Die Hegemonien der Pagmodru, der Rinpung und der Tsangpas

Die Errichtung der Pagmodru-Hegemonie

Dorje Gyalpo (1110 – 1170), ein hochgebildeter Mönch aus Kham und Schüler des Kagyü-Meisters Gampopa, kam 1158 nach Zentraltibet. Man gab ihm den Namen „Pagmodrupa“ (tib. Phag-mo gru-pa), was bedeutet „Einer von der Sau-Fähre“, da er am Anlegeplatz einer Fähre eine Einsiedelei baute. Diese Einsiedelei vergrößerte sich später zum Kloster Pagdrui Densatel (tib. Phag-gru’i gDan-sa thel oder gDan-sa mthil). Einer der Schüler von Pagmodrupas Schüler Drigungpa war Chen-Nga Rinpoche (tib. sPyan-snga Rin-po-che Grags-pa ‘ byung-gnas, 1175 – 1255). Er wurde Abt des Klosters und ernannte Dorje Pel (tib. rDo-rje dpal) aus der Lang (tib. rLangs)-Familie zum Leiter des nahegelegenen Anwesens Nedong (tib. sNe-gdong).

Als 1268 die Verwaltungsstruktur der 13 Myriarchien eingeführt wurde, wurde Dorje Pel Magistrat der Myriarchie Pagmodru. Diese Position verblieb in der Familie Lang, in der es üblich wurde, dass ein unverheirateter Sohn sowohl das Kloster als auch die Myriarchie leitete. Auf diese Weise spielte die Familie Lang in Pagmodru eine ähnliche Rolle wie die Familie Kon in Sakya. Pagmodru lag in der Provinz Ü, der östlichen Hälfte von Zentraltibet, während Sakya sich in der Provinz Tsang, der westlichen Hälfte, befand.

Jangchub Gyaltsen (1302 – 1364) wurde in dieser Familie Lang geboren. Mit zwölf Jahren begann er in Sakya Buddhismus und Verwaltung zu studieren. 1322 wurde er vom Obersten Sakya-Magistrat zum Magistrat der Myriarchie Pagmodru ernannt. Im Namen des Yuan-Kaisers erhielt er den entsprechenden Titel „Tai-situ“ und kehrte nach Nedong zurück. Von da an wurde er Situ Jangchub Gyaltsen genannt.

Jangchub Gyaltsen begann dann bald einen Feldzug, um Land zurückzuerobern, das an eine angrenzende Myriarchie verlorengegangen war. Der Konflikt setzte sich über das ganze Jahr 1345 fort. Dem Obersten Magistrat, Sakyapa Gyalwa Sangpo (tib. rGyal-ba bzang-po), missfiel es, dass Jangchub Gyaltsen in dieser Frage nicht nachgab. Er enthob ihn seines Amtes als Magistrat der Myriarchie. Jangchub Gyaltsen weigerte sich zurückzutreten, selbst dann noch, als Sakya und die umliegenden Myriarchien sich gegen ihn verbündeten und er inhaftiert und gefoltert wurde.

Das Bündnis gegen Jangchub Gyaltsen begann aufgrund von Eifersüchteleien zwischen dem Obersten Sakya-Magistrat Gyalwa Sangpo und seinem Innenminister Wangtson (tib. Nang-chen dBang-brtson) auseinanderzubrechen. Gyalwa Sangpo erkannte, dass sein Überleben in der Machtposition davon abhing, dass er einen starken Verbündeten fand. Daher bot er Jangchub Gyaltsen an, ihm die Freiheit und seine ehemaligen Ämter zurückzugeben, wenn er ihm dafür die Garantie gab, nichts gegen ihn zu unternehmen.

Als Jangchub Gyaltsen 1352 freigelassen wurde, nahm er sein Amt in Nedong wieder auf und ging sofort zur Offensive über. Schon bald, im Jahr 1354, kontrollierte er mit Gyalwa Sangpos Hilfe ganz Ü. Bei einem Treffen mit dem Sakya-Lama Kunpangpa (tib. Bla-ma Kun-spangs-pa) entschuldigte Gyalwa Sangpo sich bei Jangchub Gyaltsen für die vormalige schlechte Behandlung. Diese Versöhnung passte dem Innenminister Wangtson nicht. Er enthob Gyalwa Sangpo seiner Ämter, sperrte ihn ein und übernahm selbst das Oberste Sakya-Magistrat.

Vier Jahre später, im Jahr 1358, ließ Wangtson Lama Kunpangpa ermorden. Dieses Ereignis und das Gerücht, dass Wangtson Gyalwa Sangpo vergiftet habe, veranlassten Jangchub Gyaltsen, seine Armee nach Sakya zu führen, Wangtson hinter Gitter setzen zu lassen und 400 Hofbeamte sowie den neu eingesetzten herrschenden Lama zu ersetzen. Die Pagmodru-Hegemonie über Zentraltibet (Ü und Tsang) geht auf diesen Coup im Jahr 1358 zurück. Einige andere tibetische Quellen datieren Jangchub Gyaltsens Freilassung aus dem Gefängnis und seine Auszeichnung mit dem Titel „Tai-Situ“ im Jahr 1347 und den Beginn der Pagmodru-Hegemonie, als Jangchub Gyaltsen ganz Ü eroberte, im Jahr 1349.

