Rückblick
Bis jetzt sind haben wir in unserer Diskussion gültige und ungültige Arten der Wahrnehmung behandelt. Die gültige Wahrnehmung ist eine Wahrnehmung, die frisch, korrekt und entschieden ist. Wir haben auch über das Begreifen gesprochen, das korrekt und entschieden, jedoch nicht unbedingt frisch ist. Das Begreifen kann explizit oder implizit sein, je nachdem ob das zu begreifende Objekt in der Wahrnehmung erscheint oder nicht. Außerdem haben wir über konzeptuelle und nicht-konzeptuelle Wahrnehmung gesprochen, die davon abhängt, ob wir etwas durch das Zwischenmedium einer Kategorie wahrnehmen oder nicht.
Analysieren wir es an einem Beispiel. Mir ist kalt und ich nehme das durch die Sinneswahrnehmung wahr. Ich weiß nicht, ob die kalte Luft durch ein Fenster kommt, also ob ein Fenster offen ist oder nicht, aber ich fühle einen Luftzug. Aus diesem Grund ist mir kalt. Ich weiß, dass ich, wenn das Fenster offen ist, meine Vorlesung kurz unterbrechen muss, um hinüberzugehen und nachzusehen, oder jemanden darum bitten muss. Auf der Grundlage früheren Wissens weiß ich jedoch gültig, dass ich meine Jacke zumachen muss, wenn ich friere, und mir dann wärmer ist. Wie weiß ich das? Es beruht auf Schlussfolgerung und früheres Wissen. Wenn ich meine Jacke zumache, wird das die Auswirkung haben, dass mir wärmer wird.
Als ich meine Jacke zugemacht habe, wurde das Mikrofon verdeckt, was an meinem Hemd war. Ich habe das an der Geste gesehen, die mein Begleiter machte. Wie wusste ich, was die Geste zu bedeuten hat? Ich hätte auch denken können, er wollte mich damit einfach nur grüßen und sagen: „Hallo, wie geht es dir?“ Das wäre eine konzeptuelle Wahrnehmung, in der ich aus dem Winken seiner Hand eine bestimmte Bedeutung ableitete. Das ist eine Art der Schlussfolgerung. Ich habe das, was ich sah, der geistigen Schublade einer Begrüßung zugeordnet. Doch es war eine fehlerhafte Schlussfolgerung. Hätte ich zurück gewunken, wäre das töricht gewesen. Stattdessen ordnete ich die Geste der geistigen Kategorie zu, mit der Bedeutung: „du Idiot bedeckst gerade dein Mikrofon, wenn du deine Jacke zumachst“, was mein Begleiter wahrscheinlich damit meinte, denn ich kenne ihn ja. Damit wusste ich, was zu tun ist.
Wie wusste ich, was ich nun tun musste? Beruhend auf früherem Wissen gab es eine Schlussfolgerung, die Jacke wieder aufzumachen, um das Mikrofon nicht zu verdecken. All diese Dinge haben mit konzeptueller Wahrnehmung zu tun. Die Frage bleibt allerdings offen, warum ich den Luftzug fühle und ob es ein offenes Fenster gibt oder nicht. Das weiß ich nicht. Ich weiß gültig, dass es eine weitere Wahrnehmung erfordert, um das herauszufinden. Ich müsste nachsehen oder jemanden bitten, der eine gültige Quelle der Information ist.
Mein Begleiter kam gerade her und hat mein Mikrofon von meinem Hemd an die Jacke gesteckt. War eine Emotion damit verbunden? Er beobachtete, was geschah und folgerte korrekt, dass mir kalt ist und was mit meiner Jacke los war. Das motivierte ihn, weiter darüber nachzudenken. Er hätte auch mit Achtlosigkeit erwidern können, doch seine Erwiderung kam aus einer Motivation der Fürsorge und Hilfsbereitschaft. Dann fand er eine Lösung. Wie fand er heraus, dass die Lösung darin bestand, das Mikrofon an die Jacke zu stecken? Er hätte es mir auch an die Nase heften können, was er aber nicht tat. Das ist unterscheidendes Gewahrsein beruhend auf früherem Wissen und einfach auf der Logik, wie Dinge funktionieren. Er hätte es beispielsweise nicht an der Blume in der Vase dort drüben befestigen können, da sie zu weit weg ist.
Wir haben all diese verschiedenen Arten der Wahrnehmung und sie helfen uns, mit verschiedenen Situationen klarzukommen. Sehen wir uns nun die sieben Arten der Wahrnehmung selbst, eine nach der anderen, an.
Bloße Wahrnehmung
Die erste Art, die wir untersuchen werden, ist die bloße Wahrnehmung, die als eine frische, nicht-betrügerische, nicht-konzeptuelle Wahrnehmung definiert wird, in der das erscheinende Objekt eine objektive Entität, nämlich ein nicht-statisches Phänomen ist. Es ist nicht-konzeptuell, also ohne eine beteiligte Kategorie, und das erscheinende Objekt – mit anderen Worten: das geistige Hologramm, welches erscheint, als würde es sich direkt vor dem Bewusstsein befinden – ist eine objektive Entität. Objektive Entität (tib. rang-mtshan) bedeutet im Sautrantika-System ein nicht-statisches Phänomen, etwas das sich ständig verändert, so lange es existiert. Sie kann die Form eines physischen Phänomens – also eine Sinnesinformation, wie Anblick, Klang, Geruch, Geschmack oder körperliche Empfindung – und beruhend auf dieser Information ein allgemein verständliches Objekt sein. Es handelt sich also nicht nur um Sinnesinformation. Es ist zum Beispiel ein Tisch, nicht nur eine farbige Form oder nicht nur ein physischer Eindruck, wenn wir ihn mit unseren Händen berühren. Außerdem ist es eine Art Ding; es ist ein Tisch und kein Hund, den wir mit unseren Händen fühlen.
Das Objekt unserer bloßen Wahrnehmung kann auch eine andere Art nicht-statisches Phänomen, eine Art etwas wahrzunehmen, sein. Wir können uns auf das richten, was wir gerade empfinden, ein Gefühl des Glücklichseins oder Unglücklichseins. Wir können uns auf eine Emotion oder auf unseren Geisteszustand richten, wie bedrückt oder erfreut zu sein. Auch das kann eine bloße Wahrnehmung sein.
Die objektive Entität könnte auch ein Zuschreibungsphänomen sein, eine Zuschreibung der Grundlage eines allgemein verständlichen Objektes. Solche Zuschreibungen sind weder eine Art der Wahrnehmung noch die Form eines physischen Phänomens. Der Fachausdruck für solch eine objektive Entität ist eine nicht-kongruente beeinflussende Variable (tib. ldan-min ’du-byed). Ein Beispiel für solch eine Variable ist das Alter. Das Alter ist keine Form eines physischen Phänomens. Es ist eine Zuschreibung, eine sich ständig ändernde Tatsache in Bezug auf ein physisches Phänomen. Weil eine Zuschreibung nicht physisch ist, können wir nicht sagen, sie würde sich physisch auf einem Phänomen befinden, als wäre sie getrennt von dem Objekt und könnte für sich selbst existieren, unabhängig von dem Objekt, das dessen Grundlage ist. Dennoch ist das Phänomen dessen Grundlage. Das Alter einer Person ist somit nicht etwas, das man physisch am Körper der Person finden kann, sondern eine Zuschreibung beruhend auf der physischen Situation des Körpers. Des Weiteren muss das Alter nicht von jemandem gefolgert werden, um tatsächlich zu begründen, dass es ein Alter in Verbindung mit dem Körper der Person gibt. Das Alter von jemandem ist eine objektive Tatsache in Bezug auf den Körper und die Person, und es ist nicht-statisch: es wächst ständig an.
