Geist
Wir haben uns die allgemeine Anwendung und Relevanz dieses Themas der Arten der Wahrnehmung angesehen. Es gibt noch weitere allgemeine Dinge, die wir ebenfalls verstehen müssen, um uns weiter mit den individuellen sieben Arten der Wahrnehmung zu beschäftigen. Zunächst sollten wir begreifen, was wir unter „Geist“ (tib. sems) verstehen. Worum geht es denn wirklich, wenn wir von einer Art der Wahrnehmung reden? Dafür ist es notwendig zu erkennen, was man im Buddhismus unter Geist versteht.
Die erste Sache, die es in Bezug auf die Definition des Geistes zu erkennen gilt, ist, dass es sich um eine Aktivität, eine geistige Aktivität, handelt. Es geht nicht um ein Ding, auch nicht um ein abstraktes Ding. Wir reden von einer Aktivität, die von einem Augenblick zum nächsten stattfindet. Sie findet statt, ob wir wach sind oder schlafen, und sogar, wenn wir unbewusst sind. Auch unter Narkose gibt es noch geistige Aktivität, und wenn sie nur unseren Körper antreibt. Es findet immer eine Art der geistigen Aktivität statt.
Wie können wir diese geistige Aktivität beschreiben? Was ist sie tatsächlich? In den buddhistischen Texten wird sie als Klarheit und Gewahrsein (tib. gsal-rig) definiert, wie sie für gewöhnlich übersetzt wird. In der Gelug-Tradition fügt man der Definition das Wort bloße (tib. tsam) hinzu. Doch was ist die Bedeutung dieser Worte? Das führt uns zurück zu dem, was ich gerade gesagt habe: um zu verstehen, um was es im Buddhismus geht, muss man die Definitionen kennen. Andernfalls ordnen wir das Wort „Klarheit“ der Schublade zu, Dinge im Fokus zu haben, was hier überhaupt nicht mit Klarheit gemeint ist. Wir ordnen das Gewahrsein der Schublade zu, bewusst zu wissen, was etwas ist, aber auch darum geht es hier nicht.
Klarheit
Wir müssen uns also wieder den Definitionen zuwenden. Die Definition von „Klarheit“ (tib. gsal) ergibt sich aus dem Wort, was die Bedeutung „das Aufgehen der Sonne“ (tib. ’char-ba) hat. Es handelt sich um das Erscheinen von etwas; was passiert, ist, dass es die Aktivität des Erscheinens eines geistigen Hologramms gibt. Ein geistiges Hologramm ist die beste Art, es zu erklären. Wir sollten ein Hologramm nicht einfach nur als etwas sehen, das sichtbar ist. Vielmehr geht es dabei um die Repräsentation eines Anblicks, eines Klangs, eines Geruchs, eines Geschmacks, einer körperlichen Empfindung, einer abstrakten Idee, etwas innerhalb oder außerhalb unseres Fokus, etwas Verschwommenes und andere Arten der Darstellung. Daher ist ein geistiges Hologramm ein guter beschreibender Begriff.
Er ergibt auch wissenschaftlich gesehen einen Sinn, denn was passiert eigentlich, wenn wir etwas sehen? Photonen kommen und treffen auf die Retina, sie werden in elektrische Impulse und chemische Signale umgewandelt und auf die neuronalen Pfade übertragen. Was passiert im Gehirn? Am besten beschreibt man es als das Erscheinen eines geistigen Hologramms – das ist die Erfahrung, etwas zu sehen, zu riechen, zu hören, zu schmecken oder zu denken. Das ist es, was geschieht, ob wir nun etwas wahrnehmen, uns vorstellen etwas wahrzunehmen oder etwas träumen. Es ist die gleiche Art von Vorgang, die stattfindet. Das ist es, worauf sich das Wort „Klarheit“ bezieht. Es hat nichts damit zu tun, etwas im Fokus zu haben, sondern mit der Aktivität des Erscheinens von etwas.
Gewahrsein
Das andere Wort, „Gewahrsein“ (tib. rig), hat mit einer „Weise des Wahrnehmens“ zu tun. Das tibetische Wort, welches gebraucht wird, um es zu beschreiben, bedeutet „Beschäftigung“ (tib. ’jug-pa). Es gibt eine Art der Beschäftigung, einen kognitiven Vorgang, mit dem man etwas weiß oder nicht weiß, etwas sieht, hört, denkt, oder andere allgemeine Kategorien. Genauer gesagt geht es um die Arten der Wahrnehmung, um das Thema, worüber wir sprechen. Die Rede ist von der kognitiven Beschäftigung mit etwas.
Diese zwei Aspekte beziehen sich im Grunde auf dasselbe. Es ist beispielsweise nicht so, dass ein Gedanke erscheint und wir ihn dann denken. Es ist nicht so, dass zuerst ein geistiges Hologramm erscheint und wir es dann sehen. Wie könnten wir wissen, dass etwas erschienen ist, wenn wir es nicht gesehen haben? Derselbe Vorgang wird von zwei Blickwinkeln beschrieben. In buddhistischen Fachbegriffen sagen wir, die zwei teilen dieselbe Wesensnatur, haben aber unterschiedliche konzeptuelle Isolate (tib. ngo-bo gcig ldog-pa tha-dad). Mit anderen Worten können wir diese zwei Aspekte konzeptuell isolieren, sprechen aber dabei von einer Aktivität. Die Aktivität, sich konzeptuell mit etwas zu beschäftigen und die Aktivität des Erscheinens eines geistigen Hologramms, sind im Wesentlichen dasselbe, obgleich wir sie konzeptuell auf individuelle Weise diskutieren können.
