Die Errichtung der Pagmodru-Hegemonie
Dorje Gyalpo (1110 – 1170), ein hochgebildeter Mönch aus Kham und Schüler des Kagyü-Meisters Gampopa, kam 1158 nach Zentraltibet. Man gab ihm den Namen „Pagmodrupa“ (tib. Phag-mo gru-pa), was bedeutet „Einer von der Sau-Fähre“, da er am Anlegeplatz einer Fähre eine Einsiedelei baute. Diese Einsiedelei vergrößerte sich später zum Kloster Pagdrui Densatel (tib. Phag-gru’i gDan-sa thel oder gDan-sa mthil). Einer der Schüler von Pagmodrupas Schüler Drigungpa war Chen-Nga Rinpoche (tib. sPyan-snga Rin-po-che Grags-pa ‘ byung-gnas, 1175 – 1255). Er wurde Abt des Klosters und ernannte Dorje Pel (tib. rDo-rje dpal) aus der Lang (tib. rLangs)-Familie zum Leiter des nahegelegenen Anwesens Nedong (tib. sNe-gdong).
Als 1268 die Verwaltungsstruktur der 13 Myriarchien eingeführt wurde, wurde Dorje Pel Magistrat der Myriarchie Pagmodru. Diese Position verblieb in der Familie Lang, in der es üblich wurde, dass ein unverheirateter Sohn sowohl das Kloster als auch die Myriarchie leitete. Auf diese Weise spielte die Familie Lang in Pagmodru eine ähnliche Rolle wie die Familie Kon in Sakya. Pagmodru lag in der Provinz Ü, der östlichen Hälfte von Zentraltibet, während Sakya sich in der Provinz Tsang, der westlichen Hälfte, befand.
Jangchub Gyaltsen (1302 – 1364) wurde in dieser Familie Lang geboren. Mit zwölf Jahren begann er in Sakya Buddhismus und Verwaltung zu studieren. 1322 wurde er vom Obersten Sakya-Magistrat zum Magistrat der Myriarchie Pagmodru ernannt. Im Namen des Yuan-Kaisers erhielt er den entsprechenden Titel „Tai-situ“ und kehrte nach Nedong zurück. Von da an wurde er Situ Jangchub Gyaltsen genannt.
Jangchub Gyaltsen begann dann bald einen Feldzug, um Land zurückzuerobern, das an eine angrenzende Myriarchie verlorengegangen war. Der Konflikt setzte sich über das ganze Jahr 1345 fort. Dem Obersten Magistrat, Sakyapa Gyalwa Sangpo (tib. rGyal-ba bzang-po), missfiel es, dass Jangchub Gyaltsen in dieser Frage nicht nachgab. Er enthob ihn seines Amtes als Magistrat der Myriarchie. Jangchub Gyaltsen weigerte sich zurückzutreten, selbst dann noch, als Sakya und die umliegenden Myriarchien sich gegen ihn verbündeten und er inhaftiert und gefoltert wurde.
Das Bündnis gegen Jangchub Gyaltsen begann aufgrund von Eifersüchteleien zwischen dem Obersten Sakya-Magistrat Gyalwa Sangpo und seinem Innenminister Wangtson (tib. Nang-chen dBang-brtson) auseinanderzubrechen. Gyalwa Sangpo erkannte, dass sein Überleben in der Machtposition davon abhing, dass er einen starken Verbündeten fand. Daher bot er Jangchub Gyaltsen an, ihm die Freiheit und seine ehemaligen Ämter zurückzugeben, wenn er ihm dafür die Garantie gab, nichts gegen ihn zu unternehmen.
Als Jangchub Gyaltsen 1352 freigelassen wurde, nahm er sein Amt in Nedong wieder auf und ging sofort zur Offensive über. Schon bald, im Jahr 1354, kontrollierte er mit Gyalwa Sangpos Hilfe ganz Ü. Bei einem Treffen mit dem Sakya-Lama Kunpangpa (tib. Bla-ma Kun-spangs-pa) entschuldigte Gyalwa Sangpo sich bei Jangchub Gyaltsen für die vormalige schlechte Behandlung. Diese Versöhnung passte dem Innenminister Wangtson nicht. Er enthob Gyalwa Sangpo seiner Ämter, sperrte ihn ein und übernahm selbst das Oberste Sakya-Magistrat.
Vier Jahre später, im Jahr 1358, ließ Wangtson Lama Kunpangpa ermorden. Dieses Ereignis und das Gerücht, dass Wangtson Gyalwa Sangpo vergiftet habe, veranlassten Jangchub Gyaltsen, seine Armee nach Sakya zu führen, Wangtson hinter Gitter setzen zu lassen und 400 Hofbeamte sowie den neu eingesetzten herrschenden Lama zu ersetzen. Die Pagmodru-Hegemonie über Zentraltibet (Ü und Tsang) geht auf diesen Coup im Jahr 1358 zurück. Einige andere tibetische Quellen datieren Jangchub Gyaltsens Freilassung aus dem Gefängnis und seine Auszeichnung mit dem Titel „Tai-Situ“ im Jahr 1347 und den Beginn der Pagmodru-Hegemonie, als Jangchub Gyaltsen ganz Ü eroberte, im Jahr 1349.
Jangchub Gyaltsen versuchte, das tibetische Reich von Songtsen Gampo und Tri Songdetsen wiederherzustellen. Er ordnete die 13 Myriarchien zu Distrikten (tib. rdzong) um, von denen jeder einen Distrikt-Magistrat (tib. rdzong-spon) hatte. Er selbst nahm als Herrscher den rein tibetischen Titel „Desi“ (tib. sde-srid) an, der etwa einem „Premierminister“ entspricht. Im Einklang mit buddhistischen Prinzipien setzte er eine landwirtschaftliche Steuer in Höhe von einem Sechstel der Getreideernte fest, entwickelte eine Infrastruktur mit Straßen, Brücken und Fähren, und errichtete in gefährlichen Gegenden bemannte Militärposten, um Reisende vor Banditen zu schützen. Er schaffte das mongolische Recht ab und setzte das traditionelle tibetische Recht wieder in Kraft; er führte ein fortschrittliches Justizsystem ein, das im Verbrechensfall Ermittlungen durchführte, bevor eine von dreizehn Strafstufen angewandt wurde. Die Sakya-Lamas waren zuvor dem mongolischen Brauch gefolgt, Verdächtige einfach ohne Prozess hinzurichten.
Sein ganzes Leben lang blieben Jangchub Gyaltsen die Mönchsgelübde wichtig. In den innersten Bereichen seines Palastes in Nedong waren beispielsweise weder Frauen noch Wein zugelassen. Als er 1364 starb, wurde sein Neffe Jamyang Shakya Gyaltsen (tib. ‘ Jam-dbyangs sha-kya rgyal-msthan, 1340 – 1373), der ebenfalls Mönch war, sein Nachfolger.