Sprechen wir von einem Zuschreibungsphänomen, wie einer Person als einer Zuschreibung auf der Grundlage eines Körpers, eines Geistes, Gefühlen und Emotionen, so handelt es sich um eine objektive Entität. Es ist objektiv eine Person, nicht etwas Imaginäres, und hat kein Alter. Das gilt auch für die Bewegung. In einem Moment ist ein Objekt hier, dann dort und im nächsten befindet es sich wieder an einem anderen Ort. Die Bewegung ist eine Zuschreibung dieses Objektes über einen bestimmten Zeitraum. Bewegung findet statt. Sie ist eine objektive Entität, eine Zuschreibung.
Die maßgebenden Unterschiede zwischen Zuschreibung, geistigem Bezeichnen und Benennen verstehen
Das Zuschreiben unterscheidet sich deutlich vom geistigen Bezeichnen, was mit einem konzeptuellen Vorgang verbunden ist, mit dem man Dinge einer Kategorie zuordnet. Geistiges Bezeichnen ist optional, Zuschreiben nicht. Betrachten wir eine Person, wie beispielsweise Mary, ein menschliches Wesen, liegt es an uns, ob wir diese Person, die wir sehen, unserer festen Vorstellung von Mary zuordnen. Diese feste Vorstellung ist das, was wir als eine geistige Kategorie, ein Konzept, bezeichnet haben. Das ist optional, nicht wahr? Es ist geistiges Bezeichnen und nicht dasselbe wie eine Zuschreibung, obwohl es sich im Sanskrit und im Tibetischen (tib. btags-pa) um dasselbe Wort handelt. Es sind zwei ganz verschiedene Dinge.
Dann gibt es noch das Benennen, ebenfalls dasselbe Wort, doch hierbei geht es darum, einer Kategorie mit einem Wort einen Namen zu geben. Das ist ebenfalls optional. Ich kann diese Person konzeptuell der geistigen Kategorie Mary, meine Gastgeberin, zuordnen, doch ihren Namen nicht kennen oder mich nicht an ihn erinnern. Auf diese Weise haben wir diese drei ganz unterschiedlichen Phänomene: Zuschreibung, geistiges Bezeichnen und Benennen. Es ist wirklich maßgebend, die Unterschiede zwischen diesen Dreien zu verstehen.
Mit bloßer Wahrnehmung sehen wir also tatsächlich nicht-konzeptuell farbige Formen, einen Körper und eine Person als eine Zuschreibung des Körpers, die sich über einen Zeitraum erstrecken. Wir sehen ein allgemein verständliches Objekt, eine objektive Entität. Um was für eine Art allgemein verständliches Objekt handelt es sich? Es handelt sich um eine Person, nicht nur um einen Körper, und was ich sehe ist objektiv eine Person, ob ich sie geistig mit der Kategorie einer Person bezeichne, mit der ich in der Pause gesprochen habe und ob ich sie mit dem Namen „Lawry“ bezeichne oder nicht.
Vier Ursachen der Täuschung mit bloßer Wahrnehmung
Bloße Wahrnehmung ist also nicht-konzeptuell und was in ihr erscheint, das erscheinende Objekt, ist ein nicht-statisches Phänomen, eine objektive Entität. Obwohl die bloße Wahrnehmung einer objektiven Entität das Erscheinen eines geistigen Hologramms nach sich zieht, heißt das nicht, dass das, was wir durch die bloße Wahrnehmung wissen, gewissermaßen nur „in unserem Geist“ existiert. Allein im Chittamatra vertritt man die „Nur-Geist“-Theorie, doch hier präsentieren wir die Sautrantika-Sicht und im Sautrantika geht man von objektiver Realität aus.
Bloße Wahrnehmung ist außerdem nicht-betrügerisch. Es gibt vier Ursachen des Trugschlusses oder der Täuschung.
Vertrauen
Die erste Ursache der Täuschung ist „Vertrauen“. Stützt sich die nicht-konzeptuelle bloße Wahrnehmung auf ein fehlerhaftes Sinnesorgan, wie die Augen, mit denen man beim Schielen einen doppelten Mond sieht, ist die bloße Wahrnehmung des doppelten Mondes trügerisch. Tatsächlich schiele ich mit einem Auge und wenn ich meine Brille abnehme, sehe ich ein doppeltes Bild. Das ist trotz allem eine bloße Wahrnehmung, ohne ein Konzept oder eine Kategorie, doch sie ist trügerisch, weil das beteiligte Objekt, der Mond, und das erscheinende Objekt, zwei Monde, nicht einander entsprechen. Ein weiteres Beispiel ist, etwas verschwommen zu sehen, wenn wir kurzsichtig, weitsichtig oder astigmatisch sind und etwas ohne unsere Brille betrachten, oder wenn wir undeutliche Geräusche hören, schwerhörig sind und jemandem zuhören wollen. Auf einen fehlerhaften Sensor zu vertrauen ist somit eine Ursache der Täuschung.
Das Objekt
Ein weiterer Grund für Täuschung ist das „Objekt“. Wenn sich bestimmte Objekte in einer nicht-konzeptuellen Wahrnehmung sehr schnell bewegen, ist die bloße Wahrnehmung von ihnen trügerisch. Das klassische Beispiel ist, wenn wir eine Fackel oder Taschenlampe im Dunkeln kreisen und das trügerische Bild eines Lichtrings sehen. Das ist Täuschung in Bezug auf das Objekt.
Situation
In einem sich bewegenden Zug sehen wir nicht-konzeptuell, wie die Bäume draußen schnell näherkommen und dann nach hinten verschwinden. Wir sehen es nicht-konzeptuell, doch es ist trügerisch. Es ist nicht so, dass sich die Bäume bewegen; wir bewegen uns. Die Bäume laufen nicht auf uns zu, sehen uns, erschrecken sich und rennen in die andere Richtung. So ist das nicht.
Die unmittelbare Bedingung
Die vierte Quelle der Täuschung ist, wenn unser Geist unmittelbar bevor wir jemanden ansehen äußerst gestört ist, vielleicht aus Angst, und wir etwas sehen, das gar nicht da ist.
Das sind die vier Ursachen der Täuschung. Gültige bloße Wahrnehmung ist frei von irgendeiner dieser vier.
Vier Arten der bloßen Wahrnehmung
Es gibt vier Arten der bloßen Wahrnehmung:
- bloße Sinneswahrnehmung;
- geistige bloße Wahrnehmung;
- bloße Wahrnehmung mit reflexivem Gewahrsein; und
- yogische bloße Wahrnehmung.
Unterschiede zwischen „bloßer Wahrnehmung“, „direkter Wahrnehmung“, „expliziter Wahrnehmung“ und „einfacher Wahrnehmung“
Ich benutze hier das Wort „bloße“, weil die Wahrnehmung ohne eine Kategorie stattfindet und nicht konzeptuell ist. Wir sollten darauf achten, welche Worte wir für all diese Aspekte der gültigen Arten der Wahrnehmung nutzen. Es wird zu verwirrend, wenn wir Worte wie „direkt“ und „indirekt“ für mehr als eine Bedeutung innerhalb eines bestimmten Lehrsystems benutzen und sollten sie, wenn möglich, nur auf eine Bedeutung beschränken. Ich beziehe „direkt“ und „indirekt“ darauf, ob sich das Bewusstsein in einer bloßen Wahrnehmung in Kontakt mit dem beteiligten Objekt befindet oder nicht. Diese Variable ist in zwei Kontexten relevant:
- Das Vaibhashika-Lehrsystem vertritt keine geistigen Hologramme. Der Kontakt zwischen der Sinnesinformation eines Objektes und dem Bewusstsein ist direkt und findet ohne das Zwischenmedium eines geistigen Hologramms statt. Ich bezeichne sie als „direkte“ bloße Wahrnehmung. Im Vergleich dazu vertreten die anderen Lehrsysteme das Entstehen von geistigen Hologrammen in der bloßen Wahrnehmung und vertreten somit eine „indirekte“ bloße Wahrnehmung.
