Was ist vor den vorbereitenden Übungen des Ngöndro nötig?

Sowohl die Standardübungen des Ngöndro als auch die sechs vorbereitenden Übungen vor der Meditation beinhalten Zufluchtnahme (das Einschlagen einer sicheren Richtung) und die Bestärkung unserer Bodhichitta-Motivation. Wenn wir diese Ngöndro-Übungen allerdings gleich von Beginn an praktizieren sollen, stellt sich die Frage, wie wir dem nachgehen können, ohne bereits Zuflucht und Bodhichitta kultiviert zu haben. 

Geschichtlicher Hintergrund

Es ist interessant zu vergleichen, wie die sechs vorbereitenden Übungen behandelt werden und wie sie in die aufeinanderfolgenden Stufen der verschiedenen Texte des Lam-rim integriert sind. Nur weil sie in einem Text auf eine bestimmte Weise präsentiert werden und wir uns dann darauf als das absolut Richtige fixieren, bedeutet das nicht, dass dem tatsächlich auch so ist. 

Tsongkhapas Lam-rim, „Eine umfassende Darstellung der aufeinanderfolgenden Stufen des Pfades“ (tib. Lam-rim chen-mo), stellt zu Beginn dar, wie eine gesunde Beziehung zu einem spirituellen Lehrer aussieht, und geht dann auf diese sechs Übungen ein, die darin bestehen, den Meditationsraum zu säubern, einen Altar herzurichten, einen angemessenen Sitz zu verwenden und so weiter. Tsongkhapa erklärt diese Praktiken als einen Weg, die eigene enge Bindung mit dem Lehrer einzuhalten. Dies muss man allerdings in dem Kontext sehen, in welchem er Lam-rim lehrte. Er tat dies im Rahmen einer tantrischen Ermächtigung, in welcher man üblicherweise zuerst einen Rückblick auf die Stufen des Pfades gibt. Die Zielgruppe waren Mönche und Nonnen – hauptsächlich Mönche zur damaligen Zeit –, die bereits eine Beziehung zu einem spirituellen Lehrer hatten. Die Tatsache, dass Tsongkhapa dies nun direkt am Anfang präsentiert, ist in diesem Kontext zu sehen – man hat bereits einen Lehrer, erhält dann eine Ermächtigung von ihm und anschließend wird einem die Vorgehensweise erklärt.

Der fünfte Dalai Lama erwähnt in seinem Lam-rim „Die aufeinander folgenden Stufen des Pfades: Persönliche Unterweisungen von Manjushri (tib. Lam-rim ‘jam-dpal zhal-lung), dass es wirklich wichtig ist, eine sichere Richtung (Zuflucht) und Bodhichitta bereits entwickelt zu haben, bevor man den ganzen Prozess des Lam-rim beginnt. Danach folgt er der Reihenfolge von Tsongkhapa – die Beziehung zu einem spirituellen Meister einzugehen und anschließend die sechs vorbereitenden Übungen zu praktizieren. Das ergibt natürlich Sinn, wenn man mal darüber nachdenkt; wie sollte man dies sonst in aller Welt tun können, ohne sich vorher bereits damit beschäftigt zu haben?

Der fünfte Dalai Lama war wahrscheinlich einer der pragmatischsten Meister, die solche Texte verfasst haben – er war pragmatisch und realistisch. Er war derjenige, der bezüglich der Lehrer-Schüler-Beziehung sagte, dass man zuerst die Unzulänglichkeiten des Lehrers untersuchen und diesbezüglich realistisch sein sollte, ohne über sie hinwegzusehen. Nicht alle spirituellen Lehrer sind perfekt. Es nützt allerdings überhaupt nichts, sich dann darauf zu fokussieren und sich nur zu beschweren. Auf diese Weise kann keine Inspiration aufkommen. Deswegen wendet man sich stattdessen den positiven Eigenschaften des Lehrers zu. Die Einstellung, dass spirituelle Lehrer sowieso alle Buddhas sind und alles, was sie tun, perfekt ist, ist ziemlich naiv. Den Lehrer als Buddha zu sehen sollte in einen realistischen Kontext passen, und es ist wichtig, den Zweck und die Grundlage dieser Auffassung zu verstehen.   

Seine Heiligkeit, der vierzehnte Dalai Lama, sagt immer, er sei sich nicht wirklich sicher, ob er tatsächlich die Fortsetzung der Linie aller Dalai Lamas ist. Er erklärt das Tulku-System generell in einem weitaus größeren Kontext, als das traditionellerweise gemacht wird. Er sagt allerdings, dass er sich in der Tat als Fortsetzung des fünften und dreizehnten Dalai Lamas fühlt, und folgt instinktiv deren äußerst pragmatische Herangehensweise.

