Anfangslose Phänomene
Unsere Grundlage ist die Realität. Wenn wir sehen, welche Möglichkeiten zur Transformation es gibt, ist es deren Verwirklichung, die zu unserem Pfad wird. Dieser Transformation einmal unterlaufen zu sein ist das Ergebnis. Die Grundlage ist also, was existiert und was nicht, und der Unterschied zwischen diesen beiden ist durch gültige Wahrnehmung zu bestimmen. Zu dem, was existiert, gehören sowohl Phänomene, die sich von Moment zu Moment verändern, als auch solche, die sich nicht verändern. Zu den sich verändernden Phänomenen gehören Formen physischer Phänomene, Phänomene deren Natur subjektives Erleben ist und nichtkongruente beeinflussende Variablen (tib. ldan-min ’du-byed), wie zum Beispiel Zeit und Personen, die zu keinem der beiden zuvor genannten gehören. Was existiert ist also nicht einfach etwas, das man beobachten kann, sondern etwas, das so beobachtet wird, wie es uns erscheint, und das nicht von gültiger Wahrnehmung derselben Ebene der Beobachtung widerlegt wird.
Materielle Phänomene entstehen aus deren jeweiligen herbeiführenden Ursachen (tib. nyer-len-gyi rgyu), d.h. frühere materielle Phänomene, welche diese herbeiführen. Feuer zum Beispiel entsteht aus einer Ursache der gleichen Art (tib. rigs-’dra’i rgyu) – es muss ein früheres Feuer gegeben haben, damit es ein darauffolgendes Feuer geben kann – und aus einer substanziellen Ursache (tib. rdzas-rgyu), sprich, etwas – eine Substanz –, das brennt. Noch grundlegender sind die Teilchen, aus denen ein Feuer besteht, und diese sind nur vom Geist wahrnehmbar. Subtiler als diese sind die Raumteilchen (tib. nam-mkha’i dul-tshan), welche ausschließlich in der Lehre des Kalachakra behandelt werden. Formen materieller Phänomene entstehen also nicht einfach ohne Ursachen.
Die Existenz von Raumteilchen hat keinen Anfang, und alles Gröbere ist nur eine Umwandlung von diesen. Auf der Grundlage von allem, was sich von Moment zu Moment verändert, gibt es das Zuschreibungsphänomen des „Vergangenseins“ (tib. zhig-pa) dessen, was zuvor im Existenzkontinuum des jeweiligen Phänomens stattfand. Daher haben alle Formen physischer Phänomene notwendigerweise frühere physische Phänomene als deren Ursache.
Das Gleiche gilt für die Weisen, in denen man sich etwas gewahr ist (tib. shes-pa), d.h. sich von Moment zu Moment verändernde Phänomene, deren Natur rein subjektives Erleben von etwas ist. So wie die Formen materieller Phänomene aus Ursachen der gleichen Art entstehen, so ist es auch bei den Weisen, in denen man sich etwas gewahr ist. Deren Ursachen sind nicht einfach nur materielle Phänomene wie die physischen Sensoren der Wahrnehmung und physische kognitive Objekte.
Nichtkongruente beeinflussende Variablen wie Zeit und Personen, die weder Formen physischer Phänomene noch Weisen, sich etwas gewahr zu sein, sind, erfordern eine substanziell existierende (tib. rdzas-yod) Grundlage.
[Nichtkongruente beeinflussende Variablen haben eine zugeschriebene Existenz (tib. btags-yod) auf einer solchen Grundlage, was bedeutet, dass sie nicht unabhängig von dieser Grundlage existieren oder wahrgenommen werden können. Im Sautrantika-System werden diese als objektive Phänomene (tib. rang-mtshan, „individuell charakterisierte Phänomene“) klassifiziert, ebenso wie auch die Formen materieller Phänomene und die Weisen, sich etwas gewahr zu sein.]
