Ich bin gebeten worden, heute Abend über das Thema Sektierertum und Nicht-Sektierertum innerhalb des Buddhismus selbst zu sprechen. Das ist eine ziemlich schwierige Angelegenheit, wenn man beginnt, es tiefer gehend zu betrachten, nicht nur oberflächlich in dem Sinne, dass alle Lehren des Buddha großartig sind und dass der bloße Gedanke, eine sei besser als die anderen, Sektierertum sei. Wenn wir es nicht nur auf dieser Ebene betrachten, sondern, anstatt das Thema auf so eine oberflächliche Art zu behandeln, mehr in die Tiefe gehen, sehen wir, dass es sich eigentlich um eine sehr komplizierte Angelegenheit handelt.
Ansätze in Bezug auf vergleichende Religionswissenschaften
In einem früheren Vortrag haben wir hier Sektierertum im interreligiösen Sinne untersucht, insbesondere sektiererische Einstellungen zwischen Buddhismus und Islam. Heute betrifft das Thema all die verschiedenen Formen von Buddhismus innerhalb des Buddhismus selbst, und im Speziellen die verschiedenen Traditionen innerhalb des Tibetischen Buddhismus. Um zu verstehen, was Sektierertum ist, lassen Sie mich noch einmal die drei Herangehensweisen rekapitulieren, die ich in unserer Diskussion über Buddhismus und Islam eingeführt habe. Wir hatten folgende drei Ansätze in Bezug auf die vergleichenden Religionswissenschaften genannt: den exklusivistischen, den inklusivistischen und den pluralistischen Ansatz.
Der exklusivistische Ansatz
Der exklusivistische Ansatz ist, dass nur eine Religion – in unserem Fall: nur eine buddhistische Tradition – den wahren Weg zu Befreiung und Erleuchtung aufweist und alle anderen falsch sind. Das kann die Form annehmen, dass man abstreitet, dass einige Lehren tatsächlich Lehren des Buddha sind. Dies finden wir zum Beispiel unter einigen Anhängern des Hinayana, die sagen, dass das Mahayana keine Lehre des Buddha sei. Oder es könnte sich um die Einstellung handeln, der wir unter einigen Anhängern der Sarma-Traditionen – der Traditionen der neuen Übersetzungsperiode in Tibet: Gelug, Kagyü und Sakya – gegenüber den Termas (tib. gter-ma) begegnen, jenen verborgenen Schatztexten, die man hauptsächlich in der Nyingma-Tradition findet (einige solcher Texte findet man auch in der Kagyü-Tradition).
Eine weitere Form, die dieser exklusivistische Ansatz annimmt, ist die Einstellung, dass andere buddhistische Traditionen zwar dieselben Themen behandeln mögen wie wir, ihre Standpunkte aber falsch sind: Sie führen nicht tatsächlich zu Befreiung und Erleuchtung.
Das also ist der exklusivistische Ansatz, und wir würden ihn natürlich als sektiererischen Ansatz bezeichnen.
Der inklusivistische Ansatz
Der zweite Ansatz, der inklusivistische, ist die Einstellung, dass es viele Wege zu Befreiung und Erleuchtung gibt, Buddha sie alle lehrte, einer jedoch überlegen ist; mit anderen Worten: Unserer ist der beste. Auch dieser Ansatz zählt, wie der exklusivistische, zu der sektiererischen Einstellung.
Der pluralistische Ansatz
Gemäß dem Pluralismus, dem dritten Ansatz, gibt es viele Wege zu Befreiung und Erleuchtung und keiner davon gilt als überlegen. Der pluralistische Ansatz stellt also einfach die verschiedenen Standpunkte unterschiedlicher buddhistischer Traditionen bezüglich gemeinsamer Themen dar, nimmt jedoch unter ihnen keine Rangordnung vor. Und dies könnte natürlich entweder im Sinne einer, sagen wir, akademischen Herangehensweise, einer wissenschaftlichen Herangehensweise stattfinden, indem die verschiedenen Formen von Buddhismus lediglich präsentiert werden, oder in der Herangehensweise eines Praktizierenden. Und innerhalb der Letzteren kann es sich um einen Praktizierenden handeln, der nur eine einzige Tradition praktiziert, oder um einen, der mehrere Traditionen praktiziert. Jedoch beschäftigt sich dieser Ansatz im Grunde nur mit korrekter Information über die verschiedenen buddhistischen Traditionen, und das ist es, was wir traditionell einen nicht sektiererischen Ansatz nennen.
Formen von Sektierertum
Aber die Frage ist eigentlich, wie diese Unterscheidungen auf den Kontext buddhistischer Traditionen anzuwenden sind. Ich denke, dass wir hier zwischen zwei Formen von Sektierertum unterscheiden müssen. Die eine ist eine Art von Sektierertum, die den Aussagen einer buddhistischen Tradition selbst innewohnt – mit anderen Worten, hier lautet die Frage: Gibt es in verschiedenen buddhistischen Traditionen sektiererische Aspekte innerhalb der Lehren, die Teil jener Traditionen sind? Die andere Form ist das Sektierertum eines Anhängers einer bestimmten buddhistischen Tradition, ungeachtet dessen, was diese Tradition eigentlich besagt.
Lassen Sie uns zuerst die innewohnende Form betrachten. Dazu gibt es viele Aspekte.
Gibt es innewohnendes Sektierertum in Buddhas Lehren über die drei gereinigten Zustände?
Buddha selbst reihte drei Zustände von Erleuchtung auf. Der Sanskrit-Begriff lautet bodhi (tib. byang-chub). Bodhi ist ein gereinigter Zustand, und dies kann der Zustand eines Shravaka (tib. nyan-thos)-Arhats sein, der eines Pratyekabuddha (tib. rang-rgyal)-Arhats oder der eines Bodhisattva (tib. byang-chub sems-dpa’)-Arhats (welch letzterer gleichbedeutend mit einem Buddha ist). Ein Arhat (tib. dgra-bcom-pa) ist ein befreites Wesen. Die Shravakas sind im Grunde diejenigen, die den Lehren lauschen, wenn der Buddha anwesend ist oder die Lehren Buddhas vorhanden sind, und dann dementsprechend praktizieren und Befreiung anstreben. Pratyekabuddhas sind diejenigen, die während der dunklen Zeitalter leben, die zwischen dem Auftreten von Buddhas in der Welt liegen; sie praktizieren instinktiv auf der Grundlage von Anlagen, die aus früheren Leben stammen, und auch sie streben nach Befreiung für sich selbst. Und die Bodhisattvas schließlich sind diejenigen, die auf Befreiung und Erleuchtung aller hinarbeiten.
Im Zusammenhang mit diesen drei Bodhis sprach Buddha selbst von diesen drei unterschiedlichen Zielen und davon, dass sie mit verschiedenen tiefgreifenden Erkenntnissen und einem unterschiedlichen Ausmaß an positiver Kraft (tib. bsod-nams, Skt. punya) – auch Verdienst genannt – einhergehen, das erforderlich ist, um das jeweilige Ziel zu erreichen, und das über einen unterschiedlichen Zeitraum aufgebaut wird, seien es drei Leben oder sieben Leben oder drei zahllose Äonen bzw. zigtausend Äonen usw. Buddha, und ebenso die indischen Lehrer, sprachen auch von einem Unterschied betreffend des Ausmaßes dessen, was diejenigen, die das jeweilige Ziel erreichen, dadurch in ihrem geistigen Kontinuum beendet haben (bzw. was sie dadurch für immer losgeworden sind). Und selbst innerhalb des Strebens nach einem dieser Ziele, sei es Befreiung oder Erleuchtung, lehrte Buddha unterschiedliche Systeme mit wirksamen Mitteln für unterschiedliche Personen, um diese verschiedenen Ziele zu erreichen.
Ich meine also, dass wir auf konventioneller Ebene sagen müssen, es gibt Unterschiede und es gibt diese verschiedenen Ziele, und eines ist vollständiger als ein anderes. Das ist keine sektiererische Angelegenheit. In keiner der buddhistischen Schulen wird bestritten, dass Buddha Methoden lehrte, die zu diesen drei Zielen führen. Aber manchmal kommt es vor, dass darüber hinaus ein Werturteil gefällt wird, nämlich dass einer dieser gereinigten Zustände – zum Beispiel Erleuchtung – der beste sei, und dass es egoistisch sei, bloß eigene Befreiung anzustreben. Das kommt vor, und dann beginnt es in eine etwas sektiererische Richtung zu gehen.
Diese Einstellung taucht oft in verschiedenen Fassungen des Lam-Rim (Stufenwegs) auf, wo es drei Stufen spiritueller Ziele mit drei verschiedenen Ebenen von Motivation (tib. kun-slong) dafür gibt, sie zu erreichen: das Ziel einer höheren Wiedergeburt, das der Befreiung und das der Erleuchtung. Zwar kann es sehr positive Motivationen geben, die uns dazu bewegen, eines dieser drei spirituellen Ziele zu erreichen, welche hinsichtlich ihrer Vollständigkeit anhand dessen eingestuft werden, was man jeweils von seinem geistigen Kontinuum beseitigt und was man erreicht hat. Diese Motivationen, das zu erreichen, können positiv sein – die Motivation für das Erreichen von Befreiung z.B. ist Entsagung (das ist die Entschlossenheit, von allen Arten des Leidens freizukommen) -, aber es kann auch einen negativen Aspekt geben, der hinzugefügt wird, etwa dass dies selbstsüchtig und eigennützig sei. Am Ziel, das man schließlich erreicht, ist das offensichtlich nicht der Fall, denn wenn man Befreiung erlangt hat, hat man das Greifen nach einem wahrhaft existenten Selbst beseitigt, aber auf dem Weg dahin könnte das Streben durch Eigennutz motiviert sein, indem wir bloß an uns selbst denken. Es ist also gut möglich, dass man im Rahmen der Tatsache, dass Buddha diese drei Ziele lehrte und dass sie in gewisser Weise Stufen darstellen, dem zusätzlich eine ziemlich sektiererische Sicht hinzufügt.
Im Zusammenhang mit diesen drei Zielen, diesen drei gereinigten Zuständen, gibt es auch ausgedehnte Diskussionen darüber, ob sie letztliche, endgültige Ziele – drei verschiedene letztliche, endgültige Ziele – sind, oder ob es nur ein endgültiges Ziel gibt. Wenn wir z.B. sagen, dass es drei letztliche, endgültige Ziele gibt – und derartige Passagen findet man in einigen von Buddhas Sutras -, dann besagt das, dass wir, sobald wir die Befreiung eines Arhats erlangt haben, nicht weiter fortschreiten können, um ein Buddha zu werden. Das ist nicht notwendigerweise ein exklusivistischer Gesichtspunkt, denn im Shravaka- und Pratyekabuddha-Fahrzeug besteht nicht der Anspruch, dass es zur Erleuchtung führt, wenn man ihm folgt. Nur wenn dort der Anspruch erhoben würde, dass man Erleuchtung erlangen kann, indem man den Shravaka-Lehren folgt, und man dann sagt: „ Aber ihr könnt diese Erleuchtung nicht erlangen“, dann könnte man das sektiererisch nennen. Aber es wird gar nicht der Anspruch geltend gemacht, dass diese Lehren zur Erleuchtung führen, sondern nur, dass sie zur Befreiung führen.
Es gibt also die Darstellung dieser drei Ziele als drei endgültige Ziele. Es gibt jedoch auch einen inklusivistischen Standpunkt, nämlich, dass jeder Erleuchtung erlangen kann, selbst wenn jemand Arhat wird, obwohl diese nicht notwendigerweise Buddha werden. Hier kann es also sein, dass man in die allgemeine Richtung der Befreiung voranschreitet, aber bevor man sie erreicht, sich der Erleuchtung zuwendet und dann darauf hinarbeitet. Das ist eine Art des Vorgehens nach dem Lam-Rim; man legt nicht den ganzen Weg zum Erreichen der Arhatschaft zurück, bevor man zum Bodhisattva wird. Und es gibt auch die Aussage, dass man, nachdem man Befreiung als Arhat erlangt hat, auch an diesem Punkt noch zum Ziel der Erleuchtung überwechseln und darauf hinarbeiten kann.
Man findet also mehrere Betrachtungsweisen dieser drei gereinigten Zustände (dieser drei verschiedenen Ebenen von Arhats) und der drei spirituellen Ziele mit den drei Ebenen von Motivation. Einige dieser Betrachtungsweisen sind sektiererisch, andere nicht, jedoch lediglich auf der Tatsache beruhend, dass Buddha diese drei verschiedenen Ziele lehrte. – Sie beginnen jetzt einen Eindruck davon zu bekommen, dass dieses Thema ziemlich komplex und verwirrend sein kann. Ist es so, dass dem System ein Sektierertum schon allein dadurch innewohnt, dass es drei spirituelle Ziele beinhaltet? Oder ist es unsere Einstellung diesen gegenüber, oder eine traditionelle Einstellung diesen gegenüber, die diese Tatsache überlagert? Und wurde sie durch eine Tradition überlagert, die dann etwas behauptet – sodass es also dieser Tradition innewohnt -, die z.B. besagt, dass es eine eigennützige selbstsüchtige Motivation sei, auf Befreiung hinzuarbeiten? Das ist, objektiv betrachtet, ziemlich sektiererisch, denke ich. Oder ist lediglich die Darstellung vorhanden, dass es diese drei Ziele gibt, und nicht notwendigerweise das Urteil, dass eines dieser Ziele egoistisch sei? Man könnte natürlich geschickter vorgehen und sagen, dass die Gefahr besteht, dass es egoistisch und eigennützig sei, aber das ist etwas ganz anderes als zu sagen, dass es notwendigerweise egoistisch sei. Wir sehen hier den Unterschied zwischen einer sektiererischen und einer nicht sektiererischen Art von Ansatz.
