Konvertierung zum Buddhismus
Wir haben über einige der Schwierigkeiten gesprochen, die viele Menschen haben, wenn sie sich mit Buddhismus befassen. Wir haben festgestellt, dass es sehr wichtig ist, realistisch an die Sache heranzugehen. In diesem Zusammenhang gibt Seine Heiligkeit der Dalai Lama des Öfteren den Rat, dass man sehr vorsichtig damit sein sollte, die Religion zu wechseln. Sein Rat hat auch mit der Frage zu tun: Wenn wir dem buddhistischen Pfad folgen, bedeutet das, dass wir die Religion gewechselt haben, dass wir zum Buddhismus konvertiert sind und nun statt eines Kreuzes ein rotes Bändchen um den Hals tragen?
Ich denke, dass es in vielfacher Hinsicht nicht besonders hilfreich ist, unsere Verbindung mit dem buddhistischen Pfad als Konvertierung zu sehen. Natürlich ist es für andere Menschen, die der Tradition entstammen, in welcher auch wir geboren wurden – sei es die christliche, die jüdische oder insbesondere im Falle der islamischen Tradition – sehr befremdlich, wenn wir sagen, wir sind zum Buddhismus übergetreten. Ein Austritt aus der Religion, in die wir hineingeboren wurden, trifft bei unseren Familien oder in unserer Gesellschaft auf keine große Begeisterung, nicht wahr? Sie betrachten es quasi als eine persönliche Zurückweisung ihrer selbst. Daher betont Seine Heiligkeit immer, dass es ratsam ist, sehr sorgfältig und sehr feinfühlig mit dieser Angelegenheit umzugehen, und ich denke, dass wir dies auch unter psychologischen Gesichtspunkten und nicht nur unter sozialen Gesichtspunkten im Zusammenhang mit unserer Familie und Gesellschaft aus verstehen können.
Es ist von großer Bedeutung, dass wir imstande sind, alle Bereiche in unserem Leben harmonisch miteinander zu verbinden, sodass sie allesamt in unser Leben integriert werden können. Nur so werden wir uns mit unserer gesamten Lebensgeschichte wohl fühlen. Indem wir unser Leben ganzheitlich betrachten, wird es uns möglich, ausgeglichener zu sein. Wenn jemand zu einer anderen Religion konvertiert, geschieht es manchmal, dass er eine sehr negative Haltung gegenüber dem entwickelt, was früher zu seinem Leben gehörte. Ein bestimmter Mechanismus, der in der Psychologie beschrieben wird, hilft dieses Phänomen zu verstehen. Offenbar ist es ein Grundbedürfnis der Menschen, gegenüber ihren Ahnen, ihrer Familie bzw. ihrer Herkunft loyal zu sein, um ihr Gefühl von Selbstwert zu untermauern. Dieses Bedürfnis, loyal zu sein bzw. der gefühlsmäßige Drang zur Loyalität, um das eigene Selbstwertgefühl zu unterstützen, ist häufig unbewusst. Was passiert, ist Folgendes: Wenn wir das Vorhandensein irgendwelcher positiven Aspekte in unserer Vergangenheit – etwa bezüglich Religion, Familie oder Nationalität – verneinen, haben wir unbewusst gleichwohl immer noch den Drang, demgegenüber loyal zu sein, und sind dann unbewusst gegenüber den negativen Aspekten loyal. Das ist eine zerstörerische Form von Loyalität.
Destruktive Formen von Loyalität
Ein gutes Beispiel für eine zerstörerische Form der Loyalität ist die Erfahrung, die einige Menschen des früheren Ostdeutschlands durchlebt haben. Die ganze Situation Ostdeutschlands, das mit Westdeutschland vereint wurde, war so, dass fast alles an der politischen Kultur Ostdeutschlands abgewertet und als „falsch“ und negativ gekennzeichnet wurde. Es war so, als würden einfach alle Bestandteile des früheren Systems auf den Müll geworfen, und die Menschen blieben mit dem schrecklichem Gefühl zurück, dass sie dumm gewesen wären und ihr gesamtes Leben an etwas Negatives verschwendet hätten, insbesondere, wenn sie mit ihrer Tätigkeit den Staat politisch unterstützt hatten. Das brachte sie natürlich psychologisch in eine sehr schwierige Lage.