Bloß
Das Wort „bloß“ (tib. tsam) ist hier von großer Bedeutung. Es bezieht sich darauf, dass „nur“ diese Aktivität stattfindet. Es ist nicht so, dass es da ein getrenntes „Ich“ gibt, das sie stattfinden lässt, sie kontrolliert oder getrennt von dem ganzen Vorgang beobachtet. Es ist nicht so, dass es da eine Maschine oder Sache gibt, die sie getrennt davon stattfinden lässt. Das „Ich“ sitzt nicht, getrennt von diesem ganzen Vorgang, an dieser Maschine „Geist“ und betätigt die Knöpfe, um ein geistiges Hologramm entstehen zu lassen. Es ist nicht so, dass ein „Ich“ entscheidet, dass es nun dieses oder jenes ansehen wird, einen Knopf drückt, den Kopf bewegt und wir nun mit diesem System etwas ansehen werden. So verhält es sich nicht. Das Wort „nur“ oder „bloß“ schließt all das aus und es bleibt nur diese Aktivität, die von einem Augenblick zum nächsten stattfindet.
Natürlich können wir als eines Zuschreibung dieser geistigen Aktivität ausdrücken: „ich tute es, sehe es oder denke es“. Es ist nicht jemand anderer oder ein „niemand“. Diese zwei Extreme gilt es zu vermeiden. Konventionell ist es das „Ich“, jedoch kein „Ich“, das getrennt von der geistigen Aktivität ist und versucht zu kontrollieren, was mit unserem „Geist“ und unseren Emotionen abläuft. Wir können nichts kontrollieren, verlieren die Fassung und fühlen uns wirklich unsicher deswegen, weil es ein Mythos ist, dass es ein „Ich“ gibt, das getrennt von der ganzen Sache ist.
Das ist ein wirklich wichtiger Punkt in der Meditation, insbesondere in der Art des Vipassanas und der Achtsamkeitsmeditation, die üblicherweise ausgeführt wird und mit der wir beobachten, was in unserem so genannten „Geist“ passiert. Wird sie nicht korrekt ausgeführt, kann sie dieses Gefühl der Abtrennung verstärken, in der es ein „Ich“ gibt, dass getrennt von allem ist. Dann ist alles so, als würden wir uns einen Film ansehen, was ziemlich gefährlich ist, weil wir einen Verantwortungssinn dafür verlieren, was in Bezug auf unsere Verbundenheit mit anderen passiert. Obgleich dies kognitiv passieren könnte, ist es möglich, dieses Problem zu vermeiden, wenn wir es verstehen. Allerdings ist es nicht leicht, diesen ganzen Punkt zu verstehen, dass es da kein getrenntes „Ich“ gibt und wir trotz allem Dinge erkennen. In der Meditation wollen wir Vergegenwärtigung haben, was im Buddhismus als „geistiger Klebstoff“ definiert wird, damit wir unser Objekt der Ausrichtung, also das, was wir in jedem Augenblick wahrnehmen, nicht verlieren. Das ist die Achtsamkeit darauf, was stattfindet, ein analytischer Faktor, der sich bewusst darüber ist, was geschieht, jedoch kein getrenntes „Ich“ von alledem, das etwas tut.
Geistige Aktivität hat immer ein Objekt
Wir haben die geistige Aktivität und natürlich muss diese Aktivität ein Objekt haben. Es kann kein Denken geben, ohne etwas zu denken. Es kann kein Sehen geben, ohne etwas zu sehen, auch wenn es darum geht, Dunkelheit wahrzunehmen. Wenn die Aktivität darin besteht, nichts zu denken, denken wir an nichts und auch das ist etwas. Es gibt immer ein Objekt. In verschiedenen buddhistischen Lehren – obgleich diese Terminologie im Gelug nicht so oft benutzt wird – hören wir diesen Begriff „Nichtdualität“, doch er bedeutet nicht, die Art der Wahrnehmung und das wahrgenommene Objekt, also Subjekt und Objekt, wären identisch. Sie sind nicht identisch, doch sie sind auch nicht trennbar voneinander. Es kann nicht das Eine ohne das Andere geben. Sie sind untrennbar und nicht-dual, also keine zwei voneinander getrennten und unabhängigen Dinge. Es gibt viele Ebenen der Komplexität, wie wir das verstehen können, doch das ist die allgemeinste Weise.