Lassen Sie uns nun ein wenig betrachten, wie diese verschiedenen Schulen entstanden, die sich nach dem Buddha entwickelten, und was ihre Standpunkte waren.
Sektierertum in den achtzehn Hinayana-Schulen
In den frühen Stadien finden wir diejenigen Traditionen, die als die achtzehn Schulen des Hinayana bekannt sind. (Hinayana ist zwar ein abwertender Begriff, der vom Mahayana geprägt wurde - es ist also ein ziemlich sektiererischer Begriff -, aber es gibt keinen anderen zweckdienlichen Ausdruck, den man für diese achtzehn Schulen verwenden könnte, die nicht dem Mahayana angehören.)
Wie unterscheiden sich diese? Sie unterscheiden sich hauptsächlich in ihrer Interpretation des Vinaya – das ist die Interpretation der Gelübde von Mönchen und Nonnen. Es gibt Auseinandersetzungen unter ihnen, was der Buddha tatsächlich mit diesem oder jenem Gelübde meinte. Sie sagen also eigentlich nicht, dass eines das beste sei oder dass Buddha dieses Gelübde nicht lehrte oder so etwas; die Auseinandersetzung verläuft auf einer recht anderen Ebene.
Sie haben auch verschiedene Ansichten in Bezug darauf, was ein Arhat tatsächlich erreicht und was ein Buddha tatsächlich erreicht. Sie akzeptieren, dass sich dies auf verschiedene Ebenen bezieht, aber wodurch unterscheiden sie sich – wodurch unterscheidet sich ein Arhat von einem Buddha? Auch darüber gibt es Dispute. Das ist eigentlich keine sektiererische Angelegenheit, es ist mehr eine Frage der Interpretation. Alle akzeptieren, dass Buddhas den Arhats überlegen sind und dass Buddhas mehr Fähigkeiten und ein größeres Verständnis besitzen als Arhats.
Allein dass es diese achtzehn Schulen mit unterschiedlichen Aussagen gibt, heißt noch nicht, dass ihnen notwendigerweise eine sektiererische Einstellung oder Sichtweise innewohnt.
Diese achtzehn Schulen breiteten sich aus und wurden in verschiedenen Teilen Indiens vorherrschend. In einer Region Indiens herrschte also das Theravada vor, in einer anderen das Sarvastivada, usw. Einige dieser Schulen breiteten sich in andere Teile Asiens aus, nach Zentralasien und bis hin nach China, Japan, Korea und Vietnam. Die ganze Bewegung drang bis hinunter nach Sri Lanka und nach Südostasien, und weiter … Nun, so breiteten sie sich aus. Diese frühen Schulen drangen nicht bis nach Tibet vor.
Im Laufe der Geschichte entwickelten sie verschiedene Abhidharmas; Abhidharmas sind die Lehren über allgemeine Themen des Wissens. Daher gibt es bei ihnen leicht unterschiedliche Aufzählungen der Geistesfaktoren, leicht unterschiedliche Beschreibungen vieler verschiedener Aspekte des Pfades. Sie entwickelten auch leicht unterschiedliche Versionen von einigen Sutras. Es ist schwer zu sagen, warum sie sich so entwickelten. Denken Sie daran, dass in dieser frühen Periode nichts aufgezeichnet worden war, so dass es sein kann, dass verschiedene Menschen etwas unterschiedlich in Erinnerung hatten. Es hätte sein können, dass einige selbst etwas schrieben … ich meine, es gibt eine Sichtweise, die besagt, dass Abhidharma nicht tatsächlich vom Buddha gelehrt wurde, sondern von verschiedenen Arhats, die nachfolgten, so dass es verschiedene Ansichten in dem Sinne gab, was sie dachten, oder dass verschiedene von ihnen unterschiedliche Dinge lehrten, usw.
Allein dass es diese Unterschiede gibt, heißt nicht notwendigerweise, dass es hier Sektierertum gibt. Ich denke, Sektierertum, unter dem Gesichtspunkt der Definitionen bzw. Erklärungen von Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus, hat mehr damit zu tun, dass jene Ziele, Befreiung und Erleuchtung, erreicht werden. Denn Unterschiede wird es natürlich immer geben, wo immer es zwei oder mehr Systeme gibt.
Mit der Zeit entwickelten dann diese achtzehn verschiedenen Traditionen unterschiedliche Sichtweisen z.B. in Bezug auf die zwei Wahrheiten. Doch sind in diesen Hinayana-Schulen die zwei Wahrheiten stets eine Art und Weise der Einteilung aller Phänomene. Eine Schule, sagen wir, die Vaibhashikas innerhalb des Sarvastivada, unterteilt alle Phänomene in zwei Arten wahrer Phänomene: konventionell und endgültig (oder zutiefst) wahre Phänomene. Und die Art und Weise, wie die Sautrantikas diese Unterteilung vornimmt, unterscheidet sich davon. Aber beide versichern, dass die Allwissenheit eines Buddha beide Arten von Phänomenen beinhaltet. Auch hier handelt es sich also wiederum eigentlich nicht um Sektierertum im Hinblick darauf, wie sie die zwei Wahrheiten bestätigen.
Aber zum größten Teil behielten diese achtzehn Schulen dieselbe Ansicht in Bezug auf die Abwesenheit einer wahrhaften Identität oder wahren Seele von Personen bei, die so genannte Abwesenheit eines Selbst der Person. Sie alle bekunden dasselbe, mit Ausnahme einer sehr sehr kleinen Untergruppe einer dieser Schulen. Und sie alle sagen, dass man auf diese Weise Befreiung und Erleuchtung erreicht – dass die tief greifende Erkenntnis dessen alles ist, was man braucht. Für gewöhnlich sagen sie, dass ein Buddha nur viel mehr und über einen längeren Zeitraum positive Kraft bzw. Verdienst aufbauen muss als ein Arhat. Auch bestreiten diese achtzehn Schulen eigentlich nicht die Methoden, die zu diesen Zielen führen, aber zweifellos gab es auf individueller Ebene eine Bevorzugung – dieses „Meine Schule ist besser als andere“. Und es kam vor, dass sich aufgrund der Differenzen, die sie hatten, insbesondere bezüglich des Vinaya, der Ordensdisziplin, die Tradition einer Schule von einer anderen abspaltete. Und nach dem Zweiten Konzil trennte sich die Gruppe der Mahasangikas von den Theravadins.
Nun gut, soviel also zu diesen achtzehn Hinayana-Schulen. Wie wir sehen, gibt es unter ihnen nicht viel innewohnendes Sektierertum, auch wenn natürlich individuelles Sektierertum überlagernd hinzukommen konnte.
Sektierertum in dem Mahayana-Schulen
Innerhalb der Mahayana-Schulen beginnt es nun etwas komplizierter zu werden. Innerhalb der verschiedenen Mahayana-Schulen sprechen wir von Chittamatra und Madhyamaka. Und innerhalb des Madhyamaka gibt es gemäß verschiedenen Autoren und unterschiedlichen tibetischen Traditionen viele unterschiedliche Arten der Unterteilung. Lassen Sie uns hier lediglich von der Unterteilung in das Svatantrika und das Prasangika-Lehrsystem sprechen. Sie alle sprechen über verschiedene unterschiedliche Sichtweisen der Leerheit von Phänomenen, und sie alle sprechen von unterschiedlichen Ebenen der Leerheit von Personen, aber auf jeweils etwas andere Weise.
Die Chittamatrins und die Svatantrika-Madhyamikas vertreten, dass für das Erlangen von Befreiung und Erleuchtung verschiedene Ebenen von Verständnis erforderlich sind. Um Befreiung zu erlangen, braucht man nur die Leerheit von Personen zu verstehen. Leerheit, wie Sie sich vielleicht erinnern, bedeutet die Abwesenheit unmöglicher Arten und Weisen zu existieren. Es gibt also eine bestimmte unmögliche Art der Existenz von Personen, und man muss verstehen, dass sich diese unmögliche Art von Existenz nicht auf etwas Reales bezieht, sondern auf eine Person, die wie eine Seele ist, etwas Statischem, das von nichts beeinflusst wird, und obwohl es ewig währt, sich dennoch nie ändert, das eine Monade ist (mit anderen Worten: eine unteilbare Art von Ding, sei es so klein wie ein Atom oder wie ein Lebensfunke oder so groß wie das Universum), und das getrennt von irgendwelchen Aggregaten – von einem Körper oder einem Geist – existieren könnte. Das ist unmöglich, wird versichert. All diese Lehrsysteme alle stimmen also insofern überein: Wenn man versteht, dass sich das nicht auf etwas Reales bezieht, dann erlangt man Befreiung. Tatsächlich ist das natürlich nur eine teilweise Darstellung, denn es gibt zwei Ebenen – es gibt eine tiefere Ebene des Verständnisses – aber hier ist nicht die geeignete Stelle, darauf einzugehen.
Sie stimmen also darin überein, dass das Chittamatra- und das Madhyamaka-System mit eben dieser Sichtweise, derselben Sichtweise, zur Befreiung führen. Jedoch sagen die Vertreter des Svatantrika-Madhyamaka, dass die Chittamatra-Sichtweise selbst nicht zur Erleuchtung führt, und dass man den Gesichtspunkt des Svatantrika- oder Prasangika-Systems einnehmen muss, also den Gesichtspunkt des Madhyamaka.
Und gemäß denjenigen Traditionen, die nicht der Gelug-Tradition angehören, heißt es, dass das Prasangika-System in diesem Punkt mit dem Svatantrika-System übereinstimmt. Sie sagen also, dass man, um Erleuchtung zu erlangen, eine andere Sichtweise braucht, nämlich die der Leerheit aller Phänomene. Und das, was sich dabei nicht auf etwas Reales bezieht, ist noch eine andere unmögliche Art zu existieren, die sich von derjenigen der Personen unterscheidet (obwohl sie die der Personen mit einschließt). Da wird es also kompliziert. Hier ist auch nicht die richtige Stelle für einen Vortrag über die Leerheit, sondern der Punkt ist der, dass gesagt wird, mit einer Chittamatra-Sichtweise sowie mit einer Svatantrika-Madhyamaka-Sichtweise könne man Befreiung erlangen, mit der Chittamatra-Sichtweise aber nicht die Erleuchtung – so die Aussagen des Svatantrika-Madhyamaka-Systems. Beziehungsweise, gemäß den Traditionen, die nicht Gelugpa sind, sagen das alle Madhyamikas,
Was die Gelugpas betrifft, so haben sie in Bezug darauf ihren eigenen Standpunkt. Sie stimmen zu, dass dies das ist, was die Chittamatrin und die Svatantrika Madhyamika behaupten, aber sie vertreten, dass die Prasangikas sagen, für Befreiung und Erleuchtung brauche man dieselbe Sichtweise und lediglich ein unterschiedliches Ausmaß an positiver Kraft. Gemäß den Gelugpas lauten die Aussagen der Prasangikas also, dass die anderen indischen Traditionen nicht einmal zur Befreiung führen.
Gemäß denjenigen Traditionen, die nicht zur Gelug-Tradition gehören, lauten die Aussagen des Madhyamika-Systems so, dass die Lehren aller buddhistischen Schulen zur Befreiung führen, dass aber die so genannten unteren Lehren nicht zur Erleuchtung führen. Und die Gelugpas sagen, dass man mit diesen unteren Lehren nicht einmal Befreiung erreichen kann, geschweige denn Erleuchtung.
Ist das also eine Form von Sektierertum, die den Mahayana-Traditionen innewohnt? Und falls dem so ist, handelt es sich um eine exklusivistische oder eine inklusivistische Form?
Der exklusivistische Standpunkt wäre, dass ihre Pfade gar nicht zu Befreiung oder Erleuchtung führen. Der inklusivistische Standpunkt wäre, dass alle zum selben Ziel führen, unser Pfad aber der überlegene ist; und die Form, die diese Einstellung annehmen würde, wäre das die andere Tradition eigentlich eine niedrigere Stufe unseres Pfades ist, so dass diejenigen, die der anderen Tradition folgen, schließlich auf unseren Pfad geführt werden müssen, um zu demselben Ziel zu gelangen, das wir mit unserem Pfad erreichen, und das auch sie anstreben, aber nicht erlangen könnten, wenn sie nur ihrem eigenen Pfad folgen würden. Hier haben wir ein recht subtiles Beispiel für einen sektiererischen Blickpunkt.