- Im Kontext des Sautrantika-Systems, das wir hier behandeln, gibt es eine große Diskussion darüber, ob die bloße Wahrnehmung des Momentes eines Objektes zeitgleich mit diesem Moment stattfindet oder ob wir das geistige Hologramm eines Objektes den winzigen Bruchteil einer Sekunde nach dem ursprünglichen Objekt sehen und das Ursprungsobjekt nie tatsächlich wahrnehmen. Wir sehen nur das geistige Hologramm, denn wenn es erscheint, gibt es den vorangegangenen Moment nicht mehr. In der Gelug-Version nimmt man die vorherige Position ein, die ich in dem Sinne als „direkte“ bloße Wahrnehmung bezeichne, da die Wahrnehmung eines Objektes direkt mit dem gegenwärtig stattfindenden Moment dieses Objektes auftritt. In der Nicht-Gelug-Version vertritt man die letztere Position und somit die „indirekte“ bloße Wahrnehmung, da der Moment der Wahrnehmung eines Objektes nicht in Kontakt mit dem Moment des Objektes ist, das wahrgenommen wird: es geschieht den Bruchteil einer Sekunde später.
„Explizit“ und „implizit“ unterscheiden sich auch von „direkt“ und „indirekt“. Diese Variable bezieht sich darauf, ob etwas beim Begreifen eines Objektes erscheint oder nicht. „Bloße“ und „nicht bloße“ haben etwas damit zu tun, ob die Wahrnehmung durch eine Kategorie geschieht oder nicht. Jedes dieser Begriffspaare bezieht sich auf ganz unterschiedliche Variablen und wenn wir für sie alle dieselben Worte „direkt“ und „indirekt“ benutzen, kann das ziemlich verwirrend sein. Genauigkeit in der Terminologie ist wirklich entscheidend.
Im Prasangika gibt es noch die „einfache“ Wahrnehmung und die „nicht einfache“ Wahrnehmung, was sich darauf bezieht, ob die Wahrnehmung durch das Stützen auf eine Ketten von Argumenten stattfindet oder nicht. Auch hier würden wir für diese Variable nicht die Worte „direkt“ und „indirekt“ benutzen, da es zu weiterer Verwirrung führen würde. Aus diesem Grund ist meine Terminologie oft ungewöhnlich oder anders, aber ich versuche etwas genauer zu sein und Verwirrung zu vermeiden.
Bloße Sinneswahrnehmung
Die bloße Sinneswahrnehmung findet durch eine der fünf Arten des Sinnesbewusstseins statt. In der westlichen Erkenntnistheorie reden wir einfach nur von Bewusstsein und nicht von den verschiedenen Bewusstseinsarten, wie wir es im Buddhismus tun. Im Buddhismus unterscheiden wir die verschiedenen Arten des Sinnesbewusstseins und machen auch einen Unterschied zwischen Sinnesbewusstsein und geistigem Bewusstsein. Das Sinnesbewusstsein hat fünf Arten: Anblick, Klang, Geruch, Geschmack oder körperliche Empfindung. Die körperliche Empfindung findet nicht nur durch den Tastsinn oder dadurch statt, was wir tatsächlich berühren. Sie umfasst auch das Empfinden von Hitze oder Kälte, von Bewegung oder Stillstand, sowie alle möglichen Empfindungen wie hart oder weich.
Wir sollten darauf achten, die körperlichen Empfindungen von Genuss und Schmerz nicht mit den Geisteszuständen von Glücklichsein und Unglücklichsein zu verwechseln. Glücklichsein und Unglücklichsein sind Geistesfaktoren, die sich darauf beziehen, wie wir etwas erfahren. Sie begleiten jede Art der Wahrnehmung, sensorische und geistige, und befinden sich irgendwo im Spektrum zwischen glücklich und unglücklich. In jedem Augenblick empfinden wir ein Grad an Glück oder Leid und dabei handelt es sich um den Geistesfaktor des Gefühls. Er hat nichts damit zu tun, eine Empfindung, eine Emotion oder ein Gefühl zu haben, dass es Regen geben wird, oder damit, verletzte Gefühle zu haben.
Unser deutsches Wort „fühlen“ ist viel zu umfangreich. Es gibt so viele Bedeutungen dafür, doch im Buddhismus bezieht es sich nur darauf, etwas auf dem Spektrum von glücklich oder unglücklich zu empfinden. Das kann die sensorische oder geistige Wahrnehmung begleiten. Die körperliche Wahrnehmung, die wir erfahren, kann Genuss oder Schmerz sein. Wir können darüber glücklich oder unglücklich sein. Oft haben wir das Problem, dass wir Genuss mit dem Glücklichsein gleichsetzen. Es ist ziemlich verwirrend, wenn wir denken, dass wir ständig Genuss brauchen, um glücklich zu sein. So meinen wir beispielsweise, wir müssten einfach nur Schokolade essen oder schöne Musik hören, um glücklich zu sein. Es ist wirklich wichtig, auf der einen Seite zwischen Genuss und Schmerz und auf der anderen Seite zwischen glücklich und unglücklich zu unterscheiden.
Bloße Sinneswahrnehmung stützt sich auf einen der fünf körperlichen Sensoren der Wahrnehmung (tib. dbang-po) als deren vorherrschende Bedingung (tib. bdag-rkyen). Sie dominieren oder beherrschen, um welche Art der Wahrnehmung es sich handelt – Anblick, Klang und so weiter. Diese körperlichen Sensoren der Wahrnehmung sind Formen physischer Phänomene: die lichtempfindlichen Zellen der Augen, die geräuschempfindlichen Zellen der Ohren, die geruchsempfindlichen Zellen der Nase, die geschmacksempfindlichen Zellen der Zunge und die berührungsempfindlichen Zellen des Körpers.
Ein wichtiger Punkt, an den wir denken sollten, ist folgender: durch die Sinneswahrnehmung können wir Dinge nur nicht-konzeptuell wahrnehmen. Ist es eine konzeptuelle Wahrnehmung, handelt es sich um geistige Wahrnehmung.
Geistige bloße Wahrnehmung
Dann haben wir die geistige bloße Wahrnehmung. Sie geschieht durch das geistige Bewusstsein, kann sich auf jedes nicht-statische Objekt beziehen und erfordert nicht, das Objekt durch eine statische Kategorie wahrzunehmen. Die geistige bloße Wahrnehmung entsteht, indem man sich auf einen geistigen kognitiven Sensor als dessen vorherrschende Bedingung stützt. Der geistige kognitive Sensor bezieht sich auf den unmittelbar vorangehenden Moment der Wahrnehmung. Ein körperlicher Sensor der Wahrnehmung ist nicht daran beteiligt. Das Gehirn wird in dieser Formulierung nicht berücksichtigt, da es für alle gilt. In den klassischen buddhistischen Texten wird das Gehirn nicht angesprochen.
Laut Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama sollten wir das Gehirn der buddhistischen Erklärung der Wahrnehmung hinzufügen und es ist kein Widerspruch dies zu tun. Wir müssten nur sagen, dass das Gehirn der allgemeine Sensor der Wahrnehmung ist, der für all die verschiedenen Arten von Sensoren gilt, wie sie in der buddhistischen Erklärung beschrieben werden. Man sollte sich nicht davor fürchten, die Hirnforschung der buddhistischen Analyse hinzuzufügen. Sie fügt der buddhistischen Landkarte des Geistes einfach nur weitere Details hinzu, was wunderbar ist und Seine Heiligkeit begrüßt es.
