Großes Mitgefühl und Tonglen, Geben und Nehmen

Verse 17 bis 21

Heute werden wir über Mitgefühl, großes Mitgefühl, und Bodhichitta sprechen. Ich werde versuchen es kurz zu halten, denn wir haben viel Material, was wir durchgehen müssen. 

Mitgefühl entwickeln 

Obgleich wir vielleicht etwas darüber wissen, wie man praktizieren sollte, fehlt es uns an tatsächlicher Praxis im täglichen Leben. Das liegt daran, dass es uns an Entsagung mangelt, der Entschlossenheit, frei von Leiden zu sein. Gibt es keine Entsagung, nicht mal ein wenig, wird unsere Praxis keinen großen Einfluss auf unser Leben haben. Das Wichtigste, um Entsagung zu entwickeln, ist über Unbeständigkeit nachzudenken. 

Keine Kontemplation über Unbeständigkeit zu haben, schwächt unsere Praxis. Aus diesem Grund drängen uns der Buddha und andere große Lehrer stets über Unbeständigkeit zu meditieren, damit wir sehen können, womit wir unsere Zeit vergeuden. Haben wir diese Entschlossenheit, frei von Leiden zu sein, werden wir ohne jeden Zweifel mehr Zeit mit der Praxis des Dharma verbringen wollen, und wenn wir praktizieren und sehen, dass es möglich ist, die Ursachen des Leidens zu beseitigen, werden wir verstehen, dass es ebenso möglich ist, keine Wiedergeburt mehr in Samsara nehmen zu müssen. Wir werden moksha, Befreiung, einen Zustand anstreben, in dem es kein weiteres Leid mehr gibt und das ist wahres Glück. 

Hat beispielsweise jemand neben uns Migräne, tut uns das leid, doch wir sind auch froh, selbst keine Migräne zu haben. Wir haben Glück gehabt; es ist das gleiche Gefühl. Und wenn wir wüssten, wie man die Migräne loswerden kann, wäre es doch furchtbar, wenn wir der Person nicht sagen würden, wie das geht. Das ist es, was Bodhisattvas tun. Sie versuchen unverzüglich zu erkennen, wie sie einem jeden Wesen helfen können, dem sie begegnen. Es braucht eine gewisse Zeit, um diese Motivation, die wir Bodhichitta nennen, zu erkennen. Erlangen wir Befreiung, werden wir diese gleiche Befreiung allen anderen Wesen geben wollen.

Großes Mitgefühl entsteht durch Mitgefühl. Wir alle haben etwas Mitgefühl in uns und das ist unsere große Hoffnung. Das ist einer der Faktoren der „Buddha-Natur“, über die wir alle verfügen. Das Problem ist, dass unser Mitgefühl begrenzt und für gewöhnlich mit Anhaftung vermischt ist. So ein Mitgefühl ist nicht rein und letztendlich von keinem großen Nutzen. Sieht eine Mutter zum Beispiel, wie ihrem Kind etwas passiert, wird sie sich große Sorgen machen, doch wenn es anderen Kindern passiert, tut es ihr vielleicht leid, aber sie wird nicht wirklich helfen wollen. In dem Moment ist es ziemlich schwierig, uns in die Lage der anderen zu versetzen und wirklich ihr Leid zu empfinden. Einer der wichtigsten Gründe ist, dass wir es eigentlich gar nicht wollen. Meistens wollen wir es einfach ignorieren. Wir sind selbstbezogen und um sich um das Wohl der Wesen zu kümmern, müssen wir sie anders wertschätzen. 

Im tibetischen Buddhismus debattieren wir gern. Wir führen Debatten über den Unterschied zwischen dem Mitgefühl von Arhats und jenem von Bodhisattvas. Arhats haben eine Menge Mitgefühl – viel mehr als wir – doch es ist begrenzt. Sie richten sich hauptsächlich darauf, sich selbst von unkontrollierbar sich wiederholender Existenz zu befreien und während sie gewiss versuchen anderen zu helfen, sagen wir, dass das Mitgefühl messbar ist, weil es begrenzt ist. Heute praktizieren sie vielleicht für einhundert Wesen, morgen für zweihundert, aber das war's. Bodhisattva sind da anders; ihr Mitgefühl ist unermesslich und sie lassen kein einziges Wesen aus. 