So wie substanziell existierende Phänomene keinen Anfang haben, so haben auch die ihnen zugrundeliegenden substanziell existierenden Phänomene keinen Anfang. Genauso wie Formen materieller Phänomene nicht durch konzeptuelles Denken entstehen können, da sie substanziell existent sind, so verhält es sich auch mit den Weisen, sich etwas gewahr zu sein. Auch diese sind keine bloßen konzeptuellen Erfindungen.
Um diese Anfangslosigkeit zu verstehen, müssen wir analysieren, woher unser Bewusstsein kommt. Hat es einen ersten Moment, einen Anfang? Kommt es von einem Kontinuum, und wenn ja, ein Kontinuum wovon? Hat es eine materielle Substanz als Ursache, oder hat es überhaupt keine Ursache? Wenn es keine auffindbare Ursache hat, wurde unser Bewusstsein dann etwa von Gott geschaffen?
Es liegt an der Wissenschaft, dieser Frage nach der Ursache des Bewusstseins weiter nachzugehen. Wenn wir diese Frage analysieren, sehen wir, dass das Bewusstsein immateriell ist, also nicht aus Materie entstehen kann, denn das würde seiner wesentlichen Natur widersprechen. Die einzige Alternative besteht darin, dass unser Bewusstsein ein Kontinuum ist, das keinen Anfang hat.
Wie bereits erwähnt, können wir nicht einfach von einem Kontinuum eines Zuschreibungsphänomens ausgehen – wie beispielsweise eine Person, ein „Ich“ –, das für sich unabhängig existiert und auch so wahrnehmbar ist. Es muss eine substanzielle Grundlage haben, und wie wir gesehen haben, haben Formen physischer Phänomene und die Weisen, sich etwas gewahr zu sein, als Grundlage für Zuschreibungsphänomene keinen Anfang. Die Frage stellt sich also, was die Grundlage für eine Person, für „mich“ ist.
Die Grundlage für das Ich kann nicht nur durch die Gesamtheit der Faktoren unseres gegenwärtigen Aussehens bestimmt werden. Die Grundlage muss ein Kontinuum sein, das über die Zeit hinweg Bestand hat. Da sich die Form unseres Körpers im Laufe unseres Lebens drastisch verändert – von der eines Babys, über die eines Erwachsenen, bis hin zu der eines alten Menschen –, macht es keinen Sinn, den Körper als dauerhafte Grundlage für das Selbst, für „mich“, zu betrachten. Es macht mehr Sinn, den Geist als die anfangslose Grundlage der Person zu betrachten. Es ist eine solche Analyse, mit der wir zu einem logischen Verständnis der Wiedergeburt gelangen können.
Im Vaibhashika-Lehrsystem geht man von einem Ende dieses Kontinuums von Geist und Selbst mit Erlangen des Parinirvanas aus, während die Sautrantika-, Chittamatra- und Madhyamaka-Systeme behaupten, dass dieses Kontinuum endlos ist. Sie sagen, dass es kein Ende geben kann, da es einen Gegenspieler zu den definierenden Charakteristiken des Geistes, Klarheit und Gewahrsein, geben müsste, welcher, wenn er angewandt würde, den Geist und das Selbst, das als ein dem Geist zugeschriebenes Phänomen ist, dazu veranlassen würde, sich immer mehr einem Ende zu nähern. Einen solchen Gegenspieler des Geistes gibt es allerdings nicht.
Ursache und Wirkung
Die Tatsache, dass eine Ursache eine Wirkung hervorbringt, liegt in der Natur der Dinge (tib. chos-nyid). So kommen die Kontinua der äußeren Formen physischer Phänomene und des internen Bewusstseins als gleichzeitig wirkende Bedingungen (tib. lhan-cig byed-pa’i rkyen) zusammen, um eine Wirkung hervorzubringen. Zum Beispiel sind unsere Gefühle von Glücklich- und Unglücklichsein, die wir erleben, das Ergebnis früherer Ursachen. Sie stammen aus früheren Momenten des Bewusstseins, und auch von karmischen Ursachen. Ein und dieselbe Situation kann manchmal das unmittelbare Auftreten von Glück und manchmal von Leid auslösen. Das Gefühl, das sich einstellt, ist auf frühere karmische Ursachen zurückzuführen.