Die Behauptung der Ming-Dynastie, Erbe der mongolischen Herrschaft über Tibet zu sein
Tibet und China fielen also zu unterschiedlichen Zeiten unter die Herrschaft des mongolischen Reiches; und sie erlangten zu unterschiedlichen Zeiten die Unabhängigkeit von diesem Reich.
Nach der Eroberung der tangutischen Gebiete durch Tschingis Khan im Jahre 1227 fielen die Mongolen regelmäßig in Teile Amdos ein. Doch bis 1264 – 1265 richteten sie keine formale Kontrolle über die tibetischen Kulturgebiete von Amdo, Zentraltibet und Kham ein. Dies geschah erst, als Pagpa in Begleitung mongolischer Kavallerie nach Zentraltibet zurückkehrte. Davor war Tibet ein unabhängiges Land. Es war zwar nicht unter einem Herrscher vereinigt, unterstand aber auch nicht einem fremden Herrscher.
Die unabhängige Südliche Song-Dynastie Chinas hingegen erlag den Mongolen mit der Gründung der mongolischen Yuan-Dynastie im Jahr 1271. Mit der endgültigen Eroberung des Gebietes der Südlichen Song-Dynastie im Jahr 1279 wurden sämtliche Spuren eines unabhängigen Chinas getilgt. Als die Mongolen sich die von den Jurten regierten nordchinesischen Gebiete – zum Teil 1214 und vollständig 1234 – aneigneten, war dies nicht die Niederlage einer unabhängigen chinesischen Herrschaft über chinesisches Territorium.
Die Unabhängigkeit Zentraltibets von den Mongolen wurde 1358 mit Jangchub Gyaltsens endgültigem Sturz der Sakya-Hegemonie erlangt. Die chinesische Unabhängigkeit kam 1368 zustande, und Amdo verblieb bis 1370 unter mongolischer Kontrolle. Das kaum bevölkerte Kham, wurde selbst während der Yuan-Periode nie besonders strikt verwaltet. Es wäre also historisch unrichtig zu folgern, dass die chinesische Ming-Dynastie (1368 – 1644) von den Mongolen einen Anspruch auf Tibet geerbt hätte. Und zwar nicht nur deswegen, weil die Mongolen zu der Zeit, als die Ming-Dynastie gegründet wurde, keinerlei Herrschaft mehr über Zentraltibet oder Kham hatte, sondern überdies, weil die mongolischen Kaiser die Pagmodru-Hegemonie auch nicht anerkannt hatten, als sie noch den chinesischen Thron innehatten.
In der „Geschichte der Ming-Dynastie“(chin. Ming-shi) ist die Gründung eines Distrikt- Büros der Militärführung (chin. Du zhihui shisi) mit Gerichtsgewalt über Westtibet, Zentraltibet und Kham sowie die Gründung eines Befriedungs-Büros vermerkt. Abendländische Gelehrte wie Elliot Sperling („Did the Early Ming Emperors Attempt to Implement a ‘Divide And Rule‘ Policy in Tibet?” in „Proceedings of the Csoma de Körös Memorial Symposium“) und Melvyn Goldstein („ The Snow Lion and the Dragon: China, Tibet and the Dalai Lama“) schließen jedoch aus, dass deren Offiziere tatsächliche Autorität besaßen oder überhaupt je nach Tibet kamen. Die Geschichte der Ming wurde ja 1739 von Gelehrten der anschließenden mandschurischen Qing-Dynastie (1644 – 1912) zusammengestellt, und wie die meisten chinesischen Geschichtswerke der Dynastien war sie auf ein Weise geschrieben worden, die die Kontinuität und Herrschaft der neuen Dynastie rechtfertigte. In der Ming-Zeit beschränkten sich die Beziehungen zwischen Tibet und China auf den Tauschhandel von tibetischen Pferden gegen chinesischen Tee. Der Handel wurde an den chinesischen Grenzen von Kham und Amdo abgewickelt. Ming-Truppen waren nie in Tibet anwesend.
Vergleich der Beziehungen des Chinas der Ming-Dynastie zu den Mongolen, Monguoren, den Uriyangkhai und den Jurchen
Die Mongolen
Nach dem Fall der Yuan-Dynastie zogen sich viele Mongolen in die Mongolei zurück. Viele blieben jedoch auch in China, vor allem diejenigen, die im Reich der Mitte stationiert gewesen waren und die chinesische Lebensweise angenommen hatten. Eine bedeutende Anzahl Soldaten der geschlagenen mongolischen Truppen wurden in die Armee der Ming aufgenommen und einige in die Verwaltung. Dasselbe geschah mit vielen Uighuren, die im Verwaltungsapparat der Yuan-Dynastie in China gedient hatten. Die Politik der Ming bestand darin, die Mongolen und Uighuren, die in China blieben, einschließlich derjenigen, die sich in der Grenzregion zwischen Kham und Sechuan niedergelassen hatten, so stark wie möglich zu sinisieren. Die Sinisierungspolitik der Ming erstreckte sich allerdings nicht auf die Tibeter, denn Tibeter hatten weder in der Armee der Yuan-Dynastie oder im Verwaltungsapparat der Yuan in China gedient noch sich in Teile von Yuan-China niedergelassen.
Die Truppen der Ming unternahmen mehrere Versuche, die Mongolei zu erobern. Sie kämpften bei mehreren Anlässen mit der Armee der Nördlichen Yuan-Dynastie; aber obwohl sie manchmal den Sieg davontrugen, gelang es ihnen nie, die Herrschaft über die Mongolei zu erringen. Die letzte Militärexpedition der Ming in die Mongolei erfolgte 1422. Die Mongolei blieb in die sogenannten „44 Stämme“ zerstückelt – 40 Stämme der östlichen und vier der westlichen Mongolen.
Im frühen 15. Jahrhundert migrierten mehrere ostmongolische Stämme südlich der Wüste Gobi in die heutige Innere Mongolei. Sie vertrieben die chinesischen Immigranten, die sich dort niedergelassen hatten. Im Gegensatz dazu fielen die Truppen der Ming nie in Tibet ein; sie waren nie dazu in der Lage, tibetisches Territorium auch nur zu betreten. Darüber hinaus vertrieben die Tibeter die Chinesen nie von ihren Grenzregionen.
Die Monguoren
Die Lage, in der sich die Kokonor- und die Gansu-Region von Amdo gegenüber den Ming-Chinesen befand, unterschied sich von derjenigen in Zentraltibet und Kham. Zentraltibet war unter mongolischer Verwaltung war in 13 Myriarchien unterteilt worden; Kham war sehr dünn besiedelt und brauchte keinen aufwändigen Verwaltungsapparat. Amdo hingegen hatte bereits eine lange Geschichte gemischter Bevölkerung. Schon vor der mongolischen Periode lebten dort Tuyuhun, Uighuren, Tanguten und die Tibeter von Tsongka. Sie kämpften ständig miteinander.
