Die weitreichende Geduld, Leid bereitwillig zu akzeptieren
Meditation ist eine Methode, um zu überwinden, dass unser Geist unter der Kontrolle von zwanghaften karmischen Impulsen und störenden Emotionen steht und dadurch Leid für uns schafft. Die Tatsache, dass Meditation so funktioniert, zeigt, dass nicht alles wie durch eine Art „karmisches Schicksal” vorherbestimmt ist, denn sonst könnten wir uns nicht weiterentwickeln. Der Aufbau positiven Potenzials ist das Ergebnis unserer Bemühungen und nicht etwa nur Schicksal.
Es gibt viele Arten von Erfahrungen (tib. myong-ba) während der Meditation. Einige entstehen durch Anstrengung, andere mühelos; einige sind gekünstelt, andere ganz natürlich. Darunter nehmen einige aufgrund unserer störenden Emotionen ab, andere nicht. Jene meditativen Erfahrungen, die nicht abnehmen, entstehen aus dem unterscheidenden Gewahrsein, das der Meditation entstammt (tib. sgom-byung-gi shes-rab). Dieses erreicht man durch das verbundene Paar (tib. zung-’brel) des still gewordenen und zur Ruhe gekommenen Geisteszustandes (tib. zhi-gnas, Skt. śamatha) und des Geisteszustandes von außergewöhnlicher Wahrnehmungsfähigkeit (tib. lhag-mthong, Skt. vipaśyanā). Es gibt viele Stufen, die man durchläuft, um den Geist durch Meditation zu entwickeln und somit weiteres Leiden zu verhindern.
Wie aber sollen wir mit all dem Leid umgehen, das wir überall um uns herum sehen und jetzt auch selbst erfahren? Die Antwort lautet: mit Mitgefühl. Mitgefühl ist Teil unser aller Natur. Um es zu steigern müssen wir jedoch unseren Verstand einsetzen. Durch Vertrauen und Bestrebung kann es in gewissem Maße intensiviert werden. Damit es jedoch nicht wieder nachlässt, müssen wir es durch unterscheidendes Gewahrsein stärken. Verlangen und Aggressivität können ebenfalls durch unterscheidendes Gewahrsein verstärkt werden – zum Beispiel, indem man jemanden als attraktiv oder abstoßend beurteilt –, aber im Gegensatz zum Mitgefühl entstehen diese beiden störenden Emotionen nicht auf natürliche Weise als Teil unserer Natur – wir können sie nämlich loswerden.
In seiner „Ergänzung [zu Nagarjunas Wurzelversen] zum Madhyamaka” erklärt Chandrakirti, dass Mitgefühl durch drei Arten von unterscheidendem Gewahrsein verstärkt wird:
- Das unterscheidende Gewahrsein des Leids aller Wesen und deren Leiden, dies nicht zu erkennen.
- Das unterscheidende Gewahrsein der Unbeständigkeit aller Wesen und deren Leiden, dies nicht erkennen.
- Das unterscheidende Gewahrsein der Leerheit aller Wesen und deren Leiden, dies nicht zu erkennen.
Als letztes gibt es noch das „unausgerichtete Mitgefühl” (tib. dmigs-med snying-rje) – also ein Mitgefühl, das nicht auf in sich selbst begründete Objekte gerichtet ist. Dieses beinhaltet, alle Wesen als wie eine Illusion zu betrachten und mit dieser Sichtweise Mitgefühl für sie zu empfinden. Dabei ist es besonders wichtig zu erkennen, dass das Leid aller begrenzten Wesen auf ihrer Unwissenheit, ihrer Ignoranz, beruht und somit etwas ist, das beseitigt werden kann.
Konstruktive Handlungen machen andere und uns selbst glücklich. Mit anderen Worten: Wenn wir anderen helfen wollen und das auch umsetzen, fühlen wir uns gut und zufrieden. Dieses Gefühl hält auch danach über eine längere Zeit noch an. Jedoch mit übler Absicht etwas Schlechtes zu tun, ist Ausdruck unserer Abneigung anderen gegenüber. In einem solchen Zustand sind wir unglücklich und haben auch keinen inneren Frieden. Wenn wir andere verletzen und uns dadurch befriedigt fühlen, empfinden wir Abneigung ihnen gegenüber und sind unglücklich. Dies führt dazu, dass wir in Zukunft weiteres Unglücklichsein erfahren werden. Es ist wichtig darüber nachzudenken, wie karmische Ursache und Wirkung an diesem Prozess teilhaben.
Betrachtet zwei Menschen im selben Gefängnis als die umfassende Wirkung eines gemeinsamen karmischen Potenzials. Sie erfahren dennoch unterschiedliche Ebenen des Leidens. Selbst wenn sie der gleichen Folter ausgesetzt sind, werden sie sie je nach ihrer körperlichen Konstitution und Geisteshaltung unterschiedlich erleben. Die Komplexität der Art und Weise, wie wir etwas erleben, wird durch eine große Bandbreite verschiedener Ursachen bestimmt. Die herbeiführenden Ursachen sind innerlich, während die zusätzlichen, unterstützenden Ursachen entweder äußerlich oder innerlich sein können. Auch die Erfahrungen, die wir vor einem bestimmten Ereignis gemacht haben, beeinflussen die Art und Weise, wie wir uns während des Ereignisses fühlen.
Die Geduld, unser Leiden freiwillig zu akzeptieren, ist nicht gleichbedeutend mit Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden. Es bedeutet keineswegs, dass Leid in Ordnung ist, zumal wir in erster Linie das Leiden beseitigen und Befreiung erlangen wollen, um anderen zu helfen. Da wir jedoch bereits leiden, sollten wir das akzeptieren, damit es nicht noch schlimmer wird. Es gibt keinen Grund, unserem gegenwärtigen Leiden noch mehr Leid hinzuzufügen.
Die Geduld, unser Leid zu akzeptieren, bedeutet auch nicht, dass wir mehr Leiden wollen. Vielmehr wollen wir verhindern, dass das Leid, das wir bereits haben, zu einem Hindernis wird. Deshalb wandeln wir es in einen unterstützenden Faktor für den Pfad um. In der Tat erfordern bestimmte Praktiken Leiden und Schwierigkeiten, um gewissene Hindernisse zu überwinden. Man betrachte nur Buddhas asketische Praktiken und Milarepas Mühsal. Sie nahmen bereitwillig Leid auf sich, um ein größeres Ziels zu erreichen. So können auch wir kleinere Schwierigkeiten willkommen heißen, um in der Zukunft einen größeren Nutzen zu erzielen, so wie wir eine lebensbedrohliche Krankheit behandeln lassen und die Schmerzen einer Operation in Kauf nehmen.