Sie sind wie eine Mutter, die sieht, wie ihr Kind in einem Fluss ertrinkt. Das Mitgefühl eines Bodhisattvas ist wie das einer Mutter mit Armen – sie wird sofort hineinspringen und versuchen, ihr Kind zu retten. Das Mitgefühl eines Arhats hingegen wird beschrieben wie das einer Mutter ohne Arme. Die Mutter sieht, wie ihr Kind ertrinkt und will ihm helfen, doch sie weiß: „Wenn ich hineinspringe, bin ich hilflos und werde nicht viel helfen oder tun können.“ Sie verliert ihre Hoffnung, denn es gibt noch immer etwas Selbstbezogenheit in ihr. 

Lama Tsongkhapa schreibt darüber im Lam-rim Chen-mo, der „Großen Darstellung des Stufenpfades zur Erleuchtung“. Um großes Mitgefühl in unserem Geist entstehen zu lassen, gilt es zunächst zu erkennen, dass es tatsächlich eine Methode gibt, aus unkontrollierbar sich wiederholender Existenz heraus zu gelangen. Und dann benötigen wir auch etwas Wissen über die tiefste Wahrheit – die Tatsache, dass alles frei von unmöglichen Existenzweisen ist. Diese Wahrheit, diese Realität der Existenz, gilt es zu erkennen und wenn wir sie erkennen, sowie die Tatsache, dass es einen Weg aus der unkontrollierbar sich wiederholenden Existenz gibt, verleiht uns das große Hoffnung. Wir verstehen, dass es möglich ist, anderen wirklich zu helfen. 

Wenn wir sehen, dass es keine wahre Existenz gibt, nach der wir greifen können, merken wir, dass alles wie eine Illusion ist. Das führt dann zu weniger Klammern und Anhaftung an das Selbst und verringert auch die Distanz, die wir gegenüber anderen haben.

Das Verständnis der Leerheit beseitigt den Klebstoff, der uns an Samsara bindet. Verstehen wir die tiefste Wahrheit von allem, erkennen wir, dass es nichts gibt, nach dem wir greifen könnten. Dann können wir uns ganz leicht und problemlos in unserer Meditation mit anderen austauschen und sie genauso schätzen, wie uns selbst. 

Eines der größten Probleme, die entstehen, wenn wir uns nicht über die tiefste Wahrheit bewusst sind, ist die Selbstbezogenheit. Dann meinen wir unabhängig und solide zu sein, und kümmern uns nur um uns, sowie um alles und jeden, der uns nahesteht. Sogar wenn wir sehen können, dass die anderen fühlenden Wesen so gütig zu uns wahren, ist der Gedanke daran, ihre Güte zu erwidern, ziemlich schwierig. Das liegt alles an unserer Selbstbezogenheit. 

Alle Wesen waren bereits unsere Mütter 

Um diese Selbstbezogenheit loszuwerden, ist es notwendig zu versuchen, alle Wesen als unsere Mütter zu betrachten. Da wir im Buddhismus an anfangslose Wiedergeburten glauben, heißt das natürlich, dass jedes einzelne Wesen irgendwann bereits einmal unsere Mutter gewesen sein muss. Wir können nicht sagen, dass es einen großen Unterschied zwischen der Güte unserer Mutter in diesem Leben und der Güte unserer Mutter in einem anderen Leben gibt. Es geht einfach darum, sich daran zu erinnern oder nicht. Wir müssen viel darüber nachdenken, damit wir zu einem Verständnis gelangen, dass alle anderen Wesen wie unsere Mütter sind, und wir sollten uns an ihre Güte erinnern. Das Schwierigste ist, tatsächlich ihre Güte zu erwidern. Heutzutage scheinen Kinder nicht die Fähigkeit zu besitzen, sich um ihre Eltern zu kümmern und ihnen Zeit, Geduld oder auch nur ein Lächeln zu schenken. Wenn es schon schwer ist, das für unsere eigenen Eltern zu tun, können wir uns vorstellen, wie schwierig es ist, den Gedanken zu entwickeln, die Güte aller fühlenden Wesen zu erwidern. 