Das tibetische Königreich von Tsongka wurde 1182 vom Reich der Jurchen erobert und deren Gebiet eingegliedert, aber das Gebiet der Tanguten wurde nie von den Jurchen erobert. Mehrere Jahrhunderte später nahmen mongolische Truppen die Länder der Tsongka und der Tanguten ein. Ein bedeutender Anteil der Einwohner von Tsongka um den Kokonor, um Xining und in den südwestlichen Teilen der Gansu-Regionen von Amdo wurden als Monguoren bekannt. Viele Gelehrte behaupten, dass die Monguoren Nachkommen der Tuyuhun waren, was sich an ihrem tibetischen Namen „Tu“ und an ihrem chinesischen Namen „Turen“ zeige. Andras Rona-Tas („ Tibeto-Mongolica: The Tibetan Loanwords of Monguor and the Development of the Archaic Tibetan Dialects“) hat allerdings in stärker überzeugender Weise auf linguistischer Basis argumentiert, dass es sich bei den Monguoren um die mongolischen Nachkommen der Truppen von Tschingis Khans sechstem Sohn Kolgen handelte. Aber zahlreiche mongolische Soldaten hatten sicherlich einheimische Tsongka-Tibeterinnen und Tuyuhun-Frauen geheiratet. Die Monguoren spielten eine wichtige Rolle in der Entwicklung des tibetischen Buddhismus in Amdo.
Die Truppen der Ming eroberten das südliche Gansu erst 1370, zwei Jahre nach dem Fall der Yuan-Dynastie. Die dortigen Monguoren zogen sich nicht in die Mongolei zurück, wie es Mongolen aus anderen Regionen in China getan hatten. Sie ergaben sich vielmehr den invasorischen Truppen. Die Monguoren unterschieden sich schon zu dieser Zeit ziemlich von anderen mongolischen Gruppen, da sie bereits Landwirtschaft betrieben. Sie hatten sogar den einheimischen Amdo-Tibetern landwirtschaftliche Fertigkeiten gelehrt. Sie hatten also ein Interesse daran, in der Gegend zu bleiben und nicht zum nomadischen Leben zurückzukehren.
Rona-Tas berichtet, dass sich zusammen mit den Monguoren zwar auch einige Tibeter um Xining den Ming-Truppen ergaben, dass aber die Tibeter um die Kokonor-Region im Westen den Chinesen erbittert Wiederstand leisteten. Doch die Monguoren halfen den Chinesen, dort eine tibetische Revolte im Jahr 1375 niederzuschlagen. So dominierten die Monguoren die Amdo-Region auch nach dem Fall der Yuan-Administration weiterhin.
Henry Serruys („The Mongolen of Kansu during the Ming“ in: „ Melanges“, Band 10) berichtet, dass im Laufe der Ming-Dynastie die monguorischen Gebiete von Gansu eine autonome Region blieben. Die dortige Bevölkerung zahlte keine Steuern an die zentrale Regierung der Ming, sondern nur einheimische Steuern. Das Gebiet umfasste viele kleine Dörfer, die von Han-Chinesen bewohnt waren, während die Monguoren oft in Enklaven lebten, die ringsum von Chinesen umgeben waren. Daher konnten die Monguoren leicht von chinesischen Informanten überwacht und, wenn nötig, von der Ming-Armee erreicht werden. Rona-Tas erklärt, dass die Monguoren der Ming-Regierung als Grenzwächter gegen die Mongolen dienten. Doch Serruys stellt dies in Frage. Er weist darauf hin, dass die Ming-Armee mit ihren mongolischen Einheiten die Grenzen in Gansu beschützte, während die Monguoren für den Frieden in ihren eigenen Gebieten verantwortlich waren. Die Monguoren waren auch im Tauschhandel von Pferden gegen Tee zwischen Tibet und China tätig. Sie fungierten oft als Zwischenhändler für Waren, die zwischen China und Zentraltibet transportiert wurden.
Die Situation in Amdo unterschied sich also erheblich von derjenigen in Zentraltibet und Kham. In den letzteren beiden Gebieten gab es keine chinesischen Siedler oder mongolische Nachkommen. Daher gab es keine nicht-tibetischen Bevölkerungsgruppen, die auf die ein oder andere Weise mit Ming-China kooperiert haben könnten.
Die Uriyangkhai
1389 unterwarfen sich drei ost-mongolische Stämme, die zusammen als die Uriyangkhai bekannt waren, dem China der Ming-Dynastie. Sie hatten die Zivilkriege satt, die unter den zahlreichen mongolischen Stämmen seit dem Fall der Yuan-Dynastie ausgebrochen waren. Daher wandten sie sich an China, um größere Stabilität zu finden. Ihre Soldaten wurden zu Einheiten des Militärsystems der Ming-Dynastie, die in ihrem eigenen Territorium stationiert wurden – welches sich von der nordwestlichen Ecke der heutigen Mongolei bis in die nordwestliche Mandschurei erstreckte.
Henry Serruys („ Sino-Mongol Relations during the Ming“, Band 2: „The Tribute System and Diplomatic Missions, 1400 – 1600“) beschreibt, dass die Ming-Regierung die Uriyangkhai als Protektorat behandelte, das als Pufferzone außerhalb des eigentlichen Chinas diente. Sie mischte sich nicht in deren innere Angelegenheiten ein und begnügte sich damit, Handelsposten zu unterhalten. Da die Chinesen immer fürchteten, die Uriyangkhai könnten sich mit anderen Mongolen verbünden, blieben sie bei einer wohlwollenden Politik. Da es in den Gebieten der Uriyangkhai keine Han-chinesischen Siedler gab, erfreuten sie sich einer größeren Unabhängigkeit unter der Schirmherrschaft der Ming als die Monguoren.
Die Jurchen
Während der Yuan-Dynastie hatten die Mongolen zwar einige Militärgarnisonen in der Mandschurei unterhalten, doch sie hatten die einheimischen Jurchen sich größtenteils selbst regieren lassen. Anders als in Tibet förderten die Mongolen in der Mandschurei Landwirtschaft und Bergbau, um davon zu profitieren. Nach ihrem Sieg über die Mongolen fielen die Armeen der Ming nie in die Mandschurei ein; somit hatten sie dort nie die Vorherrschaft inne und trieben keine Steuern ein. Sie unterhielten vielmehr Handelsbeziehungen mit der Mandschurei, besonders um sich Pferde, Felle und Ginseng zu beschaffen.