Was den Umgang mit Problemen betrifft, die uns begegnen, so rät Shantideva in seinem „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“:
(VI.10) Wenn ich eine Sache ändern kann, warum sollte ich in schlechte Laune kommen? Und wenn ich sie nicht verändern kann, was nützt dann die schlechte Laune?
Wenn wir leiden, können wir das als Bereinigung unserer negativen Eigenschaften sehen. Wir können dafür beten, dass die Schwierigkeiten, die wir erfahren, unser zukünftiges Leid mindern.
Shantideva drückt dies mit einem eindrucksvollen Beispiel aus:
(VI.72) Warum sollte ein zum Tode Verurteilter es bedauern, wenn man ihm lediglich die Hand abhacken würde; und er wäre [dadurch dem Tode] entronnen? Warum sollte ich es bedauern, wenn mir, durch menschliche Leiden, die freudlosen Bereiche erspart blieben?
(VI.73) Wenn ich noch nicht einmal in der Lage bin, diese geringfügigen, gegenwärtigen Leiden zu ertragen, warum wehre ich dann nicht den Ärger ab, der die Ursache für höllengleiche Qualen sein wird?
Mit dieser Denkenweise können wir auch das Leid anderer auf uns nehmen, wie in der Praxis des Tonglen, des Gebens und Nehmens.
Die weitreichende Geduld, Schwierigkeiten während der Dharma-Praxis durchzustehen
Dharma-Praxis ist oft mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Wenn wir uns jedoch deren Ziel vor Augen halten, hilft uns das, die weitreichende Geduld zu entwickeln, um die damit verbundenen Schwierigkeiten zu ertragen. Diese Geduld ist zum Beispiel erforderlich, wenn man den folgenden acht Arten von Schwierigkeiten während der Dharma-Praxis begegnet:
- Als Mönch oder Nonne minderwertige Kleidung zu tragen;
- Von der Gesellschaft geächtet zu werden, wenn wir uns entscheiden, kein gewöhnliches Laienleben zu führen, sondern intensiv den Dharma zu praktizieren. Selbst wenn die Leute uns nicht ermutigen, uns als seltsam ansehen oder auf uns herabblicken, müssen wir unsere Entscheidungen selbst treffen. Die alten Kadampa-Meister lehrten, dass es nicht richtig ist, sich den Erwartungen aller aus Sorge um die acht weltlichen Dharmas (Lob oder Kritik usw.) anzupassen;
- Wenn man eine strenge Praxis ausübt – zum Beispiel während eines dreijährigen Retreats – nur wenig bzw. im Sitzen zu schlafen;
- Buddha, Dharma und Sangha Respekt zu erweisen, indem wir uns erheben, wenn ein Text in den Raum gebracht wird, und uns vor einer Belehrung vor dem Lama niederwerfen bzw. eine Handgeste ausführen, wenn wir krank sind. Niederwerfungen sind ein ausgezeichnetes Mittel, um sich von Arroganz zu lösen, da man dadurch Ehrerbietung und Respekt zum Ausdruck bringt. Deshalb ist es auch wichtig, dass ein Lama vor einer Belehrung Niederwerfungen vor den Drei Juwelen macht und dabei an die Unbeständigkeit, das Leiden der Veränderung und die Abwesenheit eines Selbst denkt und dann mit den Fingern schnipst, um jegliche Arroganz zu vermeiden;
- Sich als Mönch oder Nonne den Kopf zu rasieren, nicht mehr zu singen oder zu tanzen, um sein Essen zu betteln und alles anzunehmen, was einem gegeben wird;
- Die Notwendigkeit, sich zu konzentrieren, ohne gedanklich abzuschweifen, wenn man Gebete rezitiert und meditiert, und Vergegenwärtigung während der Gehmeditation aufrechtzuerhalten;
- Die emotionale Aufgewühltheit und Traurigkeit zu ertragen, die sich einstellen, wenn man an das Leid aller Wesen denkt und über Mitgefühl meditiert. Wenn Butön Belehrungen gab, erzählte er Witze, die die Menschen zum Lachen brachten. Langri Tangpa hingegen erzählte während seinen Unterweisungen traurige Geschichten, die alle zum Weinen brachten. Diese Art von Traurigkeit und emotionaler Aufgewühltheit, wenn man Mitgefühl empfindet, ist jedoch nicht wie eine gewöhnliche störende Emotion. Das liegt daran, dass wir tief in unserem Geist Kraft besitzen. Wir sind nicht überwältigt von dem Leiden, das wir durch unsere Gefühle der Traurigkeit erfahren, wenn wir an das Leiden anderer denken. Wir akzeptieren dieses Leid bereitwillig;
- Unsere gewöhnlichen Freizeitaktivitäten, an denen wir Freude haben, zu unterbrechen, um anderen zu helfen.
Dies sind die acht Schwierigkeiten, die geduldig durchzustehen sind, wenn man sich der Praxis des Dharma verschrieben hat.
An dieser Stelle ist es hilfreich, noch eine weitere Situation, die diese Art von Geduld erfordert, zu erwähnen. Die tatsächliche Möglichkeit, Erleuchtung zu erlangen, wird durch eine Argumentationslinie bzgl. extrem verschleierter Phänomene begründet. Um unsere Wahrnehmung von etwas Offensichtlichem zu verifizieren, darf unsere Wahrnehmung nicht durch gültige, nichtbegriffliche Wahrnehmung widerlegbar sein. Um verschleierte Phänomene zu postulieren, darf unser Verständnis nicht durch gültige schlussfolgernde Wahrnehmung widerlegbar sein. Bei extrem verschleierten Phänomenen ist es so, dass unser Verständnis nicht durch gültige Zitate aus autoritativen Quellen widerlegbar sein darf.
Wie sieht es zum Beispiel mit den Lehren über den Berg Meru, der in den buddhistischen Texten vorkommt, aus? Der Kernpunkt von Buddhas Lehre sind die vier edlen Wahrheiten, und Teil der ersten edlen Wahrheit, das wahre Leiden, ist die Diskussion der Umwelt. Das Hauptaugenmerk liegt dabei jedoch auf den begrenzten Wesen, die in dieser Umwelt leben. Der Buddha sprach dabei über die Welt im Kontext der damaligen Ansichten seiner Zeit. Da diese Beschreibung des Berges Meru usw. im Widerspruch zu gülter Wahrnehmung steht, ist sie nicht mehr zu akzeptieren.
Bezüglich extrem verschleierter Phänomene wie Karma müssen wir in den Lehren des Budda nicht unbedingt etwas finden, das dem widerspricht. Wir benötigen jedoch die Geduld, eine große Zahl an Texten genau zu studieren und so zu prüfen, ob es innere Widersprüche gibt. Auf diese Weise können wir schließlich auch die extrem verschleierten Phänomene akzeptieren, sowie das Erlangen der Erleuchtung.