In der Sinneswahrnehmung haben wir beispielsweise ein Objekt der Ausrichtung (tib. dmigs-yul), und die Art des Verstehens dieses Objektes der Ausrichtung besteht darin, dass es das Erscheinen eines Hologramms ist. Das Hologramm kann korrekt oder nicht korrekt sein. Nehmen wir zum Beispiel unsere Brille ab, sehen viele von uns etwas Verschwommenes. Wenn wir wissen, dass wir etwas Verschwommenes sehen, ist es korrekt. Meinen wir, das Verschwommene würde tatsächlich dort auf einem Stuhl sitzen, ist das natürlich eine Täuschung; es ist verrückt. Das hängt wiederum von der Perspektive ab und wenn wir erkennen, dass wir verwirrt sind, kann das eine gültige Wahrnehmung sein. Es ist wirklich wichtig, in der Lage zu sein, diese Wahrnehmung unserer Verwirrung als Verwirrung zu erkennen und nicht zu denken, unsere Verwirrung wäre tatsächlich ein korrektes Verständnis.
Dafür nutzen wir alle möglichen verschiedenen Methoden, um zu überprüfen, ob unser Verständnis korrekt ist oder nicht. War es zum Beispiel wirklich Mary, die wir auf der Straße gesehen haben, oder jemand anderes? Oder hast du wirklich das gemeint, als du etwas gesagt hast? Wir können unser Verständnis überprüfen und somit ist es wichtig, genügend Beweise dafür zu bekommen, ob etwas, was wir erkennen, wirklich korrekt ist. Wir müssen diese zusätzlichen überprüfenden Faktoren haben, denn zuweilen meinen wir nicht nur, etwas völlig Falsches sei richtig, sondern sind auch vollkommen stur deswegen, verteidigen es und grenzen uns damit ab.
Die geistige Aktivität ist jedoch dieselbe, egal wie wir etwas erkennen und ob wir es korrekt oder nicht korrekt erkennen. Die grundsätzliche Aktivität ist immer das Erscheinen eines geistigen Hologramms, was dasselbe wie eine kognitive Beschäftigung mit etwas ist, ohne ein getrenntes „Ich“, das sie stattfinden lässt, sie kontrolliert, beobachtet und ohne eine Maschine namens „Geist“ als eine konkrete oder abstrakte Sache, die sie stattfinden lässt.
Parallel dazu können wir erklären, was physisch in Bezug auf das Gehirn und das Nervensystem geschieht. Niemand streitet das Gehirn oder die Hirnforschung ab; doch hier wird erklärt, was aus einer physischen Sicht passiert, während die buddhistische Analyse es aus der Sicht einer subjektiven Erfahrung erklärt. Natürlich können wir kein geistiges Hologramm innerhalb des Gehirns finden, doch auf diese Weise erfahren wir das Wahrnehmen oder Erkennen von etwas.
Primärbewusstsein und Geistesfaktoren
Die sieben Arten der Wahrnehmung haben etwas mit dem Aspekt der kognitiven Beschäftigung geistiger Aktivität zu tun. Wollten wir diese sieben Arten der kognitiven Beschäftigung ausführlicher beschreiben, müssten wir die verschiedenen Arten des Primärbewusstseins mit hinzunehmen – die sensorischen und geistigen – sowie all die Geistesfaktoren, die an jeder Instanz dieser sieben beteiligt sind. Jede dieser sieben Arten der Wahrnehmung kann bezüglich all der dazugehörigen Komponenten analysiert werden.
Ein Bild, welches ziemlich hilfreich ist, um zu verstehen, wie das Primärbewusstsein und die Geistesfaktoren zusammenarbeiten, ist das eines Kronleuchters. Jede der sieben Arten der Wahrnehmung ist ein anderes Model eines Kronleuchters und bei jedem Model ist das Primärbewusstsein das große Licht in der Mitte, während die Geistesfaktoren die kleinen Lichter ringsherum sind. Das Primärbewusstsein und all die begleitenden Geistesfaktoren sind auf das gleiche Objekt gerichtet. Ein Kronleuchter ist jedoch kein korrektes Bild, weil es nicht eine Aktivität hier, einen Gedanken dort und das Denken dort drüben gibt, während das Denken den Gedanken erleuchtet. So passiert es bestimmt nicht. Um jedoch eine ungefähre Vorstellung davon zu bekommen, worum es hier geht, ist das Bild eines Kronleuchters hilfreich.
In unserem Seminar über die sieben Arten der Wahrnehmung werden wir nicht auf diese Geistesfaktoren eingehen. Wollen wir uns jedoch tiefer mit ihnen befassen, müssen wir diese Darstellung mit dem Schema der 51 Geistesfaktoren und den fünf Arten des tiefen Gewahrseins verbinden. Mit diesen fünf Arten werden die Weisen beschrieben, in denen geistige Aktivität stattfindet, durch das Aufnehmen von Informationen, dem Zuordnen von Dingen in ähnliche Kategorien, dem Bestimmen der Individualität von Dingen, dem Herauffinden, was wahrgenommen wird und dem Erkennen, was etwas ist. Dabei handelt es sich um ein weiteres Teil dieser Landkarte des Geistes. All das ist miteinander verbunden.