In der Gelug-Tradition werden zum Beispiel die Ansichten der Lehrsysteme, die nicht zum Prasangika-System gehören, als grobe Ebenen des Verständnisses von der Abwesenheit wahrer Identität von Personen und Phänomenen angesehen, während die Prasangika-Sicht eine subtile Art des Verständnisses ist. Also muss man natürlich zuerst die grobe Form verstehen und zutiefst erkennen, was diese anderen Traditionen lehren, und das ist in Ordnung, aber es wird einen nur bis zu einem gewissen Punkt voranbringen. Es handelt sich dabei eigentlich nur um eine Stufe auf unserem Pfad; unser Pfad fügt dann die subtile Form dieses Verständnisses hinzu und das ist es, was einen tatsächlich zur Befreiung und Erleuchtung bringt.
In der Gelug-Tradition heißt es im Zusammenhang mit den letzten Stufen des Sutra und den unteren drei Klassen des Tantra auch, dass man auf der zehnten Bodhisattva-Ebene des Geistes – das ist die letzte Stufe eines Bodhisattvas – zur Praxis des Anuttarayoga-Tantra und der entsprechenden Zugangsweise zum Geist des klaren Lichts, dem subtilsten Geisteszustand, wechseln muss, um sich für immer von der subtilsten Ebene der kognitiven Schleier zu befreien, die Allwissenheit verhindern (tib. shes-sgrib), den so genannten Gewohnheiten des Greifens nach wahrhafter Existenz.
Aber die Gelugpas sind nicht die einzige Schule unter den Tibetern, die diesen so genannten innewohnenden inklusivistischen sektiererischen Standpunkt haben. Gemäß der Sakya-Tradition ist die Vorgehensweise zum Verständnis der Leerheit so, dass man zunächst die Chittamatra-Sichtweise verstehen muss – nämlich, dass sowohl die Wahrnehmung von etwas als auch deren Objekt aus derselben Herkunftsquelle (tib. rdzas) stammen, einem karmischen Samen (tib. sa-bon) – und diese Sicht dann anschließend modifiziert wird. Sobald man sie verstanden hat, wird sie mit einer Madhyamika-Sichtweise modifiziert. Die Chittamatra-Sicht ist also nur eine Stufe in der Entwicklung zum Madhyamaka-Standpunkt.
Eine andere inklusivistische Form könnte darin bestehen, dass ein Praktizierender auf der letzten Stufen automatisch dahin kommt, die Prasangika-Sichtweise zu erkennen – so, wie es bei den Gelugpas heißt: Wenn man mit einer Chittamatra-Sichtweise dem Anuttarayoga-Tantra folgt, dann wird man, sobald man eine bestimmte Stufe erreicht, automatisch die Prasangika-Sicht erkennen; man braucht sie nicht tatsächlich studiert zu haben, sie wird einem dann aus der Erfahrung heraus offensichtlich.
Die Ansichten der indischen Lehrsysteme
Nun fängt es an, kompliziert zu werden. Sie haben vielleicht gedacht, dass es schon kompliziert wäre. Aber der Punkt, wo es nun Komplikationen gibt, besteht darin, dass sowohl die Gelugpas als auch die Traditionen, die nicht der Gelug-Tradition angehören, die Ansichten der so genannten unteren indischen Lehrsysteme widerlegen, und zwar mit Logik. Die Zurückweisung beruht nicht nur auf der Einstellung: „Ich denke, so ist es“, auf jener Geisteshaltung, die besagt: „Meins ist besser“. Es beruht alles auf Logik. Es beruht auf Tatsachen, die durch Schlussfolgerung erkannt werden, auf schlussfolgerndem Verständnis basierend auf Logik, nicht auf Meinungen. Denn auf der Grundlage von Pragmatismus ist es sehr schwer zu sagen, ob alle Tradition zu demselben Ziel führen oder nicht. Pragmatismus würde hier bedeuten: einfache oder bloße Wahrnehmung (tib. mngon-sum), dass jemand ein Buddha ist bzw. dass eine andere Person dadurch, dass sie der Sicht eines bestimmten Lehrsystems folgte, tatsächlich Befreiung erlangte oder tatsächlich Erleuchtung erlangte – doch alle Traditionen sind sich einig darüber, dass nur ein Buddha genau wissen kann, ob eine andere Person ein Buddha ist.
Wenn sich alle auf Logik stützen müssen – und das ist hier der Fall -, wird es sehr schwierig, andere Positionen innerhalb des Buddhismus zu widerlegen. Wir beginnen uns also zu fragen, was hier vor sich geht. Ich meine, wir könnten ja auch sagen, dass die Logik des einen nicht so gut ist wie die Logik des anderen. Nun finden wir all diese Debatten, und die Debatten basieren für gewöhnlich auf Aussagen wie „Nicht nur ist eure Argumentation fehlerhaft, sondern ihr habt euch auch innerhalb eurer eigenen Behauptungen widersprochen.“
Aber wir könnten hier auch noch einen anderen Gesichtspunkt einbringen: Wenn wir sagen, dass eine Sichtweise weniger ausgefeilt und subtil als eine andere ist, ist das dann etwa so wie der Unterschied zwischen Newtonscher Physik und der Relativitätstheorie? Die Newtonsche Physik beschreibt Dinge, und sie beinhaltet ein grobes Verständnis, aber auf dieser Basis funktioniert sie: Man kann damit etwas tun. Die Relativitätstheorie erklärt das auf einer differenzierteren Ebene, stimmt aber auch. Verhält es sich in unserem Fall ähnlich, nämlich so, dass beides funktioniert, eines jedoch genauere Resultate bringt? Aber die Analogie stimmt hier nicht ganz, denn keines der hier angesprochenen Systeme – wir sprechen hier von den indischen Lehrsystemen - behauptet, dass sie alle funktionieren, um Befreiung und Erleuchtung zu erreichen; vielmehr behaupten sie alle, dass es ihr eigenes System sei, das dies bewirkt.
Ich denke daher, dass dies in gewisser Weise als eine Art innewohnendes Sektierertum bezeichnet werden könnte, selbst wenn die Einschätzung der unterschiedlichen Ebenen von Komplexität in den verschiedenen Positionen dieser Lehrsysteme auf Tatsachen und auf Logik beruht,. Die Frage ist nun, ob diese Einschätzung in sich eine störende Einstellung von Vorurteil, Überheblichkeit und Eigenliebe beinhaltet, die ihr innewohnt? Mit anderen Worten: Wenn wir diesen Standpunkt vertreten, beinhaltet das, dass wir annehmen, wir wüssten tatsächlich besser, was deren Tradition bedeutet, als sie selber? Wir wissen, dass ihre Tradition wirklich nur ein grobes Verständnis beinhaltet und dass sie dem nur folgen, um schließlich in der Lage zu sein, sich unserem System anzuschließen. Das ist ziemlich überheblich und ganz schön narzisstisch – „Unseres ist das beste“. Und es geht davon aus – darin liegt die Vermessenheit – dass wir es besser wissen als sie. Zudem besteht die Gefahr, unwillkürlich auf die Sicht dieser anderen Traditionen herabzusehen, selbst wenn wir anerkennen, dass es sich um nützliche und in einigen Fällen sogar notwendige Schritte auf dem Weg zur Befreiung und Erleuchtung handelt.
Und selbst wenn die inklusivistische Einstellung die Form annimmt, dass Buddha all diese Lehrsysteme – und insbesondere deren Sichtweise bezüglich der Leerheit – als geschickte Maßnahme für verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Neigungen lehrte und man ihnen allen gegenüber eine respektvolle Haltung bewahrt, besteht immer noch die Einstellung, dass ein Lehrsystem überlegen, besser, richtiger ist – es ist eben höher entwickelt.
Wie gesagt, niemand scheint zu behaupten, dass all diese indischen Lehrsysteme ganz für sich allein zur Befreiung und Erleuchtung führen. Ganz schön kompliziert, nicht wahr? Schwierig.
An Orten wie Nalanda, dem großen Studienzentrum in diesem Kloster – wir würden es wohl eine monastische Universität nennen – in Indien, studierten die Mönche sämtliche vier Lehrsysteme, somit alle diese Lehrsysteme. Oberflächlich betrachtet scheint es, dass es nicht sektiererisch zuging, zumindest nicht, was den Lehrplan betraf, aber es ist schwer zu sagen, ob sie eines der Systeme als das höchste ansahen. Wenn wir Texte wie Shantidevas „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ (Skt. Bodhisattvacharyavatara ) oder Chandrakirtis „Ergänzung zum Madhyamaka“ (Skt. Madhyamakavatara) anschauen, finden wir dort natürlich Aussagen, dass die Madhyamaka-Sicht überlegen ist, und die Chittamatra- sowie verschiedene andere buddhistische Ansichten werden widerlegt. Das deutet also auf innewohnendes Sektierertum hin. Die Frage ist natürlich: Geht es nur um etwas Sachliches oder finden wir zusätzlich diese störende Einstellung von Überheblichkeit und Narzissmus – „Wir wissen es besser“ usw.? Wenn das hinzugefügt wird, beginnt es problematisch zu werden.
Der indische Buddhismus mit diesen Lehrsystemen breitete sich dann nach Ostasien, Südostasien und Tibet aus. Lassen Sie uns lediglich betrachten, was in Tibet der Fall war.
Sektierertum in den tibetischen Traditionen
Es gab viele Übersetzungen und Übertragungen verschiedener Lehren des Sutra und Tantra, und in Tibet flossen sie zusammen. Sie alle nehmen in der ein oder anderen Form eine innewohnende sektiererische Sicht in Bezug auf die indischen Lehrsysteme ein. Sie enthalten viele verschiedene Aussagen zu vielen verschiedenen Punkten des Dharma und viele Formen recht ähnlicher Praktiken, sowohl solcher des Sutra als auch des Tantra. Das macht diese tibetischen Traditionen – Nyingma, Kagyü, Sakya und Gelug – aus. Aber es gilt auch innerhalb jeder dieser tibetischen Traditionen; in jeder Tradition gibt es zahlreiche verschiedene Praktiken und zahlreiche unterschiedliche Aussagen, denn sie stammen von vielen verschiedenen Autoren, die in manchen Punkten nicht alle übereinstimmen. Wichtiger als dieser Unterschied bezüglich der Praktiken oder bestimmter geringfügiger Punkte ist die Darstellung der endgültigen Sicht der Realität, die Befreiung und Erleuchtung bringt, und in Bezug darauf gibt es einige kleine Unterschiede. Aber keiner dieser tibetischen Traditionen behauptet, dass die tibetischen Traditionen einen stufenweisen Pfad bilden, dass eine von ihnen ein größeres Verständnis beinhaltet und eine andere ein subtileres. Die tibetischen Traditionen sehen sich gegenseitig nicht so, wie die indischen Lehrsysteme einander sahen. Das ist ein wichtiger Punkt, den man verstehen muss.
Die tibetischen Traditionen beinhalten, wie gesagt, unterschiedliche Aussagen zu vielen Punkten innerhalb eines jeden dieser Lehrsysteme aus Indien. Sie enthalten unterschiedliche Arten, die zwei Wahrheiten zu beschreiben, unterschiedliche Analysen der verschiedenen Arten von Erkenntnis, davon, wie begriffliche Wahrnehmung funktioniert und wie unbegriffliche Wahrnehmung funktioniert usw., sowie auch unterschiedliche Begriffsdefinitionen. Aber schließlich verwendeten auch die indischen Lehrsysteme und Autoren unterschiedliche Definitionen. Wenn man sich z.B. innerhalb des Abhidharma umschaut, wird ersichtlich, dass beispielsweise Asanga und Vasubandhu in ihren beiden Abhidharma-Systemen jede der störenden Emotionen etwas anders definieren. Und in den Lehrsystemen definiert jeder anders, was unter wahrhaft begründeter Existenz verstanden wird. Das ist also in der tibetischen Form nichts Neues.
Selbst-Leerheit und Leerheit von anderem
In den tibetischen Traditionen gibt es verschiedene Methoden der Praxis von Anuttarayoga-Tantra oder Dzogchen, aber diese beruhen normalerweise darauf, dass bei unterschiedlichen Praktizierenden unterschiedliche Energiesysteme überwiegen und es daher verschiedene Arten gibt, unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit zu erlangen. Die Traditionen vertreten jedoch auch verschiedene Sichtweisen der Leerheit. Lassen Sie mich die folgenden nur aufzählen, ohne sie zu erklären, weil die Zeit nicht ganz dafür ausreicht. Es gibt die so genannte Selbst-Leerheit (tib. rang-stong), und es gibt auch etwas, das Leerheit von anderem (tib. gzhan-stong) genannt wird. Es gibt Leerheit, die mit Worten und Begriffen fassbar (tib. rnam-grangs-pa) ist (bzw. in Worte und Begriffe eingepasst werden kann), und es gibt Leerheit, die jenseits von Worten und Begriffen ist, die aber in fassbarer Form, also in der Form, die im Zusammenhang mit Worten und Begriffen erörtert werden kann, mit Logik diskutiert werden kann.