Weitreichende Ausdauer
Ebenso benötigen wir weitreichende Ausdauer bzw. Anstrengung. Ausdauer meint hier jene Anstrenung, die wir in konstruktive Handlungen stecken, wenn wir daran Freude haben. Das ist jedoch nicht vergleichbar mit der gewöhnlichen Anstrengung, die wir zum Beispiel bei destruktiven Handlungen unternehmen. Wir können uns nicht einfach zurücklehnen und all die guten Eigenschaften des Geistes wie Liebe, Mitgefühl, Weisheit usw. bewundern. Es gilt, sich anhaltend darum zu bemühen, diese tatsächlich auch zu erreichen. Was unsere konstruktiven Anstrengungen jedoch behindern kann, ist Faulheit. Deshalb sollten wir uns darum bemühen, auch diese zu überwinden.
Es gibt drei Arten von Ausdauer:
- Rüstungsgleiche Ausdauer
- Ausdauer bei konstruktiven Handlungen
- Ausdauer bei Bemühungen für das Wohl anderer
Rüstungsgleiche Ausdauer
Wir benötigen die rüstungsgleiche Anstrengung, bei der es keine Rolle spielt, ob wir nur einen Tag oder ein ganzes Weltzeitalter praktizieren müssen, und bei der wir uns durch unzählige Weltzeitalter hindurch bemühen, auch um nur einem einzigen fühlenden Wesen zu helfen – eine Ausdauer, die uns niemals aufgeben lässt. Wir alle können diese unnachgiebige, unzerstörbare rüstungsgleiche Ausdauer entwickeln, mit der wir niemals müde werden oder den Mut verlieren.
Dazu rät Nagarjuna in seiner „kostbaren Girlande” (tib. Rin-chen ’phreng-ba, Skt. Ratnāvalī):
(V.83) Möge ich wie die Erde, das Wasser, Feuer, Wind, Medizin und die Wälder allen fühlenden Wesen immer von Nutzen sein, so wie sie es wünschen, ohne jegliches Hindernis.
Shantideva schreibt etwas Ähnliches:
(III.20) Und möge ich, wie die Erde und so weiter – wie die großen Elemente – und der Raum, der unergründlichen Anzahl begrenzter Wesen durch eine Vielfalt von Formen als Grundlage für ihr Leben dienen.
(X.55) Solange der Himmelsraum besteht und solange wandernde Wesen verweilen, möge auch ich ebenso lange verweilen, um die Leiden der wandernden Wesen zu beseitigen.
Wenn wir leiden, kommt uns normalerweise eine kurze Zeit sehr lang vor; wenn wir aber zufrieden und glücklich sind, vergeht die Zeit wie im Flug und wir könnten für immer in diesem Zustand bleiben. Daher ist es ein großer Vorteil, Bodhichitta zu entwickeln und aufrechtzuerhalten, um sich für das Wohl anderer einzusetzen. Ganz gleich, wie lange wir mit Bodhichitta in unserem Herzen verweilen, die Zeit wird schnell und mit Freude verstreichen. Wir werden dann nicht das Gefühl haben, dass es eine Last ist, anderen zu helfen.
Wenn wir in der „Kostbaren Girlande“ Nagarjunas Beschreibung von mehr und mehr Weltzeitaltern lesen, in denen wir positive Kraft (Verdienst) aufbauen müssen, um die verschiedenen Merkmale des physischen Körpers eines Buddhas zu erreichen, haben wir vielleicht das Gefühl, dass diese unheimlich schwer zu erlangen sind, und fühlen uns überwältigt. Konzentrieren wir uns jedoch darauf, einer unbegrenzten Anzahl von fühlenden Wesen zu helfen und die Erleuchtung zu erlangen, um dies in Zukunft immer tun zu können, werden wir nicht den Mut verlieren, auch wenn die Menge an positiver Kraft, die dies erfordert, noch so groß ist. Wenn wir bereits anderen helfen und dies auch weiterhin tun werden, wenn wir die Erleuchtung erlangt haben, welchen Unterschied macht es dann, wenn es lange dauert?
So schrieb Bhavaviveka in seiner „Herzessenz des Madhyamaka“ (tib. dBu-ma’i snying-po, Skt. Madhyamakahṛdaya):
(I.29) Wer würde als Held mit den Taten einer großen Persönlichkeit bemüht um das Wohl anderer nicht in Samsara verbleiben, selbst wenn es endlos wäre, als wäre es nur ein Tag?
Da wir Mitgefühl für alle begrenzten Wesen haben, verbleiben wir in Samsara, um ihnen zu helfen. Wir bleiben schließlich nicht, weil uns die Probleme in Samsara gefallen. Mit unterscheidendem Gewahrsein und dadurch, dass wir uns diese Nachteile bewusst machen, werden wir nicht davon befleckt, sondern sehen, dass es in Ordnung ist, dort zu verbleiben, um anderen so gut wie möglich zu helfen.
Bevor wir Gras schneiden, müssen wir unsere Sichel schärfen. Genauso müssen wir uns darum bemühen, Bodhichitta und ein korrektes Leerheitsverständnis zu entwickeln. Sobald wir beides geschärft haben, werden wir in der Lage sein, all unsere Handlungen zum Nutzen anderer in Übereinstimmung mit dem Dharma einzusetzen. Dies wird uns große Zufriedenheit geben und sowohl für uns als auch für andere von großem Nutzen sein. Um dies zu erreichen, müssen wir jedoch unsere Trägheit überwinden.
Die beste vorbereitende Praxis (tib. sngon-’gro) besteht darin, über Bodhichitta (Mitgefühl) und Weisheit (Leerheit) zu meditieren und die Lehren zu lesen und zu studieren. Die alten Kadampa-Meister sagten, dass wir, wenn wir gut genährt sind und es uns gut geht, vielleicht wie große Praktizierende aussehen mögen, aber wenn wir in Schwierigkeiten geraten, sich unsere wahre Natur zeigt, besonders dann, wenn wir im Sterben liegen.