Der Prozess von Ursache und Wirkung funktioniert in Bezug auf gegensätzliche Phänomene – zum Beispiel die vier Elemente, Licht und Dunkelheit oder Hitze und Kälte. Einander entgegengesetzte Phänomene können nicht gleichzeitig existieren. Wenn ein Teil eines Gegensatzpaares zunimmt, muss das andere abnehmen. Steigt beispielsweise die Temperatur, nimmt die Kälte ab. In ähnlicher Weise gibt es auch innerlich gegensätzliche Weisen, wie unser Geist ein Objekt erfasst – so wie „dies ist weiß und das ist rot“ oder „das ist gut und jenes ist schlecht“. Das Gleiche gilt für Emotionen: Mit Wut stoßen wir jemanden von uns weg und mit Liebe nähern wir uns jemandem an. In einem einzigen Moment des Geistes kann nur eines von beiden vorhanden sein, einfach weil sich Wut und Liebe gegenseitig ausschließen, wie heiß und kalt. Während das eine zunimmt, nimmt das andere ab – wir können nicht beides in einem Moment empfinden.
Da sich auch Glück und Leid gegenseitig ausschließen, müssen wir der Ursache von Unglücklichsein und Leid eine Ursache für Glücklichsein entgegensetzen, die sich mit der Ursache von Leid gegenseitig ausschließt. Dabei müssen wir allerdings die Ursachen des Glücklichseins richtig erkennen. Wir können Glück nicht einfach nur durch die Kraft des Gebets oder durch fortgeschrittene Tantra-Praktiken erreichen, bei denen man mit den subtilen Tropfen und Prana-Energiewinden des subtilen Körpers arbeitet. Auch im hinduistischen Tantra gibt es beispielsweise die Tantra-Praktiken des Phowa (Übertragung des Bewusstseins in reine Länder), Trungjug (Übertragung des Bewusstseins in einen toten Körper) und Tummo (innere Hitze). Auch dort praktiziert man mit den Chakras und Mantras und so weiter. Diese Praktiken sind nicht nur auf den Buddhismus beschränkt.
Buddha lehrte, dass die Grundursache unserer störenden Emotionen und der durch diese motivierten karmischen Impulse, die zu unserem Unglücklichsein und Leiden führen, in unserer Unwissenheit liegt – sprich, dass wir nicht bzw. nicht richtig wissen, wie die Dinge existieren. Deshalb müssen wir dieser Unwissenheit ihr Gegenteil entgegensetzen, welches eine gleichzeitige Existenz ausschließt: das unterscheidende Gewahrsein – zu wissen, wie alle Phänomene wirklich existieren.
Vertrauen darin, dass dieses Gewahrsein unserer Ignoranz entgegenwirken wird, wird dieses unterscheidende Gewahrsein fördern, und das ist auch gut so. Vertrauen allein ist jedoch nicht genug. Wenn wir studiert haben und das, was wir gelernt haben, als unsere allgemeine Grundlage nehmen, dann werden wir, wenn wir die tatsächliche Existenz der Dinge erfahren, diese erkennen und eine feste Überzeugung gewinnen. Andernfalls, mit blindem Vertrauen allein, oder nur mit einer wagen Erfahrung von etwas – ohne wirklich zu wissen, was es ist –, fehlt uns der Rahmen, um es in unserem Geist zu integrieren.