Nach 1400 traf die Ming-Regierung eine militärisches Abmachung mit den Jurchen, die derjenigen mit den Uriyangkhai ähnelte. Sie betrachte die Gebiete der Jurchen und Uriyangkhai als gemeinsame territoriale Einheit, die von der Mongolei oder China völlig getrennt war.
Viele Jurchen nahmen Formen des koreanischen Buddhismus an. Morris Rossabi („The Jurchens in the Yüan and Ming“) berichtet, dass der Ming-Hof 1417 ein buddhistisches Meldeamt der Präfektur für die Mandschurei einrichtete, um größeren Einfluss auf die Jurchen zu gewinnen. Geleitet wurde das Amt von einem Jurchen-Mönch. Doch ebenso wie der bürokratische Apparat, den die Ming für Tibet geschaffen hatten, übte das Amt keine tatsächliche Funktion aus.
Der Kaiser Hongwu und die Gründung der Ming-Dynastie
1368 ersetzte in China die Ming-Dynastie die mongolische Yuan-Dynastie. Der Begründer der Ming, der Kaiser Hongwu, dessen Tempelname Ming Taizu lautete (Regierungszeit 1368 – 1399), war früher in seinem Leben einige Jahre lang buddhistischer Mönch gewesen. 1369 entsandte er eine Delegation nach Zentraltibet, doch diese wurde zurückgeschickt. Eine zweite Delegation unter der Leitung von Xu Yunde erreichte jedoch ihr Ziel und informierte die Tibeter, denen die Yuan-Dynastie Titel und Positionen verliehen hatte, dass die Ming-Dynastie diese bestätigte. Der Gesandte des Kaisers lud verschiedene große Lamas verschiedener Schulen an den kaiserlichen Hof von Nanjing ein, darunter auch den Vierten Karmapa, der jedoch die Einladung ablehnte.
Die tibetischen Lamas, die an den Hof der Ming eingeladen wurden, hatten nicht den politischen Status derjenigen Lamas, die früher an den mongolischen Hof gekommen waren. Titel wie „Tai-situ“ hatten während der Sakya-Hegemonie eine politische Autorität in Tibet beinhaltet. Nun wurden sie zu bloßen Titeln ohne politische Bedeutung. Das offensichtlichste Beispiel war der Schüler des Fünften Karmapas, Chökyi Gyaltsen (tib. Chos-kyi rgyal-mtshan, 1377 – 1448), der vom dritten Ming-Kaiser den Titel „Tai-situ“ erhielt und als der Erste Tai Situ Rinpoche bekannt wurde.
Tatsächlich legte Kaiser Hongwu den buddhistischen Mönchen in China Beschränkungen auf, um ihre politische Macht zu limitieren. Trotzdem interessierte sich der Begründer der Ming ernsthaft für den Buddhismus. Zwischen 1378 und 1382 sandte er den Han-chinesischen Mönch Zongluo nach Tibet, um bestimmte buddhistische Texte zu holen. Als 1382 die Kaiserin starb, schickte er buddhistische Mönche an die Höfe der verschiedenen Prinzen, um für sie buddhistische Sutras zu rezitieren. Hierzu gehörte der Han-chinesische Mönch Daoyan, den er zum Prinzen von Yan in das Gebiet von Daidu (Beijing) schickte. Dieses Gebiet wurde von dem Prinzen regiert, der später der Kaiser Yongle (tib. Yung-lo; Wade-Giles: Yung-lo), Ming Chengzu, wurde (Regierungszeit 1403-1424).
Kaiser Yongle und der Fünfte Karmapa
Henry Serruys („A Manuscript Version of the Legend of the Mongol Ancestry of the Yung-lo Kaiser“, in: „ Analytica Mongolica“) berichtet von der Legende, die besagt, dass Kaiser Yongle ein gebürtiger Mongole und nicht ein Han-Chinese war. Als der Begründer der Ming-Dynastie die Yuan-Hauptstadt Daidu eroberte, hatte er die schwangere Gemahlin des letzten Yuan-Kaisers zur Frau genommen. Ihr Sohn wurde Kaiser Yongle. Er gewann den kaiserlichen Thron, indem er den jungen Enkel und Nachfolger des Kaisers Hongwu, den Kaiser Jianwen, Ming Huizu (Regierungszeit 1399 – 1403), stürzte.
Kaiser Yongle war ein großer Förderer der chinesischen Gelehrten und des Buddhismus. Bald nach seiner Thronbesteigung im Jahr 1403 gab er die Zusammenstellung des Werkes „ Die Große Yongle-Enzyklopädie“ (chin. Yongle Dadien) in Auftrag. Sie wurde 1408 fertiggestellt. In mehr als 11.000 Bänden umfasste sie alle Wissensgebiete. Nur weniger als 400 Bände sind bis heute erhalten geblieben.
Ebenfalls im Jahr 1403 lud Kaiser Yongle den spirituellen Leiter der Pagmodru, Dragpa Gyaltsen (1385 – 1432), der später zum fünften Pagmodru-Premierminister (Regierungszeit 1409-1434) wurde, nach Nanjing ein. Dragpa Gyaltsen lehnte die Einladung ab. Daher lud der Kaiser stattdessen den Fünften Karmapa (tib. Kar-ma De-bzhin gshegs-pa, 1384-1415) ein. Bei seiner Ankunft im Jahr 1407 wurde der junge Karmapa mit den höchsten Ehren empfangen.
Gemäß der Tradition erhielt der erste Karmapa, als er Erleuchtung erlangte, von Dakinis (tib. mkha’-‘gro) – himmlischen Mädchen, die in etwa „spirituellen Engeln“ entsprechen – eine feinstoffliche Krone in Form eines schwarzen Hutes (tib. dbus-zhva nag-po). Von dem Hut wurde gesagt, er sei aus den Haaren von hunderttausend Dakinis gewoben. Der zweite Karmapa, Karma Pakshi, erklärte im Alter von drei Jahren, dass die schwarze Hut-Krone über seinem Kopf schwebte. So begann die erste Linie reinkarnierter Lamas (tib. sprul-sku, „Tulku“) in Tibet.
Der Dritte und der Vierte Karmapa gaben sich ebenfalls zu erkennen, indem sie erklärten, dass sich über ihrem Kopf eine schwarze Hut-Krone befand. Der Dritte Karmapa schenkte einem seiner wichtigsten Schüler, Dragpa Sengge – der später als der Erste Zhamar Rinpoche (tib. Zhva-dmar rTogs-ldan Grags-pa seng-ge, 1284 – 1349) bekannt wurde – als Symbol ihrer engen Verbindung eine rote Hut-Krone (tib. dbus-zhva dmar-po).