Was dann geschah, war, dass einige Ostdeutsche unbewusst das Bedürfnis hatten, gegenüber ihrer Vergangenheit loyal zu sein, um ein Gefühl von Selbstwert aufrechtzuerhalten, und so zeigten sie sich dann gegenüber den negativen Aspekten, etwa einer Art von Totalitarismus gegenüber loyal. Das trug zur Entwicklung von Phänomenen wie Skinhead-Gruppen und Neonazismus bei. Neonazis sind sehr fremdenfeindlich und glorifizieren sich selbst und die eigene Rasse. Diese Art von Loyalität zur Intoleranz Außenseitern gegenüber war charakteristisch für die ostdeutsche Gesellschaft. Wenn Menschen hingegen auf positive Aspekte ihrer Vergangenheit verweisen können und diese anerkennen, wird es ihnen möglich, diesen gegenüber loyal zu sein, und das führt zu einer viel besseren Integration verschiedener Bereiche ihres Gesamtlebens. Und es gab viele positive Aspekte in der ostdeutschen Gesellschaft. Ein Beispiel dafür sind die warmherzigen Beziehungen unter Menschen, die bestimmte Ansichten teilten und einander trauen konnten. Da sie alle von außen her so streng kontrolliert wurden, konnten sie eine besondere Art von herzlichen Beziehungen aufbauen, wenn sie sich in einem sicheren Umfeld unter Freunden befanden. Das war durchaus positiv.
Ein ähnliches Problem destruktiver Formen von Loyalität tritt oft auf, wenn jemand die Religion wechselt. Wenn man nur denkt: „Die Religion, der ich früher angehörte, war dumm und fürchterlich“ und sich dann in etwas Anderes stürzt, etwa den Buddhismus, neigt man unbewusst wieder zu dem Drang, gegenüber der Vergangenheit loyal zu sein. In solchen Fällen bleibt man eher den negativen als den positiven Aspekten gegenüber loyal. Haben wir z.B. einen christlichen Hintergrund, kann es dazu kommen, dass wir ziemlich dogmatisch werden oder sehr stark die Angst vor den Höllen kultivieren, sehr streng sind in Bezug auf das, was man tun und nicht tun sollte, und manchmal auch ziemlich sektiererisch hinsichtlich der Zugehörigkeit zu bestimmten Lehrtraditionen. Um das zu vermeiden, ist es sehr wichtig, die positiven Aspekte unserer Herkunftsreligion, der Religion unserer Familie sowie die positiven Aspekte unserer Kultur anzuerkennen – die positiven Aspekte davon, Deutscher oder Italiener oder Amerikaner oder welcher Nationalität auch immer zu sein.
Es gibt offensichtlich enorm viel Positives an einer christlichen Kultur, in der Liebe und Wohltätigkeit sehr stark betont werden und insbesondere viel Wert darauf gelegt wird, Armen, Kranken und Bedürftigen zu helfen. Dies ist ungemein förderlich. Es besteht kein Widerspruch zwischen christlicher Nächstenliebe und buddhistischer Praxis. Wir können in gewissem Sinne beides sein, Christ und Buddhist, denn es ist keineswegs erforderlich, diese positiven Aspekte unseres christlichen Hintergrunds über Bord zu werfen. Ich denke, im Buddhismus ist es kein Thema, ob wir uns als Buddhisten ansehen oder nicht – so etwas war nie ein Problem, wie es z.B. im mittelalterlichen Europa der Fall war, wo die Frage: „Was ist deine Religion?“ von lebenswichtiger Bedeutung war und man dies vor der Inquisition unter Beweis stellen musste. Das ist nicht die buddhistische Art, mit Religionszugehörigkeit umzugehen.