Die Leerheit des Klaren Lichts
Die dritte edle Wahrheit bezieht sich auf das wahre Aufhören, die wahre Beendigung des Leidens und seiner Ursachen. Dies ist ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage des klaren Lichts, sowohl in der Form von Leerheit als Objekt als auch des Geistes, der Leerheit als sein Objekt nimmt. Darüber hinaus hat der Geist, der Leerheit zu seinem Objekt hat, selbst Leerheit als seine Natur. So heißt es auch im dritten Kapitel des „Sutra vom Hügel kostbarer Edelsteine“ (tib. dKon-mchog brtsegs-pa, Skt. Ratnakūṭasūtra): „Geist ist ohne Geist“, was bedeutet, dass die Natur des Geistes Leerheit ist, was sich sowohl auf seine tiefste als auch auf seine konventionelle Natur bezieht. Das klare Licht, sowohl im Sinne von Leerheit als Objekt als auch als konventionelle Natur des Geistes, ist nicht etwas, das als etwas Neues entsteht, wenn der Geist in völliger Vertiefung (meditative Ausgewogenheit) in der Leerheit und dem zu negierenden Objekt (tib. dgag-bya) ruht und die vorübergehenden Makel des Geistes verschwunden sind.
Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass, wenn der Geist, auf das zu negierende Objekt gerichtet ist, auch der Geist selbst als leer zu betrachten ist. Das zu negierende Objekt muss in der Tat in Bezug auf die leere Natur des Geistes stehen. Auf diese Weise ist die Natur sowohl des ein Objekt erfassenden Geistes und des Objekts selbst Leerheit.
Die konventionelle Natur des Geistes als klares Licht ist nicht etwas, das in der völligen Vertiefung neu entsteht. Da die Natur des Geistes als klares Licht weder Anfang noch Ende hat, heißt es in Maitreyas „Filigranschmuck der Verwirklichungen“:
(VIII. 33–34) Der erleuchtende Körper, welcher allen umherwandernden Wesen gleichermaßen verschiedensten Nutzen bringt, ist der Ausstrahlungskörper, ohne jeglichen Bruch in seiner Kontinuität. Ebenso nehmen wir an, dass seine erleuchtende Aktivität keine Unterbrechung in ihrer Kontinuität hat, solange Samsara andauert.
Wenn wir verstehen, dass das klare Licht – Leerheit sowohl als Objekt als auch als die konventionelle Natur, Klarheit und Gewahrsein des Geistes, der dieses klare Licht erkennen kann – letztendlich frei von Makeln ist, entwickeln wir Vertrauen in die Wahrhaftigkeit der dritten edlen Wahrheit. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass der natürlich andauernde Zustand, unsere natürlich andauernde Buddha-Natur, unser Geist des klaren Lichts ist, welcher zu diesem Zeitpunkt von den vorübergehenden Makeln befleckt ist.
Sich auf gültige Lehren stützen
All diese Dinge sind den buddhistischen Texten zu entnehmen; aber welchen? Die Vaibhashika-Tradition folgt einigen Quellen aus der Pali-Sutra-Tradition und aus der Sanskrit-Tradition. Laut Chittamatra sind Sutras, deren Lehrinhalt wörtlich zu verstehen ist, als von endgültiger Bedeutung (tib. nges-don) anzusehen, während jene, deren Inhalt nicht wörtlich zu verstehen ist, von interpretierbarer Bedeutung (tib. drang-don) sind. Im Madhyamaka wird diese Unterscheidung in Bezug auf die Themen, die in bestimmten Passagen der Sutras besprochen werden, vorgenommen: jene Sutras, welche die tiefste Wahrheit besprechen, sind endgültig, und diejenigen, welche die konventionelle Wahrheit lehren, bedürfen Interpretation. Diese Unterscheidung findet sich nicht in der Pali-Tradition bei den Hinayana-Texten.
