Im Buddhismus wird nachdrücklich hervorgehoben, dass wir alle Buddhas werden können – aber was heißt es, ein Buddha zu werden? Ein Buddha ist jemand, der seine Unzulänglichkeiten völlig beseitigt hat, all seine Mängel bereinigt und all seine Potenziale verwirklicht hat. Buddhas haben genauso angefangen wie wir: als gewöhnliche Wesen, die im Leben Schwierigkeiten hatten. Aufgrund ihrer Verwirrung bezüglich der Realität, ihrer unrealistischen Projektionen und dem hartnäckigen Glauben daran sowie der darauf beruhenden störenden Emotionen und zwanghaften Verhaltensweisen traten ihre Probleme unweigerlich immer wieder auf. Aber sie erkannten, dass ihre Projektionen nicht der Realität entsprachen, und angetrieben von dem festen Entschluss, sich von dem Leiden zu befreien, das ihre naive Unwissenheit ihnen einbrachte, hörten sie allmählich auf, an die Vorstellungen zu glauben, die ihr Geist ihnen vorgaukelte. Aufgrund dessen hörten die störenden Emotionen auf und sie brauchten sich nicht mehr zwanghaft zu verhalten.
Im Verlauf dieses ganzen Prozesses arbeiteten sie zudem kontinuierlich daran, ihre positiven Emotionen, z.B. Liebe und Mitgefühl für alle gleichermaßen, zu stärken und halfen anderen, soviel sie konnten. Sie entwickelten für jeden eine so herzerwärmende Liebe, wie sie eine fürsorgliche Mutter für ihr einziges Kind empfindet. Durch die Antriebskraft der Energie von intensiver Liebe und Mitgefühl für jeden und des außergewöhnlichen Entschlusses, allen zu helfen, verstärkte sich ihr Verständnis der Realität immer mehr, bis es schließlich so stark wurde, dass ihr Geist allmählich aufhörte, die trügerische Erscheinung zu projizieren, dass alles und jedes von sich aus, getrennt von allem anderen, existieren würde. Völlig ungehindert sahen sie die wechselseitige Verbundenheit und Abhängigkeit von allem, was existiert.
Mit dieser Errungenschaft erlangten sie Erleuchtung; sie wurden Buddhas. Ihre Körper, ihre Kommunikationsfähigkeit und ihr Geist waren von allen Beschränkungen befreit. Sie wussten, wie sich eine bestimmte Lehre auf die jeweilige Person auswirken würde, und deshalb waren sie nun imstande, allen Wesen so viel zu helfen, wie es überhaupt nur möglich ist. Aber nicht einmal ein Buddha ist allmächtig. Ein Buddha kann nur auf diejenigen positiven Einfluss ausüben, die offen und empfänglich für seinen Rat sind und ihn auf korrekte Weise beherzigen.
Buddha betonte, dass jeder das erreichen kann, was er erreicht hatte: Jeder kann ein Buddha werden. Der Grund dafür ist, dass wir alle den Werkstoff dafür besitzen, der uns das ermöglicht. Dieser Werkstoff wird „Buddha-Natur“ genannt.
In der Neurowissenschaft spricht man von Neuroplastizität, der Fähigkeit des Gehirns, sich im Laufe unseres Lebens zu verändern und neue neuronale Bahnen zu entwickeln. Wenn ein Teil des Gehirns, der für eine bestimmte Funktion zuständig ist – z.B., unsere rechte Hand zu benutzen - lahmgelegt wird, kann das Gehirn durch gezielte physiotherapeutische Übungen dazu angeregt werden, neue Neuronenbahnen zu entwickeln, die es ermöglichen, stattdessen die linke zu benutzen. Neuere Studien haben gezeigt, dass Meditation, z.B. über Mitgefühl, ebenfalls neue neuronale Bahnen schaffen kann, die mehr Glück und inneren Frieden bewirken. Weil der Geist solche physischen Veränderungen beeinflussen kann, können wir, ebenso gut wie wir von der Neuroplastizität des Gehirns sprechen können, auch von der Plastizität des Geistes sprechen. Die Tatsache, dass unser Geist - und daher auch unsere Persönlichkeitsmerkmale - nicht statisch und festgelegt ist und angeregt werden kann, neue, förderliche Bahnen zu entwickeln, ist der grundlegendste Faktor, der uns allen ermöglicht, erleuchtete Buddhas zu werden.