Der Tod tritt in zwei Phasen ein. Zunächst hören wir während des Sterbeprozesses auf zu atmen, sobald unser Bewusstsein nicht mehr die achtzig Arten der universell auftretenden subtilen konzeptuellen geistigen Aktivität (tib. kun-rtog brgyad-cu) hervorbringt. Wir haben dann jedoch immer noch die drei Arten der subtilste Erscheinungen hervorbringenden konzeptuellen geistigen Aktivität (tib. snang-ba gsum): [weiße Erscheinungen (tib. snang-ba dkar-lam-pa), rote Zunahme (tib. mched-pa dmar-lam-pa) und schwarze Beinahe-Erlangung (tib. nyer-thob nag-lam-pa)]
Wenn während der zweiten Phase unser Bewusstsein diese drei nicht länger hervorbringt und die geistige Aktivität des klaren Lichts des Todes auftritt, sollten wir klinisch tot sein, obwohl es auch Fälle gab, in denen Menschen aus diesem Zustand wieder ins Leben traten. Die meisten werden jedoch nicht wieder lebendig und sterben. Wenn der Atem zum Stillstand kommt, hört bei den meisten Menschen auch die Gehirnfunktion auf. Ist man jedoch an ein Beatmungsgerät angeschlossen und sind die Hirnfunktionen noch da, ist man wahrscheinlich noch am Leben.
Verschiedene Arten von Trägheit überwinden
Auf jeden Fall sollten wir uns, solange wir noch leben, mit rüstungsgleicher Ausdauer um konstruktive Aktivitäten bemühen, selbst im Angesicht unseres bevorstehenden Todes. Es werden drei Arten von Trägheit unterschieden, die unsere konstruktiven Bemühungen behindern:
- Aufschieben
- Anhaftung an triviale Aktivitäten und ständig mit bedeutungslosen Dingen beschäftigt zu sein
- Entmutigung und das Gefühl, nicht zu etwas in der Lage zu sein, oder das Gefühl, dass Erleuchtung unmöglich ist
Bei letzterem gibt es zwei Arten. Erstens, wenn wir beispielsweise sehr aufgeregt sind, wenn wir hören, dass wir die Erleuchtung innerhalb einer dreijährigen Klausur erlangen können. Hören wir jedoch, dass es auch drei unzählbare Weltzeitalter dauern könnte, halten wir es für unmöglich und geben auf. Dies wäre ein solcher Fall von Entmutigung, nachdem wir detaillierteres Wissen darüber erlangt haben.
Die zweite Art ist, von unserem fehlenden Fortschritt entmutigt zu werden, da wir uns nicht an die Unbeständigkeit usw. erinnern. Wenn wir von Anfang an eine feste Überzeugung (tib. mos-pa) von unser Fähigkeit entwickeln, das Ziel erreichen zu können, weil ja alles unbeständig und vergänglich ist, werden wir niemals den Mut verlieren. Wir können zum Beispiel auch über unsere Buddha-Natur meditieren, um Entmutigung zu vermeiden.
Es ist, wie Shantideva sagt:
(VI.14ab) Es gibt rein gar nichts, was nicht einfach wird, sobald du dich daran gewöhnt hast.
Im Grunde genommen wurde kein Bodhisattva ohne Anstrengung ein Buddha. Wenn in den Kalachakra-Texten von Adibuddha (tib. dang-po’i sangs-rgyas, „erster Buddha”) und im Guhyasamaja von Adinatha (tib. dang-po’i mgon-po, „erster Beschützer”) – oder „Buddha bzw. Beschützer des Ersten“ – die Rede ist, bedeutet das nicht, dass irgendjemand am Anfang schon als Buddha begonnen hat. Diese Begriffe beziehen sich auf die Tatsache, dass alle reinen und unreinen Erscheinungen aus dem Geist klaren Lichts hervorgehen und sich wieder in ihn auflösen. Der Geist klaren Lichts ist kein Ort, sondern bezieht sich auf die Natur des Geistes eines jeden Individuums, ob in Samsara oder Nirvana. Sobald sich alle Unreinheiten aufgelöst haben und reine Erscheinungen aus dem Geist klaren Lichts zu entstehen beginnen, markiert dies den Beginn der Buddhaschaft. Die Erlangung der Buddhaschaft erfolgt bei dieser ersten Gelegenheit, und darauf beziehen sich die Begriffe „Buddha des Ersten“, „erster Buddha“, „Beschützer vom Ersten“ und „erster Beschützer“. Aus diesem Zustand – sobald wir die Buddhaschaft erlangt haben – können wir nicht wieder zurückfallen.
Einem Bericht zufolge entwickelte Maitreya vor Shakyamuni Bodhichitta. Shakyamuni arbeitete allerdings härter und erlangte daher zuerst Erleuchtung. „Erster Buddha” bezieht sich allerdings auch nicht darauf.
Wenn wir uns anstrengen, brauchen wir außerdem Überzeugung. Sowohl Überzeugung als auch Arroganz sind erhebende Geisteszustände. Mit Arroganz schauen wir jedoch auf jemanden herab. Shantideva beschrieb drei Arten von Überzeugung:
- Überzeugung in unser Handeln – wir denken: „Ich allein werde das schaffen.” Wir folgen nicht einfach nur anderen, sondern verpflichten uns, Verantwortung zu übernehmen.
- Überzeugung in unsere eigenen Kräfte und Fähigkeiten – wir sind nicht sicher, wozu andere in der Lage sind, aber wir schauen trotzdem nicht auf sie herab. Wir verpflichten uns, anderen zu helfen usw., auch wenn andere das nicht können oder wollen.
- Überzeugung in unseren eigenen Geist – wir sind uns unseres Sieges über die störenden Emotionen sicher und lassen uns nicht von ihnen überwältigen.
Daher haben Bodhisattvas ein starkes Selbstbewusstsein – nach dem Motto: „Ich werde es tun!” Hier gibt zwei Arten: ein positives und ein negatives Selbst. Das eine ist der Unruhestifter und das andere hat das Vertrauen, sich gegen die eigenen störenden Emotionen auflehnen zu können. Letzteres besitzt auch die Kraft der Standhaftigkeit (tib. brtan-pa’i stobs).
Ebenso benötigen wir die Kraft der Freude, welche es uns ermöglicht, daran Freude zu haben, sich darum zu bemühen, anderen zu helfen, ohne uns dabei völlig zu erschöpfen. Wir legen Pausen ein, wenn es angebracht ist, damit wir danach mit Freude wieder unsere Arbeit aufnehmen können. Wenn wir müde sind, werden wir leicht entmutigt. Deshalb müssen wir unsere körperlichen und geistigen Grenzen kennen. Allerdings sollten wir uns auch nicht zu sehr zurücklehnen; wir machen nur dann eine Pause, wenn wir müde sind und sie auch wirklich brauchen. Dann werden wir während unserer Meditationspraxis in der Lage sein, unsere Vergegenwärtigung aufrecht zu erhalten.
Weitreichende geistige Stabilität
Bei der geistigen Stabilität, auch Konzentration genannt, gibt es vier Ebenen: die vier Dhyanas (tib. bsam-gtan). Diese sind vier progressiv tiefer gehende Zustände meditativer Vertiefung, in denen die Ablenkung von begehrlichen Sinnesobjekten abwesend ist und der Fokus auf immateriellen, subtilen geistigen Objekten liegt. In den formlosen Zuständen von noch tieferer Versenkung ist das Objekt der Meditation noch subtiler.