Die Lage nicht ordinierter Buddhisten in der traditionellen indischen Gesellschaft
Am Beispiel der klassischen indischen Gesellschaft kann man das gut erkennen. Im alten Indien, wo der Buddhismus entstanden ist, gab es keine sehr klare Unterscheidung zwischen Buddhisten und Hindus. Es besteht heute der Trugschluss, dass es im Buddhismus in Indien keine Kasten gab und dass Buddha gegen das Kastenwesen war. Tatsächlich gab es nur in der Gemeinschaft der Ordinierten keine Kasten. Für Mönche und Nonnen gab es keine Kasten, aber auf die Laienanhänger Buddhas traf das nicht zu. In den Ruinen antiker buddhistischer Klostermauern sehen wir Inschriften wie: „Dieser Geldbetrag wurde dem Kloster vom Brahmanen so-und-so gespendet“. Diese Inschriften gaben immer die Kaste des Gesellschaftsmitglieds an, das etwas spendete. Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass die Buddhisten nicht eine von den Hindus getrennte Gesellschaft bildeten; sie waren Teil der Hindugesellschaft. Das hieß auch, dass es in Indien keine gesonderten buddhistischen Hochzeitszeremonien und dergleichen gab. Die indischen Buddhisten, die nicht ordiniert waren, folgten diesbezüglich den Bräuchen der Hindus.
Das hatte Vor- und Nachteile. Der Vorteil war, dass im Grunde jeder in Indien Teil einer integrierten Gesellschaft war und jedes Gesellschaftsmitglied seiner jeweiligen Lehrtradition und seinem spirituellen Lehrer folgte. Ob man einem buddhistischen Lehrsystem oder dieser oder jener Form des Hinduismus folgte, machte eigentlich nicht so einen großen Unterschied aus, denn die Gesellschaft selbst schloss alle mit ein, ohne dass es darauf ankam zu sagen: „Ich bin Hindu“ oder „ich bin Buddhist“. Wenn man Mönch oder Nonne wurde, ging man natürlich die starke Verbindlichkeit ein, in einer gesonderten Gemeinschaft zu leben. Das war etwas anderes. Wir sprechen hier jedoch über die Lage von nicht ordinierten buddhistischen Gesellschaftsmitgliedern im traditionellen Indien.
Der Nachteil davon, dass es für diese keine gesonderte Gesellschaft gab, war, dass zu der Zeit, als die buddhistischen Klöster in Indien nicht länger in Funktion waren, die meisten Buddhisten sehr leicht vom Hinduismus absorbiert wurden, insbesondere, da im Hinduismus Buddha als eine Form des hinduistischen Gottes Vishnu galt. Es war also ganz einfach, den Buddha zu verehren und gleichzeitig durchaus ein guter Hindu zu sein.
Dem Buddhismus folgen und weiterhin zur Kirche gehen
Nun stellt sich die Frage: Können wir den buddhistischen Lehren folgen und dennoch weiterhin ein guter Christ sein? Wichtig ist natürlich, dass wir weder in das Extrem fallen, die Bedeutung buddhistischer Lehren und Methoden zu unterschätzen, noch in das andere Extrem verfallen und meinen: „Ich bin zum Buddhismus übergetreten und darf nun nie mehr in die Kirche gehen“. Die Frage wird eher lauten: „Was bedeutet es, in einer Zeremonie Zuflucht zu nehmen, und heißt das, dass ich nun Buddhist geworden bin, etwa so wie bei einer Taufe im Falle der Konvertierung zum Christentum?“ Ich denke nicht, dass die Zufluchtszeremonie einer Taufe gleichzusetzen ist. Meines Erachtens ist es nicht hilfreich, die Angelegenheit so zu betrachten.
Ich glaube, dass der spirituelle Pfad, dem wir folgen, etwas ziemlich Privates sein sollte. Mit schmuddeligen roten Bändern um den Hals herumzulaufen, besonders wenn es sich um eine Ansammlung von zirka 30 Stück handelt, lässt uns wirklich ziemlich befremdlich aussehen – ein bisschen wie ein Ubangi-Afrikaner mit all diesen Metallringen um den Hals. Wenn uns etwas an diesen Bändern liegt, können wir sie privat für uns aufheben – zum Beispiel in der Geldbörse oder so. Es ist nicht notwendig, dass wir für das, was wir tun, Reklame laufen. Es gibt keinen Grund zu meinen, dass man jetzt nicht mehr in die Kirche gehen dürfe oder dass dies in irgendeiner Weise unsere Hingabe an den Buddhismus in Frage stellen würde.
