Loslösung, Gewaltlosigkeit und Mitgefühl

Was bedeutet Loslösung?

Die buddhistische Bedeutung des Wortes unterscheidet sich ein wenig von der, die das Wort üblicherweise im Englischen hat. Die Loslösung steht im Buddhismus in Verbindung mit Entsagung. Das Wort „Entsagung“ ist im Englischen auch irreführend, da es vermittelt, dass wir alles aufgeben und in einer Höhle leben müssen. Es gibt zwar Menschen, wie Milarepa, die tatsächlich alles aufgaben und in einer Höhle lebten was sie taten wird jedoch durch ein anderes Wort beschrieben, das nicht mit „Entsagung“ oder „Loslösung“ übersetzt wird. Das Wort, das mit „Entsagung“ übersetzt wurde, bedeutet in Wirklichkeit „die Entschlossenheit frei zu sein“. Wir sind fest entschlossen: „Ich muss aus meinen eigenen Problemen und Schwierigkeiten heraus kommen. Mein Geist ist fest entschlossen, dieses Ziel zu erreichen.“ Wir möchten uns von unseren Egospielchen befreien, weil wir entschlossen sind, von den Problemen frei zu werden, die sie verursachen. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir ein komfortables Zuhause oder die Dinge, die wir genießen, aufgeben müssen. Wir versuchen vielmehr, die Probleme zu beenden, die wir in Verbindung mit diesen Objekten haben. Dies führt uns zur Loslösung.

Losgelöst zu sein bedeutet nicht, dass wir nichts mehr genießen können oder dass uns das Zusammensein mit einem anderen Menschen nicht mehr erfreuen kann. Es bezieht sich vielmehr auf die Tatsache, dass unser starkes Festhalten an etwas oder jemanden Probleme verursacht. Wir werden abhängig von diesem Objekt oder diesen Menschen und denken „Wenn ich es oder ihn verliere oder nicht immer haben kann, wird es mir schlecht gehen.“ Abgelöst zu sein bedeutet dagegen „Wenn ich meine Lieblingsspeise bekomme, schön. Wenn nicht, ist es auch okay. Es bedeutet nicht das Ende der Welt.“ Es gibt keine Anhaftung (Engl. attachment) und kein Anklammern an das Objekt oder an den Menschen.

In der modernen Psychologie besitzt das Wort englische Wort „ attachment“ (Deutsch: Bindung) in gewissen Zusammenhängen eine positive Konnotation. Es bezieht sich auf die Bindung, die zwischen einem Kind und seinen Eltern entsteht. Psychologen sagen, dass es Störungen in der Entwicklung des Kindes gibt, wenn ein Kind nicht die ursprüngliche Bindung an die Eltern erfährt. Da die buddhistische Definition des Begriffs “ attachment“ sehr genau bestimmt ist, erweist es sich auch hier wieder als schwierig, das passende englische Wort zu finden, um die buddhistische Bedeutung zu vermitteln (Anmerkung der Übersetzer: Auf Deutsch benutzen wir für den buddhistischen Begriff „Anhaftung“ und für den psychologischen Begriff „Bindung“, sodass die Unterscheidung leichter ist). Wenn die buddhistischen Lehren uns sagen, dass wir uns von den Dingen lösen müssen, bedeutet das nicht, dass wir keine Eltern-Kind-Bindung entwickeln möchten. Loslösung bedeutet, sich vom Anhaften und Anklammern nach etwas oder jemandem zu befreien.

Gibt es einen Unterschied zwischen einer losgelösten und einer moralisch positiven Handlung?

Bevor ich darauf eingehe, möchte ich kurz erwähnen, dass ich das Wort „konstruktiv“ dem Begriff „tugendhaft“ vorziehe. „Tugendhaft“ und „nicht tugendhaft“ beinhalten ein moralisches Urteil, was im Buddhismus nicht beabsichtigt ist. Es gibt kein moralisches Urteil. Es gibt auch keine Belohnung oder Strafe. Vielmehr sind manche Handlungen konstruktiv, andere wiederum destruktiv. Wenn jemand Menschen erschießt, so ist das destruktiv. Wenn jemand seine Familienmitglieder schlägt, ist das destruktiv. Hierbei stimmen alle überein. Das hat nichts mit einem moralischen Urteil zu tun. Wenn wir freundlich und hilfsbereit zu unseren Mitmenschen sind, ist das sehr konstruktiv oder positiv.