Der fünfte Panchen Lama platziert die sechs vorbereitenden Übungen in seinem Lam-rim, „Die aufeinander folgenden Stufen des Pfades: Ein geschwinder Pfad“ (tib. Lam-rim myur-lam), an erste Stelle und erläutert daraufhin die Lehrer-Schüler-Beziehung. Er lebte in einer späteren Zeit als der fünfte Dalai Lama, dessen Lehrer der vierte Panchen Lama war. Er gibt ziemlich ausführliche Erklärungen, wie man über jede Stufe des Lam-rims meditiert, und deshalb beginnt man seinen Erklärungen nach auch mit den vorbereitenden Übungen, da man mit diesen auch jede Meditationssitzung beginnt. Die Beziehung zu einem spirituellen Lehrer zu bekräftigen, ist dann das erste, was man im Lam-rim macht.  

In manchen Darstellungen von ähnlichem Material aus anderen tibetischen Traditionen findet man das Thema der Lehrer-Schüler-Beziehung am Ende des abgestuften Pfades, was Seine Heiligkeit, der vierzehnte Dalai Lama, bevorzugt. Dann ist man nämlich weniger anfällig für Missverständnisse, Verwirrungen und in manchen Fällen sogar Missbrauch. Der fünfte Dalai Lama deutete dies bereits an, indem er sagte, dass Zuflucht und Bodhichitta nötig sind, um mit Lam-rim zu beginnen. 

Das war nur ein kleiner geschichtlicher Hintergrund, aber ich denke, dass es bezüglich unserer Herangehensweise an verschiedene Praktiken sehr aufschlussreich sein kann, besonders in Bezug auf die Beziehung zu einem spirituellen Lehrer. Die Schlussfolgerung, die sich aus der Darstellung des fünften Dalai Lamas ziehen lässt, ist, dass eine angemessene Motivation nötig ist und man mit diesen Lehren bereits gearbeitet haben sollte, bevor man ernsthaft in die eigentliche Praxis einsteigt. Andernfalls könnte unsere Motivation sehr weltlich sein, insofern man dieses Wort benutzen kann. Manche Menschen fühlen sich von ihrem Lehrer unheimlich inspiriert, und für sie ist das genug. Der Wunsch, ihm gleichzukommen, ist für sie genug, um mit all den vorbereitenden Übungen des Ngöndro zu beginnen. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass es sich dabei nur um eine Projektion handelt, und dass die Inspiration von den Projektionen des Schülers herrührt und nicht von den tatsächlichen Qualitäten des Lehrers. 

Vor der Praxis zur Ruhe kommen

Viele Leute, die eine buddhistische Praxis machen möchten, fragen, was sie zu Beginn der Praxis tun sollen. Oft hört man als Antwort, dass man einfach stillsitzen und sich seiner Gedanken und Emotionen gewahr sein sollte, da man sich mit einem ruhigen Geist nicht vollständig auf seinen Atem konzentrieren und gewissermaßen „sich selbst kennenlernen“ kann (wen wollen wir hier eigentlich etwas vormachen?). 

Heutzutage lassen sich die meisten Leute dauerhaft mit Musik beschallen und tragen überall ihre Kopfhörer in den Ohren. Niemand nimmt sich einen Moment Zeit, einfach allein zu sein und seine Gedanken zu beobachten. Jeder sucht ständig nach Ablenkung. Genauso müssen dann auch zuhause entweder Radio, Musik oder Fernseher laufen; direkt nach dem Aufstehen bis zum Schlafengehen. Ich habe eine Tante, deren Fernseher vierundzwanzig Stunden am Stück läuft. Sie braucht ihn, um einschlafen zu können, und wenn sie sich nachts im Bett wälzt oder kurz aufwacht, fühlt sie sich durch den Fernseher beruhigt. Das ist wirklich unglaublich, wenn man mal darüber nachdenkt. Einfach mal ohne Hintergrundmusik zur Ruhe zu kommen, sich auf seinen Atem zu konzentrieren, zu sehen, welche Gedanken und Gefühle man gerade hat, und zu sehen, dass diese nicht von Musik diktiert oder beeinflusst werden – das könnte vielen die Augen öffnen.  

Dies ist eine Übung, die vielen für den Anfang empfohlen wird, und ich denke, dass das in Zukunft immer wichtiger werden wird. Es ist nämlich nicht nur die konstante Musikbeschallung – und das machen nicht nur junge Leute, sondern Leute aller Altersstufen –, sondern auch dieses ständige Texten mit dem Smartphone. Man schaut ständig drauf und überprüft seinen Facebook- und Twitterfeed in der Angst, etwas zu verpassen; denn es ist doch so wichtig zu wissen, was die Freunde zum Frühstück hatten. 

