihm zuhören, kann unsere gültige bloße Sinneswahrnehmung bestimmen, dass er oder sie eine Person mit charakteristischen Merkmalen des Geschlechts, der Größe, des Gewichts, des Alters usw. ist. Um die Besonderheiten (tib. khyad-par) dieser Merkmale zu kennen, wie Name, Geburtsort, Eltern, Ausbildung usw., müssen wir uns auf eine gültige schlussfolgernde Wahrnehmung stützen, die auf Vertrauen einer gültigen Quelle dieser Information beruht. Manche Besonderheiten, wie Geschlecht und Hautfarbe können jedoch durch gültige bloße Sinneswahrnehmung erkannt werden.
Was die Qualitäten (tib. yon-tan) des Lehrers betrifft, wie mitfühlend, gelehrter als wir, ausgeglichen und geduldig zu sein, ist es notwendig, sich auf gültige schlussfolgernde Wahrnehmung, beruhend auf der Kraft von Beweisen aus unserer eigenen persönlichen Erfahrung, zu stützen. Wir könnten sie auch mit Schlussfolgerung beruhend auf Vertrauen darauf ergänzen, was gültige Quellen der Information uns sagen. Dinge zu erkennen, wie dass die Lehrer keine Zeit für uns haben, weil sie zu beschäftigt mit Reisen und anderen Schülern sind, würde sich wiederum darauf beziehen, dies schlussfolgernd beruhend auf der Kraft von Beweisen herauszufinden.
Gibt es Arten der Wahrnehmung, die wir unbewusst zu haben scheinen, wie einen Richtungssinn?
Es gibt noch mehr Arten der bloßen Sinneswahrnehmung, als nur die fünf, die im Buddhismus als charakteristisch für Menschen beschrieben werden. Es gibt Tiere, die einen Richtungssinn haben und sich am Magnetfeld ausrichten, und es ist auch möglich, dass Menschen ebenfalls diese Sinne haben könnten. Die Wahrnehmung durch sie wäre eine bloße Sinneswahrnehmung.
Manche Dinge lernen wir durch Imitieren oder Nachahmen. Wie lernt ein Baby zum Beispiel eine Sprache auf grammatikalisch korrekte Weise zu sprechen? Es lernt sie, indem es sie imitiert. Im Grunde hören Kleinkinder andere Menschen auf bestimmte Weise reden. Was sie hören, wird sich irgendwann richtig oder nicht richtig anhören, denn das, was sie hören, nehmen sie durch Kategorien dessen wahr, was sich richtig anhört.
Im Deutschen und vielen anderen indoeuropäischen Sprachen haben Substantive männliche, weibliche oder sächliche Artikel. Durch schlussfolgernde Wahrnehmung beruhend auf bekannten Tatsachen wissen wir, dass es nicht richtig klingt, einem Wort einen weiblichen Artikel zu geben, wenn er männlich oder sächlich sein sollte. Da wir das fast automatisch erkennen, scheint es, als würden wir unbewusst erkennen, was richtig klingt, und das kann auch passieren, wenn wir die Grammatik nicht einmal formell kennen. Nur weil wir vielleicht nicht in der Lage sind, unsere Sprache in einem gedanklichen Bezugssystem nach den Fällen für ein Substantiv anzuordnen, schließt das nicht die Möglichkeit aus, die Sprache korrekt zu sprechen.
Ist das nachfolgende Wahrnehmung?
Zu wissen, wie man eine Sprache korrekt spricht, die man als Kleinkind gelernt hat, ist konzeptuelle scheinbare bloße Wahrnehmung basierend auf etwas, an das wir uns erinnern. Es ist nicht so, dass wir ganz plötzlich wissen, wie wir unsere Muttersprache sprechen. Wenn wir das erste Mal etwas in unserer Muttersprache sagen, wissen wir beruhend auf gültiger schlussfolgernder Wahrnehmung beruhend auf bekannten Tatsachen, wie wir es korrekt aussprechen. In den darauffolgenden Momenten, in denen wir weiter reden, würde man im Sautrantika sagen, dass wir nachfolgende schlussfolgernde Wahrnehmung beruhend auf bekannten Tatsachen haben. Diese Analyse trifft auch auf das Lernen einer Sprache später im Leben zu – auch entweder durch Nachahmen oder durch das formelle Lernen mit einem Lehrer.
Schlussfolgerung
Ich denke, wir haben gesehen, dass es zahlreiche Anwendungen für dieses Schema der Arten der Wahrnehmung gibt. Es handelt sich um ein Schema, ein begriffliches Bezugssystem, und daher ist das Kennen eine trügerische Wahrnehmung. Doch konzeptuelle Bezugssysteme sind sowohl notwendig als auch nützlich. Sie helfen uns, unser Leben und unsere Erfahrungen zu verstehen. Ihr Zweck besteht darin, uns zu helfen, uns von Leiden und seinen Ursachen zu befreien.
Die Ursachen des Leidens sind Unwissenheit oder mangelndes Gewahrsein und unsere nicht-gültigen Weisen, Dinge wahrzunehmen, wie verzerrte Wahrnehmung und unentschlossenes Schwanken, mit dem wir zu einer fehlerhaften Schlussfolgerung tendieren. Mit unterscheidendem Gewahrsein sollten wir auch eine fehlerhafte Art der Wahrnehmung oder des Verstehens von einer korrekten unterscheiden können. Die Fähigkeit, dies korrekt, mit Bestimmtheit und schnell zu tun, versetzt uns in die Lage, uns von Leiden und seinen Ursachen zu befreien. Tun wir dies mit Mitgefühl – dem Wunsch, das Leiden aller zu mindern – befähigt es uns auch, anderen bestmöglich helfen zu können. Vielen Dank.