Haben wir jedoch einmal ein wirklich starkes Mitgefühl entwickelt und verstehen die Abwesenheit eines unmöglich existierenden Selbst, werden wir alle Phänomene wie eine Illusion wahrnehmen. Merken wir, dass es nichts Festes in Bezug auf die Existenz gibt, werden wir ganz automatisch die gegenseitige Abhängigkeit und Verbundenheit von allem erkennen. Wie sehen, wie alles mit allem anderen verbunden ist und werden die Notwendigkeit erkennen, uns um andere zu kümmern. 

Die Praxis von Bodhichitta ist so wichtig. Ohne Bodhichitta werden wir einfach auf dieser Ebene stehenbleiben, auf der wir uns wünschen, die Güte anderer zu erwidern. Doch am Anfang müssen wir wirklich kontemplieren, dass alle Wesen schon einmal unsere Mütter waren, und sollten an deren Güte gegenüber uns denken. Das nächste Mal, wenn wir draußen sind und Bettlern etwas Kleingeld geben, sollten wir nicht nur daran denken, dass sie jetzt in dieser Kälte eine Tasse heißen Tee genießen können, sondern auch: „Sie waren mir in meinen früheren Leben viele Male von Nutzen und das ist nun meine Gelegenheit, ihre Güte zu erwidern.“

Der Sinn unseres Lebens besteht darin, volle Erleuchtung zu erlangen. Einem Bettler etwas Kleingeld zu geben ist zwar schön, aber die einzige Möglichkeit, anderen wahrhaft und vollkommen zu nutzen, besteht darin, vollständige Erleuchtung zu erlangen. 

Wenn wir uns in der Natur befinden, merken wir vielleicht, wie gerade eine kleine Ameise auf uns herumkrabbelt. Bevor wir sie wegpusten, sollten wir einfach einmal für einen Augenblick darüber nachdenken, wie wir diesem armen Ding helfen wollen. Wann immer der große Meister Atisha einen Esel sah, ging er voller Aufmerksamkeit zu ihm hinüber und sagte: „Hallo Mutter.“ Das war seine Praxis. Und wenn Seine Heiligkeit der Dalai Lama irgendwo hingeht und jemanden trifft, hält die Hände dieser Menschen. Das ist die Praxis von Bodhichitta. Er könnte auch einfach nur winken, wie Präsident Trump, doch Seine Heiligkeit hält ihre Hände, um seine Verbundenheit mit jedem Wesen auszudrücken. 

Wir müssen langsam den Mustern folgen, die uns in diesen großen Wesen auffallen, damit auch wir andere fühlende Wesen schätzen lernen. Dann werden wir langsam merken, dass der eigentliche Grund, in dieser Welt als Menschen mit einem wirklich intelligenten Gehirn geboren zu werden, darin besteht, anderen von Nutzen zu sein. Wir werden diese Möglichkeit, die wir haben, nicht vergeuden wollen. Dieses kostbare menschliche Leben, das wir haben, ist nicht nur für uns, sondern für alle anderen gut. 

Wenn große Meister beten und andere fühlende Wesen visualisieren, stellen sie sich alle vor, ganz egal welche verschiedenen Formen sie auch haben mögen. Sprechen wir darüber, Mitgefühl in uns selbst hervorzubringen, ist es notwendig, dass wir uns auf fühlende Wesen, auf alle fühlenden Wesen, richten. Mit unserem menschlichen Herz und intelligenten Gehirn können wir alle fühlenden Wesen in unseren Gebeten mit einbeziehen. Auch wenn wir unseren Feind hassen oder jemanden nicht mögen, können wir mit unserer menschlichen Intelligenz und mit unserem Mitgefühl alle in unsere Gedanken mit einschließen. Sind wir dazu in der Lage, sollten wir uns nicht wie ein gewöhnliches Wesen fühlen. Wir sind dann außergewöhnliche Menschen, denn unsere Praxis von Bodhichitta ist nun meisterhaft. Haben wir Bodhichitta hervorgebracht, werden wir, wenn wir andere sehen, ganz automatisch das Gefühl haben, sie zu umarmen. Wir empfinden natürlicherweise Liebe für andere und fühlen uns mit allen eng verbunden. Das sollte das Geschenk unserer Praxis sein. 