Wenn Leute sich dem Buddhismus zuwenden, neigen sie anfangs oft zur Verteidigungshaltung. Das kommt daher, dass sie unsicher sind und ihnen noch nicht so recht wohl dabei ist. In psychologischer Hinsicht entsteht dann eine Art Rechtfertigungsdrang, verbunden mit dem Gefühl: „Ich kann jetzt nicht mehr in die Kirche gehen, und ich kann über meine Vergangenheit nicht positiv denken.“ Das ist ein großer Fehler. Natürlich ist es angebracht, uns mit all unseren Energien dem buddhistischen Pfad zu widmen, wenn wir ihm ernsthaft folgen wollen. Das steht aber keineswegs im Widerspruch dazu, christliche Nächstenliebe zu üben oder sich von großartigen christlichen Persönlichkeiten wie z.B. Mutter Theresa inspirieren zu lassen, sie sich als Vorbild zu nehmen und zu versuchen, wie sie den Bedürftigen zu helfen. Das steht ganz und gar nicht im Gegensatz zum buddhistischen Pfad. Wie könnte es auch?
Wenn wir Meditation üben und andere Arten buddhistischer Übung in unserem Leben umzusetzen versuchen, besteht kein Grund dazu, uns unwohl zu fühlen, wenn sich eine Gelegenheit ergibt, in der uns das angebracht zu sein scheint. Das ist gar kein Problem. Und wenn wir in einer solchen Situation zur Kirche gehen, ist es wenig hilfreich, dazusitzen in dem Gefühl, dass dadurch unsere „eigentliche Praxis“ gefährdet wäre, sodass wir die ganze Zeit Mantras rezitieren müssen. Wenn wir als praktizierende Buddhisten praktizieren und zur Kirche gehen, ist nichts dagegen einzuwenden, an den Aktivitäten des Gottesdienstes auch teilzunehmen. Worauf es ankommt, ist unsere Geisteshaltung während der ganzen Erfahrung, in der Kirche zu sein.
In jeder Form von organisierter Religion gibt es natürlich manches, das uns anspricht, und anderes, wozu wir uns nicht so hingezogen fühlen. Wenn wir in die Lage kommen, dass unsere Familie uns bittet: „Heute ist ein besonderer Festtag, komm doch bitte mit in die Kirche, es ist Weihnachten“ oder was es gerade sein mag, und dann sagen: „Ich gehe nicht mit euch zur Kirche, ich bin Buddhist“, wird sie das vor den Kopf stoßen. Die Familienmitglieder würden es als persönliche Zurückweisung empfinden. Daher ist es besser, mit der Familie zur Christmette zu gehen. Statt unser Augenmerk auf das zu richten, was uns vielleicht am Christentum missfallen hat und dem wir kritisch gegenüberstehen, können wir uns auf das Positive ausrichten, denn das gibt es durchaus auch. Das ist psychologisch gesehen der bessere Weg und bewirkt, dass wir uns erheblich mehr als ganzheitliche Person empfinden. Wir sind dann mit unserer persönlichen Geschichte im Reinen. Das ist wirklich sehr förderlich.