Wenn wir andere Texte zurate ziehen müssten, um festzustellen, ob ein gewisser Text wörtlich verstanden werden kann, würde man niemals zu einer Lösung bzw. einem Ende kommen. Deshalb stützen wir uns auf Logik und nicht nur auf Zitate. Kann eine zitierte Textstelle nicht durch Logik oder Argumentation widerlegt werden, dann ist sie von endgültiger Bedeutung; wird sie jedoch widerlegt, ist sie das nicht. Das ist das anerkannte Kriterium, das auch von den Nalanda-Gelehrten verwendet wurde.
Nagarjunas „Kostbarer Girlande“ und Maitreyas „Filigranschmuck für die Mahayana-Sutras“ (tib. Theg-pa chen-po mdo-sde rgyan, Skt. Mahāyānasūtrālaṃkāra) weisen auf die Authentizität der Mahayana-Schriften hin. Wären diese nicht authentisch, wäre es schwierig, die vier edlen Wahrheiten allein auf der Grundlage von Zitaten in ihrer Gesamtheit zu erklären. Daher lehrte der Buddha den Tripitaka – die „drei Körbe“ des Vinaya, Sutra und Abhidharma – einem allgemeinen Publikum, die Mahayana-Sutras jedoch nur denjenigen, die über große intellektuelle Kapazitäten verfügten.
Die Lehren des Lamdre (tib. lam-’bras, „Pfad und seine Wirkungen”) aus der Sakya-Tradition sprechen von gültiger Erfahrung, gültigen Lehrern, gültigen Kommentaren und gültigen Texten. Auf persönlicher Ebene ist der erste Aspekt, die gültige Erfahrung, im täglichen Leben am nützlichsten. Wenn unsere Erfahrung authentisch und gültig ist, bedeutet das, dass sie auf gültigen und authentischen Lehren beruht, die von einem gültigen und authentischen Lehrer gegeben wurden, der sich wiederum auf gültige und authentische Kommentare stützte. Dies führt zur Schlussfolgerung, dass die Texte der Lehre des Buddha, auf denen diese Kommentare basieren, gültig und authentisch sind.
Eine Erfahrung ist gültig, wenn sie eine positive, authentische Veränderung in unserem Geist bewirkt. Eine solche Veränderung entsteht nur durch eine gültige Erfahrung von Bodhichitta und Leerheit. Gültige Erfahrungen und positive Veränderungen in unserem Geist können nicht einfach durch so etwas wie Gottenheitenpraxis zustande kommen, wo die Betonung auf einer akkuraten Visualisierung der Gottheit und der Farbe ihres Gesichtes etc. liegt. Die Praxis mit einer Gottheit ist nur dann gültig und authentisch, wenn sie auf Bodhichitta und Leerheit basiert.
Nagarjuna beginnt seine „Wurzelverse zum Madhyamaka“ mit einer Ehrerbietung an den Buddha:
(I.1) Vor ihm, der lehrte, dass die Dinge in Abhängigkeit entstehen – nicht aufhörend, nicht entstehend; nicht ausgelöscht und doch nicht beständig; nicht kommend, nicht gehend; nicht verschieden, nicht gleich –, [um] das Beruhigen geistiger Fabrikation und Frieden [zu bringen]: vor ihm, der beste aller Lehrer, dem vollkommenen Buddha, verneige ich mich.
Nagarjuna lebte nur vierhundert Jahre nach dem Buddha und wusste deshalb besser über ihn Bescheid. Wir gehen oft selbstverständlich davon aus, die Eigenschaften des Buddhas zu kennen. Nagarjuna sagte, dass der Buddha das Mahayana im privaten Rahmen Maitreya und Manjushri belehrte. Auch wenn wir das selbst nicht bestätigen können, wenn wir über Bodhichitta meditieren und es eine positive Veränderung in unserem Geist bewirkt, so zeigt dies eindeutig, dass die Mahayana-Texte, die dessen Quelle sind, gültige Lehren des Buddha sind.
