Rückblick auf die drei Hauptpfade
Tsongkhapa hob hervor, dass es drei Hauptpfade, also drei Hauptpfade des Geistes, Denkweisen oder Arten des Verstehens gibt, welche die Essenz des Stufenpfades sind. Hierbei handelt es sich um Entsagung oder die Entschlossenheit, frei zu sein, um eine Bodhichitta-Ausrichtung und um ein korrektes Verständnis der Leerheit.
Entsagung ist ein Geisteszustand, mit dem wir uns auf zwei Dinge ausrichten: erstens auf das Leiden und die Ursache des Leidens, und zweitens auf die Befreiung oder Freiheit. In Bezug auf das Leiden und dessen Ursachen sind wir bereit, sie aufzugeben, loszulassen und frei davon zu werden, und zwar nicht nur vorübergehend, sondern für immer. Was das andere betrifft, so sind wir entschlossen, die Ebene der Befreiung zu erlangen.
In der gewöhnlichen Darstellung der Entsagung ist das Objekt, dem wir entsagen oder welches wir loswerden wollen, in erster Linie unser eigenes Leiden. Richtet sie sich auf das Leiden anderer, nennt man es Mitgefühl. Normalerweise oder häufiger wird es so präsentiert, dass es sich auf unser allgemeines Leiden in Samsara und dessen Ursachen richtet, und insbesondere auf unsere eigene samsarische Erfahrung. Samsara bedeutet unkontrollierbar sich wiederholende Wiedergeburt mitsamt all den verschiedenen Problemen, Leiden und Schwierigkeiten, die dazugehören.
Das Leid des Unglücklichseins und der Veränderung
Was die allgemeine Darstellung des Leidens im Buddhismus betrifft, so geht es um drei Arten des Leidens. Wir haben das Leid des Unglücklichseins. Damit sind wir sehr vertraut, wir wissen, wie es sich anfühlt und kennen all die verschiedenen Aspekte, wie Traurigkeit, Unzufriedenheit, Missmut usw. Der Wunsch, frei davon und glücklich zu sein, ist etwas, das sogar Tiere haben. Es ist also keine große Errungenschaft für uns Menschen und nichts, worauf sich der Buddhismus im Besonderen richtet.
Meiner Meinung nach ist es immer sehr hilfreich und wichtig, zwischen den gemeinsamen Merkmalen, die wir in den buddhistischen Lehren finden, und dem was sich ausdrücklich auf den Buddhismus bezieht, zu unterscheiden, was auch Seine Heiligkeit der Dalai Lama stets betont. Dieser Wunsch, nicht hungrig zu sein, nicht zu frieren und so weiter, sowie zu versuchen, all dem zu entkommen, sicher und außer Gefahr zu sein, ist, wie gesagt, keineswegs eine rein buddhistische Sache und nicht einmal etwas, das sich nur auf Menschen bezieht.
Die zweite Art des Leidens ist das so genannte „Leid der Veränderung“ oder das Problem des Wandels. Es bezieht sich auf unsere gewöhnlichen Formen des Glücklichseins und obwohl sie natürlich ziemlich angenehm sind, gibt es Probleme damit. Das erste Problem ist, dass sie nicht andauern. Das zweite Problem ist, dass sie nie zufriedenstellend sind, da wir nie genug davon haben; wir bekommen nie genug Zuneigung, Liebe, Freude usw. Warum würden sonst ständig mehr wollen? Und wenn wir es dann nicht mehr haben, leiden wir zutiefst. Jeder Moment von gewöhnlichem Glücklichsein, das wir haben, ist unsicher, weil wir nie wissen, was wir im nächsten Augenblick erfahren und wie wir uns fühlen werden. Wir mögen momentan glücklich sein, doch im nächsten Moment sind wir ganz plötzlich tieftraurig.
Im Sinne der Entsagung wären wir hier, mit dieser Art des Glücklichseins, ziemlich unzufrieden. So eine zweitrangige Art des Glücklichseins würde uns nicht zufriedenstellen. Vielmehr würden wir uns dauerhaftes Glück wünschen, das zufriedenstellend ist und nie nachlässt, oder? Nun, auch daran ist nichts sonderlich buddhistisch. Diese gleiche Art des Wunsches nach ewigem Glück gibt es in zahlreichen anderen Religionen. Was diese zwei Aspekte des Leidens angeht, so müssen wir sie auch ziemlich realistisch und nüchtern betrachten.
Doch nur weil das Beseitigen des Unglücklichseins nicht die tiefgründigste Sache ist, die wir tun können, bedeutet dies nicht, dass wir nicht versuchen sollten, es zu tun. Wenn wir Hunger haben, essen wir natürlich. Sprechen wir davon, dem gewöhnlichen Glück zu entsagen, heißt das nicht, dass wir nun nie mehr etwas Schönes tun, nie mehr lachen oder uns amüsieren. Das bedeutet es bestimmt nicht. Der entscheidende Punkt ist nur, dies nicht als letztendliches Ziel und schönste Sache der Welt zu sehen, sondern als das, was es ist. Es wir nicht andauern, wir wissen nicht, was als nächstes passieren wird und es ist nie zufriedenstellend. „Gut, ich akzeptiere das, aber wenn ich in so einer Situation bin, die relativ gesehen besser ist, kann ich die Gelegenheit nutzen.“
Das ist Teil der Lehren des kostbaren menschlichen Lebens und der acht Faktoren eines besonders kostbaren Lebens. Mit anderen Worten können wir ein angenehmes Leben führen, haben genug zu essen, genügend Geld, können zu Belehrungen kommen, können studieren, Retreats machen und das, was wir haben, nutzen, um anderen zu helfen, ohne von Leid und Problemen erdrückt zu werden. Manchmal ist es wichtig, sich zu entspannen und eine so genannte „gute Zeit“ zu haben, jedoch mit dem Verständnis, dass es nichts Besonderes ist. Wir bekommen dadurch mehr Energie und Luft zum Atmen, damit wir uns dann wieder voll und ganz dem spirituellen Pfad zuwenden und anderen helfen können.