Der Buddha gab den Bodhisattvas ein besonderes Gelübde. Er trug ihnen auf, nicht zu lange in der Meditation zu verweilen, sondern hinauszugehen und anderen zu helfen. Wie helfen sie anderen? In völliger Versenkung erkennen sie die Leerheit aller Phänomene und wenn sie aus diesem Zustand der vertieften Konzentration herauskommen, haben sie die Kraft zu sehen, dass alle Phänomene wie eine Illusion sind. Dadurch können sie fühlenden Wesen helfen, ohne irgendwelches Greifen. Das ist die beste Weise, anderen zu nützen. Jetzt können wir mit dem Text weitermachen.

Umgang mit Arroganz 

(17) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn uns jemand aus Arroganz beleidigend behandelt, sei er gleichgestellt oder unterlegen, voller Achtung vor ihm das Haupt zu neigen wie vor unserem spirituellen Meister.

Einen Feind als unseren Guru zu betrachten ist schwer. Wenn unserer Praxis dies fehlt, können wir keine volle Erleuchtung erlangen.  

Das Leiden aller fühlenden Wesen auf sich nehmen 

(18) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn wir in Armut leben und von anderen Menschen verachtet werden, von schlimmer Krankheit befallen oder von Geistern heimgesucht werden, uns nicht entmutigen zu lassen und stattdessen die negativen Kräfte und Leiden der anderen Lebewesen zu übernehmen.

Hier ist die Rede von der wunderbaren Praxis des Gebens und Nehmens, die man im Tibetischen als Tonglen kennt. Wann sollten wir sie üben? Nun, wir sollten sie immer praktizieren, doch es ist besonders nützlich, wenn wir uns völlig hilflos fühlen. Manchmal müssen wir unseren Geist austricksen. Haben wir zum Beispiel große Schmerzen und jemand kommt vorbei und sagt zu uns: „Du leidest zwar gerade, aber da gibt es jemanden, der noch mehr leidet als du.“ Unser Leid wird mit dem eines anderen verglichen und auch wenn unser körperliches Leid dadurch nicht unbedingt weniger wird, bekommen wir das Gefühl, dass unser Leid nichts im Vergleich zu viel größeren Schwierigkeiten ist. In gewisser Weise wird unser Schmerz dann automatisch kleiner. 

Als Seine Heiligkeit der Dalai Lama Probleme mit Gallensteinen hatte, die sehr schmerzhaft waren, wurde er in ein Krankenhaus gefahren und aus dem Auto sah er so viele hilflose indische Bettler. Er erkannte, dass sie nichts hatten, nicht einmal etwas zu essen. Doch trotzdem lächelten sie und spielten. Seine Heiligkeit sah, dass ihr Zustand nicht einfach war, doch sie konnten trotz allem lächeln und die Schmerzen Seiner Heiligkeit verringerten sich wie von selbst. 

Bodhisattvas stehen nicht einfach nur herum, während andere leiden. Sie versuchen wirklich, die Leiden anderer auf sich zu nehmen. Sie sind so traurig, wenn sie das Leid aller anderen sehen, dass ihr eigenes im Vergleich dazu nichts zu sein scheint. Dann versuchen sie, das Leiden der anderen auf sich zu nehmen und ihnen ihre Freude und ihr Glück zu schenken. Das ist eine Methode der Visualisierung. Praktisch gesehen können wir ihnen nicht unser Glück geben oder ihr Leid auf uns nehmen. Das Glück, das wir bekommen haben, ist unseres; wir können es nicht anderen geben. 