Auf physiologischer Ebene ist es so, dass wir jedes Mal, wenn wir etwas Konstruktives tun, sagen oder denken, eine positive neuronale Bahn aufbauen bzw. verstärken, und das macht es dann leichter und daher wahrscheinlicher, dass diese Handlung wiederholt wird. In geistiger Hinsicht, so heißt es im Buddhismus, schaffen wir somit eine positive Kraft bzw. ein Potenzial. Je mehr wir ein Netzwerk solcher positiven Kraft verstärken, insbesondere, indem wir etwas Nützliches für andere tun, umso stärker wird es. Positive Kraft, wenn sie auf die Fähigkeit ausgerichtet ist, als ein Buddha allen Wesen auf vollkommene Weise zu helfen, ist das, was uns befähigt, dieses Ziel zu erreichen und damit von umfassendem Nutzen zu sein.
Auf ähnliche Weise gilt: Je mehr wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, dass es keine reale Entsprechung für unsere falschen Projektionen von Realität gibt, umso mehr schwächen wir zunächst einmal die neuronalen und geistigen Bahnen dafür, an diesen Unsinn zu glauben, und schließlich auch dafür, dass der Geist so etwas überhaupt projiziert. Schließlich wird unser Geist frei von diesen irreführenden neuronalen und geistigen Bahnen und auch frei von den Bahnen der störenden Emotionen und zwanghaften Verhaltensmuster, die darauf beruhen. Stattdessen entwickeln wir nun starke neuronale und geistige Bahnen für tiefes Gewahrsein der Realität. Wenn diese Bahnen energetisch durch die Kraft des Strebens nach dem allumfassend erkennenden Geist eines Buddha angetrieben werden, der weiß, wie man jedem Wesen am besten helfen kann, befähigt uns dieses Netzwerk des tiefen Gewahrseins, den Geist eines Buddha zu erlangen.
Wir alle haben einen Körper sowie die Fähigkeit und Ausstattung dafür, mit anderen zu kommunizieren - in erster Linie Sprache – und auch einen Geist; dies ist also der Werkstoff dafür, Körper, Sprache und Geist eines Buddha zu entwickeln. Diese drei Komponenten sind ebenfalls Faktoren der Buddha-Natur. Desgleichen haben wir ein gewisses Ausmaß guter Qualitäten – unseren Instinkt zur Selbsterhaltung, zur Erhaltung der Art, unsere mütterlichen und väterlichen Instinkte usw. – sowie die Fähigkeit zu handeln und andere zu beeinflussen. Auch das sind Faktoren der Buddha-Natur, nämlich der Werkstoff dafür, gute Qualitäten wie z.B. unbegrenzte Liebe und Fürsorge zu kultivieren und die erleuchtenden Aktivitäten eines Buddha zu entwickeln.
Wenn wir untersuchen, wie unser Geist funktioniert, können wir weitere Faktoren der Buddha-Natur entdecken. Wir alle sind imstande, Informationen aufzunehmen, Dinge, denen irgendeine Eigenschaft gemeinsam ist, miteinander in Verbindung zu bringen, wir können die Individualität von Dingen unterscheiden, auf etwas reagieren, das wir wahrnehmen, und erkennen, was etwas ist. Diese Funktionen unserer geistigen Aktivität sind zurzeit begrenzt, aber auch sie sind Werkstoffe dafür, den Geist eines Buddha zu erlangen, in welchem sie in höchstmöglichem Maße zur Wirkung kommen.
Zusammenfassung
Da wir alle sämtliche Werkstoffe dafür besitzen, ein Buddha zu werden, ist es nur eine Frage der Motivation und fortgesetzten Bemühung, den erleuchteten Zustand auch tatsächlich zu erreichen. Fortschritt findet nie linear statt: Einige Tage werden besser, andere schlechter verlaufen; der Weg zur Buddhaschaft ist lang und nicht einfach. Aber je mehr wir uns die Faktoren unserer Buddha-Natur ins Gedächtnis rufen, umso besser können wir verhindern, dass wir den Mut verlieren. Wir müssen nur im Sinn behalten, dass es nichts von Natur aus Verkehrtes an uns gibt. Mit einer hinreichend starken positiven Motivation und indem wir realistische Methoden anwenden, die Mitgefühl und Weisheit auf geschickte Weise miteinander verbinden, können wir alle Hindernisse überwinden.