Glücklichsein
Die Vorstellung, mit sich selbst im Frieden zu sein, bringt uns zu dem Thema: „Welchen Stellenwert hat das Glücklichsein im Buddhismus?“ Ich denke, dass das für Neulinge, die sich dem Buddhismus nähern, eine problematische Angelegenheit ist, vor allem, wenn sie aus einer Religion kommen, in der betont wird, dass wir alle Sünder sind, und man sich fragt: „Darf ich denn überhaupt glücklich sein?“ In den buddhistischen Lehren hören wir, dass alles leidvoll ist und dass wir jeden Moment sterben könnten und deshalb keine Zeit zu verschwenden haben. Oftmals bekommen wir das Gefühl, dass wir gar nicht mehr ins Kino gehen oder uns entspannen oder Spaß haben dürften. Das ist ein großes Missverständnis. Wir müssen zunächst einmal die Definition von Glück betrachten und verstehen, was Glück ist. Manche Menschen wissen nicht einmal, dass sie glücklich sind oder was Glücklichsein bedeutet. Sie müssen erst jemand anderen fragen: „Was denkst du, sieht es so aus, als sei ich ein glücklicher Mensch?“
Es gibt im Buddhismus verschiedene Definitionen von Glück. Die vorrangige Definition ist, dass Glück ein Gefühl ist, das durch positive, konstruktive Handlungen zustande kommt. Es ist etwas, das aus positivem Karma heranreift. Und wenn das die Definition von Glück ist, möchten man im Buddhismus natürlich konstruktiv handeln, sodass man als Folge davon Glück erlebt. Mit Hilfe der buddhistischen Praxis versuchen wir insbesondere, positiv und konstruktiv zu sein, also werden wir als Resultat dessen Glück erfahren und es ist natürlich „erlaubt“, dieses Glück zu erleben. Es kann gar nicht sein, dass im Buddhismus gesagt wird, man dürfe nicht glücklich sein. Wäre Glücklichsein im Buddhismus nicht gestattet, würde das ja bedeuten, dass Buddhisten sich die ganze Zeit damit beschäftigen müssten, destruktiv zu handeln, denn das würde sicherstellen, dass sie nie glücklich werden!
Auch lautet eine grundlegende Lehre im Buddhismus, dass jeder glücklich sein und niemand unglücklich sein möchte. Wenn dem so ist und wir mit Liebe jedem Lebewesen wünschen, glücklich zu sein, und darauf hinarbeiten, jedem zu Glück zu verhelfen, dann wünschen wir natürlich auch, dass wir selbst glücklich sind, und arbeiten auch darauf hin, dass wir ebenfalls glücklich werden.
Glücklichsein wird auch als ein Gefühl definiert, das wir, wenn es auftritt, weiterhin erleben möchten; und wenn es schwindet, möchten wir, dass es zurückkehrt, jedoch nicht, indem wir uns daran klammern. Grundsätzlich kann man sagen: Glück fühlt sich gut an.
Verwirrende Punkte im Zusammenhang mit Glücklichsein
Verwirrung im Hinblick auf das Thema Glücklichsein scheint vor allem im Zusammenhang mit zwei Punkten aufzutreten. Der eine Punkt ist, dass wir häufig denken, um Glück zu erfahren, müsse ein Gefühl melodramatische Ausmaße haben. Der andere Punkt ist Verwirrung in Bezug darauf, welche Form Glück annehmen muss, um als solches zu gelten. Dieser Punkt hat mit der Frage zu tun, was denn eigentlich die Quelle von Glück ist.
Als erstes ist es wichtig zu erkennen, dass ein Gefühl des Glücklichseins nicht dramatisch sein muss, um als Glück zu gelten. Häufig denken wir, dass ein Gefühl wirklich stark sein müsse, um überhaupt als existent zu gelten. Wir haben eine Art von Hollywood-Vorstellung von solchen Dingen. Wenn wir eine positive Emotion erleben, die nicht sonderlich intensiv ist, macht das keinen guten Film aus, es gibt keine gute Show her. Also meinen wir, es müsse schon etwas Heftigeres sein, möglichst auch noch mit dramatischer Hintergrundmusik unterlegt. Aber so ist es nicht. Wie gesagt, Glück ist ein Gefühl, das wir als angenehm empfinden und von dem wir möchten, dass es weitergeht – es tut einfach gut. Glücklichsein muss nicht von der Sorte „Oh wow – absolut fantastisch!“ sein, wie es vielleicht der Klischeevorstellung von Lateinamerikanern oder Italienern entspricht. Es kann sich auch um die eher gedämpfte britische Variante handeln.
Was den zweiten Punkt betrifft – vielleicht erinnert ihr euch daran: Wenn davon die Rede ist, dass man ein gewisses Ausmaß an Glücklichsein und Unglücklichsein empfindet, so geht es darum, dass wir etwas erleben, das aus unserem Karma reift – es ist die Art und Weise, wie wir die Dinge in unserem Leben erfahren. Die Frage ist dann, in welcher Form wir dieses Glück erfahren. Hat die Form, die unser Glück annimmt, etwas damit zu tun, dass wir gut unterhalten werden, amüsiert sind, schön von unserem eintönigen Leben abgelenkt sind und einfach Spaß haben? Muss es unbedingt so sein, dass wir Spaß haben, damit ein Gefühl als Glücksgefühl gelten kann? Und, noch grundsätzlicher gefragt, ist etwas, das wir unternehmen, um uns zu vergnügen, tatsächlich eine Quelle von Glück?