Das erscheinende Objekt in der bloßen Wahrnehmung ist wie gesagt stets ein nicht-statisches Phänomen. Dasselbe gilt für die geistige bloße Wahrnehmung. Wir können von jedem nicht-statischen Phänomen eine geistige bloße Wahrnehmung haben. Sie findet beispielsweise mit der übersinnlichen Wahrnehmung statt, wenn wir den Geist anderer lesen, doch üblicherweise tritt sie nur für einen Moment am Ende eines Stromes bloßer Sinneswahrnehmung auf, bevor unsere Wahrnehmung konzeptuell wird. Haben wir beispielsweise eine visuelle bloße Wahrnehmung, wenn wir jemanden sehen, gibt es einen winzigen Moment geistiger bloßer Wahrnehmung der Person, bevor wir damit beginnen, das Gesehene konzeptuell der festen Vorstellung zuzuordnen, dass es Mary ist.
Scheinbare geistige bloße Wahrnehmung, wie in Träumen
Es gibt mehrere Arten scheinbarer geistiger bloßer Wahrnehmung, bei denen es sich im Grunde um verzerrte konzeptuelle Wahrnehmungen handelt. Hier gibt es einige Streitigkeiten oder Diskussionen, was zum Beispiel Träume betrifft. Lange Zeit dachte ich, dass die Dinge, die wir scheinbar mit unserem Geist in Träumen oder Vorstellungen „sehen“, mit nicht-konzeptueller geistiger bloßer Wahrnehmung stattfinden würden. Es passte zu den Erkenntnissen moderner Hirnforschung, dass es aus Sicht dessen, was im Gehirn passiert, keinen Unterschied gibt, ob wir etwas sehen oder uns vorstellen. Tatsächlich ist das ein wichtiger Punkt, denn wenn wir uns selbst als eine Buddha-Gestalt visualisieren, wie zum Beispiel Avalokiteshvara oder Tara, wird dadurch der neuronale Pfad aufgebaut, tatsächlich in dieser Form zu erscheinen. Es wird der gleiche neuronale Pfad aufgebaut, ob wir die Gestalt nun visualisieren oder tatsächlich ein Gemälde oder Foto von ihr sehen. Ich dachte, dass es sich genauso verhält, wenn wir uns selbst im Traum als eine dieser Buddha-Gestalten sehen.
Es mag trotz allem der Fall sein, dass durch das Sehen, Träumen oder Visualisierens einer Buddha-Gestalt der gleiche neuronale Pfad aufgebaut wird, doch das begründet nicht, dass dieses scheinbare Sehen der Gestalt in einem Traum eine nicht-konzeptuelle Wahrnehmung ist. Die reguläre Gelug-Sicht ist, dass das Träumen konzeptuell ist. Wir haben das Konzept davon, wie etwas aussieht, beruhend auf Erfahrung während des Tages, und was dann im Traum entsteht, ist eine geistige Repräsentation dieses Konzeptes. Laut Tsongkhapa ist es möglich, in unseren Träumen eine nicht-konzeptuelle Wahrnehmung zu haben, doch das bezieht sich zweifellos auf jemanden, der außersinnliche Wahrnehmungen in seinen Träumen hat. Als Seine Heiligkeit der Dalai Lama zum Beispiel träumte, wo ein bestimmter Lama wiedergeboren wurde oder wiedergeboren wird, war das ein Beispiel dieser außersinnlichen Wahrnehmung in einem Traum und sie wäre nicht-konzeptuell. Das ist jedoch etwas sehr Seltenes.
Bloße Wahrnehmung reflexiven Gewahrseins und der Mechanismus der Erinnerung
Als nächstes geht es um die bloße Wahrnehmung reflexiven Gewahrseins. Gemäß den Lehrsystemen des Sautrantika, Chittamatra und des Yogachara Svatantrika umfasst jede Art der Wahrnehmung nicht nur eine Art des Primärbewusstseins und eine Gruppe bestimmter Geistesfaktoren, sondern auch reflexives Gewahrsein. Dieses reflexive Gewahrsein begleitet jeden Moment nicht-konzeptueller und konzeptueller Wahrnehmung, obwohl es selbst immer nicht-konzeptuell ist. Durch dieses Gewahrsein werden nur die anderen Arten des Gewahrseins, die an der Wahrnehmung beteiligt sind, wahrgenommen, wie das Primärbewusstsein und die Geistesfaktoren. Das reflexive Gewahrsein nimmt sie nicht nur wahr, sondern hinterlässt einen bestimmten geistigen Eindruck als eine dieser nicht-kongruenten beeinflussenden Variablen – eine Tendenz (tib. sa-bon) oder wörtlich einen „Samen“ – dieser Wahrnehmung.
Diese Tendenz bezieht sich auf zukünftige konzeptuelle Wahrnehmungen von etwas, die das repräsentieren, was wir erfahren haben, und uns erlauben, uns nachfolgend an das Objekt zu erinnern, also es erneut zu vergegenwärtigen (tib. dran-pa). Wird die Tendenz aktiviert, entsteht also eine konzeptuelle Wahrnehmung des Ereignisses, das erfahren wurde, zusammen mit einem geistigen Bild, das es repräsentiert. Dieses Erinnern muss sich nicht nur auf ein Ereignis, sondern kann sich auch auf eine Tatsache beziehen, wie 1 plus 1 gleich 2, an die wir uns dann erinnern. Die Erinnerung an etwas findet dann durch konzeptuelle Wahrnehmung eines geistigen Hologramms statt, das dem Objekt ähnelt, welches zuvor wahrgenommen wurde und einer Objekt-Kategorie, die sich geistige vom Objekt ableitet, und in die all die geistigen Hologramme passen, die dem Objekt ähneln.
Wir kommen also zu dieser Vorlesung und gehen dann wieder nach Hause. In jedem Augenblick unserer Anwesenheit hier hat das reflexive Gewahrsein, obgleich es nicht physisch ist, gewissermaßen einen geistigen Eindruck unserer Teilnahme an dieser Veranstaltung aufgenommen. Die Veranstaltung findet nicht mehr statt, doch sie war etwas, das es gab. Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was existiert (tib. yod-pa), also gültig erkennbar ist, wie dass das Gestern existiert hat, und dem, was gegenwärtig stattfindet (tib. srid-pa). Im Tibetischen sind das zwei verschiedene Worte, die oft verwechselt werden. Gestern findet momentan nicht statt, doch es ist trotzdem ein existierendes Phänomen und ich kann gültig an das Gestern denken. Gestern ist ein nicht mehr stattfindendes Ereignis und das Morgen ist ein noch nicht stattfindendes Ereignis. Dennoch können sie gültig erkannt werden. Weil sie erkannt werden können, existieren sie; doch nur weil sie existieren, heißt das nicht, dass sie momentan stattfinden. Gibt es so etwas wie ein Gestern? Ja. Findet das Gestern momentan statt? Nein, das tut es nicht.
Wir nehmen heute an einer Vorlesung teil; dann findet sie nicht mehr statt. Das Nicht-mehr-Stattfinden dieser Vorlesung ist Teil dieses ganzen Phänomens einer Tendenz, sich daran erinnern zu können. Durch unsere Anwesenheit hier haben wir nun eine Kategorie der stattgefundenen Vorlesung und unserer Teilnahme. Später können wir wieder an die Vorlesung denken; wir können uns konzeptuell an sie erinnern oder sie abrufen. In dieser konzeptuellen Wahrnehmung gibt es eine geistige Kategorie als das erscheinende Objekt, das in gewissem Sinne hochkommt und aktiviert wird, und diese geistige Kategorie ist jene der gestrigen, nicht mehr stattfindenden Vorlesung. Sie wird durch etwas repräsentiert, an das wir uns erinnern können. Das, an was wir uns erinnern, kann jedes Mal, wenn wir daran denken, etwas ganz anderes sein. Auch an was jeder von uns sich erinnern, kann völlig verschieden sein, obwohl wir alle die Kategorie „die gestrige Vorlesung“ benutzen. Das, was das Ereignis repräsentiert, kann korrekt oder nicht korrekt sein. Es kann auch unentschieden sein, wenn wir uns nicht so gut erinnern. Wir denken, dass es etwas so war, sind uns aber nicht sicher.