Was die physische Grundlage für die geistige Aktivität betrifft – das Gehirn, das Nervensystem, die neurale Energie, die kognitiven Sensoren wie die lichtempfindlichen Zellen unserer Augen usw. – können wir sagen, dass ihr Wirken und das bloße Auftauchen eines geistigen Hologramms sowie der geistigen Aktivität auch von derselben Wesensnatur sind. Sie beziehen sich beide auf dasselbe Phänomen. Sie beide beschreiben, was passiert, wenn wir Dinge erfahren. Wie beschreiben wir, was wir erfahren? Wir können es aus verschiedenen Blickwinkeln beschreiben. Man könnte sagen, es handele sich dabei um Gehirnaktivität und das würde es aus einer physischen Sicht beschreiben; oder wir könnten es aus einem subjektiven, erfahrungsgemäßen Gesichtspunkt beschreiben. Darum geht es, wenn wir über geistige Aktivität reden. Geistige Aktivität kann als ein physisches Ereignis oder ein erfahrungsgemäßes Ereignis beschrieben werden. Bei beiden handelt es sich um gültige Beschreibungen und sie widerlegen oder schließen die Gültigkeit und Nützlichkeit des anderen nicht aus.
Arten der Wahrnehmung und die vier edlen Wahrheiten
Was ist die Bedeutung dieser Analyse? Wenn wir über die vier edlen Wahrheiten reden, geht es um das Erfahren der vier edlen Wahrheiten und nicht um etwas Abstraktes. Die Rede ist nicht von der geistigen Aktivität Leiden zu erfahren, unglücklich zu sein, unser nicht zufriedenstellendes Glück zu erfahren, das nicht anhält, nie genug und völlig unbeständig ist, oder unkontrollierbar sich wiederholende Wiedergeburt zu erleben, einschließlich dem Erfahren der neutralen Gefühle in den tiefsten meditativen Zuständen der Konzentration. Das Ganze bewegt sich zwischen dem Glücklichsein und Unglücklichsein für immer auf und ab. Egal was wir auch wahrnehmen, es wird von einem Gefühl des Unglücklichseins, des nicht zufriedenstellenden Glücklichseins oder einem neutralen Gefühl begleitet. Es gibt keine Gewissheit darüber, wie wir uns fühlen werden, wenn wir etwas auf die sieben Arten wahrnehmen, und was wir empfinden, sind die Höhen und Tiefen als Teil eines jeden Augenblicks der Aktivität.
Die Ursache für das Leiden dieser unbeständigen Gefühle ist, dass unsere geistige Aktivität beruhend auf mangelndem Gewahrsein voller störender Emotionen ist. Alles hat zwei Wesensnaturen. Die erste besteht darin, was etwas ist: handelt es sich um Susan oder Mary? Es kann konventionell korrekt oder nicht korrekt sein. Die Wesensnatur dessen, was etwas ist, nicht zu kennen, kann ein Problem sein, wenn wir beispielsweise denken, jemand hat etwas gesagt, während es etwas anderes war. Doch das eigentliche Problem ist die Wesensnatur dessen, wie etwas existiert. Wie begründen wir die Tatsache, dass es etwas Bestimmtes gibt? Gibt es auf Seiten eines Objektes etwas Solides, was dessen Existenz begründet? Diese Analyse führt uns zur Erörterung der Leerheit (Leere). Leerheit nicht korrekt und entschieden zu kennen ist der wahre Unruhestifter und somit ist unsere Art der Wahrnehmung der Leerheit ausschlaggebend.
Unsere Art der Wahrnehmung ist also damit verbunden zu erkennen, was etwas ist und wie es existiert, und beide können korrekt oder fehlerfrei, entschieden oder unentschieden sein. Existiert dieses Etwas unabhängig, wie in Plastik eingehüllt und nicht verbunden mit irgendetwas, seine Existenz ganz aus eigener Kraft begründend? Ist es beispielsweise korrekt zu sagen: „du liebst mich nicht, weil du nicht rechtzeitig gekommen bist“? Oder erscheinen Dinge abhängig – abhängig von dem, was vorher stattfindet? Vielleicht leben wir zusammen mit einem Partner, kommen von der Arbeit nach Hause und der Partner sieht uns, als würden wir aus dem Nichts erscheinen, als wäre nichts im Laufe unseres ganzen Tages vorher passiert und wir wären einfach da. Es wird erwartet, dass wir uns sofort für den Partner interessieren und unmittelbar für alles zur Verfügung stehen, als wäre nichts in unserem Leben geschehen, bevor wir nach Hause kamen. Verhält es sich so, dass wir unabhängig davon existieren, was wir genau davor erlebt haben und aus dem Nichts ankommen, wenn unser Partner uns durch die Tür kommen sieht? Dasselbe gilt für die Person, die zu Hause ist und den Partner zur Tür hereinkommen sieht. Es ist nicht so, dass zu Hause nichts mit den Kindern oder wer weiß was passiert wäre. Vielleicht waren auch beide auf der Arbeit und trotz allem erwartet einer, dass das Abendbrot bereits auf dem Tisch steht und all diese Dinge. Das ist absurd.
Dinge existieren nicht unabhängig davon, wie sie erscheinen. Nur weil wir nicht sehen, was im Laufe des Tages einer Person passiert ist, bevor wir nach Hause kamen, bedeutet nicht, dass nichts passiert ist. Die Tatsache, dass wir sie einfach da stehen sehen, wenn wir die Tür öffnen, beweist nicht, dass sie so existiert – als jemand, der einfach für uns so dasteht. Unser Geist ist begrenzt. Wie Dinge für uns zu existieren scheinen, begründet nicht, dass sie so existieren. Das bezieht sich genau auf den Punkt, den wir gemacht haben. Nur weil jemand von weitem wie Mary aussieht oder wir meinen, es wäre Mary, begründet nicht, dass es tatsächlich Mary ist. Wir könnten falsch liegen.