Kaiser Yongle nahm die feinstoffliche schwarze Hut-Krone über dem Kopf des Fünften Karmapas wahr und schenkte ihm eine materielle Nachbildung davon. Der Fünfte Karmapa führte daraufhin die „Zeremonie des schwarzen Hutes” ein, in der er während tiefer meditativer Konzentration darauf, dass er die menschliche Verkörperung von Avalokiteshvara (tib. sPyan-ras-gzigs), der Buddha-Gestalt des Mitgefühls, ist, diesen Hut aufsetzte.
Der Kaiser bat den Fünften Karmapa, buddhistische Zeremonien zu Ehren seiner verstorbenen Eltern abzuhalten. Laut Elliot Sperling („The 5th Karma-pa and Some Aspects of the Relationship between Tibet and the Early Ming“, in: „ Tibetan Studies in Honour of Hugh Richardson“) wollte Kaiser Yongle ein Bündnis mit dem Leiter der Karma Kagyü schmieden, das der Beziehung von Lama und Unterstützer glich, welche zwischen dem mongolischen Yuan-Kaiser und den Sakyapas bestanden hatte. Der Fünfte Karmapa ließ sich jedoch nicht darauf ein und verließ im darauffolgenden Jahr den Kaiserhof.
Analyse der Einladungen tibetischer Lamas durch die Ming-Kaiser
Die Ming-Kaiser luden tibetische Lamas nach China ein und diese entschieden frei, wie sie darauf reagieren wollten. Dies zeigt, dass die chinesisch-tibetischen Beziehungen zu dieser Zeit von gegenseitiger Unabhängigkeit charakterisiert waren.
Die Vorgehensweise der Ming, die sich entwickelte, bestand darin, jedem führenden Lama, der nach China kam, Titel zu verleihen und großzügige Geschenke zu geben, ganz gleich, welcher Schule er angehörte. Laut Turrell Wylie („Lama Tribute in the Ming Dynastie“, in: „Tibetan Studies in Honour of Hugh Richardson“) zielte diese Politik darauf ab, die tibetischen Lamas zu separieren, indem sie alle Geschenke erhielten und mit keinem eine besondere Beziehung von Lama und Unterstützer eingegangen wurde. Das Ziel war, die Tibeter von einer weiteren Allianz mit den Mongolen abzuhalten.
Eliot Sperling dagegen (“Did the Early Ming Kaiser Attempt to Implement a ‘ Divide and Rule’ Policy in Tibet?”) stellt Wylies Analyse in Frage. Laut Sperling war die religiöse Welt Tibets bereits vor der Gründung der Ming-Dynastie fragmentiert. Man kann nicht sagen, dass die Ming so viel Einfluss in Tibet hatten, dass sie dazu beitrugen, dass dieser Mangel an Einheit bestehen blieb. Das China der Ming-Dynastie war in Tibet weitgehend machtlos.
Als Beispiel wird angeführt: Zwei Jahre nach der Abreise des Fünften Karmapas wurde in Beijing eine tibetische Sprachschule gegründet um Diplomaten auszubilden. Kaiser Yongle hatte zu dieser Zeit die Hauptstadt der Ming von Nanjing nach Beijing verlegt. Doch die chinesischen Gesandten, die nach Tibet geschickt wurden, die sogenannten „Überbringer des Goldenen Dokuments“ (tib. gser-yig-pa), wurden dort ermordet. Der Fünfte Karmapa verhandelte mit den Chinesen und schließlich wurden keine chinesischen Truppen entsandt. Tatsächlich war Ming-China nie in der Lage, eine Militärexpedition jenseits der chinesisch-tibetischen Grenze schicken.
Kaiser Yongle und Tsongkhapa
Kaiser Yongle lud den Gründer der Gelug (tib. dGe-lugs)-Schule, Tsongkhapa (tib. rJe Tsong-kha-pa Blo-bzang grags-pa, 1357-1419), zwei Mal nach China ein. Tsongkhapa war 1372 aus seiner Heimat Amdo nach Zentraltibet gekommen. Zur Zeit des Kaiser Yongle hatte er bereits großes Ansehen erlangt. Der Kaiser schickte Houxian als seinen Gesandten – denselben Beamten, den er zuvor auch entsandt hatte, um den Fünften Karmapa einzuladen.
Siehe: Das Leben von Tsongkhapa.
Tsongkhapa lehnte die erste Einladung im Jahr 1409 ab, da er mit den Vorbereitungen für das erste Mönlam (tib. sMon-lam) – ein großes Gebetsfest in Lhasa – beschäftigt war. Er wurde dabei unterstützt von dem Pagmodru-Premierminister Dragpa Gyaltsen. Im selben Jahr gründete er auch die monastische Institution, die dann später zum ersten Kloster der Gelug-Schule, dem Kloster Ganden (tib. dGa’-ldan dgon-pa) wurde.
Siehe: Gelug-Klöster: Ganden.
Daher schickte Tsongkhapa als seinen Vertreter seinen Schüler Jamchen Chöje (tib. Byams-chen chos-rje Sha-kya ye-shes, 1354 – 1435) nach China.
Dieter Schuh („Inwiefern ist die Einladung des fünften Karmapa an den Kaiserhof als Fortsetzung der Tibet-Politik der mongolischen Khane zu verstehen?”, in: „ Altaica Collecta“) weist darauf hin, dass diese Einladung ein Jahr nach der Weigerung des Fünfte Karmapas erfolgte, der das Ansinnen von Kaiser Yongle, mit ihm eine Verbindung zwischen Lama und Unterstützer zu etablieren, abgelehnt hatte. Dieter Schuh vermutet, dass der Kaiser nun eine ähnliche Abmachung mit der aufsteigenden Lhasa-Faktion treffen wollte, die sich dann später zur Gelug-Schule entwickelte. Jamchen Chöje kehrte nach Lhasa zurück, ohne auf eine solche Abmachung einzugehen.
Kaiser Yongle bat darum, ihm ein handschriftliches Manuskript des Kangyurs zu schicken – möglicherweise, um auf diese Weise den gelehrten Tsongkhapa für sich einzunehmen. Der Kaiser finanzierte dann eine Blockdruckfassung, die 1410 in Beijing herausgegeben wurde und als der „ Yongle Kangyur“ bekannt ist.
1414 lud Kaiser Yongle Tsongkhapa ein zweites Mal nach China ein. Wieder lehnte dieser die Einladung ab und nochmals reiste Jamchen Chöje an den Hof der Ming. Jamchen Chöje wurde zum persönlichen Lehrer des Kaisers und erhielt zahlreiche Geschenke und Titel, die seine hohe Verehrung zum Ausdruck brachten. Er gründete das Kloster Huangsi (Gelber Tempel) in Beijing. Trotz dieser Beziehung von Lama und Unterstützer zwischen Jamchen Chöje und Kaiser Yongle kam es nie zu einem politischen Arrangement zwischen Ming-China und den Gelugpas.