Shamatha – ein still gewordener und zur Ruhe gekommener Geisteszustand – ist die „unverzichtbare Vorstufe der ersten Ebenen geistiger Stabilität bzw. des ersten Dhyana” (tib. bsam-gtan dang-po’i nyer-bsdogs mi-lcogs-med); es ist nicht die eigentliche erste Ebene. Genau genommen ist Shamatha ein Geist, der von allen ablenkenden Gedanken beruhigt wurde und mit einsgerichteter Konzentration fest auf einem bestimmten konstruktiven Objekt verweilt. Auch Nichtbuddhisten trainieren ihren Geist in Konzentration und sind in der Lage, den Zustand des Shamatha und die vier Dhyanas zu erlangen. Das ist etwas, das Buddhisten und Nichtbuddhisten gemeinsam haben.
Um in unserer spirituellen Praxis Fortschritte zu machen, benötigen wir Konzentration. Ohne diese wird es keinerlei geistige Entwicklung und damit auch keinen Fortschritt geben.
Der Zweck von Shamatha ist es, als Grundlage für Vipashyana (tib. lhag-mthong) zu dienen. Vipashyana ist ein Geisteszustand von außergewöhnlicher Wahrnehmungsfähigkeit, und unabhängig davon, ob es sich um ein konventionelles oder letztendliches Objekt handelt, untersucht man es mit Vipashyana auf analytische Weise in seiner Vollständigkeit, um dessen Natur zu enthüllen.
Shamatha-Praxis betont stabilisierende Meditation (tib. ’jog-sgom), während im Kontext der Sutra-Praxis Vipashyana die analytische, klar erkennende Meditation (tib. dpyad-sgom) betont. In der Praxis der drei niederen Tantras besteht Vipashyana lediglich aus analytischer, klar erkennender Meditation, während es im Anuttarayoga-Tantra, Kagyü-Mahamudra, Nyingma-Dzogchen und der Klares-Licht-Meditation in der Gelug-Tradition eine stabilisierende Meditation ist.
Nur wenn Vipashyana nicht im engen Sinne verwendet wird, bezieht es sich auf Leerheitsmeditation. Sowohl im Shamatha als auch Vipashyana werden eine Vielzahl von Meditationsobjekten verwendet. Die beiden unterscheiden sich eigentlich nicht durch die Objekte, auf die man sich dabei konzentriert, sondern durch die Art des Geisteszustandes, mit dem man sich mit dem Objekt auseinandersetzt.
Vipashyana beinhaltet sowohl grobes Feststellen (tib. rtog-pa) der ungefähren Details des Meditationsobjekts als auch subtiles klares Erkennungsvermögen (tib. dpyod-pa) der genauen Details, sowie zwei Ebenen des Gefühls der Leistungsfähigkeit (tib. shin-sbyangs). Die erste Ebene erreicht man durch stabilisierende Meditation und die zweite durch analytische, klar erkennende Meditation. Der kombinierte Zustand (tib. zung-’brel) von Shamatha und Vipashyana kann entweder auf die konventionelle oder die tiefste Wahrheit des Objektes gerichtet sein. Beim Shamatha ist man einsgerichtet, analysiert das Objekt aber nicht, wohingegen man beim Vipashyana die Details des Objektes analysiert und offenlegt.
Shamatha und Vipashyana haben gemeinsam, dass man bei beiden zunächst die Ursachen und Umstände für die Praxis zusammenbringen muss. Man benötigt einen abgeschiedenen, ruhigen Ort ohne jeglichen Lärm. Erst wenn wir Vollendung in der Praxis erlangt haben, ist Lärm kein Problem mehr. Wir sollten mit mehreren kurzen Sitzungen mit vielen Pausen bei Tag und auch bei Nacht beginnen, damit wir nicht entmutigt werden. Wenn wir es bis zu dem Punkt übertreiben, an dem unsere Meditation fehlerhaft wird, verschwenden wir nur unsere Zeit.
Wir sollten unsere Meditationssitzung beenden, solange wir eigentlich noch weitermachen möchten; dann nehmen wir die Praxis später mit Freude wieder auf. Auch sollten wir maßvoll essen und uns in reiner Sittlichkeit und Selbstdisziplin üben, indem wir Vergegenwärtigung bzgl. unserer Interaktionen mit äußeren Objekten praktizieren. In der Meditation richten wir dann unsere Vergegenwärtigung auf unsere inneren geistigen Prozesse, um Ablenkung zu vermeiden.
In der Shamatha-Praxis kann man sich, wie gerade erwähnt, auf die konventionelle oder tiefste Natur bzw. Wahrheit des jeweiligen Objektes konzentrieren. Aber was ist nun effektiver – die tiefste Wahrheit der Vase oder die des Geistes, wie in der Mahamudra-Meditation? Offensichtlich ist es die des Geistes. Daher wird in der Vollständigkeitsstufe des Guhyasamaja die Praxis des isolierten Geistes (tib. sems-dben) weitaus stärker betont als die des isolierten Körpers (tib. lus-dben) und der isolierten Rede (tib. ngag-dben). Im Rahmen der konventionellen Wahrheit können wir uns auf ein äußerliches Geräusch oder eine visuelle Form konzentrieren, oder innerlich auf die Position unseres Körpers oder auf eine Gottheit, die wir innerhalb oder außerhalb unseres Körpers visualisieren.
Wenn wir mit der Meditation beginnen, können wir uns zwar mit unserem Sinnesbewusstsein auf ein äußeres Objekt konzentrieren; ein solches Objekt ist allerdings nicht das eigentliche Objekt für die Entwicklung von Konzentration. Das liegt daran, dass sie die Objekte von lediglich einem einzigen Moment nichtkonzeptueller Sinneswahrnehmung sind und sich als solche von Moment zu Moment verändern. Um Konzentration zu entwickeln, benötigen wir ein gleichbleibendes Objekt, weswegen wir ein geistiges Objekt verwenden, das von einer solchen Sinneswahrnehmung stammt. Wir konzentrieren uns also konzeptuell auf ein geistiges Hologramm (tib. rnam-pa), eine Abbildung des Sinnesobjektes, welche dieses in unserem Geist als ein gewöhnliches dreidimensionales, zeitliches ausgedehntes Objekt mit all den gazugehörenden sensorischen Informationen repräsentiert. Dasselbe geschieht, wenn wir in der Meditation eine Gottheit visualisieren. Auch das ist ein konzeptueller Prozess.