Was wollen wir erreichen? Wir wollen eine wahre Beendigung dieser Leiden und seiner Ursachen erlangen. Wo wollen wir das tun? Wir wollen diese wahre Beendigung nicht an der Wand, sondern in unserem eigenen Geisteskontinuum erlangen. Unsere geistige Aktivität soll frei von diesem mangelnden Gewahrsein, frei von störenden Emotionen, frei vom sich daraus ergebenden zwanghaften Verhalten und damit frei von Karma sein. Wir wollen diese wahre Beendigung und auch die wahren Pfade in unserem Geisteskontinuum erlangen. Worauf beziehen sich wahre Pfade? Sie beziehen sich auf korrektes und entschiedenes Verstehen, mit anderen Worten auf gültige Wahrnehmung der tiefsten Weise, wie Dinge existieren. Natürlich geht es uns auch um die gültige Wahrnehmung dessen, wie die Dinge sind, denn ansonsten machen wir nur Fehler. Im Grunde geht es uns um Allwissenheit und sie ist eine weitere Form geistiger Aktivität.
Hier ist es auch wichtig zu wissen, wer die geistige Aktivität der vier edlen Wahrheiten erfährt. Es ist das „Ich“; es ist kein „Niemand“ und auch nicht jemand anderes. Wie existiert dieses „Ich“? Ist das „Ich“ jemand, der getrennt davon ist und die geistige Aktivität des Erfahrens der vier edlen Wahrheiten lediglich dort drüben beobachtet? Nein. Ist es niemand, der sie beobachtet? Nein; jemand erfährt sie. Das Geisteskontinuum des Erfahrens der vier edlen Wahrheiten ist frei von einem unmöglichen „Ich“, das sie erlebt. Das passt schön zu dem, was wir über das Wort „bloße“ in der Definition des Geistes gesagt haben. Geistige Aktivität findet ohne ein unabhängig existierendes „Ich“ statt, das sie erlebt. Sowohl die geistige Aktivität als auch die Person, die eine Zuschreibung dieser Aktivität ist und die sie erfährt, sind frei davon, auf unmögliche Weisen zu existieren.
Alles, woran wir in den buddhistischen Lehren arbeiten, hat mit dem Geisteskontinuum zu tun, das die vier edlen Wahrheiten erfährt. Dies zu verstehen ist ausgesprochen wichtig und maßgebend. Unser Geisteskontinuum ist der Ort, an dem die wahren Beendigungen stattfinden. Die Mahamudra-Meditation und die Dzogchen-Meditation richten sich darauf, die Natur unserer geistigen Aktivität zu identifizieren. Wir versuchen, uns nicht im Inhalt dieser Aktivität zu verfangen, sondern uns nur darauf zu fokussieren, was stattfindet, nämlich die geistige Aktivität selbst. Geistige Aktivität ist rein in dem Sinne, dass sie nur das Erscheinen geistiger Hologramme und eine geistige Beschäftigung ist, egal um welche Art der geistigen Aktivität es sich handelt. Und das ist alles, was geschieht.
Der Fokus liegt immer auf der geistigen Aktivität unseres geistigen Kontinuums. Wollen wir wirklich mit ihr arbeiten können, müssen wir wissen, was geistige Aktivität ist und sie identifizieren können – zumindest konzeptuell. Das ist ein weiterer Grund dafür, warum diese Arten der Wahrnehmung hilfreich sind. Wenn wir ein Konzept davon haben, was geistige Aktivität ist, können wir versuchen sie zu erkennen, indem wir das, was wir erfahren, der geistigen Schublade dieses Konzeptes zuordnen. Das ist konzeptuelles Verständnis. Langsam müssen wir es dann keiner Schublade mehr zuordnen, um es zu identifizieren.
Nehmen wir uns einen Moment Zeit, um das einsinken zu lassen. Geistige Aktivität, von einem Augenblick zum nächsten, ist das Erscheinen eines geistigen Hologramms und die kognitive Beschäftigung damit. Diese sieben Arten der Wahrnehmung sind verschiedene Weisen, wie diese kognitive Beschäftigung stattfindet. Ist sie richtig, falsch, entschieden, unentschieden, korrekt oder inkorrekt?
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Gültige Wahrnehmung
Von den sieben Arten der Wahrnehmung können nur zwei von ihnen gültige Arten der Wahrnehmung sein: bloße Wahrnehmung und schlussfolgernde Wahrnehmung. Im Sautrantika wird die gültige Wahrnehmung als „frische, nicht betrügerische Wahrnehmung (tib. gsar-tu mi-bslu-ba) definiert. „Frisch“ bedeutet, dass sie nicht von der unmittelbar vorangehenden Wahrnehmung des gleichen Objektes als unmittelbare Bedingung für dessen Klarheit, Korrektheit und Entschiedenheit abhängt. Unser Beispiel: „oh, dort ist Mary“ hängt nicht von dem vorangegangenen Moment des Sehens von Mary ab, um die frische Wahrnehmung „oh, dort ist Mary“ zu haben; sie ist frisch. Sind wir hingegen mit Mary zusammen, stützt sich unser Gewahrsein, dass es Mary ist, auf den unmittelbaren Moment, in dem wir Mary zuerst erkannten, um korrekt sagen zu können, dass es sich um Mary handelt. Das ist die technische Definition des Wortes „frisch“.