Der Hinayana-Pfad ist der vorbereitende Pfad, der Pfad des Mahayana-Sutra ist der Hauptpfad, und das Tantra ist als Zusatz dazu anzusehen. Die vier Lehrsysteme (Vaibhashika, Sautrantika, Chittamatra und Madhyamaka) sind wie Treppen: die höheren Systeme markieren die Widersprüche der niedrigeren. Nur wenn wir die Niedrigeren kennen, können wir die Tiefgründigkeit der Höheren schätzen. Sie sind weitreichend und tiefgründig, da sie nicht der Logik widersprechen. Wenn wir uns der Bereiche bewusst sind, in denen wir Fehler machen, hilft uns das, auf dem richtigen Weg zu bleiben und Vertrauen in diesen Weg zu haben. Auf diese Weise verleiht das Studium der Lehrsysteme unserer Sichtweise Stabilität. Auf der Grundlage der sechs weitreichenden Geisteshaltungen und des Bodhichitta werden wir dann in der Lage sein, unsere eigenen Ziele und die anderer zu erfüllen.
Warum es genau sechs weitreichende Geisteshaltung gibt
Maitreya erklärt in seinem „Filigranschmuck für die Mahayana-Sutras“:
(XIX.42) In Mahayana[-texten] findet sich das Geben des Dharma, reine ethische Selbstdisziplin, sowie die Geduld, nicht plötzlich [vom Helfen] abzulassen, das Bemühen mit Ausdauer zusammen mit [geistiger Beständigkeit zur Stabilisierung] des Mitgefühls und des unterscheidenden Gewahrseins, dem Hauptgewahrsein innerhalb der weitreichenden Geisteshaltungen für diejenigen mit Intelligenz.
So tragen die Lehren der Mahayana-Texte zur Verwirklichung unserer eigenen und der Ziele anderer bei, denn sie enthalten alle Lehren, insbesondere jene über die sechs weitreichenden Geisteshaltungen.
Um Erleuchtung zu erlangen, benötigen wir bessere Wiedergeburten, und die sechs Vollkommenheiten – insbesondere die weitreichende ethische Selbstdisziplin – ermöglichen uns, diese zu erlangen. Wir werden nicht in der Lage sein, anderen materiell zu helfen, wenn wir nicht zu einem gewissen Grad wohlhabend sind, und deshalb ist es wichtig, Großzügigkeit zu kultivieren. Wir brauchen tugendhafte Freunde, und deshalb sollten wir Ärger ablehnen und uns in Geduld üben. Um etwas zu erreichen, benötigen wir Ausdauer. Wenn wir Freundschaften haben wollen, müssen wir unsere störenden Emotionen unter Kontrolle halten, und uns dafür in geistiger Stabilität bzw. Konzentration üben. Und schließlich, um anderen wirklich effektiv helfen zu können, brauchen wir das unterscheidende Gewahrsein (Weisheit), um zu wissen, was nützlich und was schädlich ist. Aus diesem Grund kultivieren wir alle sechs weitreichenden Geisteshaltungen.
Ethische Selbstdisziplin bedeutet, davon abzusehen, anderen Schaden zuzufügen. Bei der Großzügigkeit geht es darum, anderen materielle Hilfe und Schutz vor Angst zu bieten, während die Geduld darauf abzielt, nicht wütend zu werden. Diese drei helfen uns dabei, die Ziele anderer zu verwirklichen. Ein weiterer Aspekt der Geduld – die Geduld zu studieren – und die Ausdauer helfen uns, sowohl die Ziele anderer als auch unsere eigenen zu verwirklichen. Geistige Stabilität und unterscheidendes Gewahrsein tragen dazu bei, unsere eigenen Ziele zu verwirklichen. Auf diese Weise benötigen wir alle sechs weitreichenden Geisteshaltungen, um unsere eigenen Ziele und die der anderen zu erfüllen.