Aber wie ich bereits erwähnt habe, konzentriert man sich als Anfänger, insbesondere der Mahamudra-Meditation, zunächst auf äußere Objekte. Das ist eine geschickte Methode. Genauso meditiert man im Kalachakra über leere Formen (tib. stong-gzugs) mit den Augen nach oben gerichtet, in Richtung der Mitte unserer Augenbrauen – dabei ist das Objekt sowohl äußerlich als auch innerlich. Beim Shamatha wird die eigentliche Meditation mit konzeptuellem geistigen Bewusstsein durchgeführt, nicht mit dem Sinnesbewusstsein.
Es ist wichtig, dass man auch in der Wissenschaft konzeptuelle und nichtkonzeptuelle Wahrnehmung untersucht. Es wäre sehr hilfreich, auch die nichtbuddhistischen, indischen Beschreibungen von Wahrnehmung zu studieren, um zu sehen, ob sie irgendeinen kognitiven Prozess besser erklären können. Die Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und unsere eigenen Überzeugungen zu hinterfragen, ist immer hilfreich.
Wenn wir uns auf ein Objekt konzentrieren, sollten wir die fünf Fehler vermeiden, die in Maitreyas Werk „Die Mitte von den Extremen unterscheiden” (tib. dBus-mtha’ rnam-’byed, Skt. Madhyāntavibhāga) dargelegt werden. Diese fünf lauten:
- die Trägheit, nicht meditieren zu wollen;
- das Objekt der Ausrichtung vergessen;
- grobe und subtile geistige Dumpfheit und geistige Flatterhaftigkeit gegenüber Objekten der Anhaftung;
- nicht die Gegenkräfte anwenden, wenn es nötig ist;
- nicht aufhören, die Gegenkräfte anzuwenden, wenn es nicht länger nötig ist.
Indem wir über Meditation lesen, stellt sich die Absicht ein, meditieren zu wollen und sich dabei auch zu bemühen, was uns die Trägheit, nicht meditieren zu wollen, überwinden lässt. Vertrautheit mit dem Meditationsobjekt – dieses klar im Geiste zu haben – lässt es uns nicht vergessen, und wir werden dazu in der Lage sein, es in jedem Moment frisch in unserem geistigen Griff zu halten. Um diesen Griff und unser Objekt nicht zu verlieren oder zu vergessen, verwenden wir Vergegenwärtigung (tib. dran-pa). Wachsamkeit (tib. shes-bzhin) erlaubt es uns, zu erkennen, wann wir ein Gegenmittel anwenden müssen, um einen bestimmten Fehler in unserer Meditation zu korrigieren. Die Absicht (tib. ’dun-pa) und der geistige Drang (tib. sems-pa) helfen uns dabei, unsere Aufmerksamkeit (tib. yid-la byed-pa) zu bestärken.
Sind wir in der Lage, uns vier Stunden am Stück vollkommen zu konzentrieren, stellt sich ein Gefühl der Glückseligkeit von körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit ein. Damit haben wir ein mächtiges Werkzeug, das wir in der Anuttarayoga-Tantra-Praxis in der Meditation der inneren Hitze (tib. gtum-mo), der subtilen Energietropfen (tib. thig-le) und des Mahamudra, wo man sich auf den Geist konzentriert, anwenden können.
Der vierte Panchen Lama weist in seinem „Wurzeltext für das kostbare Gelug-Kagyü-Mahamudra” (tib. dGe-ldan bka’-brgyud rin-po-che’i phyag-chen rtsa-ba) auf Folgendes hin:
Für diese [Sutra-Tradition des Mahamudra] gibt es zwei Methoden: (1) das Streben nach einem meditativen Zustand auf der Grundlage einer korrekten Sichtweise [der Leerheit] und (2) das Streben nach einer korrekten Sichtweise auf der Grundlage eines meditativen Zustands.
Die erste Methode ist für diejenigen mit scharfem Verstand. Sie entwickeln zuerst eine korrekte Sichtweise der Leerheit. In der Anuttarayoga-Tantra-Tradition des Kagyü-Mahamudra entwickelt man Shamatha auf der ersten Ebene, genannt „Einsgerichtetheit” (tib. rtse-gcig). Auf der zweiten Ebene, „frei von geistiger Fabrikation“ (tib. spros-bral), vervollkommnet man Vipashyana. Die dritte Ebene, „Ein Geschmack“ (tib. ro-gcig), wendet die vorherigen Errungenschaften auf die Praktiken der höheren Vollständigkeitsstufe an.
Weitreichendes unterscheidendes Gewahrsein
Man unterscheidet drei Arten von weitreichendem unterscheidenen Gewahrsein:
- das weitreichende unterscheidene Gewahrsein der konventionellen Wahrheit;
- das weitreichende unterscheidene Gewahrsein der tiefsten Wahrheit;
- das weitreichende unterscheidene Gewahrsein der unterschiedlichen Veranlagungen der Schüler.
Der Schwerpunkt liegt darauf, auf welche Weise wir unsere Intelligenz nutzen, um unsere störenden Emotionen zu beseitigen. Dazu benötigen wir ein korrektes Verständnis der Abwesenheit des Selbsts und der Leerheit. Das Akzeptieren bzw. Zurückweisen eines statischen Selbst der Person, einem Atman, ist, worin sich die buddhistische Sichtweise von anderen nichtbuddhistischen indischen Traditionen unterscheidet. In dem Sutra „König der vertieften Konzentrationen” (tib. Ting-nge-’dzin rgyal-po’i mdo, Skt. Samādhirājasūtra) heißt es:
Auch wenn man in der Lage ist, mit vertiefter Konzentration zu meditieren, werden die störenden Emotionen zurückkehren und weiterhin stören, solange das auseinanderhaltende Gewahrsein [der Dinge] als etwas mit [wahrhaft begründetem] Selbst noch nicht überwunden ist. So wie es auch bei Udraka geschah, als er mit vertiefter Konzentration meditierte. Wenn man jedoch meditiert, nachdem man mit detaillierter Beobachtung (tib. so-sor rtog-pa) die Abwesenheit eines Selbsts der Phänomene genau erkannt hat, wird dies die Ursache für das Erlangen des Nirvana, das Resultat, sein. Durch eine andere Ursache wird keinerlei Befriedung zustande kommen.
Deshalb ist es wichtig über die Abwesenheit eines Selbst zu meditieren, indem wir uns auf logische Schlussfolgerungen und Untersuchung stützen, und nicht nur auf Zitate aus den Texten.