Erfahren wir offensichtliche Leiden, versuchen wir sie zu transformieren und sogar das auf dem Pfad zu nutzen. Zunächst sollten wir allerdings versuchen, uns davon zu befreien, doch wenn es schwierig ist, dem zu entkommen und wir beispielsweise krank sind oder so etwas, versuchen wir diesen Umstand auf förderliche Weise zu nutzen, während wir unsere Medizin nehmen oder ähnliches. Das hilft uns, Mitgefühl und ein Verständnis für andere Menschen zu entwickeln, die ebenfalls krank oder behindert sind.
Ich erinnere mich an einen Freund, der eine Krankheit bekam, die ihn an den Rollstuhl fesselte. Laut ihm, war sie eines der hilfreichsten Dinge, die ihm passiert waren, denn anstatt wie verrückt durch die Welt zu jagen und alle möglichen Dinge zu tun, bekam er die Umstände, wirklich an sich selbst zu arbeiten, zu meditieren und dem spirituellen Pfad zu folgen.
Verfügen wir über allgemeines, gewöhnliches Glück, nutzen wir es, wie erwähnt, dafür, anderen von Nutzen zu sein. In beiden Fällen versuchen wir, weder dem Leiden noch dem gewöhnlichen Glücklichsein übermäßig Bedeutung beizumessen. Wir machen keine große Sache daraus.
Die zwei Ebenen der Entsagung unterscheiden
Denken wir an die gewöhnlichen Arten des Leidens, die wir erfahren: das Leid des Unglücklichseins und dann die Unzufriedenheit unseres gewöhnlichen Glücks, so können wir sie im Sinne von zwei Zeiträumen betrachten. Der breitere Rahmen der Entsagung, was sich auf dessen Standardbeschreibung bezieht, ist die Entschlossenheit, sich in allen unkontrollierbar sich wiederholenden Wiedergeburten von allen Leiden abzuwenden. Das bezieht sich sowohl auf das Unglücklichsein als auch auf das gewöhnliche Glücklichsein, das wir in irgendeiner Art der Wiedergeburt erfahren, und auf die Entschlossenheit, davon frei zu werden.
Tsongkhapa unterscheidet in seinem kurzen Text: „Die drei Hauptaspekte des Pfades“ zwei Ebenen der Entsagung, was er jedoch in seiner viel ausführlicheren Darstellung des Lam-rim-Stufenpfades nicht tut. Dort spricht er in Bezug auf die Entsagung nur von einer Ebene, aber in seinem kurzen Text unterscheidet er zwischen zwei Ebenen. Obwohl die fortgeschrittenere Ebene der Wunsch ist, in allen zukünftigen Leben Freiheit von den Leiden und dessen Ursachen sowie Nirvana, Befreiung, zu erlangen, gibt es eine frühere Stufe, die er beschreibt, auf der wir uns von unserer Besessenheit in Bezug auf die Dinge dieses Lebens abwenden. Hierbei geht es also nicht nur um die Arten des Leidens des Unglücklichseins und des vorübergehenden Glücks, sondern um unsere Besessenheit in Bezug auf dieses Leben und all die Dinge, die in diesem Leben stattfinden, sowie darum, sich stattdessen um eine förderliche Situation in der unmittelbar folgenden Wiedergeburt oder um zukünftige Wiedergeburten im Allgemeinen zu kümmern.
Nun, das Ziel, das wir mit dieser Art der Entsagung anstreben ist nicht unbedingt buddhistisch, oder? Es gibt viele Religionen, die uns lehren, uns nicht an dieses Leben zu klammern und beispielsweise eine Wiedergeburt im Himmel anzustreben. Das ist keineswegs eine rein buddhistische Sache. Im Buddhismus würden wir eine der besseren Arten der Wiedergeburt als vorübergehenden Schritt anstreben, da wir, auch wenn wir letztendlich nach Entsagung von jeglicher Art der Wiedergeburt trachten, erkennen, dass es lange dauern wird, Befreiung zu erlangen.
Wir nehmen uns und unseren spirituellen Pfad ernst und haben diesbezüglich eine realistische Haltung. Mit einem Verständnis der Wiedergeburt – von dem man natürlich hier im Buddhismus ausgeht, was jedoch nicht wirklich für Menschen im Westen gilt – wollen wir sichergehen, dass wir in zukünftigen Wiedergeburten, in zukünftigen Leben, weiter die günstigen Umstände haben werden, um unsere Arbeit auf dem Weg zur Befreiung fortzusetzen. Das nehmen wir äußerst ernst. Es ist nicht so, dass es jedes Mal noch besser sein muss, wie bei einer Automarke, die sich jedes Jahr steigern muss, damit wir schließlich zur besten Wiedergeburt kommen, die Nirvana, Befreiung, darstellt. Das ist eine ganz falsche Vorstellung in Bezug darauf, was Befreiung ist.
Uns geht es vielmehr darum, nicht allzu sehr weltliches Glück zu genießen, denn wenn wir zu viel davon bekommen, werden wir ziemlich faul. Dann sind wir nicht mehr motiviert, etwas zu tun, um uns aus alldem zu befreien, weil es recht angenehm ist. Um dem zu entsagen, ist es notwendig, einen wirklich tiefen Blick in all diese Arten von Situationen zu werfen, um die Probleme zu entdecken; in der Regel ist es so, dass sehr reiche Leute eine Menge mentaler und emotionaler Probleme haben; es ist also ziemlich offensichtlich. Wir wollen einfach ausreichend Glück, also genug Nahrung, gute Nahrung, die uns Kraft gibt. Uns geht es also nur darum, eine ausreichende Menge an Glück, an günstigen Umständen, zu haben, die uns erlauben, unsere Energie und Zeit dafür zu verwenden, weiteren Fortschritt zu machen – nicht zu viel und nicht zu wenig.
Wie ich im Sinne von Dharma-light bereits sagte, ist sogar diese Ebene der Entsagung für uns Westler ziemlich fortgeschritten, die Schwierigkeiten mit dieser ganzen Idee der Wiedergeburt haben. Es ist wichtig, eine Vorstufe zu finden, die uns einen Zugang zum buddhistischen Pfad ermöglicht, ansonsten ist es, als würden wir versuchen, auf einen schnellen Zug aufzuspringen. Der buddhistische Pfad bewegt sich schon ziemlich schnell und wir können ihn nicht so leicht einholen. Wir müssen also früher aufspringen und der Zug muss viel langsamer fahren, damit wir einsteigen können.