Die Lehren richten sich auf das Gesetz von Ursache und Wirkung. Der Buddha sagte in den Sutras, dass wir für all die negativen Emotionen, die wir haben, selbst Leerheit studieren und Erleuchtung erlangen müssen. Wir können uns nicht mit einem Bad im Ganges reinigen und ich kann auch nicht meine Hände auflegen und all eure Probleme und Leiden wegnehmen. Das ist ein striktes Gesetz der Kausalität.  

Wenn wir unser Glück für das Leid anderer eintauschen, geschieht das im Grunde für unser eigenes Wohl. Durch diese Methode entwickeln wir mehr Mitgefühl für andere und machen mehr Platz in unserem Herzen für sie. Natürlich werden auch ein paar böse Menschen vorbeikommen und auf sie müssen wir vorbereitet sein. Eigentlich müssen wir bereit sein für alle fühlenden Wesen. Wenn wir unsere Herzen auf diese Weise geöffnet haben, ist es, als wären wir reich und würden unsere Kreditkarte allen zur Verfügung stellen, damit sie damit einkaufen gehen können. Bodhisattvas teilen alles, was sie haben. Und sie teilen es mit allen, nicht nur mit Menschen, die nett zu ihnen sind. Sie sehen, dass es nichts gibt, wonach man greifen könnte. Was immer sie haben ist der Besitz von allen. Sie fühlen sich mit allen verbunden. 

Das bedeutet nicht, dass sie sich von anderen ausnutzen lassen. Sie haben die Weisheit und Zuversicht, mit allen fühlenden Wesen fertigwerden zu können. Das ist die Praxis der Bodhisattvas. Mit dieser Weisheit und Zuversicht öffnen sie ihre Herzen gegenüber allen, geben ihnen all ihr Gutes und nehmen die Schmerzen auf sich. Wenn wir diese Art der Weisheit und Zuversicht nicht haben, um mit anderen umgehen zu können, ist es besser, kein Risiko einzugehen. Wir sind noch keine Bodhisattvas, aber wir können es versuchen. Wir haben unsere Grenzen, doch wir können unseren Rahmen langsam erweitern.

Unser Glück allen fühlenden Wesen schenken 

(19) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn wir mit wohlgefälligen Worten gerühmt werden und zahlreiche Wesen respektvoll den Kopf vor uns neigen, oder wenn wir in den Besitz von Reichtümern gelangen, die denen des [Reichums-Gottes] Vaishravana gleichen, niemals eingebildet zu werden, da wir erkennen, dass weltlicher Reichtum ohne Essenz ist.

Es kann ziemlich gefährlich sein, wenn wir Ruhm, Geld und alles besitzen, was wir uns erträumen. Genau genommen ist das die größte Gefahr, denn dadurch werden wir stolz und arrogant. Jemand studiert vielleicht Tibetisch und hat das Gefühl, die Sprache wirklich gut zu beherrschen, dass er oder sie meint dann besser zu sein als andere Buddhisten, die kein Tibetisch sprechen. Oder manche haben vielleicht einen Doktortitel in Literatur und wenn sie dann die Lehren großer Meister hören, übt ihr Gehirn automatisch Kritik am Englisch der Lehrer. Es ist ausgesprochen schwierig von anderen zu lernen, wenn wir das Gefühl haben, wir wären besser als sie.

Seine Heiligkeit der Dalai Lama spricht beispielsweise ziemlich gut Englisch, aber Englisch ist nicht seine Muttersprache und er hat auch nicht viel Grammatik gelernt. Hören wir dann sein Englisch, bemerken wir vielleicht ein paar Fehler, doch da wir die Motivation haben, den Lehren Seiner Heiligkeit zuzuhören, um für uns und andere einen Nutzen daraus zu ziehen, ist uns das völlig egal und wir würden nie sein Englisch kritisch beäugen.