Vergnügen
„Vergnügen“ ist ein sehr interessantes Wort. Es ist sehr schwer zu definieren. Einmal war ich mit meinem Lehrer Serkong Rinpoche in Holland und die Leute, bei denen wir wohnten, besaßen eine große Yacht. Sie boten uns an, uns mit auf eine Bootsfahrt zu nehmen, um es uns gutgehen zu lassen. Das Boot befand sich in einem ganz kleinen See – ein sehr großes Boot in einem sehr kleinen See. Und in diesem kleinen See gab es noch viele andere große und kleine Boote. Wir gingen an Bord des Bootes und fuhren mit all den anderen Booten auf diesem See im Kreis herum – es erinnerte mich ein bisschen an die Jahrmärkte, auf denen es Kinder-Karussells mit kleinen Autos gibt, die immer im Kreis herumfahren. Unsere Bootsfahrt war ganz ähnlich. Nach einer kleinen Weile wandte sich Serkong Rinpoche mir zu und sagte auf Tibetisch: „Ist es das, was sie „Vergnügen“ nennen?“
Was ich sagen will, ist Folgendes: Wenn wir Glück im Hinblick darauf betrachten, was Ursache und Wirkung ist – was ist denn eigentlich die Quelle von Glück? Vom buddhistischen Standpunkt aus ist die Ursache für Glück konstruktives Verhalten. Die Ursache besteht nicht darin, dass wir losgehen und etwas Belangloses unternehmen, um uns zu vergnügen, was uns dann glücklich machen wird. Wir können losziehen und etwas unternehmen, das von der Gesellschaft als „Vergnügen“ bezeichnet wird, wie beispielsweise mit diesem Boot herumzufahren, in irgendein Kino oder auf eine Party zu gehen oder so etwas, und uns dabei dann ganz und gar elend fühlen. Andererseits kann es sein, dass wir bei der Arbeit im Büro sitzen und sehr glücklich und zufrieden sind. Wenn wir die Ursachen für Glücklichsein geschaffen haben, nämlich konstruktiv gehandelt haben, können wir Glück in irgendeiner Situation erleben und nicht notwendigerweise nur in Situationen, die für gewöhnlich „Vergnügen“ genannt werden.
Wenn wir uns aussuchen können, was wir tun wollen und womit wir unsere Zeit verbringen, entscheiden wir uns vielleicht dafür, uns zu entspannen, Sport zu treiben, zu arbeiten, schwimmen zu gehen oder was auch immer. Aber ich denke, wichtig ist, sich innerlich klarzumachen, was die Ursache für Glück in der jeweiligen Aktivität ist. Wir können uns in unserer Entscheidung, schwimmen zu gehen oder zu arbeiten, von dem Kriterium leiten lassen: „Ich möchte das tun, um glücklich zu sein“, aber ich denke, man könnte sich auch von anderen Kriterien leiten lassen. Ein anderes Kriterium könnte z.B. sein: „Ich habe sehr hart gearbeitet. Ich bin jetzt erschöpft, und um in meinem Leben mir und anderen von Nutzen zu sein, ist es viel produktiver, wenn ich mich jetzt entspanne. Es bringt eigentlich nichts, wenn ich jetzt weiterarbeite“. Bildlich ausgedrückt: Das Pferd muss auf die Weide und grasen, es kann nicht immer nur rennen.