Auch wichtig ist es, das Objekt, das es zu widerlegen gilt, richtig zu identifizieren. Dharmakirti sagte dazu in seinem „Kommentar zu [Dignagas Kompendium der] gültig wahrnehmenden Arten von Geist” (tib. Tshad-ma rnam-’grel, Skt. Pramāṇavārttika):
Um dich von Anhaftung und Ablehnung in Bezug auf gute Eigenschaften oder Mängel (von Objekten) zu lösen, betrachte diese Objekte nicht. Dies wird nicht gelingen, indem du die äußere Art und Weise ihrer Existenz (untersuchst, die sie haben mögen).
Chandrakirti gibt in seiner „Ergänzung [zu Nagarjunas Wurzelversen] zum Mittleren Weg” die Reihenfolge an, in der die zu negierenden Objekte zu widerlegen sind – zunächst die falsche Vorstellung vom „Ich“ und dann die von „mein“:
(I.3) Ich verneige vor dem Mitgefühl für jene, die zunächst mit dem Gedanken „ich” an einem Atman festhalten und dann mit dem Gedanken „diese sind mein” Anhaftung entwickeln, und somit ohne jegliche Kontrolle [in Samsara auf und ab] wandern, wie Eimer auf einer Wassermühle.
Das Greifen nach einem wahrhaft begründetem „Ich” ist etwas, das automatisch entsteht und auf dessen Grundlage auch das Gefühl für „meinen” Körper usw. ganz von selbst in Erscheinung tritt. Wir fühlen, dass es wirklich ein konkretes „Ich” und einen konkreten Körper gibt. Manchmal identifizieren wir dieses „Ich” mit unseren Aggregaten, und manchmal stellen wir es uns als etwas völlig anderes als diese bzw. als etwas von ihnen Getrenntes vor. In der Regel betrachten wir den Körper als „meinen”, als gäbe es ein separates „Ich”, einen Besitzer dieses Körpers.
Ein solches „Ich” existiert nicht, auch wenn es konventionell gesehen ein Selbst gibt, das man als „Ich” bezeichnet. Normalerweise nehmen wir jedoch das falsche „Ich” als kontrollierende Entität, unabhängig von den Aggregaten, wahr. Obwohl unsere Vorstellung von uns selbst vage ist, so kommt doch, wenn uns jemand Schwierigkeiten bereitet, die Vorstellung von einem „Ich“ sehr stark zum Vorschein und scheint viel konkreter, substanziell erwiesen und eigenständig erkennbar (tib. rang-rkya thub-pa’i rdzas-yod), wie ein Kontrollierender.
Die Svatantrikas und die anderen darunterliegenden buddhistischen Lehrsysteme verstehen diesen unabhängig existierenden und eigenständig erkennbaren Kontrollierenden, das „Ich”, als das zu widerlegende Objekt, um Erleuchtung zu erlangen. Das Greifen nach dem Selbst der Person als etwas, das auf diese Weise existiert, ist das, was unsere störenden Emotionen verursacht, und wird daher als emotionaler Schleier (tib. nyon-sgrib), der Befreiung verhindert, bezeichnet. Im Chittamatra und Svatantrika spricht man außerdem noch vom Greifen nach Phänomenen als einen kognitiven Schleier (tib. shes-sgrib), der Allwissenheit verhindert; das Greifen nach dem Selbst der Person bleibt trotzdem die Wurzel von Samsara.
Um Samsara zu überwinden, so behauptet man in den Svantantrika- und Chittamatra-Systemen, müssen wir uns nicht von dem Greifen nach der in sich selbst begründeten Existenz (tib. rang-bzhin-gyis grub-pa, „inhärente Existenz”) aller Phänomene befreien. In der Prasangika-Tradition wird jedoch die Ansicht vertreten, dass wir uns nicht vom Greifen nach einem unmöglichen Selbst der Person befreien können, solange wir nach einer in sich selbst begründeten Existenz aller Phänomene greifen, und dass wir die Befreiung dann nicht erlangen können. Solange das Greifen nach in sich selbst begründeter Existenz der Aggregate besteht, welche die Grundlage der Zuschreibung des Selbst ist, wird es auch das Greifen nach einer in sich selbst begründeten Existenz dieses „Ichs” geben.
Daher sprechen die Prasangikas von einem Greifen nach einem Selbst der Person und der Phänomene, welches subtiler ist als das, was von den Svantrikas und Chittamatrins beschrieben wird. Lösen wir uns von dieser subtileren Form des Greifens nach einem Selbst der Person, befreien wir uns gleichzeitig auch von den gröberen Formen des Greifens, die im Svatantrika-System und den Schulen darunter vertreten werden.
Vom Prasangika-Standpunkt aus gesehen ist das zu widerlegende Objekt in Bezug auf Personen und Phänomene dasselbe; es gibt keinen Unterschied in der Subtilität der Leerheit von Personen und Phänomenen. Sind wir nicht in der Lage, uns zuerst vom Greifen nach einer in sich selbst begründeten Existenz der Phänomene, insbesondere der Aggregate, zu lösen, werden wir unser Greifen nach einer in sich selbst begründeten Person nicht loswerden. Daher zählt laut Prasangika das Greifen nach einer in sich selbst begründeten Existenz der Phänomene als ein Befreiung verhindernder emotionaler Schleier.
In seinen „Siebzig Versen über die Leerheit” (tib. sTong-nyid bdun-cu-pa’i tshig-le’ur byas-pa, Skt. Śūnyatāsaptatikārikā) macht Nagarjuna deutlich, dass das Greifen nach einer in sich selbst begründeten Existenz der Phänomene das erste der zwölf Glieder des abhängigen Entstehens, die Ignoranz, ist:
(8ab) Die zwölf Glieder entstehen nicht [als etwas in sich selbst Begründetes], sondern in gegenseitiger Abhängigkeit.
(11) Wenn beeinflussende Variablen (das zweite Glied) nicht existierten, würde es keine Ignoranz (das zweite Glied) geben; gäbe es keine [Ignoranz], wäre auch [das Glied der beeinflussenden Variablen] nichtexistent. Als etwas sich gegenseitig Bedingendes sind sie Phänomene, die durch ihre selbstbegründende Natur (tib. rang-bzhin) existieren.
Deshalb ist es unser Ziel, uns von diesem Greifen zu befreien, und die Ignoranz und Naivität (tib. gti-mug), dies nicht zu wissen, ist etwas Inkorrektes. Aryadeva erklärt in seiner „Abhandlung in 400 Versen”, warum das so ist:
(VI.10) So wie die kognitive Kraft des Körpers den [ganzen] Körper [durchdringt], wohnt Naivität allen [störenden Emotionen] inne. Daher werden alle störenden Emotionen durch das Zunichtemachen der Naivität getilgt.