Die Traditionen, die nicht der Gelug-Tradition angehören (die Sakya-, Nyingma- und Kagyü-Tradition), erklären, dass die Selbst-Leerheit, wie sie von den Gelugpas dargestellt wird – also der Gelugpa-Standpunkt bezüglich der Leerheit (die Gelugpas nennen es Selbst-Leerheit) – ein notwendiger, niedriger gelegener Schritt ist. Es ist das, was man begrifflich verstehen kann, und man muss es verstehen, aber das liegt auf dem Weg zur unbegrifflichen Wahrnehmung der Leerheit, die über Worte und Begriffe hinausgeht. Die Gelugpas hingegen sagen, dass die Sicht der Leerheit von anderem schlichtweg falsch ist: Sie führt nicht zur Befreiung oder Erleuchtung.
Hier finden wir die gleiche Problematik bezüglich Sektierertum oder nicht-sektiererischer Haltung, die wir im Zusammenhang mit den indischen Lehrsystemen besprochen haben. Natürlich wird es kompliziert, denn wenn die Gelugpas sagen, dass man durch die Sicht der Leerheit von anderem nicht zu Befreiung und Erleuchtung gelangt, und diese Sicht also etwas ist, das sie als falsche Sicht identifizieren, würden diejenigen, die nicht der Gelug-Tradition angehören (und die die Leerheit von anderem vertreten – welche auf ganz viele verschiedene Arten erklärt wird), entgegnen: Ja, es gibt eine falsche Sicht der Leerheit von anderem, die nicht zu Befreiung und Erleuchtung führt, aber das ist nicht unsere Sichtweise der Leerheit von anderem. Die Sache wird also schwierig, nicht wahr? All das ist kompliziert. Das ist Buddhismus.
Wie gesagt kann es also sein, dass der Standpunkt, der widerlegt wird – wie in obigem Beispiel die Widerlegung der „Leerheit von anderem“ durch die Gelugpas – nicht tatsächlich der Standpunkt ist, den die andere Schule einnimmt, da diese die Begriffe anders definiert. Ein sehr gutes Beispiel dafür finden wir im Zusammenhang mit dem abhängigen Entstehen, nämlich damit, wie dieses definiert wird. Wenn es in den Traditionen, die nicht der Gelugpa-Tradition angehören, heißt, das Leerheit über abhängiges Entstehen hinausgeht, dass die tiefste Wirklichkeit jenseits von abhängigem Entstehen liegt, dann ist die Rede von abhängigem Entstehen im Sinne von Entstehen aus Unwissenheit oder Mangel an Gewahrsam, wie es z.B. in den zwölf Gliedern des abhängigen Entstehens der Fall ist. Wenn die Gelugpas hingegen sagen, dass alles abhängiges Entstehen ist, sprechen sie von abhängigem Entstehen im Sinne geistiger Zuschreibung. Sie definieren ihre Begriffe völlig anders. Wenn nun die Gelugpas die Leerheit von anderem widerlegen, so widerlegen sie eine andere Leerheit mit ihrer eigenen Definition davon, welche … Tut mir leid. Lassen sie uns nochmal von vorn anfangen: Wenn die Gelugpas den Standpunkt widerlegen, dass die tiefste Wahrheit jenseits von abhängigem Entstehen liegt, verwenden sie ihre eigene Definition von abhängigem Entstehen, nicht die Definition von abhängigem Entstehen derjenigen, die versichern, es sei so, dass die tiefste Wahrheit über abhängiges Entstehen hinausgeht.
Also wiederum: Was ist der Sinn davon? Warum diskutieren sie auf diese Weise? Das ist überaus verwirrend. Die Art und Weise, wie ich es normalerweise schönrede – ich gebe zu, dass es eine Beschönigung ist (eine Art, es glatt und gefällig klingen zu lassen) – besteht darin, zu sagen, dass sie extreme Ansichten herausstreichen, zu denen man gelangen könnte, wenn man sich dies nicht klar macht, wenn man die Definitionen missversteht.
Gelübde in Bezug auf Sektierertum
Nun erhebt sich die Frage: Wird im Buddhismus selbst über dieses Problem des Sektierertum gesprochen? Und da muss man sagen, dass im Hinblick darauf, worüber wir gesprochen haben – also die Einstellung, dass bestimmte Sachen nicht zu Befreiung oder Erleuchtung führen, oder dass bestimmte Sachen niedrigere Formen unserer Sichtweise sind usw. – sich der Buddhismus dieser Problematik, insbesondere im Mahayana, sehr bewusst ist. Der Ort, wo wir diese Problematik erwähnt finden, ist in den Bodhisattva- und tantrischen Gelübden.
Den Heiligen Dharma aufgeben
Lassen Sie uns die hier relevanten Gelübde betrachten, z.B. etwa den sechsten Bruch des Wurzelgelübdes der Bodhisattvas ... Die Gelübde sind so formuliert, dass es heißt: „Wenn du dies und dies tust, verfallen deine Bodhisattva-Gelübde, du bist davon abgefallen“. Der als sechster aufgeführte Bruch der Gelübde ist, den heiligen Dharma aufzugeben, und der Bruch besteht darin, abzulehnen (d.h. von sich zu weisen) oder, indem wir unsere Meinung äußern, andere dazu zu veranlassen abzulehnen, dass die niedergeschriebenen Lehren des Shravaka-, Pratyekabuddha- oder Bodhisattva-Fahrzeugs die Worte Buddhas sind – im Grunde also zu sagen, dass diese Lehren, seien es die Shravaka-, Pratyekabuddha- oder Bodhisattva-Lehren, nicht die Lehren des Buddhas seien. Und das war tatsächlich ein Problem. Es ist festzustellen, dass insbesondere einige der Hinayana-Schulen sagen, die Mahayana-Lehren wären nicht die Worte des Buddha. Shantideva widerlegte das in seinem Text „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“. Er widerlegte es mit Logik, was recht interessant ist. Er erklärte: Jede Begründung, die ihr verwendet, um die Authentizität des Mahayana zu bestreiten, könnte auch ich genauso verwenden, um die Authentizität eurer Lehren zu bestreiten, denn beide sind nicht niedergeschrieben worden – beide wurden durch mündliche Überlieferung weitergegeben – und jeden Grund, den ihr dafür anführt, dass eure Lehren gültig sind, könnte ich auch dafür anführen, dass unsere, die Mahayana-Lehren gültig sind, nämlich in der Hinsicht, dass ihre Basis die wesentlichen Punkte von Buddhas Lehren sind usw.
Unsere eigenen Lehrsysteme oder die der anderen verschmähen
Dieser sechste Bruch der Wurzelgelübde der Bodhisattvas, nämlich den heiligen Dharma aufzugeben, bezieht sich (zumindest vom Prinzip her) auf dasselbe wie das sechste tantrische Wurzelgelübde - dort besteht der Bruch des Gelübdes darin, unsere eigenen Lehrsysteme oder die der anderen zu verschmähen. Die eigenen Lehrsysteme oder die der anderen zu verschmähen bedeutet, zu behaupten, dass irgendwelche von Buddhas Lehren nicht die Worte Buddhas sind, also als Tantra-Praktizierender Aussagen zu machen, dass eines der drei Sutra-Fahrzeuge – Shravaka-, Pratyekabuddha oder Bodhisattva-Fahrzeug – nicht die Worte des Buddha seien, oder als Praktizierender jener Fahrzeuge zu sagen, dass die Tantra-Lehren keine Worte des Buddha seien. Oder wenn unsere eigenen Lehren die des Tantra sind, könnte die Aussage lauten. „Einige Tantras sind nicht die Worte des Buddha. Unsere Tantras sind es, die der anderen aber nicht.“
Die Gültigkeit einer Lehre einschätzen
Das lässt nun eine sehr interessante Frage aufkommen, denn dieses Gelübde einzuhalten bedeutet nicht, die historische Perspektive aufzugeben. Buddhas Lehren wurden jahrhundertelang mündlich überliefert, bevor sie schriftlich niedergelegt wurden, und so sind zweifellos Verzerrungen und Fälschungen aufgetreten. Deshalb wiesen die großen Meister, die den tibetisch-buddhistischen Kanon zusammenstellten, natürlich Sutra- und Tantra-Texte, die sie für nicht authentisch hielten, zurück und erklärten: „Das waren nicht die Worte des Buddha.“ Und diese großen Meister hatten mit Sicherheit Bodhisattva- und tantrische Gelübde. Aber das Entscheidende ist, dass sie ihre Entscheidungen nicht auf Vorurteile und eigene Meinungen gründeten sondern zur Einschätzung der Gültigkeit jeglicher Materialien das Kriterium des indischen Meisters Dharmakirti anwendeten, der im 7. Jahrhundert gelebt hatte, nämlich, ob die jeweilige Praxis imstande war, die buddhistischen Ziele der besseren Wiedergeburt, Befreiung und Erleuchtung herbeizuführen. Das ist, wie ich schon erwähnt habe, etwas schwierig festzustellen, solange man kein Buddha ist – nämlich zu wissen, ob jemand anderes tatsächlich Buddhaschaft erreicht hat – aber man kann sehen, ob es in die Richtung geht.
Das andere Kriterium lautet: Beinhaltet die betreffende Lehre die wesentlichen Themen der Lehren Buddhas? Und in den Texten wird man sehen: Sollte der Text in den Kangyur, die übersetzten Worte des Buddha, mit eingeschlossen werden oder nicht? Die wesentlichen Themen, die sie alle enthalten müssen, sind natürlich die vier edlen Wahrheiten und die vier Kennzeichen des Dharma (tib. chos-kyi sdom-bzhi) – ein anderer Name dafür lautet „die vier Siegel“, die eine Sichtweise kennzeichnen, welche auf Buddhas erleuchtenden Worten beruht (tib. lta-ba bka’-btags-gyi phyag-rgya-bzhi) -, nämlich dass:
- alle beeinflussten (tib. ’ dus-byas, bedingten) Phänomene, die durch Ursache und Wirkung beeinflusst sind, unbeständig sind: sie sind nicht statisch, sie verändern sich.
- alle befleckten Phänomene (tib. zag-bcas, verunreinigte Phänomene) problematisch sind: Alles, was mit Verwirrung oder Nicht-Gewahrsein vermischt ist, bringt Probleme und Leiden mit sich.
- alle Phänomene leer sind: Sie haben keine Seele bzw. kein Selbst, das unmöglich existieren kann.
- die Erlösung des Nirvana darin besteht, dass diese Ursachen für Leiden zur Ruhe gebracht werden, und etwas Konstruktives ist.
Basierend auf diesem Kriterium konnte man eine Lehre – falls der betreffende Text nicht diese vier wesentlichen Punkte beinhaltete und offenbar nicht tatsächlich funktionierte, wenn er von einem authentischen Yogi ausprobiert wurde – aus den gesammelten Werken des Buddha ausschließen und sagen: „Das sind nicht die Worte des Buddha“, ohne dadurch jenes Bodhisattva- oder tantrische Gelübde zu brechen.
Ein weiteres Kriterium, das einige Meister – ich glaube, Buton, zum Beispiel – bei der Zusammenstellung des Kangyur verwendeten, war, ob der betreffende Text auf einem Sanskrit-Text basierte oder nicht. Das ist jedoch problematisch, denn es gibt bestimmte Lehren, die in reinen Visionen einer tantrischen Gottheit oder eines Meisters offenbart werden, nachdem die Texte aus Indien übermittelt wurden, und für die es daher kein Sanskrit-Original gibt. Mit diesem Kriterium gibt es also ein kleines Problem.
Das Shravaka-Fahrzeug herabsetzen
Ein weiteres Bodhisattva-Gelübde betrifft die Herabsetzung des Shravaka-Fahrzeugs. Hier ist die problematische Einstellung: Wir akzeptieren, dass Texte des Shravaka- oder Pratyeka-Fahrzeugs authentische Worte des Buddha sind, aber wir verneinen die Effektivität ihrer Lehren und vertreten, dass es unmöglich ist, durch ihre Anweisungen die störenden Emotionen und Einstellungen loszuwerden. Das ist unser inklusivistischer Standpunkt: Na gut, es handelt sich um Worte des Buddha, aber – das könnte nun auch exklusivistisch sein – sie führen nicht tatsächlich dazu, dass man die störenden Emotionen los wird, mit anderen Worten, sie führen eigentlich nicht zur Befreiung. Erleuchtung wird nicht ausdrücklich erwähnt, aber wir können sie hier mit einschließen. Im Mahayana umgeht man das Problem durch Inklusivismus, indem man sagt, dass man durch das Verständnis jener Lehren nicht Erleuchtung erlangen kann – bzw. im Prasangika-System gemäß Gelug-Darstellung heißt es, man könne damit nicht einmal Befreiung erlangen -, dass es sich aber um notwendige Stufen auf dem Pfad handelt. Man sagt also nicht ganz und gar, dass diese Lehren nicht funktionieren, sondern man sagt, dass sie Stufen auf dem Pfad sind. Das ist inklusivistisch.