Woher bekam die Art der Wahrnehmung ihre Klarheit – das geistige Hologramm – darüber, was etwas ist? Kam sie nur aus dem ersten Moment oder aus einer Reihe dessen, was unmittelbar davor stattfand? Bezog sich das geistige Hologramm des vorangegangenen Momentes auf Mary oder etwas anderes? War es ein geistiges Hologramm von etwas anderem außer Mary, ist die Art der Wahrnehmung von ihr frisch – wörtlich „neu“. Um gültig zu sein, muss die Wahrnehmung daher frisch sein. Dieses Kriterium wird im Prasangika aus verschiedenen philosophischen Gründen abgelehnt, doch im Sautrantika-System erfordert die Definition einer gültigen Wahrnehmung, dass sie sowohl frisch als auch nicht betrügerisch ist.
Eine „nicht betrügerische“ Wahrnehmung ist sowohl korrekt als auch entschieden. Korrekt bedeutet, dass sie der objektiven Realität entspricht. Vielleicht erinnert ihr euch daran, dass im Sautrantika von objektiver Realität gesprochen wird. Dabei geht es darum, was jeder sieht, wenn etwas korrekt gesehen wird – wenn man sozusagen seine Brille trägt – und was man mit Bestimmtheit erkennt und dem andere gültige Menschen ebenfalls zustimmen würden. Wir könnten uns in einer sozialen Gruppe befinden, die völlig absurde Vorstellungen hat, doch nur weil sie meinen, es wäre eine gute Sache zu kämpfen oder in den Krieg zu ziehen und Menschen zu erschießen, heißt das nicht, es wäre gültig. Doch das führt uns zu einem anderen Thema, der Ethik.
Nachfolgende Wahrnehmung ist nicht gültig, weil sie nicht frisch ist und nicht in diese Definition passt. Unentschiedene Wahrnehmung, mit der wir nicht festlegen können, was etwas ist, weil es zu weit weg ist oder unsere Aufmerksamkeit sich nicht darauf fokussiert, ist nicht gültig, weil sie nicht entschieden ist. Dasselbe gilt für die Vermutung. Wir vermuten, dass etwas wahr ist oder nehmen an, es wäre wahr. Ist es korrekt, handelt es sich um Vermutung; andernfalls ist es eine falsche Schlussfolgerung. Mit der Vermutung kommen wir zur richtigen Schlussfolgerung, doch aus irgendeinem Grund verstehen wir es nicht. Das ist ebenfalls nicht entschieden. Das unentschlossene Schwanken ist ganz klar auch nicht entschieden.
Die verzerrte Wahrnehmung ist nicht gültig, weil sie nicht korrekt ist, doch sie könnte entschieden sein. Wir könnten völlig überzeugt davon sein, dass alles unabhängig existiert, wir immer Recht haben und alle anderen immer falsch liegen. Jeder ist gegen uns und alles ist einfach nur furchtbar. Wir könnten mit Entschiedenheit völlig überzeugt davon sein, doch es ist ganz und gar nicht korrekt.
Damit sie gültig ist, muss unsere Wahrnehmung somit sowohl korrekt, jedoch nicht durch eine richtige Vermutung, als auch entschieden und frisch sein. Das ist eine gültige Wahrnehmung und das ist es, was wir anstreben.
Begreifende Wahrnehmung (Begreifen)
Ein weiterer Begriff, der benutzt wird, ist die „begreifende Wahrnehmung“ (tib. rtogs-pa) oder auch das „Begreifen“. Das englische Wort „apprehension“ ist kein sehr gebräuchliches Wort und kann irreführend sein, weil die Adjektivform „apprehensive“ besorgt oder verängstigt bedeutet. Mir fällt jedoch kein anderes Wort für diesen Begriff ein. Das tibetische Wort dafür ist auch das Wort für „verstehen“, doch es bedeutet nicht dasselbe wie unser deutsches Wort „verstehen“. Eine weitere Bedeutung des gleichen Wortes „Begreifen“ findet man in der Meditation. Dort werden zwei Begriffe benutzt, wobei einer das Wort ist, welches schwach oder abnehmend (tib. nyams) bedeutet, und sich darauf bezieht, eine Erkenntnis oder eine Art der Erfahrung zu haben, die jedoch nicht stabil ist und abnimmt. Es handelt sich dabei um eine kurze Erkenntnis oder Erfahrung, die wir jedoch wieder verlieren. Das ist die erste Ebene dessen, was wir in korrekter analytischer Meditation erfahren. Unser Wort „Begreifen“ bedeutet hier in der Erkenntnistheorie eine stabile Verwirklichung. Danach streben wir in der Meditation. Wir wollen ein stabiles Verständnis haben. In der Erkenntnistheorie versuchen wir ebenfalls etwas Stabiles zu entwickeln, ein Begreifen.