Fügen wir jedoch eine Vorstufe hinzu, müssen wir uns, wie gesagt, klar darüber sein, dass sie nicht Teil der ursprünglichen Lehren ist. Allerdings versuchen wir etwas hinzuzufügen, was in keinster Weise gegen die Lehren Buddhas verstößt oder sie beeinträchtigt. Um dies zu gewährleisten, ist es von höchster Wichtigkeit, niemals den Rest des Pfades, den echten Dharma, zu leugnen oder abzulehnen, sondern all unsere Vorstufen als das zu erkennen, was sie sind: eine Vorbereitung. In diesem Zusammenhang und mit dieser aufrichtigen Herangehensweise können wir es, glaube ich, als etwas betrachten, was normalerweise für uns, als westliche Praktizierende, zu Beginn unser Ziel ist, nämlich einfach unser Samsara in diesem Leben durch die Dharma-Methoden zu verbessern.
Wir können es auf ähnliche Weise formulieren, wie Tsongkhapa es in seinem Text formuliert hat. Er sprach von den zwei Ebenen, auf denen wir uns von unserer Besessenheit in Bezug auf dieses Leben abwenden und unser Hauptaugenmerk auf zukünftige Leben lenken. Laut Seiner Heiligkeit besteht eine gesunde Herangehensweise darin, es „fifty-fifty“ zu machen. Wir sollten nicht fanatisch sein und uns auch um dieses Leben kümmern, weil wir nun einmal hier leben. Die zweite, fortgeschrittenere Ebene ist, sich von der Besessenheit bezüglich zukünftiger Wiedergeburten abzuwenden und nach völliger Befreiung zu streben.
Wir kümmern uns nur um zukünftige Wiedergeburten, falls wir es in diesem Leben nicht schaffen, Befreiung zu erlangen, damit für die nächste Wiedergeburt gesorgt ist. Wenn wir ein höheres Ziel anstreben, hilft das natürlich und ist ein nützlicher Nebeneffekt, um die niederen Ziele zu erfüllen.
In ähnlicher Weise könnten wir auf unserer gesunden Dharma-light-Vorstufe auch davon reden, unsere Besessenheit in Bezug auf nur diesen unmittelbaren Augenblick, auf unsere unmittelbare Befriedigung, loszulassen, und uns gedanklich auf langfristige Konsequenzen, die später in unserem Leben kommen, zu beziehen. Wir interessieren uns dafür, was später in unserem Leben passieren wird und missbrauchen unseren Körper nicht einfach, indem wir Drogen nehmen und alle möglichen anderen wilden Dinge tun, wie eine schlechte Körperhaltung zu haben, ohne darüber nachzudenken, welche Auswirkung das auf unsere Gesundheit später haben wird. Manche bekommen zum Beispiel Arthritis, weil sie bereits mit 20 Jahren ständig vor dem Computer sitzen.
Hier könnten wir auch ein wenig Mahayana mit einfließen lassen und über die Konsequenzen der Dinge nachdenken, die wir anderen antun. Wir könnten hier sogar ein wenig an zukünftige Leben denken, die vertretbar für unsere westliche Mentalität wären, was ein sehr guter Zwischenschritt dafür wäre, sich gedanklich auf zukünftige Leben zu beziehen. Damit würden wir uns von unserer Besessenheit in Bezug auf nur diese unmittelbare Situation abkehren und uns den Konsequenzen zuwenden, die es auf zukünftige Generationen haben wird.
Anstatt beispielsweise einfach nur all die Ressourcen zu plündern und die Umwelt zu zerstören, könnten wir uns fragen, welche Auswirkung das auf unsere Kinder, unsere Enkelkinder und zukünftige Generationen über unser Leben hinaus haben wird. Das wäre meiner Meinung nach ein gültiger Zwischenschritt, der sich auf Tsongkhapas gültigen Zwischenschritt der Entsagung bezieht, sich gedanklich von unserer Besessenheit mit nur diesem Leben abzuwenden.
Alles umfassendes Leiden
Wie bereits gesagt, gibt es drei Arten von Leiden, von denen Buddha sprach. Die ersten zwei, nämlich die Probleme des Leidens und die Probleme der Veränderung oder des gewöhnlichen Glücks, zu überwinden, ist keine rein buddhistische Sache. Zum Buddhismus gehört hier die dritte Art des Leidens, das so genannte „alles umfassende Leiden“, das alles umfassende Problem, und die Entschlossenheit zu haben, frei davon zu sein. Das bezieht sich auf unsere unkontrollierbar sich wiederholende Wiedergeburt, mit einem Körper und einem Geist, der die ersten zwei Arten des Leidens erfährt. Um diesem alles umfassenden Problem zu entsagen, ist es notwendig, dessen Ursache zu entsagen.
Was ist die wahre Ursache allen Leidens? Die wahre Quelle, die wahre Ursache all unserer Probleme, all unserer Leiden in jedem samsarischen Leben ist das so genannte „mangelnde Gewahrsein“, was für gewöhnlich mit „Unwissenheit“ übersetzt wird; dieses Wort deutet jedoch, zumindest im Englischen, darauf hin, dumm zu sein. Hierbei geht es jedoch nicht um Dummheit, sondern darum, es einfach nicht zu wissen oder es falsch zu verstehen. Es bedeutet nicht, dass da etwas mit uns nicht stimmt, und daher geht es hier nicht um Schuld oder Moralvorstellungen.
Im Allgemeinen unterscheiden wir im Buddhismus zwischen zwei Ebenen des mangelnden Gewahrseins. Die eine befasst sich mit mangelndem Gewahrsein in Bezug auf Karma, verhaltensbedingte Ursache und Wirkung, wobei wir hier nicht von physikalischen Gesetzen reden. Es geht nicht darum zu wissen, dass ein Ball, den wir mit einer bestimmten Kraft und in einem gewissen Winkel schießen, eine bestimmte Entfernung zurücklegen wird. Um diese Art von Ursache und Wirkung geht es nicht, sondern um verhaltensbedingte Ursache und Wirkung. Und wir reden auch nicht unbedingt über die Auswirkung unseres Verhaltens auf andere, sondern über die Auswirkung unseres Verhaltens auf uns selbst in Bezug darauf, was wir in der Folge unserer jetzigen Handlungen in der Zukunft erfahren werden.