Die Leerheit ablehnen
Der Bruch eines bestimmten tantrischen Gelübdes besteht darin, die Leerheit abzulehnen. Das ist eine interessante Angelegenheit. „Leerheit“ bezieht sich entweder auf die allgemeinen Lehren der Prajnaparamita-Sutras – das sind die Sutras über weit reichendes unterscheidendes Gewahrsein -, dass alle Phänomene, nicht nur Personen, leer sind von unmöglichen Arten zu existieren. So lauten die allgemeinen Lehren des Prajnaparamita. „Leerheit“ kann sich aber auch speziell auf die Mahayana-Lehren des Chittamatra oder einer der Madhyamaka-Schulen beziehen, dass Phänomene leer von einer bestimmten unmöglichen Art zu existieren sind.
Solche Lehren abzulehnen bedeutet, sie infrage zu stellen oder diesbezüglich unentschlossen zu sein („ist das wahr oder nicht?“), ihnen keinen Glauben zu schenken oder sie zu verwerfen (zu sagen: „Sie sind nicht gut. Wir sollten uns gar nicht darum kümmern“). Hier im Kontext des Tantra geht es darum, dass wir, ganz gleich, welches Mahayana-Lehrsystem wir während unserer Tantra-Praxis aufrechterhalten, völliges Vertrauen zu dessen Lehren über die Leerheit brauchen; andernfalls - wenn wir im Verlauf unserer Praxis die Leerheit ablehnen oder irgendeinen Ablauf außerhalb des Kontextes der Leerheit zu praktizieren versuchen – könnten wir zum Beispiel meinen, dass unsere Visualisierungen ganz gegenständlich wahr seien. Diese Art von Missverständnis setzt nur die Leiden des Daseinskreislaufs fort, sie kann sogar zu psychischen Störungen führen.
Es ist also nötig, eine gewisse Sicht der Leerheit zu haben, während man Tantra praktiziert - sei es die des Chittamatra, die des Madhyamaka, oder einfach eine allgemeine Mahayana-Sichtweise der Leerheit -, nämlich dass alle Phänomene leer sind von einer bestimmten unmöglichen Art zu existieren. Aber es heißt auch, dass es notwendig ist, im Verlauf des Pfades unser Lehrsystem von dem des Chittamatra zu dem des Madhyamaka weiterzuentwickeln – bzw. innerhalb des Madhyamaka von der Svatantrika- zur Prasangika-Sicht weiterzuentwickeln – und im Laufe dieses Prozesses die Lehren unseres früheren Lehrsystems bezüglich der Leerheit zu widerlegen. Wie passt das mit diesem Gelübde zusammen? Es bedeutet, dass eine weniger hoch entwickelte Erklärung aufzugeben nicht heißt, dass wir ohne korrekte Sicht der Leerheit bleiben. Mit anderen Worten, es geht darum: Man bricht das Gelübde, wenn man Tantra ohne irgendeine Sicht der Leerheit praktiziert, aber das Gelübde schließt nicht aus, dass man die eigene Sicht der Leerheit auf dem Weg weiter entwickelt. Dem liegt eine inklusivistische Einstellung von Sektierertum zugrunde: dass man die Sicht auf eine höhere Stufe bringen muss, um tatsächlich Befreiung und Erleuchtung zu erreichen.
Sektierertum bei individuellen Praktizierenden
Wir haben bisher über Sektierertum gesprochen, das den Aussagen buddhistischer Traditionen selbst innewohnt, aber wie steht es mit dem Sektierertum einzelner Angehöriger einer bestimmten buddhistischen Tradition? Was geht dabei vor sich? Was die Aussagen des Buddhismus selbst dazu betrifft, so gibt es diesbezüglich ein Nebengelübde der Bodhisattvas. In den Nebengelübden der Bodhisattvas geht es um fehlerhafte Handlungen, die entweder der Übung einer anderen der sechs weit reichenden Geisteshaltungen (tib. pha-rol-tu phyin-pa, Skt. paramita) abträglich sind oder allgemein abträglich dafür, anderen zu helfen.
Das Mahayana-Fahrzeug aufgeben
Eines dieser Nebengelübde der Bodhisattvas lautet, nicht das Mahayana-Fahrzeug aufzugeben; das wäre eine falsche Handlung. Hier sieht der problematische Standpunkt folgendermaßen aus: Wir akzeptieren allgemein, dass die Mahayana-Lehrsysteme authentische Worte des Buddha sind, aber wir kritisieren bestimmte Aspekte dieser Lehrsysteme, insbesondere in Texten, die die unvorstellbar ausgedehnten Taten der Bodhisattvas und die unerdenklich tiefgründigen Lehren über die Leerheit betreffen.
In den ersteren, den Lehren über die unvorstellbar ausgedehnten Taten der Bodhisattvas, gibt es Beschreibungen von Buddhas, die sich in zahllose Formen vervielfältigen und so unzähligen Wesen in einer Vielzahl von Welten gleichzeitig helfen. Letztere, die unerdenklich tiefgründigen Lehren, sind Sammlungen von knappen Kernaussagen in Versen, die überaus schwer zu ergründen sind.
Im Zusammenhang mit unserer Erörterung der vier tibetischen Traditionen gehören hierher auch die Biografien großer Meister, z.B. Guru Rinpoche. Wir könnten sagen: „Na gut, das sind Mahayana-Lehren. Diese Dinge sind, allgemein gesprochen, authentische Lehren (beispielsweise) der Nyingma-Tradition. Aber mal ehrlich, diese Biografie von Guru Rinpoche – all diese Taten, die er vollbrachte sind doch ziemlich unwahrscheinlich.“ Wir würden also sagen, dass das etwas ist, was recht seltsam ist. Wir lassen unser unterscheidendes Gewahrsein verkommen, indem wir so etwas auf eine der vier folgenden Arten verwerfen:
- Die eine besteht darin zu meinen, dass der Inhalt dieser Lehren minderwertig ist: Sie beinhalten schlicht Unsinn. (Man sieht, dass dies auch zu den ziemlich sektiererischen Standpunkten zählen würde.)
- Die zweite besteht darin zu meinen, das ihr Stil minderwertig ist: Sie sind schlecht geschrieben und ergeben keinen Sinn.
- Die dritte besteht darin, dass der Autor minderwertig ist: Sie sind keine Worte eines erleuchteten Buddha.
- Die vierte besteht darin zu meinen, dass ihre Verwendung nichts wert ist: Sie sind niemandem von Nutzen.
Indem wir etwas solchermaßen auf engstirnige und hitzköpfige, arrogante Art herabsetzen, schaden wir unserer Fähigkeit, Dinge korrekt auseinanderzuhalten.
Wenn wir mit solchen Texten oder Lehren konfrontiert sind, ist das Wesentliche, das immer angeraten wird, einfach zu sagen „Nun, ich verstehe das nicht“. Wir bleiben aufgeschlossen. Wir denken, dass „ihre Worte, selbst wenn ich sie im Moment nicht anerkennen oder ausloten kann, doch von den Buddhas und weit fortgeschrittenen Bodhisattvas verstanden wurden und ihre Bedeutung von ihnen erkannt wurde, und sie waren dadurch imstande, anderen von unendlichem Nutzen zu sein“. Somit entwickeln wir den festen Entschluss zu versuchen, sie in Zukunft zu verstehen. Es ist kein Fehler, diesen festen Entschluss – „ich möchte sie gern in Zukunft verstehen“ – nicht zu haben, solange wir die Lehren nicht herabsetzen und verschmähen; wir bewahren zumindest eine ausgeglichene Einstellung und räumen ein, dass wir sie nicht verstehen. Das ist eher ein nicht sektiererischer Standpunkt ihnen gegenüber als zu sagen: „Das ist lächerlich“ oder „Wozu soll das gut sein? Das nützt doch keinem“ oder „das ist echt schlecht geschrieben.“
Sektierertum bezüglich unserer eigenen Tradition
Häufiger jedoch nimmt eine individuelle sektiererische Einstellung eine Form an wie etwa „Meine tibetische Tradition ist die beste“. Sie ist weder exklusivistisch („die anderen sind nicht gut, sie führen nicht zu Befreiung und Erleuchtung“) noch inklusivistisch: „Die anderen sind in gewissem Maße in Ordnung, wenn sie dem folgen, was wir auch tun – in ihrer Praxis des Lojong (tib. blo-sbyong, Schulung der Einstellung), Bodhichitta usw. – aber unsere ist die beste und höchste.“ Diese Einstellung gibt es insbesondere in Bezug auf tantrische Praktiken. Aber wir finden diese individuelle sektiererische Einstellung sogar innerhalb ein und derselben tibetischen Tradition: „Mein Lehrer ist der beste. Andere sind nicht gut.“ „Mein Dharma-Zentrums ist das beste. Die anderen sind nicht gut“ usw. Und wiederum bezieht sich das entweder darauf, dass sie nicht zur Erleuchtung führen – „Man erreicht dort nichts“ – oder nimmt die Form an: „Nun ja, einiges von dem, was sie sagen, ist in Ordnung, aber manches andere ist nicht sehr effektiv (oder nicht gut oder nicht richtig)“. Solche Aussagen beruhen für gewöhnlich auf Nicht-Gewahrsein (tib. ma-rig-pa, meist als „Unwissenheit“ übersetzt), Mangel an Verständnis der konventionellen und tiefsten Wahrheit über die Überlieferungslinien, über die tibetischen Traditionen.
Was die konventionelle Wahrheit betrifft, so beruht das Nicht-Gewahrsein normalerweise darauf, dass man nicht über die konventionelle Wahrheit dieser verschiedenen Traditionen Bescheid weiß. Man kennt also die unterscheidenden Aussagen seiner eigenen Tradition oder die der anderen nicht. Wenn man jemanden fragt, warum er sich so für die Gelug-Tradition (oder die Kagyü-Tradition, oder welche auch immer) stark macht, stellt sich oft heraus, dass er eigentlich keine Ahnung hat, was die einzelnen speziellen Kennzeichen dieser Überlieferung sind und welches die Besonderheiten anderer Überlieferungen sind. Das ist recht traurig. Oder man kennt sie nur teilweise, kennt gar keine oder kennt einige nicht korrekt, hat falsche Kenntnisse.
Überlieferungen entwickeln sich ausgehend von verschiedenen Lehrern und enthalten verschiedene Praktiken. Wenn man sich diese Überlieferungslinien anschaut, stellt man fest, dass es viele Übersetzer gab, die nach Tibet kamen, viele Lehrer, die nach Tibet kamen, viele Tibeter, die nach Indien reisten. Es gab vielerlei Praktiken, jede mit ihrer eigenen Überlieferungslinie, sowie auch verschiedene Überlieferungslinien der gleichen Praxis usw. Und was sich als tragfähig erwies, wurde zu dem, was wir eine Tradition, eine Überlieferungslinie nennen. Menschen fügten einiges davon zusammen, aber was sie zusammenfügten, gab es nicht notwendigerweise nur in ihrer Tradition, denn manche dieser Überlieferungen fanden sich auch in einigen der anderen tibetischen Traditionen. Das ist die Art und Weise, wie diese Traditionen sich entwickelten. Sie standen in Berührung miteinander, waren die ganze Zeit über nicht statisch – manches wurde miteinander geteilt, zwischen den Überlieferungslinien hin und her übertragen usw. und auf verschiedene Weise interpretiert. Auch waren die Überlieferungslinien nicht homogen; innerhalb einer jeden gibt es viele verschiedene Sichtweisen und eine Vielfalt von Praktiken.
Wie gesagt beruht die individuelle sektiererische Einstellung darauf, dass man nicht über die konventionelle Wahrheit Bescheid weiß (oder sie nur teilweise oder inkorrekt kennt), nämlich in Bezug darauf, was die Aussagen einer bestimmten Tradition sind. Und natürlich gibt es auch Verwirrung hinsichtlich der tiefsten Wahrheit. Wir wissen nicht, oder nicht richtig, auf welche Weise die Existenz der Traditionen begründet ist, mit anderen Worten, wie sie existieren. Offensichtlich entstehen sie in Abhängigkeit von Bestandteilen; sie sind auf abhängige Weise entstehende Phänomene.
Es ist tatsächlich recht interessant, wenn man das untersucht, denn man kann dieses Nicht-Gewahrsein hinsichtlich der konventionellen und tiefsten Wahrheit über die tibetischen Traditionen auch haben, wenn man keine sektiererische Sichtweise hat. Mit anderen Worten, es kann sein, dass jemand sagt, sie alle seien gültige Arten des Weges zu Erleuchtung und Befreiung, aber keine klare Vorstellung davon hat, was die Unterschiede oder was ihre jeweiligen Aussagen sind, oder sogar ein falsches Verständnis davon hat. Und man kann sie natürlich als massiv wahrhaft existent auffassen und trotzdem keine sektiererische Einstellung haben. Auch hier wird es also ein bisschen kompliziert.
Begriffliche Wahrnehmung
Wenn wir über die tibetischen Traditionen nachdenken und folglich über sie sprechen, so geschieht das auf der Grundlage begrifflicher Wahrnehmung der Überlieferungslinien. Was aber ist begriffliche (tib. rtog-bcas) Wahrnehmung? Begrifflich wahrzunehmen heißt, etwas mittels einer Kategorie (tib. spyi, Allgemeines) zu erkennen, durch eine Kategorie wahrzunehmen, und die Kategorie ist hier die Überlieferungslinie – Gelug, Kagyü, Nyingma, Sakya. Zudem gibt es so genannte Unterscheider ((tib. ldog-pa, begrifflich isoliertes Element). Es ist dasjenige, das nichts anderes als (tib. ma-yin-pa-las log-pa) diese Überlieferungslinie selbst ist, es ist also eine Art Vermittler zwischen der Kategorie und dem, was man verwenden wird, um die Überlieferungslinie zu repräsentieren, wenn man an sie denkt.