Das ist das Erinnern und sich an etwas zu erinnern ist konzeptuell. Es ist spannend zu untersuchen, ob unsere Erinnerungen korrekt sind oder nicht, und an was wir uns erinnern. Das wird wichtig, wenn es darum geht, wie wir mit einem spirituellen Lehrer umgehen. Diese Analyse hat eine große Anwendung im alltäglichen Leben, nicht nur in Bezug auf unseren Lehrer. Was den Lehrer betrifft, so sollten wir, wenn wir uns an die Person erinnern und an sie denken, uns nur auf die wirklich objektiven positiven Eigenschaften des Lehrers konzentrieren, sogar, wenn wir mit ihm zusammen sind und ihn begrifflich erfassen. Wir heben die Eigenschaften nicht zu sehr hervor oder projizieren nicht welche, die gar nicht da sind, um kein sehnsüchtiges Begehren und keine Anhaftung hervorzurufen. Wir leugnen auch nicht die negativen Eigenschaften und Mängel, aber richten nicht unsere Aufmerksamkeit auf sie.
Wir repräsentieren die Gurus oder Lehrer durch ihre positiven Eigenschaften. Wenn wir an die positiven Eigenschaften denken, ist das inspirierend. Denken wir hingegen an die negativen Eigenschaften, lamentieren wir nur und fühlen uns deprimiert. Es gibt keinen Nutzen, wenn wir lamentieren, dass unser Lehrer zu beschäftigt ist, zu viele Schüler hat und beispielsweise keine Zeit für uns hat. Das ist ein gültiger Punkt, wenn wir einen Lehrer haben, der weltberühmt ist und tausende Schüler hat. Es ist ein korrekter Punkt, dass der Lehrer keine Zeit für uns hat und nicht ständig da ist. Fokussieren wir uns jedoch darauf und dramatisieren es als etwas so Furchtbares, wenn wir an unseren Lehrer denken, wird das keinerlei Nutzen haben. Denken wir hingegen an die positiven Eigenschaften des Lehrers, kann das wirklich inspirierend sein.
Dasselbe gilt, wenn wir uns an unsere Beziehung mit einer anderen Person erinnern und an sie denken. Unsere Eltern mögen nicht die idealsten Eltern gewesen sein oder unser Partner mag nicht der ideale Partner sein, doch ständig zu lamentieren und sich auf die negativen Eigenschaften zu richten, zieht uns nur runter. Auf jeden Fall macht es uns nicht glücklich und hilft uns nicht weiter. Denken wir an die positiven Eigenschaften und heben sie hervor, kann das hingegen überaus hilfreich sein. Es inspiriert uns und gibt uns etwas, wovon wir lernen können. Auch wenn wir negative Eigenschaften sehen, können wir von ihnen lernen, anstatt zu sagen, wie furchtbar diese Person ist. Wir können lernen, nicht so zu handeln, was auch eine Lehre ist.
Daher ist es ausgesprochen wichtig, wie wir jemanden in unserem konzeptuellen Gedanken repräsentieren. Wir können wählen, an was wir uns in Bezug auf eine Person oder ein Ereignis erinnern. Vielleicht war es das Einzige, woran wir uns erinnern, dass der Lehrer zu lange gesprochen hat, was wir als nervend und ermüdend empfanden. Wir erinnern uns an nichts Positives, was wir aus der Vorlesung gelernt haben. Zu verstehen, wie die Erinnerung funktioniert, ist wirklich hilfreich.
Im Sautrantika-System wird das Erinnern mit dieser zusätzlichen Art der Wahrnehmung namens reflexives Gewahrsein erklärt und es verfügt stets über nicht-konzeptuelle bloße Wahrnehmung des Primärbewusstseins und der Geistesfaktoren eines jeden Moments unserer nicht-konzeptuellen oder konzeptuellen Wahrnehmung. Mit reflexivem Gewahrsein bemerken wir, was in unserer Wahrnehmung passiert, und nehmen es als wertvoll oder nicht wertvoll, korrekt oder nicht korrekt auf. Unterscheidendes Gewahrsein hilft dabei, es zu erkennen, doch durch reflexives Gewahrsein wird diese Information aufgenommen. Im Prasangika würde man sagen, dass wir keine getrennte Fähigkeit wie reflexives Gewahrsein benötigen, um uns bewusst darüber zu sein, dass eine Wahrnehmung stattfindet. Wir wissen es implizit als Teil jeder Wahrnehmung.
Yogische bloße Wahrnehmung
Um es noch einmal zu wiederholen: wir haben bloße Wahrnehmung mit den Sinnen, geistige bloße Wahrnehmung, bloße Wahrnehmung mit reflexivem Gewahrsein und die vierte ist die yogische bloße Wahrnehmung. Wie gesagt sind sie alle nicht-konzeptuell. Yogische bloße Wahrnehmung findet mit geistigem Bewusstsein statt und stützt sich auf das verbundene Paar von Shamatha und Vipashyana. Ein verbundenes Paar (tib. zung-’brel) ist ein Fachausdruck dafür, dass zunächst eine Sache entsteht und die andere dann damit verbunden wird, im Gegensatz zu einem Paar von Dingen, die gleichzeitig auftreten. Mit einem verbundenen Paar von Shamatha und Vipashyana erlangen wir zunächst Shamatha und dann Vipashyana, was damit verbunden wird. Das ist ein Beispiel dafür, der Ursache den Namen des Resultats zu geben. Shamatha und Vipashyana beziehen sich im Grunde auf das Resultat, das wir erlangen wollen, einen Zustand von Shamatha und einen Zustand von Vipashyana, doch wir benennen die Meditationspraxis, um dies zu erlangen, mit dem Namen des Resultats.
Was ist Shamatha? Wörtlich ist es ein still gewordener und zur Ruhe gekommener Geisteszustand. Er kann konzeptuell oder nicht-konzeptuell sein, doch mit yogischer bloßer Wahrnehmung sprechen wir nur von der nicht-konzeptuellen Variante. Ob konzeptuell oder nicht-konzeptuell, Shamatha ist ein Geisteszustand, der von Flatterhaftigkeit, einer Unterkategorie des geistigen Abschweifens oder der Ablenkung, und geistiger Dumpfheit beruhigt wurde.
Flatterhaftigkeit des Geistes heißt, wenn unser Geist sich von dem Objekt der Ausrichtung zu einem belanglosen Objekt aufgrund sehnsüchtigen Verlangens nach diesem Objekt hinbewegt, also „davonfliegt“. Weil wir die guten Eigenschaften dieses Objektes überbewerten, wollen wir lieber daran denken, als uns auf das Objekt der Meditation zu konzentrieren. Wir wollen darüber nachdenken, weil wir es mögen oder interessanter finden, wie zum Beispiel darüber, was wir heute tun werden, über jemanden oder ein Objekt, an dem wir hängen und so weiter. Flatterhaftigkeit des Geistes ist das größte Hindernis zum Erlangen von Konzentration. Natürlich gibt es auch geistiges Abschweifen und Ablenkung aufgrund von Wut, weil wir uns über etwas oder jemanden ärgern. Das kann ebenfalls ein großes Problem sein. Doch für gewöhnlich wird die Flatterhaftigkeit des Geistes aufgrund von sehnsüchtigem Verlangen als das größte Hindernis zum Erlangen von Shamatha angesehen, besonders wenn wir uns im Meditationsretreat befinden und etwas oder jemanden vermissen, an dem wir hängen.
Mit Shamatha wird unser Geist von dieser Flatterhaftigkeit, dem allgemeinen geistigen Abschweifen und auch von geistiger Dumpfheit zur Ruhe gebracht. Es gibt verschiedene Stufen und wir können auch vertiefte Konzentration oder Samadhi erlangen, was jedoch kein Shamatha-Zustand ist. Beim Shamatha gibt es zusätzlich dazu ein Hochgefühl der Glückseligkeit, sowohl körperlich als auch geistig, mit dem wir so lange sitzen können, wie wir wollen und unseren Geist, frei von Ablenkung, Dumpfheit und Flatterhaftigkeit so lange auf etwas richten können, wie wir wollen. Dieser Zustand wird als überaus erhebend und stimulierend beschrieben, was ich so gehört habe, denn ich habe ihn keinesfalls selbst erlangt.