Ich glaube, dass die meisten Menschen angeben wollen. Wenn ich zum Beispiel etwas kaufe, habe ich bemerkt, dass ich die meiste Freude daraus ziehe, auf meine Bestellung zu warten. Sobald ich dann das Paket öffne, ist die Freude vorbei! Die nächste Freude kommt dann allerdings, wenn ich zusammen mit meinen Freunden auf einer Feier bin und mit meiner neuen Anschaffung angeben will. So bin ich! Nun, vielleicht habe nicht nur ich dieses Problem, es kann gut sein, dass ihr es ebenfalls habt. Mit diesem Vers sagt Togme Zangpo, dass wir immer demütig bleiben sollten, egal welche Reichtümer wir in dieser Welt auch haben mögen – sogar wenn wir nicht nur die Reichtümer der Menschen, sondern jene aller Götter besitzen. 

Das ist wirklich ein hervorragender Rat. In Dharamsala habe ich ältere Tibeter zu ihren Kindern und Enkelkindern sagen hören, dass sie immer darauf achten sollten, niemals anzugeben. Als Flüchtlinge bekommen die Tibeter viele Spenden von diversen internationalen Organisationen und es gibt sogar besondere Gelder von der Regierung. Ich habe also diese alten Leute sagen hören, dass wir immer äußerst demütig sein sollten, denn wenn wir angeben, werden das die lokalen Inder nicht mögen. Die Lebensumstände der Einheimischen sind nicht gerade gut, doch die meisten von ihnen bekommen keine gesonderte Hilfe. Kommen wir nun also in ihre Gemeinde und bauen schicke Hotels und Geschäfte, könnte das zu Problemen führen. Wenn man sich zur Schau stellt, bekommt man mehr Feinde und dann gibt es auch mehr Konkurrenz. Diese älteren Tibeter geben den jüngeren Generationen wirklich gute Ratschläge. 

Ich sage nicht, dass wir nicht reich sein sollten. Gewiss ist es gut, Geld zu haben, wenn wir es nutzen, um anderen und unserer Familie zu helfen. Wollen wir jedoch nichts abgeben und denken: „dieses Geld gehört nur mir“, ist das ein Zeichen von starkem Greifen. 

Das erinnert mich an den Siebenten Dalai Lama. Er war der König von Tibet und lebte in dem beeindruckenden Potala Palast, doch er war auch ein großer Praktizierender, der sagte: „Auch wenn ich ein König und ein Mönch bin, gibt es nur zwei Dinge, die ich brauche: meine gelbe Robe und meine Bettelschale. Das sind die einzigen zwei Dinge, die mir gehören. All die anderen Dinge im Potala sind der Besitz der Tibeter.“ Es ist wunderbar, auf diese Weise ohne Hochmut zu leben. 

Feindseligkeit und Anhaftung überwinden 

(20) Die Übung der Bodhisattvas ist, unseren Geistesstrom mit der Macht von Liebe und Mitgefühl zu zähmen, denn wenn wir unsere eigene Feindseligkeit nicht überwunden haben, mag es zwar sein, dass wir äußere Feinde bezwingen, doch sogleich werden sich wieder neue erheben und immer zahlreicher werden. 

Obwohl in diesem Vers von der Macht von Liebe und Mitgefühl die Rede ist, würde ich sagen, dass es hier auch um Geduld geht. Wenn wir keine Geduld haben, wollen wir uns gleich verteidigen oder rechtfertigen, auch wenn jemand nur eine kleine Sache über uns sagt. Verfügen wir jedoch über Geduld, werden wir nicht viele Feinde haben und das ist ein großer Nutzen. Wenn wir uns in Geduld üben, gibt es nicht viele Feinde, die uns schaden können. Das ist jedoch keine leichte Praxis, aber wenn wir in Geduld und Liebe gegenüber anderen geübt sind, werden wir anderen leichter vergeben können. 

Vor ein paar Jahren reiste eine tibetische Familie mit einem Neugeborenen mit dem Auto durch Amerika. Es gab einen furchtbaren Autounfall, bei dem das Kind starb, die Mutter verletzt wurde und der Vater das Bewusstsein verlor. Es war groß in den Nachrichten. Der Vater sagte dann, dass die Person, die den Unfall verursacht hatte, nicht mit Absicht seinen Sohn getötet hatte und er ihr vergeben würde. Die Person sollte sich nicht für den Rest ihres Lebens schuldig fühlen. Das war ziemlich beeindruckend und ein echtes Zeichen dafür, eine gute Praxis zu haben. Die Eltern waren bereit, jemandem sogar für etwas so Verheerendes zu vergeben. 