Lassen Sie uns zum Beispiel an einen Hund denken. Ich bin sicher, dass, wenn wir an einen Hund denken, jeder eine unterschiedliche geistige Repräsentation davon hat, wie ein Hund aussieht, und doch können denken wir alle an „Hund“ denken. Es gibt also die Kategorie „Hund“, es gibt den speziellen Unterscheider „nichts anderes als ein Hund“, und dann noch das, was wir verwenden, um einen Hund zu repräsentieren. Auf diese Weise denken wir an einen Hund, selbst dann, wenn wir einen Hund sehen, der nicht so aussieht wie unser geistiges Bild, unser Musterbild eines Hundes. Oder wir können, wenn wir eine andere Art von Hund sehen, nun diese als Repräsentation verwenden, indem wir diese als den Begriff Hund konzipieren.
Was denken Sie, wenn Sie an Gelug oder Kagyü oder Sakya oder Nyingma denken? Was verwenden sie, um diese zu repräsentieren? Das ist eine sehr interessante Frage. Es könnte etwas Vages sein. Sie wissen es nicht so recht, und so wird es beispielsweise einfach durch den Klang des Wortes repräsentiert. Es hat dabei eigentlich keinen Inhalt. Das ist eine Art von Kategorie, die nur auf dem Klang des Wortes beruht, es ist einfach eine Hör-Kategorie (tib. sgra-spyi) – Sie wissen nicht recht, was sie bedeutet. Oder die Repräsentation könnte inkorrekt sein, z. B. eine bestimmte Ansicht – sei sie falsch sein oder richtig. Es könnte auch ein spiritueller Meister sein, z.B. mein eigener Lehrer; das ist es, was ich denke, wenn ich an Gelug oder Kagyü oder Nyingma denke. Es könnte auch eine Überlieferungslinie sein, z.B. die von Tilopa, Naropa, Marpa, Milarepa usw. Sie repräsentiert in meinem Geist „Kagyü“, das, was ich denke, wenn ich „Kagyü“ denke.
Damit diese Repräsentation nützlich ist, muss sie jedoch auf Studium und korrekter Information über die Aussagen und Praktiken der eigenen Linie und dessen, was die anderen Linien behaupten, beruhen, sodass ich eine genaue Unterscheidung treffen kann, dass dies diese Überlieferungslinie und nicht jene Überlieferungslinie ist. Es kann sein, dass wir nur eine Sache wählen, um eine Überlieferungslinie in unseren Gedanken zu repräsentieren, aber wenn es sich dabei nur um eine Kleinigkeit innerhalb einer Überlieferungslinie handelt, z.B. eine bestimmte Abfolge spiritueller Meister, so reicht das nicht aus. Die Repräsentation muss auf ausgedehnten Kenntnissen beruhen, und dann wählen wir etwas als individuelle Repräsentation. Das hat damit zu tun, wie wir Kategorien und einzelne Bestandteile innerhalb der Kategorien erkennen.
Die fünf verblendeten Auffassungen
Auf der tiefsten Ebene, wenn wir solche begrifflichen Wahrnehmungen haben, liegt Nicht-Gewahrsein. Wir wissen nicht, wie die Existenz dessen, was wir wahrnehmen, begründet ist, oder wir wissen es nicht richtig. So ist es bei uns. Wir wissen einfach nicht, wie wir existieren, wie die Überlieferungslinie existiert, wodurch die Existenz dessen begründet ist. Und wir greifen nach wahrhaft erwiesener Existenz oder von selbst begründeter Existenz von „mir“ und von der Überlieferungslinie – etwas auf meiner Seite, das begründet, dass ich existiere, und etwas auf Seiten der Überlieferungslinie, das aus eigener Kraft begründet, dass sie existiert.
Unter den wurzelgleichen störenden Emotionen und Geisteshaltungen gibt es die störenden Auffassungen oder störenden Ansichten (tib. lta-ba nyon-mongs-can, verblendete Auffassungen). Davon werden fünf aufgezählt. Es handelt sich um verblendete Geisteshaltungen, und die erste davon ist eine verblendete Auflassung in Bezug auf ein vergängliches Netzwerk (tib. ’ jig-tshogs-la lta-ba). Der Ausdruck vergängliches Netzwerk bezieht sich auf etwas in unseren Aggregaten – sie sind vergänglich, sie verändern sich immerzu – es handelt sich also um einen Körper, einen Bewusstseinszustand, das, was wir wahrnehmen. Wenn wir an eine Überlieferungslinie denken, ist das, woran wir denken, die Repräsentation einer Überlieferungslinie. Die verblendete Auflassung in Bezug darauf besteht darin, dass sie an der Kategorie und dem, was sie repräsentiert, als etwas festhält, das entweder ich (tib. nga, bdag) oder mein (tib. nga’i-ba, bdag-gi-ba) ist. Mit anderen Worten: Wir haben noch eine Kategorie, nämlich ich oder mein, welche mit wahrhaft begründeter Existenz vermischt ist, und diese verblendete Auflassung schaut sich mit einer bestimmten Einstellung um, findet etwas und hält mit dieser Einstellung daran fest.
Wir sprechen hier auf eine allgemeine Art darüber, eine Einstellung zu haben. Wir drücken das in unseren Sprachen, in westlichen Sprachen aus: eine Einstellung zu etwas haben. Bei dieser Einstellung geht es hier um „ich“ und „mein“. Die verblendete Auffassung ist nicht die Einstellung selbst – das „ich“ und „mein“ (das ist eine begriffliche Angelegenheit) -, sondern sie ist das, was einer Sache dies überstülpt. Sie ist ein Geistesfaktor, der dies zu etwas hinzufügt, der sucht und es einer Sache hinzufügt. Hier ist es die Überlieferungslinie: „Ich, ich bin Gelugpa“, „Ich, ich bin Kagyü“, „Ich bin Nyingma“, „Ich bin Sakya“. Oder mein: „Das ist meine Überlieferungslinie“ – mein Guru, mein Dharma-Zentrum, meine Praxis, mein Yidam (Meditations-Gottheit, Buddha-Gestalt).
Des Weiteren gibt es auch eine extreme Auffassung (tib. mthar-’dzin-pa’i lta-ba). Das ist die zweite dieser verblendeten Auffassungen. Laut Asanga basiert sie auf der ersten verblendeten Auffassung. Sie besteht darin, die Überlieferungslinie als statisch anzusehen: Sie wird sich nie ändern und für immer andauern. Das ist offensichtlich eine fehlerhafte Betrachtungsweise (tib. tshul-min yid-byed). Sie ist nicht nur eine fehlerhafte Betrachtungsweise, die ein nicht wahrhaft existentes Ding als wahrhaft existent ansieht, sondern sie sieht zudem ein nicht statisches Ding als statisch an. Wir neigen dazu, die Überlieferungslinien mit dieser Auffassung zu betrachten. Wir fügen diese Sicht, diese Einstellung, hinzu – dass es etwas Festes ist, das sich nie ändern wird und immer so ist – Kagyü, Nyingma, Sakya, Gelug – eine feststehende Sache, die sich noch nie verändert hat und von nichts beeinflusst wird; sie existiert von sich aus.
Wir können auch eine dritte Auffassung haben, nämlich diejenige, eine verblendete Einstellung für die höchste zu halten (tib. lta-ba mchog-tu ’dzin-pa). Damit sagt man im Grunde, entweder zusammen mit der ersten oder der zweiten Einstellung oder mit beiden, dass meine die beste ist. Es wird die Vorstellung „Dies ist das beste“ hinzugefügt. Und mit einer verzerrten Auffassung (tib. log-lta) – das ist die fünfte dieser störenden bzw. verblendeten Auffassungen – lehnen wir die anderen ab. Wir sagen damit im Grunde, einhergehend mit „Meine ist die beste“, dass „jene anderen falsch sind“. Wir weisen zurück, dass sie korrekt sind, entweder allgemein (als Ganzes) oder in Bezug auf eine bestimmte Praxis.
Das ist sehr interessant. Wir schauen auf eine bestimmte Praxis in einer Tradition, die anders ist als unsere, und in der die Dinge etwas anders gemacht werden. In der Gelugpa-Tradition – eigentlich laut Asanga – heißt es, dass man, um einspitzige Konzentration (tib. ting-nge-’dzin, Skt. samadhi) zu erreichen, dies mit dem geistigem Bewusstsein (tib. yid-kyi rnam-shes) üben muss, nicht mit dem Sinnesbewusstsein (tib. dbang-gi rnam-shes), und darum neigen die Gelugpas dazu, einspitzige Konzentration bevorzugt dadurch zu erreichen, dass man einen Buddha visualisiert. Dann schaut man sich einige der anderen Traditionen an, z.B. einige Nyingma-Traditionen oder Mahamudra-Traditionen, stellt fest, dass man dort als ersten Schritt, um einspitzige Konzentration zu erreichen, übt, starr auf eine Buddha-Statue zu blicken, und sagt: „He, das ist falsch. Das funktioniert nicht.“
Das ist also eine verzerrte Auffassung. Und es ist eine Art von Sektierertum, nicht wahr? Denn im Grunde rührt sie daher, dass man andere Lehren nicht kennt, nicht weiß, wie ihre Definition von „ geistigem Bewusstsein“ lautet, ihre Definition dessen, was begrifflich und was unbegrifflich ist und was Sinnesbewusstsein ist. Man schaut nur einen kleinen Teil an und sagt: „Das ist nicht richtig, weil …“, und der einzige Grund dafür ist jetzt: „weil es nicht so ist, wie ich das mache“. Und „Meins beruht auf diesem Text“, woraufhin die anderen sagen, dass ihres auf jenem Text beruht. Aber nur, dass sie auf einen Text beruht, beweist nicht, dass die eine oder andere Sicht richtig ist. Sie muss auf Logik basieren. Und dafür müssen sich, wie Shantideva erklärt, beide Seiten über die Definitionen einigen, sonst reden sie aneinander vorbei.
Das also geht in der begrifflichen Art der Wahrnehmung vor.
Nach einer Tradition als „ich“ oder „mein“ greifen
Interessant ist, dass wir an einer Tradition als meine oder als ich (ich bin Gelugpa, ich bin Kagyü) festhalten können, und daran festhalten können, dass sie statisch ist (etwas Festes, das sich nie ändern wird), und trotzdem nicht sektiererisch zu sein brauchen. Wir betrachten all die Traditionen auf diese Weise – das ist meine, das ist nicht meine, wahrhaft existierendes „Ich“, wahrhaft existierende Überlieferungslinie, immerwährend, feststehend -, aber wir bestätigen, dass sie alle zu Befreiung und Erleuchtung führen, und dass sie in Ordnung sind, allesamt. Nur dieses Greifen nach wahrer Existenz und diese verblendete Auffassung in Bezug auf ein vergängliches Netzwerk zu haben, bedeutet nicht unbedingt, einen sektiererischen Standpunkt zu haben. Um sektiererisch zu sein, muss jene Sicht der Überlegenheit („dies ist das beste“) und die verzerrte Auffassung vorhanden sein („die anderen sind falsch, sie sind nicht die Lehren des Buddha“ oder „ das funktioniert nicht“) sowie Anhaftung an das eigene, Abneigung gegenüber den anderen und natürlich Arroganz („meins ist das Beste“). Man muss also sehr sorgfältig analysieren, was eigentlich einen sektiererischen Standpunkt ausmacht und was in einer nicht sektiererischen Sicht vorhanden sein kann, ohne dass sie dadurch zu einer sektiererischen wird.
Natürlich haben die verschiedenen Überlieferungslinien bestimmte Charakteristika, durch die sie definiert werden und durch die die individuellen Beispiele der Lehrer einer Überlieferungslinie charakterisiert sind. Mit anderen Worten: Es gibt gemeinsame Aussagen der Überlieferungslinie und gemeinsame Meister der Überlieferung. Im konventionellen Sinne würde man sagen, sie haben tatsächlich bestimmte, sie definierende Charakteristika. Aber bitte beachten Sie, dass wir dabei nur von allgemeinen gemeinsamen Aussagen sprechen, denn verschiedene Lehrer innerhalb einer Tradition machen verschiedene Aussagen, und verschiedene Praktiken innerhalb der Traditionen haben verschiedene Überlieferungslinien. Aber dennoch können wir sagen, dass es einige allgemeine Charakteristika gibt, die sie kennzeichnen. Der wesentliche Punkt ist jedoch, dass die Existenz der Überlieferungslinie nicht kraft definierender Charakteristika auf Seiten der Überlieferung-Lamas oder – Lehren begründet ist. Das ist ein sehr wichtiger Punkt der Prasangika-Philosophie. Es ist nicht so, dass man in die Lehre schaut, dort eine bestimmte Aussage findet, und diese sie aus eigener Kraft zu einer Gelugpa- oder einer Kagyü-Lehre machen würde. Oder dass es irgendwas in mir gäbe, das mich aus eigener Kraft zu „mir“ macht – etwa meine Anlagen aus früheren Leben oder so etwas -, oder das mich zum Kagyü oder Nyingma oder Gelug oder Sakya macht. Eine derartige Auffassung ist das Greifen nach fester Existenz oder nach Existenz, die kraft irgendetwas Auffindbarem auf Seiten des Objekts begründet wäre – in diesem Fall einem definierenden Charakteristikum.