Somit sind wir uns nicht gewahr und naiv gegenüber dem, was die Konsequenzen unserer Handlungen, unseres Verhaltens, in Bezug auf die Erfahrungen in der Zukunft sein werden. Entweder wissen wir es einfach nicht oder wir denken nicht einmal darüber nach, was die Auswirkung sein wird. Wir denken, die Handlungen werden keine Auswirkungen haben und meinen: „ich kann mit meinem Körper machen was ich will und bis an die Grenzen gehen, Drogen nehmen, um die ganze Nacht wach zu bleiben und all diese Dinge, und das wird keinerlei Auswirkungen haben.“ Oder wir haben eine fälschliche Meinung und denken: „wenn ich mich betrinke und ständig Drogen nehme, wird mich das glücklich machen und all meine Probleme lösen.“
Geht es darum, sich von der Besessenheit nach unmittelbarer Befriedigung abzuwenden, ist es notwendig, am mangelnden Gewahrsein der Konsequenzen unseres Verhaltens zu arbeiten und zu beginnen, sich gedanklich darauf zu beziehen, was man später im Leben erfahren wird. Meistens erfahren wir jedoch die Auswirkungen unseres gegenwärtigen Verhaltens nicht wirklich in diesem Leben, denn wir reden nicht einfach nur über die so genannten „von Menschenhand geschaffenen Resultate“ unseres Verhaltens oder die unmittelbaren Resultate, die man zum Beispiel erlebt, wenn man jemanden vergewaltigt und dann den Genuss und das Vergnügen eines Orgasmus hat. Um diese Art der Resultate unseres Verhaltens im Sinne unserer unmittelbaren Erfahrung geht es nicht. Es geht auch nicht darum, was geschieht, wenn wir wütend werden und uns kurz danach etwas besser fühlen, weil wir eine Person angeschrien oder ihr eine Ohrfeige gegeben haben.
Vielmehr ist hier die Rede von dem „Resultat, das heranreifen wird“. Das ist der Fachbegriff. Mit anderen Worten werfen wir einen Blick auf die Tendenzen, die wir durch diese Verhaltensweisen und Gewohnheiten schaffen, die einen großen Einfluss auf unser zukünftiges Verhalten und unsere zukünftige Erfahrung haben werden und sich darauf auswirken, wie wir uns verhalten und welche Situationen und Beziehungen wir eingehen. Sie haben auch eine Auswirkung darauf, ob wir, unabhängig von unseren tatsächlichen Handlungen, gute oder schlechte Laune haben, und im breiteren Kontext, welche Arten der Wiedergeburt wir ansteuern – das sind die Arten von Resultaten, die heranreifen, und meistens reifen sie in zukünftigen Leben heran. Das ist etwas, das wirklich wichtig, jedoch nicht so leicht zu verstehen ist.
Wie ich bereits vorher versucht habe anzudeuten, können wir auf die Wiedergeburt in der gesamten buddhistischen Darstellung nicht verzichten, denn wir könnten ein ziemlich ernsthafter Praktizierender sein und uns in diesem Leben wirklich bemühen, doch dann Krebs bekommen und einen furchtbaren Tod voller Schmerzen haben. Dann würden wir sagen: „Ich habe das nicht verdient“, weil wir unsere Erfahrung nicht aus der Perspektive vorangegangener Leben betrachten. Das ist jedoch eine äußerst verwirrte Betrachtungsweise.
In der buddhistischen Darstellung haben wir natürlich nicht die Vorstellung, unsere Erfahrung als Belohnung oder Bestrafung zu sehen, was sich auf eine Ethik bezieht, die darauf beruht, den Regeln zu folgen. Die buddhistische Ethik funktioniert nicht auf diese Weise. In unserer westlichen Kultur ist die Ethik von zwei Quellen abhängig. Erstens gibt es bestimmte Gesetze und Regeln, die heilig sind, von einem allmächtigen Wesen stammen und die wir befolgen müssen. Befolgen wir sie nicht, sind wir schlecht; wir sind schuldig und werden bestraft. Gehorchen wir den Gesetzen, sind wir gut und werden belohnt. Das ist ein Aspekt unserer westlichen Ethik, das biblische Erbe. Wir können erkennen, dass die gesamte Frage der Ethik eine Sache des Gehorsams ist. Es ist recht interessant und ziemlich kulturspezifisch. Es ist das Merkmal einer spezifischen Kultur und keineswegs eine allgemeine, universelle Sache.
Das andere Erbe, das wir haben, stammt von den antiken Griechen. Hier haben wir Gesetze, die nicht von einem Götterwesen stammen, sondern von einem König oder einer Gruppe von Menschen, einem Gesetzgeber. Das sind die bürgerlichen Gesetze. Mit ihnen geht es ebenfalls darum, den Gesetzen, den bürgerlichen Gesetzen, zu gehorchen. Sind wir gute Bürger, werden wir belohnt und alles läuft gut, und missachten wir die bürgerlichen Gesetze, sind wir Kriminelle und werden bestraft.
Buddhistische Ethik basiert hingegen ganz und gar nicht auf Gehorsam, und daher tun wir nicht etwas Unethisches, weil wir ungehorsam und schlecht sind. Handeln wir destruktiv, tun wir es, weil unser Handeln auf störenden Emotionen, wie Gier, Anhaftung, Hass, Wut, Naivität und so weiter, basiert. Diese Arten von Emotionen sind destruktiv und beruhen auf unserem mangelnden Gewahrsein, während konstruktives Verhalten nicht auf Gier, Wut, Naivität usw. beruhen. Zumindest auf der fundamentalsten Ebene könnten sie auch auf guten Absichten gründen, aber oft sind gute Absichten vermischt mit völliger Naivität.