Nach seiner Rückkehr aus China gründete Jamchen 1419 das Kloster Sera (tib. Se-ra dgon-pa). Ein anderer von Tsongkhapas Schülern, Jamyang Chöje (tib. ‘Jam-dbyangs chos-rje bKra-shis dpal-ldan, 1379 – 1449), hatte drei Jahre früher, 1416, das Kloster Drepung (tib. ‘Bras-spungs dgon-pa) gegründet. Zusammen mit dem Kloster Ganden waren dies die drei wichtigsten Klöster der Gelug-Schule. Sie alle befanden sich in der Nähe von Lhasa in der Provinz Ü.
Siehe: Gelug-Klöster Drepung.
Kaiser Yongle starb 1425. Auf ihn folgte der Kaiser Gungyan, Ming Renzong, der weniger als ein Jahr lang regierte. Ihm folgte Kaiser Xuandi, Ming Xuanzong (1425 – 1435) und danach Kaiser Zhengtong, Ming Yingzong, der zweimal den Kaiserthron der Ming innehatte: von 1436 bis 1450 und von 1457 bis 1465. Während seiner ersten Herrschaftszeit fanden in Tibet zahlreiche Veränderungen statt.
Der Aufstieg der Rinpung-Familie
Dragpa Gyaltsen starb 1432. Der darauf folgende Konflikt, der 1434 zwischen seinen Neffen um die Kontrolle von Sakya ausbrach, kennzeichnet den Anfang des Zusammenbruchs der Pagmodru-Hegemonie. Ab diesem Jahr endete in Zentraltibet die friedliche Zeit, die während der Herrschaft von Jangchub Gyaltsen begonnen hatte. Ihr folgte ein jahrhundertelang anhaltender Machtkampf zwischen der Pagmodru-Faktion in der Provinz Ü, die von den Gelugpas unterstützt wurde, und der Rinpung-Faktion in der Provinz Tsang, die von den Karma Kagyüpas unterstützt wurde.
Unter dem Pagmodru-Premierminister Dragpa Gyaltsen hatte Namka Gyaltsen (tib. Nam-mkha’ rgyal-mtshan) die Distrikte Rinpung und Sakya in der zentraltibetischen Provinz Tsang verwaltet. Wie es üblich war, nahm er den Familiennamen Rinpung (tib. Rin-spungs) an. 1435 eroberte die Rinpung-Familie unter der Leitung von Döndrub Dorje (tib. Don-grub rdo-rje) die Stadt Shigatse (tib. gZhis-ka-rtse), die ebenfalls in der Provinz Tsang liegt. Schließlich verbündete sich ein Großteil von Tsang mit der Rinpung-Familie.
Das Reich der mongolischen Oiraten und seine Handelsbeziehungen zu Ming-China
Im selben Jahr, 1435, wurden die Mongolen nach ihrer Fragmentierung infolge des Falls der Yuan-Dynastie noch einmal kurz vereinigt. Die Macht hatte sich von den östlichen Mongolen, die von der Linie Tschingis Khans abstammten, auf die westlichen Mongolen verlagert. Diese waren gemeinsam als die Oirat bekannt; sie hatten nie unter der Herrschaft des mongolischen Yuan-Reiches gestanden.
Die Oiraten bestanden aus einer Konföderation von vier Stämmen, von denen einige später eine wichtige Rolle in der Geschichte Tibets spielten. Es handelt sich um die Torguten (die später unter dem Namen Kalmücken bekannt wurden), die Choros (später als Dsungaren bekannt), die Dorboten und die Khoschuten (Qoshot). Ihr bedeutendster Anführer war Esen Tayisi (Regierungszeit 1439 – 1454) aus dem Stamm der Dorboten. Unter ihm erstreckte sich das Reich der Oiraten von Ostturkestan bis zur Mandschurei und von Sibirien bis zur großen Mauer.
Die Oiraten unternahmen fast jährlich Handelsmissionen nach China. Sie tauschten Pferde und Kamele für Tee und Seide ein. Die Chinesen nannten sie „Tributmissionen“, während die Oiraten sie als wirtschaftliche Unternehmungen ansahen. Einige davon wurden von buddhistischen Mönche geleitetet; dies weist darauf hin, dass der Buddhismus bei den Oiraten weiterhin eine wichtige Rolle spielte, wenn auch nicht so stark wie in der Yuan-Periode.
Die Handelsmissionen der Oiraten und die entsprechende Unterstützung, die sie den Chinesen abverlangten, während sie sich in China aufhielten, nahmen ein so großes Ausmaß an, dass die Ming-Herrscher 1442 versuchten, ihre Größe einzuschränken. Die Oiraten beugten sich diesem Ansinnen nicht und die Spannungen zwischen ihnen und den Chinesen nahmen zu.
Das Königreich Minyag in Kham und seine Handelsbeziehungen zu Ming-China
Als sich die Spannungen zwischen den mongolischen Oiraten und den Ming-Chinesen verschärften, fühlten sich die Bevölkerungsgruppen im nordwestlichen Grenzbereich zwischen den beiden Zivilisationen bedroht. Dieser Bereich erstreckte sich vom nordöstlichen Amdo bis zum südlichen Gansu, zu dem während der Ming-Dynastie auch Ningxia und das nördliche Shaanxi im Osten gehörten. Dies war das Gebiet, in dem der Tauschhandel von Pferden für Tee zwischen den tibetischen Regionen und China seinen Schwerpunkt hatte. In der Folgezeit kam es zu einer erheblichen Emigration aus diesem Gebiet. Von Amdo aus migrierten zahlreiche Tanguten, darunter auch ihr durch Erbfolge bestimmter König, nach Kham, während viele Chinesen in die Gebiete von Sechuan und Yünnan zogen, die im Osten an Kham angrenzten.
Ferner zogen auch viele Tibeter aus Zentraltibet in die Gegend von Kham, da der Handel zwischen Tibet und seinen südlichen Nachbaren – Nepal und das muslimisch regierte Indien – stark abnahm. Einer dieser Tibeter war Lodrö Tobden (tib. Blo-gros stobs-ldan) aus der mächtigen Gar-Familie, der sich in Derge (tib. sDe-dge) im nördlichen Kham ansiedelte. Auf ihn geht das Königshaus von Derge zurück.
Die Monguoren blieben hingegen im Gebiet von Amdo und lieferten der Ming-Regierung Informationen über die Aktivitäten der Oiraten. Serruys („The Mongolen of Kansu during the Ming“) berichtet, dass zu jener Zeit zahlreiche Mongolen in die nordöstlichen Gebiete von Amdo zogen. Vermutlich handelte es sich um Oiraten.