Dann gab es einmal einen Fall im tibetischen Kinderdorf während der Vorbereitungen für eine Jubiläumsfeier. Dort gab es eine große Wand und ein Kind warf einen Speer, der durch die Wand und den Körper eines anderen Kindes ging, das etwas auf der anderen Seite der Wand praktizierte. Sie brachten das Kind ins Krankenhaus, wo es eine schwierige Operation durchmachte, doch leider verlor das Kind sein Leben. Man erfuhr, dass der Vater des Kindes ein ziemlich großer und starker Khampa war – Khampas sind oft recht grimmige Kämpfer – und so machten sich alle Sorgen, dass er die Fassung verlieren würde. Dieser Vater fragte, was passiert sei und hörte aufmerksam zu. Dann bat er überraschenderweise mit gefalteten Händen das Kind sehen zu dürfen, welches den Speer geworfen hatte. Er umarmte das Kind und sagte ihm, dass es sich keine Sorgen machen müsse, denn es hatte nicht die Absicht gehabt, seinen Sohn zu verletzen. Er sagte: „Ich habe zwar meinen Sohn verloren, aber könntest du nicht jetzt mein Sohn sein? Du solltest deine Ausbildung weiter fortsetzen und nie vergessen, wer du bist und aus welcher Tradition du stammst.“ Das erfordert Praxis. 

Diese Väter haben keine Feinde. Sie haben keine negativen Gefühle gegenüber der Person, die ihren Verlust bewirkt hat. Wenn man den Feind im Innern besiegt, wird es keinen Feind im Außen geben. 

Objekte der Begierde aufgeben 

(21) Die Übung der Bodhisattvas ist, alle Objekte, die unser Hängen an etwas und unsere Anhaftung anwachsen lassen, sogleich aufzugeben, denn die Objekte der Begierden sind wie Salzwasser: Je mehr wir davon zu uns nehmen, umso größer wird der Durst.

Das ist ein überaus wichtiger Vers. Der Buddha entwarf verschiedene Gelübde für die Mönche und Nonnen, einschließlich dem Zölibat, um Dinge aufzugeben, die zu noch mehr Anhaftung führen. Der Buddha ließ den Palast, sowie seine Frau und das neugeborene Kind hinter sich, weil er das Gefühlt hatte, dass er dadurch so viel mehr für sie tun konnte. Ich habe mit einigen meiner Freunde in Kalifornien über die Lebensgeschichte des Buddhas gesprochen und einer sah ziemlich traurig aus und unterbrach mich. Er sagte: „Wenn der Buddha noch am Leben wäre, würde ich ihn anklagen! Wie konnte er nur sein kleines Baby und seine Frau verlassen!“ 

Natürlich ist das eine Denkweise. Aus einer Sicht könnten wir denken, dass der Buddha ziemlich selbstisch war, als er seine Familie verließ, doch an sich dachte der Buddha überhaupt nicht an sein eigenes Wohl. Er wollte wirklich einen Weg aus dem Leid für alle Wesen finden, auch für seine Frau und sein Kind. Natürlich wäre es viel bequemer, wenn er nicht gegangen wäre. Er lebte schließlich im königlichen Palast, in dem für all seine Bedürfnisse gesorgt war. Stattdessen entschied er sich jedoch zu gehen und nach einem Weg zu suchen, um dem Altern, der Krankheit und dem Tod ein Ende zu setzen. Und wie wir wissen, war er in seiner Mission erfolgreich.