Shamatha kann sich auf viele verschiedene Dinge richten und das geschieht, indem wir etwas auf bestimmte Weise – also mit einem gewissen Verständnis – beachten (tib. yid-la byed-pa, Aufmerksamkeit schenken). Der Sinn und Zweck von Shamatha liegt somit nicht nur darin, bessere Konzentration zu erlangen. Wir konzentrieren uns besser auf etwas, dass mit einem korrekten Verständnis darüber zusätzlich als ein Gegenmittel dient, um manche störenden Geisteszustände bezüglich eines Objektes zu beseitigen. Wir richten uns also auf viele verschiedene Dinge, je nachdem welche Absicht wir mit Shamatha verfolgen.
Asanga gab eine lange Liste verschiedener Objekte, auf die man sich mit Shamatha richten kann, abhängig davon, was unser Hauptproblem ist. Der Atem ist das empfohlene Objekt der Ausrichtung, wenn unser größtes Problem in Ablenkung und geistigem Abschweifen besteht, einschließlich verbaler Gedanken und anderem geistigen Müll in unserem Geist. Für die meisten von uns ist er ziemlich dominant und wenn wir uns auf den Atem ausrichten, können wir damit diesem geistigen Abschweifen entgegenwirken. Bestehen unsere Hauptprobleme aber zum Beispiel darin, körperliches Verlangen und Anhaftung an jemanden zu haben, richten wir uns auf den menschlichen Körper, den wir so attraktiv finden, sowie auf all die Abfallprodukte, die sich im Magen und den Gedärmen befinden, und auf das Skelett als Objekt der Konzentration. Wenn wir dadurch Shamatha anstreben, erlangen wir nicht nur Konzentration, sondern beseitigen zusätzlich dazu auch Anhaftung und Wünsche.
Das Erlangen von Shamatha ist hier eine vorläufige Maßnahme, da es die tiefste Ursache für unsere Anhaftung an den Körper nicht beseitigt, nämlich zu meinen, er sei selbst-begründet und würde unabhängig existieren, ohne sich auf etwas anderes zu stützen. Beruhend auf unserem Greifen nach selbst-begründeter Existenz beginnen wir dann, Anhaftung an den Körper zu entwickeln. Mit Shamatha konzentrieren wir uns jedoch auf unser Objekt mit korrekter Betrachtung und Vergegenwärtigung dieser Aspekte. Wir haben das grobe Verständnis, dass es in unserem Körper alle möglichen unattraktiven Dinge gibt, jedoch ohne uns aller Einzelheiten bewusst zu sein.
Unser Shamatha wird hier, ob konzeptuell oder nicht-konzeptuell, neben dem Nicht-Haften von vielen anderen Geistesfaktoren begleitet, wie Liebe und Mitgefühl. Es gibt auch das auseinanderhaltende Gewahrsein. Um was geht es uns hier? Anstatt zu erkennen, wie schön der Körper von außen ist, richten wir uns auf das Innere: das Skelett und die Abfallprodukte der Gedärme.
Ist unser Problem die Wut, fokussieren wir uns auf jemanden oder etwas, der oder das uns wirklich wütend macht, wie eine Person oder die irrationale Denkweise von Menschen, und richten uns mit Liebe darauf. Wir verstehen und vergegenwärtigen die Tatsache, dass Menschen, die irrational denken, deswegen leiden, und mit Liebe und Mitgefühl wünschen wir uns, sie mögen glücklich und frei davon sein. Unser Shamatha richtet sich dann mit Liebe auf eine bestimmte Person oder jemanden, der alle irrationalen Menschen repräsentiert und wir tun es mit der korrekten Überlegung, dass sie wegen ihrem irrationalen Denken leiden. Dann arbeiten wir daran, einen Shamatha-Zustand zu erreichen, der auf diese Weise ausgerichtet ist.
Asanga hat eine lange Liste von verschiedenen Themen, mit denen wir Shamatha erlangen können. Wir sollten nicht denken, beim Shamatha würde es nur um den Atem, das Gewahrsein oder den offenen Raum des Gewahrseins gehen. Das sind Beispiele von Objekten, die wir nutzen können, doch kein Objekt, das wir für unsere Ausrichtung wählen, sollte nur dazu dienen Konzentration zu erlangen. Es sollte auch dazu da sein, uns zu helfen, bestimmte störende Geisteszustände vorläufig loszuwerden.
Haben wir erst einmal einen Zustand von Shamatha erreicht, streben wir an, zusätzlich dazu noch einen Zustand von Vipashyana zu erreichen. Unser Geist ist weiter vollkommen mit Shamatha ausgerichtet – es gibt keine Flatterhaftigkeit des Geistes, keine geistige Dumpfheit, aber das belebende glückselige Gefühl körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit, mit der wir uns so lange wir wollen konzentrieren können. Doch mit Vipashyana verfügen wir über grobes Feststellen (tib. rtog-pa) der allgemeinen Details bezüglich unseres Objektes der Ausrichtung und auch über subtiles Unterscheidungsvermögen (tib. dpyod-pa) all der genauen Einzelheiten. Zusätzlich erlangen wir ein zweites belebendes glückseliges Gefühl der Leistungsfähigkeit, mit der wir in der Lage sind, alle Einzelheiten von allem zu erkennen und zu verstehen. Daher wird Vipashyana als ein „Geisteszustand von außergewöhnlicher Wahrnehmungsfähigkeit“ bezeichnet.
Die drei Objekte yogischer bloßer Wahrnehmung
Zunächst erlangen wir mit konzeptueller Wahrnehmung ein verbundenes Paar von Shamatha und Vipashyana. Yogische bloße Wahrnehmung findet statt, wenn wir dieses Paar nicht-konzeptuell erlangen. Nicht alle nicht-konzeptuellen verbundenen Paare von Shamatha und Vipashyana sind jedoch Beispiele für yogische bloße Wahrnehmung. Yogische bloße Wahrnehmung findet statt, wenn sich das verbundene Paar nicht-konzeptuell auf nur eines von drei möglichen Objekten richtet:
- subtile Vergänglichkeit; sowie
- grobe oder subtile Selbstlosigkeit oder Leerheit, wie sie von einem der buddhistischen Lehrsysteme vertreten wird.
Im Hinayana-Lehrsystem – Vaibhashika und Sautrantika – wird nicht der Begriff „Leerheit“, shunyata benutzt. Hier geht man von Anatman, der so genannten „Selbstlosigkeit“, „Identitätslosigkeit“ oder das „Nichtvorhandensein einer unmöglichen Seele“ aus, und zwar nur in Bezug auf Personen und nicht auf alle Phänomene. Mit anderen Worten vertritt man das Nichtvorhandensein einer Person, die als eine Seele existiert, als das „Atman“, wie es von einer der nicht-buddhistischen indischen Schulen der Philosophie vertreten wird. Es ist unmöglich, dass eine Person als ein Atman oder eine Seele existiert, da es so etwas, wie einen Atman, nicht gibt. Das Mahayana-Lehrsystem vertritt zusätzlich dazu das Nichtvorhandensein einer unmöglichen Seele von Phänomenen. Es gibt zum Beispiel keine unmögliche „Seele“ einer Blume, die sich in diesem Objekt befindet und es als eine Blume und nicht als einen Hund begründet.