Handeln wir oder die anderen destruktiv, ist der Grund dafür nicht Ungehorsam oder Niedertracht, sondern einfach mangelndes Gewahrsein in Bezug auf die Konsequenzen, über die man sich einfach nicht bewusst war. Es ist ein fehlerhaftes Verständnis. Die Motten fliegen nicht in die Flamme, weil sie schlecht sind und die Gesetze missachtet haben, nicht ins Feuer zu fliegen. Sie tun es, weil sie es nicht wussten; sie waren sich überhaupt nicht bewusst darüber. Das ist ein ganz klares Beispiel. Die Motte, die ins Feuer fliegt, rührt uns dazu an oder bringt uns dazu, Mitgefühl zu haben, und nicht Empörung und Wut: „Du bist eine schlechte Motte und musst bestraft werden!“
Die erste Art des mangelnden Gewahrseins ist mangelndes Gewahrsein bezüglich verhaltensbedingter Ursache und Wirkung, und hierbei geht es nicht nur um mangelndes Gewahrsein darüber, welche Konsequenzen unser Verhalten auf uns haben wird, sondern auch darum, wie es tatsächlich funktioniert. Die Konsequenzen sind keine Belohnungen oder Bestrafungen, die auf Gehorsam oder Ungehorsam folgen.
Wenn wir diese drei Ebenen oder drei Schritte des Erweiterns des Wirkungsbereiches der Entsagung unterscheiden – also die Entsagung der Besessenheit in Bezug auf den unmittelbaren Augenblick lediglich dieses Lebens oder aller zukünftigen Leben – dann ist die erste Ursache des Leidens, der wir entsagen oder die wir loswerden wollen, unser mangelndes Gewahrsein verhaltensbedingter Ursache und Wirkung. Wir handeln destruktiv und wollen entweder nur unmittelbare Befriedigung, ohne uns bewusst darüber zu sein, welche Auswirkungen das später in diesem Leben auf unsere Erfahrung haben wird, oder wir handeln ganz allgemein in diesem Leben destruktiv, weil wir nicht verstehen oder uns nicht gewahr darüber sind, wie sich das auf unsere Erfahrung in zukünftigen Leben auswirken wird.
Zwischen dem falschen und konventionellen „Ich“ unterscheiden
Es gibt eine zweite Art des mangelnden Gewahrseins, die viel tiefer ist: das mangelnde Gewahrsein der Realität, der Realität von Personen, wie wir und andere existieren. In den meisten buddhistischen Ausführungen ist dies die eigentliche Art des mangelnden Gewahrseins, mit der wir uns hier befassen, doch in den komplexesten buddhistischen Darstellungen geht es um das mangelnde Gewahrsein in Bezug darauf, wie nicht nur Personen wie ich und du existieren, sondern auch, wie alles existiert.
Das bringt nun die ganze Diskussion der Leerheit mit ins Spiel. Was passiert, ist, dass unser Geist Fantasie-Projektionen unmöglicher Existenzweisen von Dingen erschafft. In Bezug auf „mich“ als Person neigt der Geist beispielsweise dazu, die Erscheinung eines soliden „Ichs“ zu projizieren, das eine unabhängig existierende Entität ist, die getrennt vom Körper, getrennt vom Geist und getrennt von den Emotionen existiert. Darüber können wir auf vielen verschiedenen Ebenen sprechen, doch auf der Ebene, von der hier die Rede ist, sagen wir, dass es solch ein „Ich“ gibt, das eigenständig erkennbar ist und für sich selbst erkannt werden kann. Das heißt, dass man es nur für sich kennen könnte, ohne gleichzeitig irgendetwas anderes zu kennen.
Wenn wir uns im Spiegel betrachten, was erscheint dann dort? „Ich sehe mich selbst im Spiegel.“ Das sagen wir doch, oder nicht? Es fühlt sich jedenfalls so an. Wir denken nicht: „Ich sehe einen Körper im Spiegel und aufgrund dieses Körpers sehe ich mich selbst.“ Stoßen wir unseren Fuß im Dunkeln am Tischbein, sagen wir: „ich habe mir wehgetan“, als könnten wir dieses „Ich“ unabhängig vom Fuß und den Schmerzen kennen. Wenn wir sagen: „Ich kenne Patricio“, ist es, als könnten wir Patricio kennen, ohne zu wissen, wie sein Körper aussieht oder ohne irgendetwas über ihn zu wissen. Es ist, als könnten wir einfach nur Patricio kennen. In ähnlicher Weise glauben wir: „ich kenne mich selbst“, „ich kenne mich selbst nicht“, „ich stehe heute völlig neben mir“ oder „ich muss mich selbst finden“.
All diese Dinge sind Anzeichen für diese Art der Erscheinung, die unser Geist ganz automatisch von einem unabhängig existierenden, eigenständig erkennbaren „Ich“ hervorruft. Das mangelnde Gewahrsein ist, dass wir es nicht wissen und uns nicht gewahr darüber sind, dass dies nicht der Realität entspricht. Mit mangelndem Gewahrsein glauben wir tatsächlich an die Wahrheit eines eigenständig erkennbaren „Ichs“, das wie eine Art Entität ist, die mit einer dicken, schwarzen Linie umrandet ist. Weil wir uns mit dem identifizieren, was wir im Buddhismus als „falsches Ich“ bezeichnen, handeln wir auf dieser Basis. Wir fühlen uns unsicher deswegen und müssen es daher verteidigen, behaupten, bestätigen und uns verbessern. Dieses falsche, solide „Ich“ muss ständig seinen Willen durchsetzen. Es ist das Wichtigste im Universum, und weil es von einer soliden Linie umgeben ist, gibt es jene dort draußen, die gegen mich hier drinnen sind. Es muss immer nach unserem Kopf gehen und wenn wir nicht unseren Willen bekommen, werden wir wütend, und auf dieser Grundlage handeln wir auf destruktive Weise.
Das ist die allgemein akzeptierte Form des mangelnden Gewahrseins hier in diesem Kontext. Man kann sie in all den buddhistischen Darstellungen finden. Diese Art des „Ichs“, die umgeben von dieser dicken, schwarzen Linie im Grunde eine grobe Übertreibung ist, gibt es nicht. Sie ist unmöglich und entspricht nichts Realem. Sprechen wir über die Leerheit, so geht es dabei um die Abwesenheit der unmöglichen Existenzweise dieses unmöglichen „Ichs“. Auch ist es so, dass „Abwesenheit“ nicht einfach bedeutet, jemand wäre abwesend und würde sich nicht in diesem Raum, sondern woanders befinden. Es geht um eine absolute Abwesenheit, darum, dass es so etwas nie gab. Darum geht es, ganz einfach ausgedrückt, bei der Leerheit. Allerdings heißt das nicht, wir würden gar nicht existieren. Wir existieren; das „Ich“, welches existiert, ist das so genannte konventionelle „Ich“.