Mit dem Begreifen wird durch eine Wahrnehmung das beteiligte Objekt (tib. ’jug-yul) begriffen, also sowohl korrekt als auch entschieden wahrgenommen. Mit anderen Worten ist es nicht betrügerisch. Dafür müssen wir wissen, was ein beteiligtes Objekt ist, also wörtlich das Objekt mit dem man sich kognitiv beschäftigt. In jeder Wahrnehmung gibt es viele verschiedene Objekte, was ziemlich komplex wird. Doch das beteiligte Objekt ist das eigentliche Objekt, mit dem sich eine bestimmte Wahrnehmung beschäftigt. Wenn wir beispielsweise jemanden sehen oder an jemanden denken, bezieht sich das beteiligte Objekt auf die farbigen Formen der Form eines physischen Phänomens, sowie auf das allgemein verständliche Objekt, das diese farbigen Formen und auf andere Sinnesinformationen des Objektes, wie Klänge, Gerüche und körperliche Empfindungen über einen Zeitraum umfasst. Es bezieht sich auch darauf, wahrzunehmen, welche Art von Objekt es ist. Das ist das „beteiligte Objekt“ oder „ausübende Objekt“.
Sehen wir daher Mary auf der Straße, ist das beteiligte Objekt die farbigen Formen, die wir sehen. Doch es bezieht sich nicht nur auf die farbigen Formen, sondern auch auf ein allgemein verständliches Objekt, auf eine Person, der wir zuhören und die wir berühren können. Es handelt sich um eine Person, nicht um ein Nichts. Es ist Mary und nicht jemand anderer. Die Information über Mary ist nicht nur visuell, denn Mary erstreckt sich auch auf andere Informationen, wie ihre Stimme, den Geruch ihres Parfüms, die Berührung ihrer Hand und all solche Dinge. Genauso verhält es sich, wenn wir an Mary denken. Das ist das beteiligte Objekt.
Habe ich zum Beispiel meine Brille nicht auf und schaue auf die Straße, ist das beteiligte Objekt nach wie vor Mary, doch das erscheinende Objekt (tib. snang-yul) ist etwas Verschwommenes. Genau genommen müssen das beteiligte Objekt und das erscheinende Objekt dasselbe sein, wenn wir von der Sinneswahrnehmung reden. Zum Beispiel hat die Person dieses und jenes gesagt, doch wir haben ein Gemurmel, etwas Undeutliches oder etwas anderes gehört. Dann stimmen das beteiligte Objekt und das erscheinende Objekt nicht miteinander überein. Das passiert ständig. Was jemand behauptet gehört zu haben, haben wir gar nicht gesagt. Es kann sogar eine Aufnahme geben, um zu bestätigen, was jemand gesagt hat, doch wir haben es nicht gehört, weil unser Geist vielleicht etwas abgelenkt war oder wir waren nicht wirklich aufmerksam und haben die Worte anderen Schubladen zugeordnet.
Eine Wahrnehmung begreift ihr beteiligtes Objekt, wenn sie sowohl korrekt als auch entschieden ist. Damit es ein Begreifen ist, muss die Wahrnehmung jedoch nicht frisch sein. Die nachfolgende Wahrnehmung kann zum Beispiel ihr Objekt begreifen, doch gemäß dem Sautrantika ist sie keine gültige Wahrnehmung, weil sie nicht frisch ist. Im Prasangika wird diese Unterscheidung zwischen begreifender Wahrnehmung und gültiger Wahrnehmung aufgehoben, wenn die nachfolgende Wahrnehmung als eine Art der Wahrnehmung von etwas abgelehnt wird. Laut dem Prasangika ist jeder Augenblick frisch. Wir können nicht sagen, etwas wäre objektiv da und hätte nichts mit dem nächsten Augenblick zu tun. Alles entsteht in Abhängigkeit. Diese ganze Vorstellung der Frische ist nicht wirklich relevant, wenn wir es etwas tiefgreifender verstehen; doch weil Dinge im Sautrantika wirklich Objekt-bezogen sind, gibt es hier diese Vorstellung.
Explizites und implizites Begreifen
Begreifen kann „explizit“ oder „implizit“ sein. Wir haben auf diesen Unterschied hingewiesen, als es um Selbstwahrnehmung ging, aber ihn nicht erklärt. In einem expliziten Begreifen (tib. mngon-par rtogs-pa) erscheint das beteiligte Objekt in der Wahrnehmung, wie in unserem Beispiel des Schlussfolgerns, dass die Person, die wir sehen, Mary ist. Das ist explizit, weil wir Mary sehen. Das beteiligte Objekt erscheint. Wenn wir Mary sehen, erkennen wir gleichzeitig, dass es nicht Susan ist. Erscheint „nicht Susan“? Wie sieht „nicht Susan“ aus? Es erscheint nicht, doch implizit wissen wir, dass es „nicht Susan“ ist. Das ist implizites Begreifen (tib. shugs-la rtogs-pa) und beide sind entschieden und korrekt. Es ist wirklich nicht Susan. Wir sind uns wirklich sicher und es ist auch korrekt, weil es nicht Susan ist.