Es gibt zwar definierende Charakteristika, aber man kann sie nicht finden und sie können nicht aus eigener Kraft irgendwelche Dinge begründen, denn selbst die definierenden Charakteristika sind geistig zugeschrieben oder ausgewählt. Es ist nicht so, dass sie einfach von alleine dort als gemeinsame Charakteristika vorhanden sind, und andernfalls nur Worte, nur Behauptung wären. Doch es ist notwendig, diese definierenden Charakteristika zu kennen, diese gemeinsamen Kennzeichen, beruhend darauf, dass man ein korrektes Wissen darüber hat, und dass man weiß, dass eine Überlieferungslinie lediglich als das begründet ist, worauf sich die geistige Bezeichnung bezieht – kein auffindbares Bezugsobjekt, sondern das, worauf sich der Name bezieht, der der Grundlage zugeschrieben ist, nämlich einem bestimmten Objekt, welches das gemeinsame definierende Charakteristikum aufweist. Dann hat man eine korrekte begriffliche Wahrnehmung davon.
Es gibt zum Beispiel das Wort Hund. Wir können an einen Hund denken; wir haben eine geistige Repräsentation eines Hundes. Was ist ein Hund? Ein Hund ist das, worauf sich die Bezeichnung Hund bezieht, und zwar auf Grundlage all der verschiedenen Arten von Hunden. Konventionell gibt es so etwas wie einen Hund, und es ist das, worauf sich dieser Begriff bezieht, worauf sich die Kategorie bezieht. Aber es gibt da draußen kein Ding, das dort vorhanden ist und etwas aus eigener Kraft zu einem Hund macht und nicht zu einem Wolf oder irgendetwas anderem. Es kann sein, dass es ein völlig anderes begriffliches Rahmenwerk gibt, welches niemals einen Pudel, einen Schäferhund und einen Chihuahua in einer einzigen Kategorie unterbringen könnte, nämlich der Kategorie Hund. Sie sehen ja alle ganz verschieden aus – warum sollte man sie alle Hund nennen? Es ist also nur ein begriffliches Konzept, das verwendet wird, um sich auf eine Gruppe von Dingen zu beziehen, basierend auf einer willkürlich ausgewählten Reihe von gemeinsamen Charakteristika. Können Sie mir folgen?
Dasselbe gilt auch für Traditionen. Es gibt bestimmte Sachen, die zusammengefügt wurden. Es sind schließlich viele verschiedene Lehrer nach Tibet gekommen, zahlreiche verschiedene Tibeter reisten nach Indien, kamen zurück, brachten verschiedene Lehren mit, erinnerten sich auch noch unterschiedlich daran, hatten vielleicht sogar verschiedene Ausgaben desselben Textes; sie lebten an verschiedenen Orten, in unterschiedlichen Klöstern und wurden von unterschiedliche Menschen verstanden, die diese Lehren auf unterschiedliche Weise praktizierten. Und dann kam jemand daher und sagte „Gut, ihr alle seid jetzt …“, oder sie trafen untereinander eine Vereinbarung: „Wir werden eine Gruppe bilden“. Das ist ziemlich willkürlich, nicht wahr? Nicht ganz und gar willkürlich, denn sie einigten sich auf bestimmte gemeinsame Aussagen oder gemeinsame Überlieferungslinien – von denen einige, aber nicht alle, ausschließlich nur in einer Tradition anzutreffen waren, denn die Lehren, die von Marpa übersetzt wurden, wurden nicht nur in die Kagyü-, sondern auch in die Gelug- und in die Sakya-Tradition übertragen. Es gibt also nichts, was dort draußen auf Seiten der Praktizierenden oder Klöster oder wo auch immer hockt und sie aus eigener Kraft zu Gelug oder Kagyü macht. Ein Schild mit einem Namen macht etwas nicht aus eigener Kraft zu Gelug oder Kagyü, oder? Es ist wichtig, das zu verstehen.
Wenn wir dieses korrekte Verständnis haben – können wir wiederum eine sektiererische oder eine nicht sektiererische Sicht in Bezug darauf haben. Es könnte im konventionellen Sinne die Überlieferung sein, der ich folge oder hauptsächlich folge. Oder „ich bin nicht sektiererisch, ich folge ihnen allen.“ Aber selbst dabei könnte ich eine Sicht haben, dass meine die überlegene ist. Wäre das dann aber nicht-sektiererisch? Es wäre sektiererisch. Es ist also eine überaus heikle Sache, wie wir die verschiedenen Überlieferungslinien ansehen. Und wenn wir ein korrektes Verständnis haben, heißt das dennoch nicht unbedingt, dass wir einen nicht sektiererischen Standpunkt haben; er könnte trotzdem sektiererisch sein im Sinne von „meins ist besser“ oder „dies ist das Höchste“ usw. Das muss nicht unbedingt Anhaftung und Arroganz beinhalten. Man könnte es mit Logik begründen, zeigen, dass es logischer ist, aber es gibt auch Sichtweisen, die besagen, dass dies über Logik hinausgeht – das wird also sehr schwierig, nicht wahr?
Mehrere Überlieferungen praktizieren
Nun noch ein letzter Punkt: Wenn wir annehmen, dass wir nicht sektiererisch, vielmehr pluralistisch sind, kommt es immer häufiger vor, besonders in westlichen Ländern, dass wir mehr als eine Überlieferungslinie der Lehren praktizieren. Es gibt Lehrer, die etwas von der Theravada-Tradition studiert haben, insbesondere die Form von Vipassana (tib. lhag-mthong, Skt. vipashyana, besondere Einsicht), die sich im Westen entfaltete (sie stammt aus Burma, aber ich meine die Art, wie sie im Westen Fuß gefasst hat und im Westen praktiziert wird). Sie haben etwas aus den tibetischen Traditionen übernommen und ein bisschen Zen, und sie fügen es sozusagen zusammen und sagen: „Wir sind nicht sektiererisch“. Es ist sehr wichtig – das betont Seine Heiligkeit der Dalai Lama – die Praktiken nicht zu vermischen. Sie nicht zu vermischen bedeutet, dass wir sie nicht alle zusammenwerfen und eine Art Eintopf daraus machen. Es bedeutet: Wenn wir eine Art von Praxis durchführen bzw. eine Überlieferungslinie anwenden, tun wir das getrennt von der Praxis einer anderen.
Wenn wir also etwas Vipassana praktizieren wollen – nun, dann tun wir das in einer Sitzung. Während wir Vipassana praktizieren, rezitieren wir kein Mantra. Oder wenn wir eine Mantra-Praxis durchführen wollen, tun wir das nicht zu der gleichen Zeit, während wir versuchen Zen zu praktizieren. Man vermischt diese Praktiken nicht. Man führt sie getrennt voneinander durch. Das bedeutet, für jede der Praktiken, die wir durchführen, Respekt zu haben. Das gilt auch für Praktiken innerhalb der Traditionen: Es mag sein, dass wir eine bestimmte Praxis von einem Gelug-Lama erhalten und gelernt haben und eine andere von einem Kagyü- und einem Nyingma-Lama. Wir führen sie einzeln aus, jede für sich, und vermischen sie nicht alle zu einer Art Durcheinander.
Das soll nicht heißen, dass es nicht auch bestimmte Arten gibt, etwas zusammenzufügen. Es gibt zum Beispiel in der Nyingma- und Kagyü-Tradition eine bestimmte Tradition eines Kagyü-Meisters - sein Name ist Chagme Karma Chagme (tib. Kar-ma Chags-med) – der eine Methode hatte, Mahamudra und Dzogchen zu kombinieren: Bis zu einem bestimmten Punkt praktiziert man dabei Mahamudra, und an einer festgelegten Stelle wechselt man zu der Dzogchen-Art der Praxis. Das ist kein Vermischen. Man praktiziert eine jede dieser beiden Traditionen an einer bestimmten Stelle. Nun könnte man fragen: Ist das eine inklusivistische Vorgehensweise? Ist es so, dass man mit der Mahamudra-Praxis nicht den ganzen Weg zur Erleuchtung zurückgelegt und dass man Dzogchen praktizieren muss, um zur Erleuchtung zu gelangen? Oder wird es nur als eine weitere Variante dessen dargestellt, wie man vorgehen kann? Es gibt eine sektiererische und eine nicht sektiererische Art, so etwas zu betrachten.
Innerhalb der Gelug-Tradition gibt es auch die kombinierte Praxis der drei hauptsächlichen Yidams: Guhyasamaja, Vajrabhairava and Chakrasamvara. Das ist die hauptsächliche Praxis an den tantrischen Hochschulen. Es hat damit zu tun, dass man auf der Erzeugungs-Stufe (tib. bskyed-rim) – das ist die erste Stufe der Anuttarayoga-Praxis – die drei Yidams einzeln praktiziert und auf der Vollendungs-Stufe (tib. rdzogs-rim) dann – nun, eine jede dieser Lehren beinhaltet zu einem bestimmten Aspekt der Vollendungs-Stufe mehr Details, und daher fügt man aus der Guhyasamaja-Praxis die Einzelheiten über den so genannten Illusionskörper (tib. sgyu-lus) ein, aus der Chakrasamvara-Praxis die Einzelheiten der Tummo-Praxis (tib. gtum-mo, innere Hitze), der vier Arten von Glückseligkeit (tib. dga’-ba bzhi) sowie der Methoden, um zum Geist des klaren Lichts (tib. ’ od-gsal) zu gelangen; und man praktiziert dies alles im Rahmen der Vajrabhairava-Praxis. Auch dies wird nicht als Mischung angesehen: Ein sehr weit fortgeschrittener Meister verwendete die starken Punkte einer jeden dieser Praktiken in einer bestimmten Phase und ergänzte auf diese Weise die Praxis, denn im Vajrabhairava sind Praktiken enthalten, die Aspekte dessen beinhalten, was man detaillierter im Guhyasamaja findet, sowie auch dessen, was detaillierter im Chakrasamvara vorkommt. Diese wurden an der entsprechenden Stelle eingefügt und bilden eine Ergänzung. Auch das wird nicht als Vermischen betrachtet.
Fazit
Wenn wir mit all diesen verschiedenen tibetischen Traditionen zu tun haben – und nicht nur mit den tibetischen Traditionen sondern mit allen Formen von Buddhismus – dann sehen wir uns mit Sicherheit mit dem Problem des Sektierertums bzw. nicht sektierererischer Einstellung konfrontiert.
Heutzutage gibt es in den meisten Großstädten überall auf der Welt viele Dharma-Zentren. Es gibt nicht nur ein oder zwei Dharma-Zentren aus der ein oder anderen Tradition innerhalb der verschiedenen tibetischen Traditionen, der verschiedenen Zen-Traditionen, der verschiedenen chinesischen Traditionen, die nicht dem Zen angehören, der verschiedenen Theravada-Traditionen usw., sondern selbst innerhalb einer Überlieferung gibt es zahlreiche unterschiedliche Zentren - von unterschiedlichen Lehrern usw. -, so dass man leicht in die Falle des Sektierertum geraten kann. Und hinsichtlich Sektierertum müssen wir, wie ich schon sagte, zwischen dem unterscheiden, was den buddhistischen Systemen selbst innewohnt, insbesondere in Bezug auf die indischen Lehrsysteme und die Ebenen der Motivation usw., und dem, was eine individuelle Art von Vorurteil, von Sektierertum ist, das auch von einem Lama, einem Lehrer begünstigt werden kann, oder von einer Gruppe in einem Kloster – „Unsere Lehrbücher sind die besten. Die anderen Lehrbücher sind nicht gut.“ Und wir müssen unterscheiden, was eine Sichtweise zu einer sektiererischen macht, und was eine nicht sektiererische Sichtweise ausmacht. Und selbst wenn sie sektiererisch ist – handelt es sich um etwas, das nicht so schlimm ist, sondern um etwas, das auf Tatsachen beruht? Würden wir das sektiererisch nennen? Würden wir es nicht sektiererisch nennen? „Sektiererisch“ ist schließlich nur ein Wort, das sich auf etwas bezieht.
Wie ich anfangs sagte, ist das ein sehr komplexes Thema, und es ist ein Thema, das wir auf sehr oberflächliche Weise behandeln können. „All diese Traditionen sind gut. Seien Sie nicht sektiererisch. Die Einstellung derjenigen, die denken „meine ist die beste“ und diese Fußball-Mentalität haben, beruht nur auf Unwissenheit. Sie kennen ihr eigenes System nicht, und sie kennen das System der anderen nicht.“ Damit belässt man es auf einer oberflächlichen Ebene. Oder aber man kann, wie wir es heute Abend getan haben, auf eine tiefer gehende, komplexere Weise untersuchen, was bei dieser Problematik eigentlich vor sich geht, und wir sehen, dass sie nicht so einfach zu lösen ist.