Jangchub Gyaltsen versuchte, das tibetische Reich von Songtsen Gampo und Tri Songdetsen wiederherzustellen. Er ordnete die 13 Myriarchien zu Distrikten (tib. rdzong) um, von denen jeder einen Distrikt-Magistrat (tib. rdzong-spon) hatte. Er selbst nahm als Herrscher den rein tibetischen Titel „Desi“ (tib. sde-srid) an, der etwa einem „Premierminister“ entspricht. Im Einklang mit buddhistischen Prinzipien setzte er eine landwirtschaftliche Steuer in Höhe von einem Sechstel der Getreideernte fest, entwickelte eine Infrastruktur mit Straßen, Brücken und Fähren, und errichtete in gefährlichen Gegenden bemannte Militärposten, um Reisende vor Banditen zu schützen. Er schaffte das mongolische Recht ab und setzte das traditionelle tibetische Recht wieder in Kraft; er führte ein fortschrittliches Justizsystem ein, das im Verbrechensfall Ermittlungen durchführte, bevor eine von dreizehn Strafstufen angewandt wurde. Die Sakya-Lamas waren zuvor dem mongolischen Brauch gefolgt, Verdächtige einfach ohne Prozess hinzurichten.

Sein ganzes Leben lang blieben Jangchub Gyaltsen die Mönchsgelübde wichtig. In den innersten Bereichen seines Palastes in Nedong waren beispielsweise weder Frauen noch Wein zugelassen. Als er 1364 starb, wurde sein Neffe Jamyang Shakya Gyaltsen (tib. ‘ Jam-dbyangs sha-kya rgyal-msthan, 1340 – 1373), der ebenfalls Mönch war, sein Nachfolger.

Die Behauptung der Ming-Dynastie, Erbe der mongolischen Herrschaft über Tibet zu sein

Tibet und China fielen also zu unterschiedlichen Zeiten unter die Herrschaft des mongolischen Reiches; und sie erlangten zu unterschiedlichen Zeiten die Unabhängigkeit von diesem Reich.

Nach der Eroberung der tangutischen Gebiete durch Tschingis Khan im Jahre 1227 fielen die Mongolen regelmäßig in Teile Amdos ein. Doch bis 1264 – 1265 richteten sie keine formale Kontrolle über die tibetischen Kulturgebiete von Amdo, Zentraltibet und Kham ein. Dies geschah erst, als Pagpa in Begleitung mongolischer Kavallerie nach Zentraltibet zurückkehrte. Davor war Tibet ein unabhängiges Land. Es war zwar nicht unter einem Herrscher vereinigt, unterstand aber auch nicht einem fremden Herrscher.

Die unabhängige Südliche Song-Dynastie Chinas hingegen erlag den Mongolen mit der Gründung der mongolischen Yuan-Dynastie im Jahr 1271. Mit der endgültigen Eroberung des Gebietes der Südlichen Song-Dynastie im Jahr 1279 wurden sämtliche Spuren eines unabhängigen Chinas getilgt. Als die Mongolen sich die von den Jurten regierten nordchinesischen Gebiete – zum Teil 1214 und vollständig 1234 – aneigneten, war dies nicht die Niederlage einer unabhängigen chinesischen Herrschaft über chinesisches Territorium.

Die Unabhängigkeit Zentraltibets von den Mongolen wurde 1358 mit Jangchub Gyaltsens endgültigem Sturz der Sakya-Hegemonie erlangt. Die chinesische Unabhängigkeit kam 1368 zustande, und Amdo verblieb bis 1370 unter mongolischer Kontrolle. Das kaum bevölkerte Kham, wurde selbst während der Yuan-Periode nie besonders strikt verwaltet. Es wäre also historisch unrichtig zu folgern, dass die chinesische Ming-Dynastie (1368 – 1644) von den Mongolen einen Anspruch auf Tibet geerbt hätte. Und zwar nicht nur deswegen, weil die Mongolen zu der Zeit, als die Ming-Dynastie gegründet wurde, keinerlei Herrschaft mehr über Zentraltibet oder Kham hatte, sondern überdies, weil die mongolischen Kaiser die Pagmodru-Hegemonie auch nicht anerkannt hatten, als sie noch den chinesischen Thron innehatten.

In der „Geschichte der Ming-Dynastie“(chin. Ming-shi) ist die Gründung eines Distrikt- Büros der Militärführung (chin. Du zhihui shisi) mit Gerichtsgewalt über Westtibet, Zentraltibet und Kham sowie die Gründung eines Befriedungs-Büros vermerkt. Abendländische Gelehrte wie Elliot Sperling („Did the Early Ming Emperors Attempt to Implement a ‘Divide And Rule‘ Policy in Tibet?” in „Proceedings of the Csoma de Körös Memorial Symposium“) und Melvyn Goldstein („ The Snow Lion and the Dragon: China, Tibet and the Dalai Lama“) schließen jedoch aus, dass deren Offiziere tatsächliche Autorität besaßen oder überhaupt je nach Tibet kamen. Die Geschichte der Ming wurde ja 1739 von Gelehrten der anschließenden mandschurischen Qing-Dynastie (1644 – 1912) zusammengestellt, und wie die meisten chinesischen Geschichtswerke der Dynastien war sie auf ein Weise geschrieben worden, die die Kontinuität und Herrschaft der neuen Dynastie rechtfertigte. In der Ming-Zeit beschränkten sich die Beziehungen zwischen Tibet und China auf den Tauschhandel von tibetischen Pferden gegen chinesischen Tee. Der Handel wurde an den chinesischen Grenzen von Kham und Amdo abgewickelt. Ming-Truppen waren nie in Tibet anwesend.

Vergleich der Beziehungen des Chinas der Ming-Dynastie zu den Mongolen, Monguoren, den Uriyangkhai und den Jurchen

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