Im Mahayana bezeichnen wir dieses Nichtvorhandensein oder diese Abwesenheit als „Leerheit“ oder „Leere“. Ich mag den englischen Begriff „emptiness“ nicht, da er auf die Chittamatra- und Svatantrika-Positionen hindeutet, dass es selbst-begründete Objekte gibt, sie jedoch in dem Sinne „empty“ oder leer sind, da ihnen eine zusätzliche unmögliche Existenzweise fehlt. Anders ausgedrückt: Es gibt da ein auffindbares, selbst-begründetes Objekt, das nichts in sich hat, wie ein leeres Glas. Im Prasangika bedeutet shunyata hingegen einfach eine völlige Abwesenheit oder „so etwas gibt es nicht“. Es ist auch das Wort für Null. So etwas, wie diese unmögliche Existenzweise, gibt es nicht und es ist nicht so, als gäbe es da etwas Auffindbares, dem etwas Unmögliches im Innern fehlt. Eine Leerheit ist somit eine völlige Abwesenheit: eine Abwesenheit einer unmöglichen Existenzweise, die nicht der Realität entspricht. Sie ist völlig abwesend, weil es so etwas nicht gibt.
Mit einer Art yogischer bloßer Wahrnehmung richten wir uns also nicht-konzeptuell auf das Nichtvorhandensein einer unmöglichen Seele einer Person oder auf eine Leerheit. Mit einer zweiten Art richten wir uns nicht-konzeptuell auf die subtile Unbeständigkeit. „Grobe Unbeständigkeit“ bezieht sich auf die Tatsache, dass alle bedingten Phänomene, also alles Neue, das aufgrund von Ursachen und Bedingungen entsteht, zu einem Ende kommen wird. Warum? Weil die Ursachen und Bedingungen, die sie erschaffen haben, sie nicht mehr in jedem Moment neu erschaffen. Daher kommen sie zu einem Ende und das ist die grobe Unbeständigkeit oder Vergänglichkeit.
Subtile Unbeständigkeit, das dritte mögliche Objekt für yogische bloße Wahrnehmung, bezieht sich auf die Tatsache, dass solche Phänomene jeden Moment ihrem Ende näher kommen, da sie sich von einem Augenblick zum nächsten ändern. Sie tun es, weil sie erschaffen wurden. Was ist die Ursache für Tod? Die Ursache für Tod ist die Empfängnis. Wären wir nicht empfangen worden, würden wir nicht sterben. Nachdem wir empfangen wurden, bringt uns jeder Augenblick dem Tod näher, sogar wenn der Tod eintritt, bevor wir geboren wurden. Es wird bestimmte Umstände geben, die unseren Tod bewirken, doch die eigentliche Ursache für den Tod ist, dass wir empfangen wurden. Noch ein Beispiel: Warum ist mein Computer kaputt gegangen? Er ging kaputt, weil er gebaut wurde, nicht weil ich Wasser darüber geschüttet habe. Wasser darüber zu schütten ist nur der Umstand, unter dem er kaputt ging, doch auch wenn das nicht passiert wäre, würde er unweigerlich irgendwann kaputt gehen. Verstehen wir subtile Unbeständigkeit, werden wir uns nicht so sehr ärgern, wenn er kaputt geht.
Das ist wirklich hilfreich. Eine Beziehung, die wir eingegangen sind, kam beispielsweise durch Ursachen und Bedingungen zustande. Ich befand mich auf dieser Stufe meines Lebens und du warst gerade auf jener Stufe; bei mir war gerade dies los und bei dir jenes. Ich lebte hier und du lebtest dort. Ich interessierte mich für dies und du für das. Ich sah gerade so aus und du so. Aufgrund dieser Bedingungen begann die Beziehung.
Im Laufe der Zeit änderten sich all diese Bedingungen; sie haben die Beziehung nicht weiter erschaffen. Vielleicht erinnere ich mich an diese Bedingungen, doch nun zog ich in eine andere Stadt, interessierte mich für etwas anderes, habe etwas anderes über die Person erfahren und so weiter. Daher ändert sich die Beziehung ständig. Die Beziehung ist auch irgendwann zu einem Ende gekommen, weil sie begonnen hat. Dieses Ende wird entweder darin bestehen, dass die eine oder andere Person stirbt oder sich die Situation so sehr ändert, dass es für die Fortsetzung der Beziehung und das Zusammensein der Leute keinen Sinn mehr gibt. Das geschieht, weil die ursprünglichen Bedingungen, die die Beziehung entstehen ließen, nicht jeden Augenblick immer wieder stattfinden.
Das zu verstehen ist überaus hilfreich. Wir lernen dadurch, dass wir in der Lage sein müssen, die Beziehung im Laufe der Zeit beruhend auf den momentanen Bedingungen und Situationen von uns und der anderen Person neu zu erfinden. Wenn wir versuchen, sie beruhend darauf am Leben zu erhalten, was wir vor fünf Jahren hatten, wird es nicht funktionieren. Das ist wirklich hilfreich.
Wie kann gültige Wahrnehmung Leiden hervorrufen?
Ich bin ein bisschen verwirrt. Ich könnte mir diesen Stuhl mit bloßer Wahrnehmung ansehen und das wäre eine gültige Weise, ihn zu sehen. Doch dann entwickle ich vielleicht große Anhaftung und will ihn ganz für mich haben. Ihn mit dieser Anhaftung zu sehen erzeugt Leiden. Doch ich sehe ihn nach wie vor mit gültiger bloßer Wahrnehmung. Wie können wir etwas auf gültige Weise kennen, wenn es dennoch Leiden hervorruft?
Wenn wir den Stuhl ansehen, gibt es eine gültige Wahrnehmung des Stuhles. Das ist gültige bloße Wahrnehmung; doch wenn wir den Stuhl ansehen, nach ihm greifen und meinen, er wäre der schönste Stuhl der Welt, er wäre mein Stuhl und wehe, jemand setzt sich dorthin, und Angst haben, jemand könnte seinen Kaffee drüber schütten, handelt es sich um scheinbare bloße Wahrnehmung, da wir dessen Qualitäten überbewerten. Sie ist nicht mehr gültig. Wie gesagt gibt es ja verschiedene Arten bloßer Wahrnehmung: gültige bloße Wahrnehmung, nachfolgende bloße Wahrnehmung und unentschiedene bloße Wahrnehmung. Es gibt aber auch scheinbare bloße Wahrnehmung, die eigentlich keine bloße Wahrnehmung ist, sondern konzeptuell, wie in einem Traum oder wenn wir etwas überbewerten.
Das Kriterium für eine gültige bloße Wahrnehmung ist hier, dass ich einen Stuhl mit meinen Augen sehe. Sie ist frisch, wenn ich in das Zimmer komme und den Stuhl sehe. Es ist auch korrekt und entschieden, dass ich den Stuhl sehe.
Ja, sie ist frisch, korrekt und entschieden. Sie ist nicht betrügerisch und somit keine Täuschung. Das Sehen wird trügerisch, wenn wir den Stuhl mit Anhaftung sehen. Sie ist trügerisch, weil wir beispielsweise denken, dass es etwas auf Seiten des Stuhles gibt, das ihn als „meinen“ begründet. Wir projizieren das „Ich“ auf ihn und identifizieren entweder ein solides „Ich“ mit diesem Stuhl, weil die Bauart und das Design zu uns passt, oder wir sehen uns selbst als ein solides „Ich“, das ihn besitzen kann.
Handelt es sich nur um eine gültige Wahrnehmung, wenn wir eine neutrale Einstellung ihm gegenüber haben?
Konventionell könnte das, was wir sehen, unser Stuhl sein, wenn wir ihn gekauft haben. Es gibt einen Unterschied zwischen der konventionellen Wahrheit darüber und das Greifen nach ihm, mit dem wir das Gefühl haben, er würde festgeschrieben zu uns gehören, und besitzgierig werden.