Eine Freundin von mir, eine Professorin an einer Universität in New York, hat mich neulich besucht und mir davon berichtet, dass sie ein Seminar unterrichtet, das drei Stunden dauert, und sie besteht darauf, dass die Studenten ihre Smartphones auf einem Tisch an der Tür ablegen; andernfalls schreiben sie während der Zeit Textnachrichten, wie das an amerikanischen Universitäten so läuft, mit der Mentalität „Ich kann keine Emotion empfinden oder eine Erfahrung machen, ohne sie in eine Textnachricht zu fassen.“ Meine Freundin berichtete, dass die Stimmung im Raum dauerhaft so angespannt war, dass sie den Studenten jede Stunde eine fünfminütige Pause zum Texten geben musste. Sie brauchen keine Pause zum Rauchen, oder um auf die Toilette zu gehen, sondern eine Pause fürs Texten. Textnachrichten sind wichtiger geworden als zu rauchen oder auf die Toilette zu gehen. Das ist wirklich traurig und wird eine große Herausforderung für buddhistisches Training – den Leuten zu helfen, irgendwie von dieser Sucht nach ständigem Informationsstrom und Ablenkung wegzukommen.  

Als anfängliche Übung ist es sehr hilfreich, zur Ruhe zu kommen, sich auf seinen Atem zu konzentrieren und sich einfach damit wohlzufühlen, was im Geist auftaucht; sich selbst gewissermaßen kennenzulernen (auch wenn das furchtbar dualistisch klingt). Wenn wir von vorbereitenden Praktiken sprechen, müssten solche Atemübungen eigentlich deutlich vor dem Ratschlag kommen, 100.000 Niederwerfungen zu machen. Man würde doch verrückt werden, wenn man bei jeder der 100.000 Niederwerfungen sein Smartphone neben sich auf dem Boden hat, um nachzuschauen, ob eine neue Nachricht ankam. Das mag vielleicht albern klingen, aber wenn man mal über die Mentalität nachdenkt, die sich momentan in der Welt entwickelt, ist das in der Tat ein ernsthaftes Problem. Wie in aller Welt könnte man ernsthaft über einen längeren Zeitraum praktizieren, wenn man es nicht einmal ohne sein Handy aushält, ohne völlig verrückt zu werden, weil man nicht nachsehen kann, ob es Neuigkeiten gibt, und nicht in etwa kommentieren kann: „Oh, ich mache gerade Niederwerfungen und jetzt tut mir das Knie weh! Das muss ich unbedingt jemandem schreiben und in einem Tweet posten, damit die ganze Welt Bescheid weiß!“

Während seiner gesamten Geschichte wurde der Buddhismus in verschiedenen Kulturen adaptiert, um den Bedürfnissen und der Mentalität der Menschen gerecht zu werden, und ich denke, dass sich der Buddhismus und in diesem speziellen Fall die vorbereitenden Übungen in Zukunft – und eigentlich von jetzt an – diesen Problemen annehmen müssen. Denn was ist der Zweck dieser Übungen? Es geht darum, Hindernisse zu überwinden, und in dem, was sich in Zusammenhang mit all diesen Textnachrichten, sozialen Netzwerken und dauerhafter Musikbeschallung entwickelt, besteht in der Tat ein großes Hindernis. 

Wenn man von unterscheidendem Gewahrsein (tib. shes-rab, Skt. prajñā) spricht, was üblicherweise mit dem unkonkreten Wort „Weisheit“ übersetzt wird, geht es darum, zwischen dem unterscheiden zu können, was nützlich und dem, was schädlich ist. Man sollte unterscheiden können, wann man sein Handy anmacht und wann man es ausschaltet, sprich, wann es nützlich ist (man kann nicht bestreiten, dass soziale Netzwerke und Textnachrichten nützlich sein können) und wann es hinderlich ist. Wenn man dieses unterscheidende Gewahrsein nicht hat, ist das sehr schwierig. Und wie kann man es entwickeln? In den buddhistischen Lehren ist das klar erklärt: Man benötigt Konzentration, wofür man wiederum Disziplin braucht, sprich, die drei höheren Schulungen. In den Lehren steht deutlich, wie man diese entwickelt. 