Es ist wirklich schwierig herauszufinden, was die größte Anhaftung in uns bewirkt. Für die meisten Menschen ist es glaube ich der Körper. Andere Dinge sind mehr von vorübergehender Natur. Das wissen wir. Wir kaufen Dinge und werfen sie wieder weg. Obwohl wir an ihnen hängen, ist es also nicht so schwer, sie wieder loszulassen. Doch dieser Körper ist stets bei uns, solange wir leben. Wenn das Bewusstsein den Körper verlässt, haben wir das Gefühl, die ganze Welt zu verlieren. 

Für viele von uns wird es ziemlich schwierig werden, wenn wir sterben. Nicht jeder kann ein Milarepa sein und voller Glück und Freude sterben. Doch mit der Anweisung und Inspiration Seiner Heiligkeit des Dalai Lama und anderer großer Meister können wir unseren Geist darin üben, dem Tod gegenübertreten zu können. Bevor wir uns mit dem Tod konfrontieren, müssen wir uns darin üben, unsere Anhaftung zu verringern. Unsere Anhaftung ist unbegrenzt! Der Buddha war ziemlich schlau und in vielen Sutras spricht er über die Leerheit des Buddha, die Leerheit von allem und jedem. Es gibt also nichts, an dem man klammern könnte, keine Freunde und Freundinnen, nichts. Und dasselbe gilt für Lehrer. Manche Menschen hängen sehr an ihren Lehrern und wenn der Lehrer mit einem anderen Schüler spricht, werden sie eifersüchtig!

Ich werde eine interessante Geschichte mit euch teilen. Es gab einen großen Rinpoche, der nicht mehr lebt. Er wurde von einem Geschäftsmann nach Taiwan eingeladen, der ein Millionär war und den wir Geschäftsmann A nennen. Geschäftsmann A hatte einen Freund, der auch Millionär war, Geschäftsmann B, und der ebenfalls ein Schüler vom Rinpoche war. Der Rinpoche wohnte während seinem Besuch bei Geschäftsmann A und Geschäftsmann B wollte zu einer Audienz mit Rinpoche kommen, doch Geschäftsmann A sagte: „Du kannst nicht in mein Haus kommen, aber vor der Tür warten.“ Geschäftsmann B nahm es mit Respekt, aber wollte trotz allem kommen, bevor der Rinpoche Taiwan wieder verließ, um sich zu verabschieden. Er wartete neben dem Tor mit einer Kata in der Hand. Der Rinpoche war im Aufbruch und verabschiedete sich von allen, als er plötzlich Geschäftsmann B bemerkte, der neben dem Tor wartete. Er sagte, er würde gern hinübergehen, um ihm eine Segnung zu geben, doch Geschäftsmann A stellte sich zwischen die beiden, nahm die Hand des Rinpoche und sagte: „Du kannst ihm keine Segnung geben, weil ich derjenige bin, der dich eingeladen und für alles bezahlt hat!“ Das zeigt die Macht der Anhaftung und zu welchen Handlungen sie uns antreibt, sogar in Bezug auf unsere spirituellen Lehrer.

Wir alle haben das in uns. Zwar mag Geschäftsmann A ein wenig mehr davor haben, doch in gewissem Maß ist es in uns allen. Wir sollten also daran denken, dass wir eines Tages unseren Körper verlassen müssen. Es gibt nichts, woran wir uns hängen können. Wenn wir Salzwasser trinken, wollen wir immer mehr davon und auf diese Weise führen viele von uns ihr Leben, indem sie einfach immer noch mehr haben wollen. Doch am Ende unseres Lebens werden wir sehen, dass wir alles, an dem wir uns erfreut haben, zurücklassen müssen. Und nicht nur das, auch unser ständiger Durst nach mehr war eine völlige Zeitverschwendung. Es gab nichts, was uns echte Zufriedenheit geschenkt hat. Shantideva gibt ein Beispiel in Bezug darauf, sich zu kratzen. Wenn es juckt, kratzt man sich und fühlt sich leichter. Man ist glücklich. Doch Shantideva sagt: „Ich bezeichne das nicht als Glück.“ Ist es ein schönes Gefühl, wenn es juckt? Natürlich nicht und darum kratzen wir uns. Wir sollten also das Kratzen nicht mit Glücklichsein verwechseln! 

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