Wir können den Unterschied zwischen dem konventionellen „Ich“ und dem falschen „Ich“ an einem recht einfachen Beispiel verstehen: Ich sitze auf diesem Stuhl. Nun, dieser Körper sitzt auf dem Stuhl, nicht wahr? Gibt es da zwei verschiedene Sachen, die auf diesem Stuhl sitzen: der Körper und das Ich? Sind das zwei getrennte, voneinander unabhängige Dinge? Sind sie von dicken, schwarzen Linien umzogen? Kann man das „Ich“ unabhängig von dem Körper auf dem Stuhl sitzen sehen? Nein, offensichtlich nicht; das ist unmöglich, aber es fühlt sich so an. Es scheint, als würde ich, von einer dicken Linie umzogen, auf diesem Stuhl sitzen. Es kommt mir nicht einmal in den Sinn, dass es einen Körper gibt, der auf diesem Stuhl sitzt. Aber wir gehen sogar noch weiter. Wir denken: „Das ist mein Stuhl, nicht deiner, setze dich also nicht dort hin!“
Das falsche „Ich“, das unmögliche „Ich“, ist jenes, das getrennt existiert und, wie in diesem Fall, getrennt und unabhängig vom Körper erkannt wird. Das konventionelle „Ich“ wird hingegen hinsichtlich des Körpers nicht als eine solide, getrennte und unabhängige Entität erkannt.
Das ist wirklich eine tiefgreifende Sache in Bezug auf die Geisteszustände: „ich bin frustriert“ oder „ich bin traurig“, als gäbe es da ein „Ich“, getrennt von der Erfahrung eines Gefühls, einer geistigen Empfindung, die sich jeden Augenblick ändert. „Seht euch nur diese traurige und niedergeschlagene Person an.“ „Ich bin so traurig und betrübt“, unabhängig von sich ändernden Momenten der Erfahrung. Das unmögliche „Ich“ ist dieses abgetrennte „arme Ding“ und das konventionelle „Ich“, das tatsächlich existiert, ist ein „Ich“, das im Sinne von sich ändernden Augenblicken der Erfahrung erkannt wird.
Wir glauben an dieses falsche „Ich“, das unmöglich ist, weil es sich so anfühlt, als gäbe es da ein getrenntes „Ich“, das von sich aus, unabhängig vom Körper, dem Geist, den Emotionen und all diesen Dingen erkannt werden kann. Wir glauben daran, sind uns nicht bewusst, dass es falsch ist, und auf dieser Basis handeln wir auf jede nur erdenkliche destruktive oder naiv-konstruktive Weise. Um das „Ich“ zu verteidigen, handeln wir oft destruktiv und meinen: „Ich fühle mich durch das, was du gerade gesagt hast, bedroht und muss dich daher anschreien.“ Oder wir handeln konstruktiv, doch mit einer dahinter steckenden Naivität, wie: „Ich bin nett zu dir und tue schöne Dinge für dich, weil ich geliebt und wertgeschätzt werden will.“
Am Ende dreht sich all diese Verwirrung um den Glauben an dieses falsche „Ich“. Weil wir daran glauben und aufgrund dessen handeln, erfahren wir eine unkontrollierbar sich wiederholende Wiedergeburt als eine sich fortsetzende Grundlage für das Erfahren von Leiden des Unglücklichseins und Leiden der Veränderung, dieses gewöhnliche Glück. Das ist das alles umfassende Leiden. Alles, was wir erfahren – wir reden hier über Samsara –, ist das Resultat des Verhaltens, das auf diesem mangelnden Gewahrsein beruht, was wir als Karma bezeichnen. Das Furchtbare ist, dass es sich von selbst fortsetzt. Wir haben kontinuierlich dieses Gefühl eines soliden „Ichs“, das dieses Karma erlebt, und auf der Grundlage dieses karmischen Resultats schaffen wir weitere Ursachen. Wir bauen immer mehr davon auf und setzen diesen Vorgang fort. Das ist so problematisch an samsarischen Situationen: sie setzen sich von selbst fort und gehen immer weiter, bis wir etwas dagegen unternehmen.
Die Ursachen des Leidens korrekt identifizieren
Das alles umfassende Leiden, nämlich Samsara, die unkontrollierbar sich wiederholende Wiedergeburt und alles, was in jeder Wiedergeburt passiert, geht immer weiter auf und ab, auf und ab, und führt nirgendwo hin. Das ist das alles umfassende Leiden, die dritte Art des Leidens, die einzig im Buddhismus erklärt und vertreten wird. Sprechen wir über echte Entsagung, so ist es dies, dem wir entsagen. Wir sind entschlossen, frei von diesem alles umfassenden Problem des Samsara und dessen Ursache, diesem mangelnden Gewahrsein, zu sein.
Wir streben nach vollständiger Befreiung von Samsara, oder dem so genannten „Nirvana“, mit dem so eine Wiedergeburt nie wieder stattfinden wird. Wir wünschen uns nicht einfach nur eine vorübergehende Pause oder Beurlaubung davon, sondern wollen vollkommen frei davon werden, was man als „wahre Beendigung“ bezeichnet; es wird sich also niemals mehr wiederholen. Das ist etwas rein Buddhistisches.
Sich lediglich zu entscheiden, frei von unkontrollierbar sich wiederholender Wiedergeburt an sich zu sein, ist keine rein buddhistische Sache, denn in all den anderen indischen Religionen benutzt man die gleichen Worte: „Samsara“ und ein etwas anderes Wort, das auch im Buddhismus gebraucht wird: „moksha“ oder Befreiung. Sie streben nach der gleichen Sache: Befreiung von Samsara, von unkontrollierbar sich wiederholender Wiedergeburt. Daran ist nichts spezifisch Buddhistisches. Eine rein buddhistische Sache ist jedoch, die wahren Ursachen des Leidens, die wahre Ursache von Samsara, korrekt zu identifizieren und ihr zu entsagen, indem man die Entschlossenheit entwickelt, frei davon zu sein.