Die tangutischen Immigranten gründeten in Kham ihr eigenes tibetisiertes Königreich, dass den Tibetern als „Minyag“ (tib. Mi-nyag) bekannt ist. An der Grenze zwischen China und Minyag entstanden Handelsposten; und bald verlagerte sich das Zentrum des Handels zwischen Tibet und China, in dem Pferde gegen Tee getauscht wurden, von Amdo nach Kham. Während der ersten Herrschaft von Kaiser Zhengtong wurden acht Handelsmissionen aus dieser Grenzregion an den Kaiserhof von Beijing geschickt. Auch diese waren belastend für die chinesische Wirtschaft.
Bei den Tanguten war die Linie der Karmapas äußerst beliebt, seitdem der Erste Karmapa und viele darauffolgende Karmapas in Kham geboren wurden. Während seiner ersten Herrschaftszeit lud Kaiser Zhentong den Sechsten Karmapa (tib. Kar-ma-pa mThong-ba don-ldan, 1416 – 1453) an seinen Hof ein, doch dieser lehnte ab. Möglicherweise suchte der Ming-Kaiser weiterhin nach einem tibetischen politischen Verbündeten.
Der Sieg der Oiraten über Ming-China und dessen Auswirkung auf die chinesisch-tibetischen Beziehungen
1450 griffen die Oiraten unter Leitung von Esen Tayisi China an. Die Kriegsursache war, dass sich die Oiraten durch unfaire Handelsabkommen benachteiligt fühlten. Kaiser Zhentong verließ die Hauptstadt, um gegen die Oiraten zu kämpfen. Er überließ den Kaiserthron vorübergehend seinem jüngeren Bruder, der als Kaiser Jingde, Ming Daizong (1450 – 1457), herrschte. Die Ming-Truppen wurden jedoch vernichtend geschlagen und Kaiser Zhentong wurde als Geisel genommen. Esen Tayisi nahm den Titel „Esen Khan“ an. Da die Wirtschaft der Ming schwer angeschlagen war, wurden die tibetischen Handelsmissionen nach China 1453 durch kaiserlichen Erlass eingeschränkt. Als China kein Lösegeld zahlte, ließ Esen Khan den Zhentong frei, doch wurde dieser anschließend von seinem Bruder in Gefangenschaft genommen.
Esen Khan verlor bald an Macht und wurde 1454 ermordet. Darauf brach der Zusammenschluss der Oiraten auseinander. Kaiser Zhentong gelang derweil ein Putsch, durch den er sich den Kaiserthron der Ming zurückeroberte. Während seiner zweiten Herrschaftszeit wendete sich Kaiser Zhentong gegen den Buddhismus.
Der nächste Ming-Kaiser, Kaiser Chenghua, Ming Xianzong (Regierungszeit 1465 – 1 487), nahm den Brauch wieder auf, mit tibetischen Lamas Geschenke auszutauschen. Albert Chan („ The Glory and Fall of the Ming Dynastie“) berichtet, dass der Kaiser zahlreiche Mönche aus Tibet und der Mongolei einlud. Während seiner Herrschaft befanden sich Tausende von tibetischen Mönchen in der Hauptstadt der Ming. Sie rezitierten am Hof Gebete, wurden mit allen Ehren behandelt und in Sänften überall hin befördert. Sogar Regierungsbeamte mussten ihnen den Weg freigeben. Sie erhielten auch viel Land und Geld, um Tempel und Klöster zu bauen. Laut Chan waren die verschwenderischen Ausgaben des Kaiserhofes für buddhistische und später taoistische Rituale einer der Hauptgründe für den letztendlichen Fall der Ming-Dynastie.
Kaiser Chenghua tauschte auch Geschenke mit dem Siebten Karmapa (tib. Kar-ma Chos-grags rgya-mtsho, 1454 – 1506) aus, aber er lud ihn nie an seinen Hof ein. Der Siebte Karmapa wurde jedoch an den Hof der Minyag in Kham eingeladen, wo er von 1467 bis 1471blieb und in hohen Ehren gehalten wurde.
Der Vierte Shamarpa und der Einfall der Rinpung nach Ü
Der Vierte Shamar Rinpoche (tib. Zhva-dmar Chos-kyi grags-pa ye-she, 1453 – 1526) war ein Zeitgenosse des Siebten Karmapas. Er diente als oberster Ratgeber für den Rinpung-Prinzen. 1479 gründete der Shamarpa mit Unterstützung von Dönyö Dorje (tib. Don-yod rdo-rje, 1462 – 1512) aus der Rinpung-Familie das Kloster Yangpachen (tib. Yangs-pa-can dgon-pa). Dieses Kloster, das zum Sitz der Shamar-Linie wurde, befand sich nördlich vom Sitz der Karmapas, dem Tsurpu-Kloster außerhalb von Lhasa.
Lhasa und Tsurpu liegen in der Provinz Ü, in der auch Pagmodru gelegen ist. Obwohl der Vierte Shamar Rinpoche in Tsang geboren wurde und mit der dortigen Rinpung-Faktion verbündet war, wollte er auch in Ü seine Stellung festigen. Die Gelugpas hatten bereits in Tsang Fuß gefasst, als Tsongkhapas Schüler Gyalwa Gendun Drub (tib. rGyal-ba Ge-’dun grub, 1391-1474), der nach seinem Tod der Erste Dalai Lama genannt wurde, dort im Jahr 1447 das Kloster Tashilhunpo (tib. bKra-shis lhun-po dgon-pa) gegründet hatte. Tashilhunpo war am Rande von Shigatse erbaut worden. Die Stadt unterstand seit 1435 der Gerichtsbarkeit der Rinpung-Familie.
Dönyö Dorje und der Vierte Shamarpa wollten dann auch in Lhasa ein neues Kloster für den Karmapa finanzieren. Dies stand im Einklang mit den Wünschen des Siebten Karmapas. Der Gelug-Richter von Lhasa verweigerte jedoch die Baugenehmigung. Die Bauarbeiten für das Kloster begannen stattdessen außerhalb von Lhasa, aber die Gelug-Mönche aus den Klöstern Sera und Drepung zerstörten das errichtete Kloster.
Seit der Einführung des jährlichen Mönlam-Gebetsfestes in Lhasa übten die Gelugpas in Lhasa die Rechtsprechung aus. Die Faktion der Karma Kagyü wollte offenbar, insbesondere mit der politischen Unterstützung des Vierten Shamarpa, den Gelugpas den Platz in Lhasa streitig machen und ihren Machtbereich in Ü durch den Bau weiterer Klöster in der Stadt und ihrer Umgebung ausdehnen.
1480 führte Dönyö Dorje einen Vergeltungsangriff gegen Ü an. Er obsiegte in einigen kleinen Distrikten, bevor er nach Nedong weiterzog, doch sein Angriff auf Lhasa im Jahr 1481 schlug fehl. Da die Rinpung-Familie nun in Ü und Tsang herrschte, blieb der Pagmodru-Familie keine wirkliche Macht mehr, auch wenn sie weiterhin als Repräsentationsfiguren in Nedong verblieben. Die Pagmodru unterstützten aber die Gelugpas weiter.