Das Leben ist hart, lautet die erste edle Wahrheit. Es ist mit Schwierigkeiten verbunden, diesen Körper zu haben. Er ist nicht imstande, ständig 24 Stunden am Tag zu arbeiten. Wir müssen uns ausruhen, wir müssen schlafen, wir müssen essen. Es gibt keinen Grund, deswegen Schuldgefühle zu haben. Das Thema Schuldgefühle kam bereits zur Sprache, als es darum ging, die Tatsache zu akzeptieren, dass das Leben schwierig ist. Es ist eine Tatsache, dass das Leben voller Probleme ist. Wenn wir diese Tatsache akzeptieren können, brauchen wir uns deswegen nicht schuldig zu fühlen. Wenn wir hingegen die Vorstellung haben: „Jetzt muss ich mein Vergnügen haben“ und es forcieren, jetzt Spaß zu haben und glücklich zu sein, klappt das normalerweise nicht. Wenn wir nicht die Erwartung haben, dass ins Kino zu gehen oder schwimmen zu gehen oder essen zu gehen uns glücklich machen wird, oder die Erwartung, dass sich auf diese Weise zu vergnügen heißt, dass wir dann glücklich sind, dann werden wir auch nicht enttäuscht werden. Es ist aber durchaus möglich, dass diese Aktivitäten dazu beitragen, unsere Batterien wieder aufzuladen, indem wir durch die Entspannung wieder mehr Energie gewinnen. Das kann gut sein – aber eben nur vielleicht, es gibt keine Garantie dafür. Ob wir glücklich sind oder nicht, während wir uns diesen Aktivitäten hingeben, ist eine ganz andere Frage. Und wenn wir während einer Tätigkeit ein gewisses Ausmaß an Glücklichsein erleben, so muss es nicht unbedingt übermäßig intensiv sein und die Form einer fetzigen Latino-Erfahrung haben.
Das gilt nicht nur für das Gefühl, das wir beim Kinobesuch oder Schwimmengehen erleben, sondern es ist auch sehr hilfreich, dies im Sinn zu behalten, wenn es um unsere Beziehungen mit anderen Menschen geht – um Freundschaften und gemeinsam verbrachte Zeit. Manche Menschen glauben, dass sie etwas gemeinsam „unternehmen“ müssten, wenn sie sich mit einem Freund treffen, etwa ausgehen und sich vergnügen. Einen unspektakulären Grad an Glücklichsein und Zufriedenheit können sie nicht recht anerkennen – etwa, indem man einfach nur zusammen ist, ohne dass es eine Rolle spielen würde, was man macht. Man könnte sogar einfach nur miteinander in den Supermarkt gehen und Einkäufe erledigen oder die Wäsche waschen. Ich finde diesen Punkt sehr hilfreich, und denke, dass es allgemein sehr von Nutzen ist, sich das klarzumachen, damit wir imstande sind, von seltsamen Erwartungen abzulassen in Bezug darauf, was Glück ist, oder von Schuldgefühlen im Zusammenhang damit.
Den Grad an Glück erkennen, den wir empfinden
Ich schlage vor, dass wir einen Augenblick damit verbringen, uns selbst zu beobachten. Lasst uns einfach hier sitzen, die Erfahrung spüren, dass wir hier sind und darauf achten, wie die Empfindung ist, die wir gerade erleben. „Empfindung“ ist hier so zu verstehen, wie es die buddhistische Definition des zweiten der fünf Aggregate beschreibt, nämlich die Art und Weise, wie wir das erleben, was wir sehen, was wir hören, was wir denken usw., und zwar hinsichtlich der Variablen von Glücklichsein, Unglücklichsein oder neutraler Empfindung. Versucht einfach, die Empfindung zu erkennen und zu identifizieren. Es geht dabei nicht um die Empfindung von heiß oder kalt oder um irgendeine physische Empfindungen wie Wohlbehagen oder Schmerz. Es geht um den Grad des Glücklichseins oder Unglücklichseins, das jegliche physische oder geistige Aktivität begleitet, und zwar so, dass wir sie als angenehm oder nicht sehr angenehm erleben.
Zum Beispiel finde ich es angenehm, die Blumen in dieser Vase zu betrachten. Schaut auf diese Blumen. Was empfindet ihr dabei? Wie erlebt ihr das? Es geht jetzt nicht darum, ob sie euch gefallen oder nicht, sondern wie ihr euch dabei fühlt, wenn ihr sie anschaut. Versucht den Grad an Glücklich- oder Unglücklichsein zu erkennen und zu identifizieren, den ihr erlebt, während ihr die Blumen oder die Bilder an der Wand betrachtet oder aus dem Fenster die Bäume anschaut – welchen Grad an Glück empfindet ihr dabei? Wir versuchen zu erkennen, dass wir in der Tat einiges an Glück erleben. Es ist vielleicht kein feuriges brasilianisches Erlebnis, aber es ist vorhanden.