Deshalb wirken die Gegenmittel für Naivität bzw. Ignoranz auch gegen alle anderen störenden Emotionen. Verstehen wir das abhängige Entstehen, werden Angst und alle anderen Arten von Leid nicht mehr aufkommen. Aus diesem Grund ist es so wichtig, abhängiges Entstehen von Anfang an zu verstehen.
Chandrakirti bestätigt das in seinen „Geklärten Worten“ (tib. Tshig-gsal, Skt. Prasannapadā):
Als [der Buddha] sagte, dass sehnsüchtiges Verlangen erschöpft werden sollte, bedeutete das nicht, dass dadurch auch die Wut zu einem Ende kommt. Als er sagte, dass Wut erschöpft werden sollte, bedeutete das nicht, dass dadurch auch das sehnsüchtige Verlangen zu einem Ende kommt. Worin liegt der Grund, dass, als [der Buddha] sagte, Arroganz usw. seien zu erschöpfen, dadurch die anderen Makel nicht zunichte gemacht werden? Es liegt daran, so sagte er, dass diese nicht [alle] Phänomene durchdringen, und deswegen sind diese und deren Wirkung nicht so groß.
Als er jedoch sagte, dass Naivität zu erschöpfen ist, führt das dazu, dass alle störenden Emotionen ohne Ausnahme zunichte gemacht werden. Die Siegreichen erklärten, dass jede störende Emotion von Naivität abhängt.
Was muss man nun erkennen, damit das, was in Abhängigkeit von Naivität entsteht, zu einem Ende kommt, indem [man es beendet]? Es ist die wahre Natur von allem (tib. de-nyid), welche den glückselig Gegangenen als der mittlere Pfad (Skt. madhyamaka) bekannt geworden ist. Das, was als die eigentliche Natur des Dharma des Fähigen akzeptiert wird, wird als Leerheit bezeichnet.
Wenn wir also das abhängige Entstehen erkennen können, wird unsere Naivität nicht länger entstehen. Deshalb ist wichtig, abhängiges Entstehen von Anfang an zu verstehen. So sagt auch Aryadeva in seiner „Abhandlung in 400 Versen“:
(VI.11) Wenn [es der Fall ist, dass die Dinge] abhängig entstehen, [können sie nicht wahrhaft existieren]. Erkennt man dies, entsteht keine Naivität.
In den Vaibhashika- und Sautrantika-Systemen ist die Abwesenheit eines Selbst aller Phänomene noch kein Thema. Im Chittamatra kommt es vor, allerdings nur um die Phänomene als etwas, das außerhalb des Geistes, welcher diese wahrnimmt, existiert zu widerlegen. In der Chittamatra-Schule akzeptiert man jedoch eine wahre, nicht zugeschriebene Existenz des Geistes und von vollkommen begründeten Phänomenen (tib. yongs-grub). Wie können sie jedoch behaupten, dass einige Phänomene unabhängig existieren und andere nicht? Mit einer solchen Sichtweise verfallen sie in beide Extreme des Absolutismus und Nihilismus.
Nagarjuna sagt eindrücklich in seinen „Wurzelversen zum Madhyamaka“:
(XXIV.18) Abhängiges Entstehen erklären wir als Leerheit. Leerheit [bedeutet] Abhängigkeit von Zuschreibung – genau das ist der Pfad der Mitte.
Die Tatsache, dass die Dinge nur in Abhängigkeit von Bezeichnungen wahrgenommen werden, ist keine nihilistische Sichtweise. Nagarjuna schreibt darüber hinaus:
(XXIV.19) Es gibt nichts, was nicht in Abhängigkeit entsteht. Deshalb gibt es auch nichts, was nicht leer ist.
Die Vaibhashika- und Sautrantika-Systeme akzeptieren abhängiges Entstehen nur in Bezug auf beeinflusste (nichtstatische) Phänomene – diese entstehen alle in Abhängigkeit von Ursachen und Bedingungen. Die Chittamatra-Tradition akzeptiert darüber hinaus das abhängige Entstehen im Kontext eines Ganzen und dessen Teilen: Teile entstehen in Abhängigkeit vom Ganzen, und ein Ganzes entsteht in Abhängigkeit von den Teilen. Das Prasangika-System fügt dem hinzu, dass alle Dinge in Abhängigkeit von Bezeichnungen entstehen, mit denen sie benannt werden. In Bezug auf diese drei Ebenen des abhängigen Entstehens geht das Greifen nach einem nicht in Abhängigkeit entstehenden Selbst von Phänomenen beginnend mit der Prasangika-Sichtweise abwärts, vom Subtilen zum Groben. [Im Prasangika ist die Existenzweise, die widerlegt wird, eine, die nicht abhängig von geistigem Bezeichnen entsteht - mit anderen Worten: wahrhaft begründete Existenz. Im Chittamatra und darunter wird wahrhaft begründete Existenz akzeptiert. Was den Chittamatra betrifft, ist die Weise der Widerlegung eine, die nicht von Teilen abhängig ist und sich auf teilelose Partikel und teilelose Momente stützt. Alle Phänomene, sowohl statische als auch nichtstatische, entstehen abhängig von Teilen. Sautrantika und Vaibhashika akzeptieren diese teilelosen Phänomene. Die Weise ihrer Widerlegung ist eine von nichtstatischen Phänomenen, die ohne Abhängigkeit von Ursachen und Bedigungen entstehen. Die nichtbuddhistischen Samkhya- und Yoga-Schulen gehen davon aus, dass Urmaterie statisch und unveränderlich ist. Die Weise des Nicht-in-Abhängigkeit-Entstehens, die jedes buddhistische Lehrsystem widerlegt, geht also vom Subtilen zum Groben.]
Die Weise, auf die alle diese Arten des Greifens auf kognitive Weise ein Objekt wahrnehmen, (tib. ’dzin-stangs) ist jedoch dieselbe, egal ob es sich um das Greifen nach einem Selbst der Person oder der Phänomene handelt. So führt das Greifen nach einem Selbst der Phänomene zum Greifen nach einem Selbst der Person, was wiederum zu zwingenden karmischen Impulsen führt, die dann die unkontrollierbar wiederkehrende Wiedergeburt – Samsara – herbeiführen.
Aus diesem Grund ist es wichtig, die zweite edle Wahrheit, den wahren Ursprung des Leidens, als die störenden Emotionen und karmischen Impulse zu verstehen, die auf dem Greifen nach einem nicht in Abhängigkeit entstehenden Selbst aller Phänomene, einschließlich der Person, basieren. Somit hat die erste edle Wahrheit, das wahre Leiden, zwei Ebenen: eine grobe und eine subtile – je nachdem, wie tief wir die zweite edle Wahrheit in Bezug auf das Gegenmittel, unterscheidendes Gewahrsein, verstehen bzw. definieren.