Es gibt viele Bespiele für explizites und implizites Begreifen im Sinne bloßer Wahrnehmung, doch beide treten auch mit schlussfolgernder Wahrnehmung auf. Ein Beispiel für ein schlussfolgerndes Begreifen ist folgendes: Wenn eine Person diesen Laut „MA-RY“ von sich gibt, schlussfolgern wir, dass der Laut eine Bedeutung hat und ein Wort ist. Es ist nicht nur ein Geräusch. Das ist im Grunde eine Schlussfolgerung. Handelt es sich um dieses Geräusch, ist es dieses Wort und handelt es sich um dieses Wort, hat es diese Bedeutung. Das ist eine Schlussfolgerung. Wir wissen explizit, dass es dieses Wort ist, und implizit, dass es nicht ein anderes Wort ist. Das findet ständig statt, denn sonst könnten wir Sprache nicht verstehen. Schlussfolgerung ist eine Art der gültigen konzeptuellen Wahrnehmung.
Sehen die Leute konzeptuelle Wahrnehmung nur als etwas Schlechtes und bestehen darauf, nur nicht-konzeptuell zu sein, sollten sie daran denken, dass wir keine Sprache verstehen könnten, wenn wir ständig nicht-konzeptuell wären. Konzeptuelle Wahrnehmung ist wirklich auch nützlich. Uns geht es darum, die problematischen Aspekte der konzeptuellen Wahrnehmung loszuwerden, nämlich zu meinen, die ganze Welt und alle Dinge würden tatsächlich in Schubladen existieren. Die Welt existiert jedoch nicht auf diese Weise; dennoch brauchen wir diese geistigen Schubladen, um in dieser Welt funktionieren zu können. Sehen wir einen ganzen Korb mit Früchten, würden wir sonst nicht wissen, dass es alles Äpfel sind. Oder Eier: wie wissen wir, dass es alles Eier sind? Wie wissen wir, dass all die Fotos Bilder von uns sind? Wir hätten keine Vorstellung davon ohne eine Kategorie „Ich“ oder eine Kategorie „Eier“. Was sind diese Dinge? Sie sind nicht nur diese ovale weiße Form, sondern mehr als eine ovale weiße farbige Form. Das ist wirklich faszinierend, wenn wir uns tiefgreifender damit befassen.
Noch ein Punkt in Bezug auf das Begreifen: Wir können etwas nicht nur implizit begreifen. Jedes Mal, wenn wir explizit etwas begreifen, müssen wir auch implizit begreifen, dass es nicht etwas anderes ist, um entschieden zu sein.
Reflexives Gewahrsein
Fragen wir uns, wie wir beobachten können, was sich in unserer geistigen Aktivität abspielt, so gibt es zwei Möglichkeiten, dies zu erklären. Im Sautrantika-System haben wir in jedem Moment der Wahrnehmung als Teil dieser Wahrnehmung ein so genanntes reflexives Gewahrsein (tib. rang-rig). Dies wird nur in den Lehrsystemen des Sautrantika, Chittamatra und Yogachara Svatantrika vertreten. Diese drei Schulen gehen davon aus, dass es so etwas wie ein „reflexives Gewahrsein“ gibt, was zuweilen auch als „Selbstwahrnehmung“ bezeichnet wird. In der westlichen Psychologie gibt es eine so genannte „Selbstwahrnehmung“, die auf das Selbst oder das „Ich“ als denjenigen gerichtet ist, der Dinge im Leben erfährt, aber damit sollten wir es nicht verwechseln. Reflexives Gewahrsein ist in dem Sinne reflexiv, dass es sich nur auf den Aspekt der kognitiven Beschäftigung in jedem Moment der Wahrnehmung richtet. Es ist wie ein Aufnahmegerät, das in jedem Augenblick da ist und sich nur des Primärbewusstseins und all der Geistesfaktoren in diesem Moment der Wahrnehmung bewusst ist. Es richtet sich nicht auf das geistige Hologramm des Objektes der Wahrnehmung, das erscheint, sondern auf die kognitive Beschäftigung selbst und begründet gewissermaßen, wie wir uns an diese Wahrnehmung erinnern. Es nimmt diese Wahrnehmung auf, ob sie betrügerisch ist oder nicht.
Im Prasangika-Lehrsystem vertritt man das reflexive Gewahrsein nicht als eine getrennte Art der Wahrnehmung. Dort wird argumentiert, dass es so etwas wegen dem, was man in der westlichen Logik als „Argument des dritten Menschen“ bezeichnet, nicht gibt. Daher ergibt es keinen Sinn.
Im Prasangika wird das Phänomen des Erinnern stattdessen mit implizitem Begreifen erklärt. Die Wahrnehmung ist explizit in jeder Wahrnehmung auf ein geistiges Hologramm des Objektes der Wahrnehmung gerichtet und ist sich implizit bewusst darüber, dass die Wahrnehmung stattfindet. Es ist nicht etwas Getrenntes, wodurch erkannt wird, dass die Wahrnehmung stattfindet, denn wie würden wir sonst erkennen, dass wir wissen, dass sie stattfindet? Wir sind uns nur implizit, als Teil der Wahrnehmung, darüber bewusst, dass sie stattfindet und können einschätzen, ob sie korrekt ist oder nicht, indem wir den Geistesfaktor des unterscheidenden Gewahrseins nutzen. Wie gut wir uns dann daran erinnern, etwas zu kennen oder wahrzunehmen, ist eine Sache der Aufmerksamkeit, also worauf unsere Aufmerksamkeit oder unser Hauptaugenmerk gerichtet ist.