Beobachtet bitte für euch selbst, was für ein Gefühl vorhanden ist. Und denkt daran, dass Glück ein Gefühl ist, das wir, wenn es auftritt, gerne weiterhin erfahren wollen, und wenn es schwindet, gerne wieder hätten. Und Unglücklichsein ist das Gefühl, von dem wir gerne möchten, dass es aufhört.
[Pause zum Üben]
Ich denke, dass eine solche Übung keine formale Meditationspraxis zu sein braucht. Es ist vielmehr etwas, das wir zu jeder Zeit machen können, um uns immer mehr zu vergegenwärtigen, dass wir eigentlich recht häufig glücklich sind. Es ist keineswegs so, dass man nichts fühlt, wie manche von uns vielleicht denken.
Gibt es irgendwelche Bemerkungen dazu?
Es war schwierig, vom Zuhören zu Ihren Worten – einem ziemlich aktiven Prozess – zu der Aufforderung umzuschalten, zu fühlen, was vor sich geht. Ich fühlte mich ein bisschen in diese Beobachtung hineingeworfen. Heute Morgen, als ich durch den Park ging, hatte ich dieses Gefühl von Offenheit, ich hatte das Gefühl: „Ja, das ist in Ordnung so und ich bin ziemlich glücklich“, und das geschah ganz natürlich.
Ich denke, ein wichtiger Punkt ist, dass wir in der Lage sind zu erkennen, dass wir ständig etwas fühlen, ganz gleich, ob wir gerade etwas tun, das wir entspannend finden, oder etwas, das sehr intensiv und vielleicht anstrengend ist. Manchmal sind wir zu sehr im Kopf und merken nicht, dass es bei allem, was wir erleben, eine bestimmte Qualität gibt, wie wir es erleben, nämlich die Qualität eines gewissen Ausmaßes an Glücklich- oder Unglücklichsein. Das tritt die ganze Zeit über auf. Bemerkenswert ist, dass wir häufig in das Extrem „Ich Armer!“ fallen – „Ich bin nicht glücklich und ich möchte doch mein Vergnügen haben, ich mag nicht in diesem langweiligen Büro sitzen“ – und alles Mögliche zu klagen haben. Aber wir können tatsächlich auch mitten in einem dichten Verkehrsstau stecken und ein stilles inneres Gefühl von Glück und Zufriedenheit erfahren. Denkt daran, dass ein Glücksgefühl nicht dramatisch zu sein braucht.
Gibt es einen Unterschied zwischen dem, was in unserem Kopf vorgeht, und dem, was in unserem Herzen vorgeht? Die Tibeter zeigen immer auf ihr Herz, wenn es um Gefühle geht.
Tibeter zeigen auch dorthin, wenn es ums Denken geht. Vom tibetischen Gesichtspunkt gehen die intellektuellen, emotionalen und Empfindungs-Aspekte unseres Erfahrens von etwas alle von derselben Stelle aus, und diese Stelle siedeln sie im Herzen an. Eigentlich geht es nicht in erster Linie darum, wo diese Aspekte lokalisiert sind. Sie werden eher als ein Ganzes gesehen statt als eine Dichotomie oder aufgeteilt in Körper und Geist bzw. Intellekt und Gefühle, wie dies häufig im Westen gesehen wird. Es ist durchaus möglich, gleichzeitig glücklich und intellektuell intensiv mit etwas beschäftigt zu sein. Wie gesagt, es ist wichtig, diesen Punkt insbesondere in Beziehungen zu anderen Menschen zu erkennen. Wir denken manchmal: „Ich muss verliebt sein, um wirklich glücklich zu sein“ und meinen, wir müssten dafür eine Art von Erleben wie ein Teenager haben. In Wirklichkeit kann das Gefühl von Glück in einer liebevollen Beziehung zu jemandem einen niedrigeren Intensitätsgrad aufweisen, aber dennoch zutiefst zufriedenstellend sein.