Vielleicht war meine Frage, wie eine gültige Art der Wahrnehmung Leiden hervorrufen kann. Kann ich trotzdem leiden, auch wenn ich etwas auf gültige Weise kenne? Könnte man sagen, dass bloße Wahrnehmung darin besteht, den Stuhl zu sehen, ihn jedoch nicht als zu uns gehörend zu erkennen, wodurch wir die Qualitäten des „Ichs“ hervorheben würden? Wenn wir nichts auf das Objekt projizieren, sondern nur die Eigenschaften des Objekts erkennen und es nicht als unseres sehen, glaube ich, dass unsere gültige Wahrnehmung keine Leiden hervorrufen kann.
Das ist ein guter Punkt, den du ansprichst. In unserer Analyse des Sehens des Stuhles haben wir nur über die Gültigkeit unserer Wahrnehmung in Bezug auf das Sehen des Objektes gesprochen, doch wir haben nicht wirklich die Beziehung des „Ichs“ mit dem Stuhl in Betracht gezogen. Das ist wahr. Wir können ihn konzeptuell durch die Kategorie „mein“ wahrnehmen und ihn als „meinen Stuhl“ benennen, was beruhend auf der Tatsache, dass wir ihn gekauft haben, und beruhend auf der Überlegung, dass er durch den Kauf konventionell unserer ist, eine gültige Schlussfolgerung wäre. Das ist wahr und eine objektive Tatsache hinsichtlich des Stuhls. Er ist mein Stuhl, nicht deiner oder der Stuhls eines anderen, weil wir ihn tatsächlich gekauft haben. Doch wie steht es damit, ihn wahrhaft als „meinen“ zu betrachten?
Obgleich es nicht wirklich Teil der Thematik der Arten der Wahrnehmung ist, müssen wir hier dennoch Tsongkhapas Erklärung mit ins Spiel bringen, dass Wahrnehmungen zwei Aspekte haben. Seine Behauptung ist auf die Definition des Primärbewusstseins zurückzuführen. Primärbewusstsein ist ein Bewusstsein, mit dem man sich der Wesensnatur von etwas gewahr ist. Alles hat zwei Wesensnaturen (tib. ngo-bo). Es gibt die konventionelle oder oberflächliche Wesensnatur dessen, was etwas ist: es handelt sich um einen Stuhl und keinen Hund; es ist mein Stuhl, nicht deiner, weil ich ihn gekauft habe, nicht du. Unsere Wahrnehmung dieser konventionellen Natur kann korrekt sein: der Stuhl gehört uns und nicht jemand anderem. Sie kann auch entschieden sein: wir haben keine Zweifel, es ist unser Stuhl. Doch dann gibt es auch die tiefste Wesensnatur dessen, wie er existiert. Wir nehmen ihn konzeptuell mit geistigem Bewusstsein wahr, was bedeutet, ihn nicht-konzeptuell zu sehen und konzeptuell zu wissen, dass er uns gehört.
Zwischen den Gelug- und Nicht-Gelug-Meistern gibt es darüber große Streitigkeiten. Die Gelugpas sagen, dass eine Wahrnehmung bezüglich dessen gültig sein kann, was die konventionelle Wesensnatur ist, doch ungültig in Bezug darauf, wie er existiert. Wie er existiert, kann sich darauf beziehen, wie das Objekt selbst existiert oder wie die Person existiert, die ihn wahrnimmt oder sieht. Der Punkt ist, dass wir den Aspekt einer Wahrnehmung, mit dem wir wahrnehmen, was etwas ist, vom Aspekt unterscheiden müssen, mit dem wir wahrnehmen, wie er existiert. Tsongkhapa behauptet, dass nur weil die Wahrnehmung dessen, wie etwas existiert, verzerrt, fehlerhaft und ungültig ist, die Gültigkeit der korrekten, entschiedenen Wahrnehmung dessen, was es ist, nicht entkräftet.
Der Nicht-Gelug-Standpunkt, den Tsongkhapa widerlegt, besagt, dass die ganze Wahrnehmung falsch ist, wenn ein Teil der Wahrnehmung falsch ist. Das ist der eigentliche Bereich der Unstimmigkeit, den Tsongkhapa so vehement widerlegte. Wir müssen diese zwei Aspekte der Wahrnehmung unterscheiden; ansonsten könnten wir, da alle Wahrnehmung außer der nicht-konzeptuellen Wahrnehmung der Leerheit ungültig in Bezug darauf ist, wie Dinge existieren, leicht in eine nihilistische Position fallen, mit der wir meinen, alles Wahrgenommene wäre falsch und wir müssten einen transzendenten Zustand jenseits all dessen erreichen, um eine gültige Wahrnehmung zu haben. Laut ihm grenzt uns diese Sicht völlig von konventioneller Realität ab.
Tsongkhapa wendet ein, dass wir eine gültige Wahrnehmung dessen haben könnten, was etwas konventionell ist, die dennoch gleichzeitig ungültig in Bezug darauf ist, wie etwas existiert. Die störenden Emotionen und das daraus entstehende Leid werden durch die ungültige Art der Wahrnehmung dessen, wie etwas existiert, hervorgerufen, nicht durch die gültige Wahrnehmung dessen, was etwas konventionell ist.
Ein Aspekt der Wahrnehmung ist gültig in Bezug darauf, was etwas konventionell ist, doch der andere Aspekt ist ungültig aus der tiefsten Sicht bezüglich dessen, wie es existiert. Es scheint, als wäre dessen Existenz wahrhaft durch etwas begründet, das unabhängig und von sich aus auffindbar wäre und es wahrhaft zu einem Stuhl und uns wahrhaft zu dessen Besitzer macht. Der Aspekt unseres Sehens des Stuhles, mit dem wir diese Existenzweise wahrnehmen, ist ungültig und weil wir sie fälschlicherweise als wahr betrachten, leiden wir. Wir werden besitzgierig, nerven uns, wenn andere ihn benutzen, ihren Kaffee darüber schütten oder ihm nahekommen, was Leiden hervorruft. Dann handeln wir zwanghaft und schreien jemanden an, der sich ihm nähert. Doch die Wahrnehmung ist vollkommen gültig, was das Sehen eines Stuhles betrifft und das Wissen, dass es unser Stuhl ist.
Rückblick: bloße Wahrnehmung
Um es noch einmal zu wiederholen: Im Sautrantika geht man davon aus, dass wir yogische bloße Wahrnehmung mit der Vereinigung von Shamatha und Vipashyana haben können, die sich nicht-konzeptuell auf grobe Unbeständigkeit, subtile Unbeständigkeit oder die Selbstlosigkeit der Person richtet. Im Prasangika vertritt man, dass nur die Wahrnehmung, die auf die Leerheit gerichtet ist, tatsächliche yogische bloße Wahrnehmung ist.
Zusammenfassend kann man dann sagen, dass es vier Arten der bloßen Wahrnehmung gibt: die sensorische, die geistige, die mit reflexivem Gewahrsein – das nicht-konzeptuelle Aufnahmegerät – und die yogische. Sie alle sind nicht-konzeptuell und müssen frei von jeglicher Ursache für Täuschung sein, ansonsten handelt es sich um trügerische, scheinbare bloße Wahrnehmung, doch nicht wirklich um gültige Wahrnehmung.
Denkt daran, dass eine Wahrnehmung auch konventionell in Bezug darauf gültig sein kann, was etwas ist, doch ungültig hinsichtlich dessen, wie etwas existiert. Weil sie ungültig in Bezug darauf ist, wie etwas existiert, haben wir störende Emotionen und Leiden. Unsere Probleme können sich durch weitere ungültige Wahrnehmung hinsichtlich dessen verstärken, was etwas ist, wie wenn wir denken, etwas würde mir gehören, wenn es im Grunde dir gehört. Wir können große Anhaftung haben, wenn wir denken, etwas würde feststehend existieren, doch unsere Anhaftung kann auch auf der fälschlichen Vorstellung beruhen, dass etwas uns gehört, wenn dem nicht so ist. An all diese Punkte gilt es zu denken, wenn wir gültige bloße Wahrnehmung studieren.