Obgleich unser Hauptaugenmerk darauf liegen mag, uns von dem alles umfassenden Leiden, der wahren Ursache, zu befreien, mag es mit dieser Entsagung notwendig sein, die Umstände aufgeben zu wollen, die Samsara vorantreiben. Tatsächlich sind wir dann bereit, alles Notwendige aufzugeben, um frei davon zu werden. Das ist unglaublich fortgeschritten. Wir sind entschlossen, frei von absolut allem zu werden, was wir in unserer Erfahrung kennen. Das ist ziemlich radikal, denn alles in unserer Erfahrung ist Samsara, dieses alles umfassende Leiden.
Wir können sehen, warum Tsongkhapa hier eine Vorstufe für diese Art der Entsagung empfiehlt. Es wäre zu viel, einfach direkt in diese Ebene der Entsagung einzusteigen. Für die meisten von uns hier im Westen ist sogar dieser leichtere Schritt, den Tsongkhapa als ersten Schritt der Entsagung empfiehlt, zu fortgeschritten. Wir brauchen noch eine weitere Vorstufe und dann durchlaufen wir diese verschiedenen Ebenen der Entsagung.
Damit diese Entsagung wirklich aufrichtig ist, sollten wir daran denken, dass wir mit ihr zwei Richtungen anstreben: von den Leiden frei zu werden und den Zustand der Befreiung zu erlangen. Das erfordert eine korrekte Identifizierung des Objektes, von dem wir frei werden oder das wir beseitigen wollen, sowie des Objektes oder Zustandes, das oder den wir mit Entschlossenheit erlangen wollen. Beides müssen wir korrekt erkennen und uns bewusst darüber sein, was sie sind.
Zusätzlich gilt es die Überzeugung zu haben, dass es möglich ist, für immer frei von diesen Leiden und dessen Ursachen zu werden, und dass es möglich ist, diesen Zustand der Befreiung zu erlangen. Diese Zwei sind ganz augenscheinlich miteinander verbunden; es ist nicht so, dass wir nur einen, nicht aber den anderen erreichen können. Auch kann es sich nicht auf blinden Glauben stützen, mit dem wir meinen: „Weil Buddha es gesagt hat oder mein Lehrer dies behauptet, glaube ich es. Ich will ein guter und gehorsamer Schüler sein, mich fügen und nichts dazu sagen.“ Buddha selbst sagte: „Akzeptiert niemals etwas aus Respekt gegenüber mir, was ich gesagt habe, sondern testet es selbst, als würdet ihr Gold kaufen.“ Durch Logik und Überlegung sollten wir schlicht und ergreifend überzeugt davon sein, dass es tatsächlich möglich ist, Befreiung zu erlangen; ansonsten kann unser Streben danach nicht wirklich aufrichtig und stabil sein.
Beim Bodhichitta, mit dem wir uns von der Unfähigkeit abwenden, allen zu helfen, und stattdessen anstreben, Erleuchtung zu erlangen, diesen Zustand, in dem wir in der Lage sein werden, allen von Nutzen zu sein, gibt es eine ähnliche Struktur in Bezug auf die Entsagung. Sprechen wir jedoch von Bodhichitta, denken wir für gewöhnlich nicht an diesen Aspekt der Entsagung, mit dem wir diese Unfähigkeit beseitigen wollen. Die Betonung liegt auf dem Streben nach Erleuchtung für einen bestimmten Zweck, nämlich allen damit größtmöglich von Nutzen zu sein.
Dennoch müssen wir sowohl bei der Entsagung als auch beim Bodhichitta die gleiche Frage stellen: Ist es möglich, tatsächlich Befreiung von Samsara, von unkontrollierbar sich wiederholender Wiedergeburt und Leiden zu erlangen? Ist es wirklich möglich, Erleuchtung zu erlangen, den Zustand, in dem wir allen anderen bestmöglichen helfen könnten? Natürlich ist es notwendig zu verstehen, worum es sich bei diesen zwei Zuständen handelt und außerdem, ob es möglich ist, sie zu erlangen. Darüber hinaus müssen wir überzeugt davon sein, dass wir persönlich dazu in der Lage sind, und sollten uns nicht nur ganz allgemein fragen, ob es möglich ist. Vielleicht denken wir: „Buddha war dazu in der Lage und diese anderen Menschen können es tun, aber ich bin zu dumm. Ich bin ein Nichtsnutz und schaffe es nicht.“
Um überzeugt davon zu sein, müssen wir die Natur des Geistes und die so genannte „Buddha-Natur“ verstehen, was ein Verständnis der Leerheit erfordert.
Fragen
Sie sprachen darüber, Erleuchtung zu erlangen, um anderen helfen zu können, aber dann sehen wir, dass diese anderen ebenfalls ziemlich verwirrt sind, was dieses falsche „Ich“ betrifft. Wenn wir nun versuchen, ihnen zu helfen, werden sie wütend und wollen es nicht zulassen. Wie können wir ihnen da behilflich sein?
Zunächst, indem wir uns in Geduld üben. Der Bodhisattva-Pfad erfordert viele verschiedene positive, konstruktive Geisteszustände, die wir entwickeln müssen und die uns in die Lage versetzen, anderen zu helfen, und er bietet zahlreiche Methoden, um sie zu erlangen. Wir müssen Gleichmut entwickeln, mit dem wir niemanden vorziehen; wir sind offen dafür, jedem gleichermaßen zu helfen. Außerdem benötigen wir Liebe, den Wunsch, andere mögen glücklich sein und die Ursachen für Glück besitzen, sowie Mitgefühl, den Wunsch, andere mögen frei von Problemen und den Ursachen der Probleme sein. Und wir brauchen die Geisteshaltung, mit der wir Verantwortung dafür übernehmen, tatsächlich etwas dafür zu tun und nicht nur oberflächlich ein wenig helfen, sondern uns wirklich verantwortlich fühlen, ihnen zu helfen Erleuchtung zu erlangen. Dafür müssen wir selbst Erleuchtung erlangen, damit wir ihnen so gut und so vollständig wie möglich helfen können. Das ist Bodhichitta; wir streben die individuelle Erleuchtung aller an.