Diese vorbereitenden Übungen sind sehr hilfreich, um Disziplin zu erlangen, aber ich denke nicht, dass man mit ihnen ganz am Anfang starten kann, während man noch süchtig nach sozialen Netzwerken ist; man wäre dazu schlichtweg nicht in der Lage. Meiner Meinung nach braucht man etwas, das diesen Übungen noch zuvorkommt. Sich auf den Atem zu konzentrieren und Gedanken einfach aufkommen zu lassen wäre ein guter Anfang. Sobald man dazu in der Lage ist, damit umzugehen, ohne vollkommen verrückt zu werden, ist es sehr hilfreich, sich den vorbereitenden Übungen zu widmen. 

Wie man die sechs vorbereitenden Übungen als Anfänger angeht

Was ist nun mit dem Einwand des fünften Dalai Lamas? Wie sollte man diese sechs Übungen, zu denen Zuflucht und Bodhichitta gehören, praktizieren können, ohne sich zuvor mit diesen beschäftigt zu haben? Man braucht diese Vorbereitungen, um über Zuflucht und Bodhichitta meditieren zu können, und gleichzeitig benötigt man Zuflucht und Bodhichitta, um diese Vorbereitungen machen zu können; man dreht sich da im Kreis. Dasselbe gilt für die vorbereitende Praxis des Ngöndro. Wie kann man die dazugehörenden 100.000 Wiederholungen des Zufluchts- und Bodhichitta-Gebets machen, ohne vorher Zuflucht und Bodhichitta entwickelt zu haben? Man würde doch einfach nur blind Worte wiederholen. Wovor wirft man sich nieder, wenn man keine Vorstellung davon hat, was Buddha, Dharma und Sangha – die Drei Juwelen – bedeuten? Vor der Wand, einem Gemälde, oder wovor? Man muss schon ein bisschen mehr darüber nachdenken, wie man diese vorbereitenden Übungen angehen sollte, bevor man Zuflucht und Bodhichitta kultiviert. Gibt es denn vielleicht einen Weg, der für Anfänger besser geeignet ist?

Ich unterscheide generell zwischen „Dharma light“ und dem echten Dharma. Ersterer ist anfangs dazu gedacht, das jetzige Leben zu verbessern, und das ist äußerst hilfreich, denn die meisten Leute befinden sich auf diesem Level; da kann „Dharma light” gut und hilfreich sein. 

Lam-rim ist der echte Dharma. Dabei zielt man darauf ab, zukünftige Leben zu verbessern und schlimmere Wiedergeburten zu vermeiden. Es geht um Befreiung von Wiedergeburt und Erleuchtung, um jedem helfen zu können, sich von Wiedergeburt zu befreien. Davon ist hier die Rede, nicht nur von diesem Leben. 

Genauso gibt es von Zuflucht und Bodhichitta eine „Dharma light“ und eine echte Version. Wir sollten uns das gut anschauen und darüber nachdenken, wie diese beiden für Menschen auf der Ebene des „Dharma light“ angepasst werden könnten. Idealistisch zu sein und zu denken, dass jeder so fortgeschritten und wirklich aufrichtig am echten Dharma interessiert ist, entspricht nicht wirklich der Realität. Da macht man sich, meiner Meinung nach, nur selbst etwas vor. Es braucht eine enorme Menge an Arbeit und Analyse, bis man wirklich von einem anfangslosen Geist überzeugt ist – was der Annahme von vergangenen und zukünftigen Leben unterliegt – und bis man ein ausreichend tiefes Verständnis der anfangslosen Natur des Geistes hat, das Befreiung und Erleuchtung ermöglicht. Wie könnte man ein solches Ziel haben, wenn man nicht einmal davon überzeugt ist, dass so etwas möglich ist? Was muss man also tun? Es ist notwendig, sich in den vorbereitenden Praktiken üben. Man muss irgendwie diese geistigen Blockaden überwinden, wie sich zu fragen, wer solche Übungen überhaupt braucht, oder zu sagen: „Ich werde einfach mal versuchen, dieses Leben zu verbessern.“ Solche Dinge halten einen sehr davon ab, tiefer zu gehen, nicht wahr? Wir sollten offen sein, uns ernsthaft Gedanken darüber machen und positive Kraft aufbauen. Dies wird uns in die richtige Richtung führen. 

Wir gehen davon aus, dass diese vorbereitenden Übungen am Anfang, in der Mitte und am Ende – um es in den Worten des Dharma auszudrücken – einen Nutzen bringen werden, nicht wahr? Und nicht nur die vorbereitenden Übungen, sondern auch Ngöndro ist zu Beginn, in der Mitte und am Ende hilfreich. Versucht, euch diese sechs Übungen anzuschauen und euch zu überlegen, wie sie auf eine praktische und realistische Weise, in Bezug auf die Verfassung der Menschen, die heutzutage Interesse am Dharma haben, genutzt werden könnten. 

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