1485 griff die Streitmacht der Rinpung den Distrikt Gyantse (tib. rGyang-rtse) in Tsang an, um ihre Macht über die Provinz Tsang zu vervollständigen; sie wurde jedoch geschlagen. 1488 versuchte sie es erneut, diesmal erfolgreich. 1492 stießen Dönyö Dorjes Truppen erneut nach Ü vor, wo sie drei Distrikte eroberten. 1498 nahm er Lhasa ein und blieb dort bis 1517 an der Macht. In dieser Zeit, von 1498 bis 1517, war es aufgrund des Vierten Shamarpa und unter der Leitung von Dönyö Dorje den Mönchen von Drepung und Sera untersagt, das Mönlam-Gebetsfest in Lhasa zu feiern.
1517 zog sich die Rinpung-Faktion aus Lhasa zurück, da die Pagmodru-Faktion eine Zeit lang Unterstützung von Drigung Kagyüpas erhielt. So konnten die Gelug-Mönche die Feier des Mönlam-Gebetsfestes wiederaufnehmen.
Dayan Khan und die Sorge Ming-Chinas hinsichtlich der Bedrohung durch die Mongolen im Norden
In der Mongolei hatten inzwischen, nach dem Auseinanderbrechen der Oiraten-Konföderation im Jahr 1454, die östlichen Mongolen Markorgis, einen Nachkommen von Tschingis Khan, zum Khan gewählt. Seinem Neffen Dayan Khan (1464 – 1524) gelang es, nachdem er Khan geworden war, alle sechs ostmongolischen Stämme zu vereinen. Diese sechs Stämme werden oft als die „ sechs Myriarchien von Dayan Khan” bezeichnet. Sie umfassten die drei Stämme des rechten Flügels im Westen (die Ordos, die Yongshiyebu und die Tumed) und die drei Stämme des linken Flügels im Osten (die Chakhar, Khalkha und Uriyangkhai). Die Uriyangkhai hatten zuvor unabhängige Einheiten in der Armee der Ming gebildet und waren in der nordwestlichen Mandschurei stationiert gewesen.
Etwa zur gleichen Zeit, als Dayan Großkhan der Ostmongolen wurde, bestieg der nächste Ming-Herrscher den Thron. Es handelt sich um Kaiser Hengzhi, Ming Laozong (Regierungszeit 1488-1506). Er schenkte den Ereignissen in Tibet keine Aufmerksamkeit, da er vollauf mit der mongolischen Bedrohung durch Dayan Khan im Norden von China beschäftigt war. Dayan Khan hatte einen Gesandten nach China geschickt um Handelsbeziehungen aufzunehmen, doch der Ming-Kaiser ließ den Gesandten töten. Daraufhin schickte Dayan Khan Militärexpeditionen nach China.
Kaiser Zhengdes Versuche, den Achten Karmapa für sich zu gewinnen
Der nächste Ming-Kaiser, Kaiser Zhengde, Ming Wuzong (Regierungszeit 1506 – 1 521), bestieg den Thron in demselben Jahr, in dem in Kham der Achte Karmapa (tib. Kar-ma Mi-bskyod rdo-rje, 1506 – 1554) geboren wurde. Der Kaiser gab sich selbst den buddhistischen Titel „Dharmaraja“ (Dharma-König) und schickte eine Gesandtschaft nach Tibet, um einen großen Lama an seinen Hof einzuladen. Die Gesandtschaft wurde auf dem Weg angegriffen und ausgeraubt und erreichte Tibet nie.
Kaiser Zhende betrachtete sich selbst in gewisser Weise als eine zweite Inkarnation des Siebten Karmapa, so als sei der eine Emanation von dessen Sprache und der andere eine Emanation von dessen Geist. Er nahm den tibetischen Namen Rinchen Pelden (tib. Rin-chen dpal-ldan) an und schickte dem zehnjährigen Achten Karmapa 1516 einen Einladungsbrief. Darin erklärte er, dass sie eine tiefe karmische Verbindung miteinander hätten. Der junge Karmapa lehnte die Einladung ab und zog sich aus Kham nach Zentraltibet zurück.
Albert Chan berichtet, dass Kaiser Zhengde trotzdem eine große Anzahl tibetischer Mönche an seinem Hof hatte und sich oft auch als Mönch kleidete. Er studierte sogar buddhistische Texte auf Tibetisch. Doch wie Kaiser Hengzhi mischte sich auch Kaiser Zhende nicht in die Angelegenheiten in Zentraltibet ein.
Unter dem nächsten Ming-Herrscher, dem Kaiser Jiaqing, Ming Shizong (Regierungszeit 1522 – 1566) reagierte entgegengesetzt zu dem buddhistischen Überschwang der beiden Vorgänger. Dieser Kaiser bevorzugte den Taoismus; er degradierte nicht nur die tibetischen Lamas, sondern unterdrückte auch den Buddhismus. Seitdem kamen tibetische Lamas nur noch selten nach China, erhielten aber weiterhin eine gewisse Verbindung zum Reich der Mitte aufrecht.
Die Migration mongolischer Stämme nach Amdo und die Gründung der Tsangpa-Hegemonie
Nach dem Tod von Dayan Khan im Jahr 1524 brach das Zerwürfnis zwischen den Stämmen des linken und des rechten Flügels wieder auf. Zwei der westmongolischen Stämme sollten später eine Rolle in Ereignissen spielen, die in Tibet ihren Lauf nahmen. Die Tumed-Mongolen beherrschten die Region Ordos in dem Gebiet, das später die „Innere Mongolei“ wurde. Nach und nach dehnten sie ihren Herrschaftsbereich in den nordöstlichen Teil von Amdo aus, da die dortigen tibetischen Herrscher mit Streitigkeiten untereinander beschäftigt waren.
In Zentraltibet lag die Macht immer noch in den Händen der Rinpung-Herrscher. 1548 ernannte der Rinpung-Premierminister Ngawang Namgyal (tib. sDe-srid Ngag-dbang rnam-rgyal) in Shigatse einen Mann namens Zhingshag Tseten Dorje (tib. Zhing-shag Tshe-brtan rdo-rje) zum Gouverneur von Tsang. Ab 1557 rebellierte Tseten Dorje gegen die Rinpung. 1565 stürzte er sie und ernannte sich selbst zum König von Tsang. Er eroberte schrittweise zuerst den größten Teil von Tsang und dann auch von Ü. So begann die Tsang-Hegemonie. So wie der Vierte Shamarpa die Rinpung-Herrscher unterstützt hatte, wurde nun der Fünfte Shamarpa (tib. Zhva-dmar dKon-mchog yan-lag, 1525 – 1583) zum Hauptberater des Königs von Tsang.