Ich danke Ihnen. Das ist alles, was ich erklären wollte. Gibt es Fragen?
Fragen und Antworten
Ich habe ei einem so genannten „Linienhalter“ studiert, und dieser Lehrer betont, dass es wichtig sei, nur der eigenen Linie zu folgen und keiner anderen. Dieser Lehrer habe eine Verantwortung, diese Linie zu fördern, sodass sie in Zukunft an andere weitergegeben werden kann. Woher wissen wir eigentlich, dass sie die beste für uns ist, ohne tatsächlich andere Traditionen zu studieren und etwas über sie zu lernen? Diese anderen Traditionen und Überlieferungen, so sagt der Lehrer, seien jedoch zu verwirrend; „folgen Sie einfach dieser“. Wir stehen vor einem Dilemma.
Ihre Frage spricht einige sehr wichtige Punkte an. Zunächst einmal: Was um alles in der Welt ist ein Linienhalter? In jeder Tradition des tibetischen Buddhismus gibt es viele, viele Überlieferungslinien. Jede Praxis hat eine Überlieferung, und jedes Kloster hat in gewisser Weise eine Überlieferungslinie. Es ist schwer zu sagen, welcher wir eigentlich folgen? In der Nyingma-Tradition hat jede Terma-Tradition eine Überlieferungslinie, und man praktiziert nicht nur Termas – Schatz-Texte -, sondern wendet auch andere Praktiken an. Es ist also etwas verwirrend, wenn ein Lehrer sagt: „Das ist die Überlieferung – folgen Sie ihr“, denn diese Überlieferung enthält zweifellos vieles, das sie mit anderen Überlieferungslinien gemeinsam hat.
Aber mal davon abgesehen, was eine Überlieferungslinie ist und wie sie eigentlich übermittelt wird, erhebt sich die Frage: Wer wird ein Linienhalter, und wer besitzt die Autorität zu bestimmen, dass jemand ein Linienhalter ist, dessen Name in den Gebeten auftaucht, in denen die Überlieferungslinien genannt werden? Auch das ist ein sehr kontroverses Thema, nämlich wie jemandes Name in ein Gebet mit den Überlieferungslinien gelangt, ob bei verschiedenen Praktizierenden unterschiedliche Namen darin enthalten sind usw. Aber lassen wir solche politischen Angelegenheiten beiseite.
Das Dilemma, dem wir uns alle gegenübersehen, ist: Wie wählen wir eine Überlieferungslinie aus? Wir alle haben unterschiedliche Fähigkeiten, und für manche Menschen ist es schwer genug, eine Überlieferung zu studieren, oder sagen wir, eine Tradition (lassen Sie es uns so sagen: die Tradition einer bestimmten Art und Weise, eine Reihe von Praktiken anzuwenden). Im Falle anderer mag vielleicht ein Lehrer sagen, dass es sehr hilfreich sei, viele verschiedene Traditionen zu studieren. Denn wenn man z.B. Lehrer werden möchte oder ein Buddha werden möchte, muss man imstande sein, mit Menschen unterschiedlicher Veranlagung, mit Menschen aus verschiedenen Traditionen umzugehen, also muss man wissen, wovon sie reden – muss einiges Wissen davon (wenn nicht sogar Erfahrung darin) haben. Es hängt also von den Fähigkeiten ab.
Das wird nun sehr schwierig in einem Dharma-Zentrum mit vielen verschiedenen Mitgliedern. Es gibt diese drei Möglichkeiten: Verfolgt das Dharma-Zentrum einfach eine offene Vorgehensweise und lädt Lehrer aller Überlieferungen zum Lehren ein? Oder vertritt es eine hauptsächliche Praxis-Überlieferung und lädt zusätzlich ab und zu Gastlehrer ein? Oder hat es eine hauptsächliche Praxis, eine hauptsächliche Überlieferung und lädt keine Lehrer außerhalb dessen ein? Es ist sehr schwer für ein Zentrum oder den Lama, der für ein Zentrum verantwortlich ist, zu entscheiden, was am hilfreichsten ist, denn ein Zentrum ist keine statische Angelegenheit – die Mitglieder kommen und gehen, und ihre Neigungen und Fähigkeiten sind alle sehr verschieden. Das ist der eine Punkt.
Einen weiteren Punkt erwähnt Seine Heiligkeit der Dalai Lama stets im Zusammenhang mit der Praxis von mehr als einer tantrischen Gottheit (Buddha-Gestalt). Er sagt, dass es am Anfang nützlich ist, verschiedene davon zu praktizieren; so ist es Tradition – ob in einer oder in vielen Überlieferungen, ist noch eine andere Sache. Erst dann, wenn wir bereit sind, uns hundertprozentig dem Erreichen der Erleuchtung zu widmen, sollten wir eine tantrische Gottheit wählen und nur dieser Praxis folgen. Auch hier gilt, dass das, was wir studieren und was wir praktizieren, auf verschiedenen Stufen des Pfades unterschiedlich sein wird. Aber ich muss sagen, am Anfang ist es sehr schwierig, auch nur zu identifizieren, was die gemeinsamen Aussagen des Buddhismus sind – die vier edlen Wahrheiten, die vier Kennzeichen der Lehren und so etwas – denn zudem gibt es, wie gesagt, bestimmte Dinge im Buddhismus, die auch mit nicht-buddhistischen indischen Traditionen übereinstimmen. Die Methoden, um einspitzige Konzentration zu erreichen, findet man zum Beispiel in allen indischen Traditionen.
Wir stehen also vor keiner einfachen Frage. Gehen wir nun einfach in das Zentrum, das zufällig unserem Wohnort am nächsten liegt, das am einfachsten zu erreichen ist? Suchen wir ein Zentrum auf, weil der Lehrer charismatisch ist? Weil der Lehrer berühmt ist? Gehen wir dorthin, weil das Zentrum nicht so hohe Preise hat wie ein anderes und wir es uns leisten können? Gehen wir in ein Zentrum, weil unsere Freunde dort verkehren? Es gibt zahlreiche Gründe, stichhaltige und nicht so stichhaltige, um ein Zentrum oder einen Lehrer aufzusuchen, jemanden zum Lehrer zu haben. Deshalb ist es schwierig, tatsächliche Richtlinien dafür zu geben. Aber im Hinblick auf eines der Bodhisattva-Gelübde besteht der Bruch darin, sich selbst anzupreisen und andere herabzusetzen, weil man an Ruhm hängt usw. Wenn also ein Zentrum und der Lehrer diese offensichtlich sektiererische Ansicht hat, dass „unseres das beste ist und die anderen nicht gut sind“, und eigentlich vor allem viele Schüler haben möchte, damit die Miete bezahlt werden kann, dann sollte man etwas misstrauisch sein, was dort abläuft.
Das ist etwas ganz anderes als wenn in einem Zentrum gesagt wird: „Das ist hier die Überlieferungslinie. Es gibt viele andere Überlieferungslinien, viele andere Arten zu praktizieren, die auch gültig sind“ – hier also etwas nicht-sektiererisch auftritt – „und das und das ist es, was wir anbieten. Probieren Sie es aus.“ Ich denke, das ist sehr wichtig. Es ist nicht so, dass man, kaum dass man durch die Tür tritt, plötzlich bekehrt ist. Ich denke, am Anfang müssen wir uns wirklich umschauen und vergleichen.
Wäre es nicht eine gute Idee, wenn die Überlieferungen, die verschiedenen Zentren die Verantwortung hätten, andere auch mit diesen anderen Sichtweisen bekanntzumachen.
Das ist ein sehr guter Punkt.
Mir ist noch etwas anderes eingefallen, während wir über all das sprachen. Ich sagte, dass es wahrscheinlich wichtig ist, sich anfangs umzuschauen und zu vergleichen, doch ich denke, dass man sich schließlich entscheiden muss. Es kann sein, dass dieses Umschauen sehr lange dauert, und das ist dann auch nicht sehr förderlich. Mir ist in diesem Zusammenhang die Hochschule für Dialektik Institut für buddhistische Dialektik in Dharamsala eingefallen. Das ist eine Schule der Gelug-Tradition, wo man lernt zu debattieren. Es ist üblich, dort die gesamte Schulung zu absolvieren, die für den akademischen Titel eines Geshe erforderlich ist, aber am Ende geht man für ein Jahr an die Debattier-Schulen anderer tibetischer Traditionen. Es ist also nicht so, dass man zuerst alle studiert und dann auswählt – obwohl es vermutlich eine gute Idee ist zu schauen, was zu einem passt, ein wenig zu vergleichen und zu prüfen, was einem am sinnvollsten erscheint -, sondern man lernt die anderen kennen, nachdem man fest in einer Sichtweise verankert ist.
Einer meiner Lehrer, Geshe Ngawang Dhargye, strich dies heraus, indem er unsere westliche Herangehensweise kritisierte. Er sagte, dass wir dazu neigen, zwei Dinge vergleichen zu wollen, während wir über keines davon sonderlich viel wissen; und wenn man das tut, basiert das nur auf Verwirrung. Man kann zwei Dinge nur vergleichen, wenn man eines sehr gut kennt und dann beginnt, etwas anderes zu studieren; und dann muss man auch dies ziemlich gut kennen, bevor man wirklich einen angemessenen Vergleich anstellen kann.
Liegt es also in der Verantwortung der Zentren, das zu ermöglichen? In einer idealen Welt, ja. Aber wir müssen zugestehen, dass nicht jeder Lehrer ein erleuchtetes Wesen ist und nicht jeder das Wissen hat, die Sichtweisen anderer buddhistischer Traditionen darstellen zu können. Es gibt jedoch in Dharma-Zentren eine besitzergreifende Art, teilweise vielleicht bedingt durch finanzielle Erwägungen, dass es nicht gern gesehen wird, wenn die Leute andere Dharma-Zentren aufsuchen; man möchte, dass sie bleiben und Mitgliedsbeiträge zahlen, damit man die Miete zahlen kann, Geld ans eigene Kloster schicken kann (ordinierte Lehrer bekommen nämlich in dieser Hinsicht furchtbar viel Druck seitens ihres Klosters in Indien).
Also: Ja, es wäre sehr schön, wenn angeboten würde, etwas über die anderen Traditionen zu lernen. Ich denke, dass das Modell der dialektischen Schule recht vernünftig ist. Es ist das Modell, für das Seine Heiligkeit sich entschieden hat, und zweifellos ist er sehr weise. So geht man also dort am Ende der Studien vor. Das ist nun natürlich sehr schwierig an einem Dharma-Zentrum, weil dort die Leute kommen und gehen. An einigen Orten gibt es feste Kurse, und es wird erwartet, dass man von Anfang bis Ende daran teilnimmt; das wird gewährleistet, indem man am Anfang für den gesamten Kurs zahlen muss, so dass man sich etwas töricht vorkommt, wenn man nicht hingeht, obwohl man doch schon gezahlt hat. Als Teil eines solchen Kurses, vielleicht am Ende, könnte man einige dieser anderen Sichtweisen vorstellen. Aber was die indischen Lehrsysteme betrifft, ist es auf jeden Fall so, dass ein jeder sie alle studiert, und dabei gibt es, wie gesagt, einen sektiererischen Aspekt, der im Buddhismus enthalten ist. Ob man nun sagen will, das sei fair oder richtig oder nicht, sei dahingestellt, aber es gibt diesen Aspekt. Er muss jedoch nicht unbedingt eine störende Einstellung beinhalten.
Es müsste etwas geben – nun, vielleicht einfach in der Art eines Hochschulkurses. Ich habe Buddhismuskunde studiert, Buddhismus an der Universität, und an der Universität fand kein Urteil statt, dass eine Tradition authentischer oder korrekter wäre als eine andere, alles wurde lediglich dargestellt: „So ist das, hier sind die Tatsachen.“ So ähnlich könnte man das machen. Komplizierter wird es, wenn man als Praktizierender einer der Traditionen folgt. Dann gibt es, wie gesagt, jenen exklusivistischen, inklusivistischen oder pluralistischen Ansatz, und man muss untersuchen, was eine sektiererische oder nicht sektiererische Einstellung ausmacht, wer in welche dieser drei Kategorien fällt.
Ich denke, eine allgemeine buddhistische Ausbildung ist sehr nützlich – möglicherweise ganz am Anfang eine allgemeine Ausbildung und dann eine detailliertere am Ende, wenn man weiter fortgeschritten ist, wenn man in einer Tradition mehr gefestigt ist, denn gleichzeitig zu viele Varianten eines Punktes darzustellen, ist für die meisten Menschen zu verwirrend.
Gut. Lassen sie uns nun mit einer Widmung schließen. Wir denken: Möge alles, was an Verständnis, an positiver Kraft hieraus entstanden ist, tiefer und tiefer gehen und als Ursache dafür wirken, dass Verwirrungen bezüglich Sektierertum oder negative Aspekte, die wir haben, geklärt und bereinigt werden, und möge es dazu beitragen, dass wir den erleuchteten Zustand eines Buddha erlangen, um anderen von größtmöglichem Nutzen zu sein.