Wenn wir anderen helfen, können wir dies aus der Anhaftung oder aus der Loslösung heraus tun. Wenn wir jemandem aufgrund unserer Anhaftung helfen, könnte das beispielsweise mit folgenden Beweggründen zusammenhängen „Ich möchte dir helfen, weil ich möchte, dass du mich liebst. Ich möchte mich gebraucht fühlen.“ Wir könnten sagen, , dass diese Hilfeleistung trotzdem positiv ist, die Motivation dafür ist jedoch nicht die Beste.

Wenn wir über Karma sprechen, unterscheiden wir zwischen der Motivation und der Handlung. Wir können eine positive Handlung mit einer sehr schlechten Motivation vollziehen. Die positive Handlung wird zu einer gewissen Freude führen, während die schlechte Motivation zu einem gewissen Maß an Leid führen wird. Auch das Gegenteil könnte wahr zutreffen: die negative Handlung ist beispielsweise, dass wir unser Kind schlagen, doch die Motivation war positiv, da wir versucht haben, ihr oder sein Leben zu retten. Wenn unser Kleiner also drauf und dran ist auf die Straße zu rennen und wir ermahnen ihn nur mit süßer Stimme „Oh, Schatz, nicht auf die Straße rennen“, wird ihn das nicht davon abhalten. Wenn wir dagegen unseren Sohn schnappen und ihm einen Klaps auf den Hintern geben, könnte er es uns übel nehmen und weinen, so dass unsere Handlung auch ein kleines negatives Ergebnis mit sich bringt. Die Motivation war jedoch positiv und das positive Ergebnis ist weitaus größer als das negative, da der Junge gerettet wurde. Außerdem schätzt unser Sohn auch, dass wir uns um ihn kümmern.

Dasselbe kann für eine konstruktive Handlung gelten: sie mag vielleicht in der Loslösung begründet sein, was immer besser ist, sie kann jedoch auch aufgrund von Anhaftung vollzogen werden.

Bedeutet Mitgefühl, dass wir immer passiv und nachgiebig sein sollen oder ist manchmal energisches Vorgehen erlaubt?

Mitgefühl muss nicht „idiotisches Mitgefühl“ bedeuten, aufgrund dessen wir jedem alles geben was er oder sie möchte. Wenn ein Alkoholiker Whiskey oder ein Mörder eine Waffe möchte, ist die Erfüllung seiner oder ihrer Wünsche bestimmt kein Mitgefühl. Unser Mitgefühl und unsere Großzügigkeit müssen gepaart sein mit Unterscheidungsvermögen und Weisheit.

Manchmal muss man ausgesprochen energisch handeln um ein Kind zu disziplinieren oder um eine schreckliche Situation abzuwenden. Wann immer möglich, sollte man auf gewaltlose Weise handeln, um eine gefährliche Situation zu verhindern oder zu korrigieren. Wenn dies jedoch nicht funktioniert und wir merken, dass die einzige Möglichkeit, die Gefahr abzuwenden, darin besteht, Gewalt anzuwenden, dann würde die Nichtanwendung als mangelnde Bereitschaft zu helfen betrachtet werden. Wir müssen trotzdem auf eine Weise handeln, die anderen keinen großen Schaden zufügt.

Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama wurde in einem Interview eine ähnliche Frage gestellt und er gab ein Beispiel: ein Mann geht zu einen Fluss, dessen Überquerung extrem schwierig und gefährlich ist. Er möchte von einem Ufer ans andere schwimmen. In der Nähe beobachten ihn zwei Menschen und wissen, dass diese Person in der Strömung ertrinken würde, sollte sie in den Fluss gehen. Der eine schaut gelassen zu und unternimmt nichts. Er glaubt, gewaltlos bleiben zu müssen und somit nicht intervenieren zu dürfen. Die zweite Person schreit den Schwimmer an und fordert ihn auf, nicht in den Fluss zu steigen. Die Strömung sei gefährlich. Der Schwimmer sagt: „Das ist mir egal. Ich gehe trotzdem.“ Sie streiten und letztendlich schlägt die Person am Ufer ihn bewusstlos, um ihn von seinem Selbstmord abzuhalten. In dieser Situation begeht jene Person, die nur da sitzt und bereit ist, dem Mann beim Ertrinken zuzusehen, einen Akt der Gewalt. Der gewaltlose Mensch ist jener, der den Mann tatsächlich davon abhält, sich umzubringen, selbst wenn er als letzte Maßnahme eine gewaltvolle Methode anwenden muss.

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