Wir entwickeln diese Einstellung, mit der wir versuchen allen gleichermaßen zu helfen und uns nicht entmutigen lassen oder aufgeben, weil jemand so schwierig ist. Dann benötigen wir die so genannten „weitreichenden Geisteshaltungen“, die zuweilen auch als „Vollkommenheiten“ übersetzt werden: überaus großzügig zu sein, und nicht nur Blumen, sondern unsere Zeit und Energie zu geben. Dann geht es darum, ethische Selbstdisziplin zu haben, um schädliche Handlungen zu unterlassen, die Disziplin, mit der wir an uns arbeiten und die Disziplin, anderen tatsächlich zu helfen, auch wenn wir keine Lust dazu haben; außerdem Geduld, um nicht wütend oder entmutigt zu werden, wenn sie unsere Hilfe nicht haben wollen oder wenn unsere Vorschläge nicht funktionieren, sowie Ausdauer, um nicht aufzugeben und immer weiterzumachen, zu lieben, was wir tun, an uns zu arbeiten und anderen mit großer Freude zu helfen.
Dann gibt es die geistige Stabilität, und damit meinen wir nicht nur Konzentration, sondern auch emotionale Ausgeglichenheit. Wir haben nicht ständig Stimmungsschwankungen oder lassen uns ablenken, weil wir uns von jemandem angezogen fühlen, der so gut aussieht. Und natürlich unterscheidendes Gewahrsein, um in der Lage zu sein, zwischen dem zu unterscheiden, was hilfreich und was schädlich ist, was Realität und was nur eine Fantasie-Projektion ist. Die Bodhisattva-Schulung ist ziemlich umfangreich, was das Entwickeln all dieser Aspekte und das Verständnis der geschickten Methoden betrifft, damit wir anderen helfen können, so gut es geht.
Doch auch wenn wir Buddhaschaft erlangen, sind wir trotz allem nicht in der Lage, einfach mit den Fingern zu schnipsen und auf allmächtige Weise die Leiden eines jeden zu beseitigen. Wäre das möglich, hätte Buddha dies schon längst getan. Wir können Ratschläge anbieten und so viel wie möglich helfen, doch die andere Person muss diesen Ratschlag annehmen. Sie muss empfänglich dafür sein; wir können ihr nichts aufzwingen. Wie wir gesehen haben, ist die tiefste Ursache der Leiden aller immer die gleiche: dieses mangelnde Gewahrsein. Was wir als ein Buddha tun können, ist, die Realität und diese Dinge so geschickt wie möglich und entsprechend der Ebene der Person zu erklären. Ein Buddha kann nicht etwas für andere verstehen; sie müssen es selbst tun.
Sie haben darüber gesprochen daran zu arbeiten, sich für zukünftige Wiedergeburten vorzubereiten, aber das klingt, als wäre es kinderleicht, weitere menschliche Wiedergeburten oder kostbare menschliche Wiedergeburten zu erlangen. Ich erinnere mich jedoch gehört zu haben, dass es ziemlich schwierig ist. Stimmt das?
Es ist ausgesprochen schwierig, eine kostbare menschliche Wiedergeburt zu erlangen, wenn wir keine Ursachen dafür schaffen, und es wird nicht so einfach von sich aus oder aufgrund dessen geschehen, was wir vor einer Million Leben getan haben. Wir müssen jetzt mit aller Kraft die Ursachen dafür schaffen. Was sind denn die grundlegenden Ursachen? Die wichtigste Ursache ist ethische Selbstdisziplin. Sie ist etwas, zu dem wir einzig als Menschen in der Lage sind. Tiere sind es nicht; sie werden von ihren Instinkten gesteuert – die Katze wird die Maus quälen und der Löwe wird auf die Jagd gehen. Wir Menschen können uns hingegen in Selbstbeherrschung üben.
Außerdem ist es äußerst wichtig, aufrichtige Wunschgebete zu machen, um eine kostbare menschliche Wiedergeburt zu erlangen, also nicht solche Gebete, wie: „Oh Buddha, bitte gewähre sie mir, wenn ich ein gutes Mädchen oder ein guter Junger bin, und dann werde ich dich stets loben.“ Vielmehr geht es darum, unsere Absicht und unsere positive Energie in eine feste Richtung zu lenken, insbesondere durch eine Widmung: „Möge ich durch die positive Kraft von allem Konstruktiven, was ich getan habe und was ich tue, Erleuchtung erlangen. Um Erleuchtung zu erlangen, ist es notwendig, weitere kostbare menschliche Wiedergeburten zu bekommen, die mir erlauben, meine Bemühungen auf dem Weg zur Erleuchtung fortzusetzen. Möge ich fortwährend eine kostbare menschliche Wiedergeburt bekommen, stets dem Dharma begegnen und in all meinen Leben, bis hin zur Erleuchtung, von wirklich qualifizierten Lehrern betreut werden. Wenn wir Gebete machen, ist es wichtig, sehr präzise zu sein.
In Tibet, im Ganden-Kloster, gab es einen Thron, einen hohen Sitz des Oberhauptes des Gelugpa-Ordens, den Ganden-Thron. Da es auch Tiere im Klosterhof gab, kam eines Tages eine Kuh in den Tempel und lies sich auf dem Thron nieder. Die Mönche waren überrascht, als sie das sahen, und fragten den großen Lehrer dort, was die Ursache dafür war. Der Lehrer erwiderte: „In einem früheren Leben hat dieses Wesen Gebete gemacht, auf dem Ganden-Thron sitzen zu dürfen, aber es seine Gebete nicht präzise genug zum Ausdruck gebracht.“
Zusätzlich zur ethischen Selbstdisziplin und spezifischen Gebeten sind auch die anderen weitreichenden Geisteshaltungen der Großzügigkeit, Geduld, Ausdauer, geistigen Stabilität und des unterscheidenden Gewahrseins notwendig. Das sind die Ursachen für eine kostbare menschliche Wiedergeburt.