Wenn wir großzügig sind und anderen materielle Hilfe entgegenbringen, fühlen diese sich ganz natürlich zu uns hingezogen. Ebenso ist es wichtig, unsere Praxis der ethischen Selbstdisziplin anderen zu vermitteln, und das tun wir, indem wir ein Leben führen, in dem wir niemals anderen Schaden zufügen. Besitzen wir Geduld, fügen wir anderen auch dann keinen Schaden zu, wenn sie uns verletzen. Wenn wir versuchen, anderen zu helfen, dürfen wir nicht die Hoffnung verlieren oder entmutigt werden, und genau dafür benötigen wir Ausdauer. Um anderen zu helfen, benötigen wir Konzentration und geistige Stabilität, wodurch wir am Ende auch die außersinnliche Wahrnehmung erlangen. Diese erlaubt uns, die Gedanken anderer wahrzunehmen und ihnen dabei zu helfen, ihren Geist zu zähmen. Außerdem brauchen wir die geistige Stabilität, damit wir uns konzentrieren können, wenn wir die Phänomene analysieren wollen. Geistige Stabilität fördert auch die Entwicklung unseres unterscheidenden Gewahrseins, womit wir unterscheiden können, was richtig und was falsch ist, damit wir anderen dabei helfen können ihre Zweifel auszuräumen und Erleuchtung zu erlangen. Daher brauchen wir alle sechs weitreichenden Geisteshaltungen – um anderen dabei zu helfen, schließlich die Erleuchtung zu erlangen.
Die sechs weitreichenden Geisteshaltungen sind in ihrer Anzahl festgesetzt. Wenn wir nicht an unserem Besitz hängen, sondern stattdessen mit dem zufrieden sind, was wir haben und es mit anderen teilen, können wir uns auf die richtige Praxis einlassen. Diese Art von Großzügigkeit fördert unsere ethische Selbstdisziplin bei der Praxis. Wenn wir geduldig sind, können uns Schwierigkeiten nichts anhaben, und wir lassen uns durch Leid nicht entmutigen. Daher unterstützt Geduld unsere Ausdauer. Mit Konzentration und geistiger Stabilität sind wir in der Lage, körperliche und geistige Hindernisse zu überwinden. Wir werden nicht müde, uns konstruktiven Handlungen zu widmen; wir können unseren Körper und Geist einsatzfähig und fit halten, um den stillgewordenen und zur Ruhe gekommenen Geisteszustand des Shamatha (tib. zhi-gnas) zu erlangen. Auf dieser Grundlage entwickeln wir dann den Geisteszustand von außergewöhnlicher Wahrnehmungsfähigkeit, von Vipashyana (tib. lhag-mthong), mit dem wir unterscheidendes Gewahrsein kultivieren. Ohne Shamatha als Grundlage kann es kein Vipashyana geben. Auf diese Weise fördert geistige Stabilität den Geisteszustand des Vipashyana. Aus diesem Grund ist die Anzahl der sechs weitreichenden Geisteshaltungen festgesetzt, um eine umfassende Mahayana-Praxis durchzuführen.
Die Anzahl ist ebenso klar aus der Hinsicht, dass sie geschickte Mittel für unsere Praxis darstellen. Anderen unseren Besitz und unsere körperliche Hilfe entgegenzubringen, wirkt als Ursache für Reichtum. Mit ethischer Selbstdisziplin vermeiden wir unachtsame und rücksichtslose Handlungen des Körpers, und so hilft diese uns, geistige Ablenkungen zu überwinden. Auf diese Weise fördert sie auch unsere Konzentration. Anstatt wütend zu werden, haben wir Geduld, besser zu praktizieren. Die Ausdauer lässt uns nicht unseren Mut verlieren. Mit der Konzentration des Zustandes geistiger Stabilität erlangen wir eine körperliche und geistige Glückseligkeit, die es uns ermöglicht, in tiefere meditative Versenkung einzutreten, die vorübergehend unsere groben störenden Emotionen auf der Ebene der Sinnesobjekte der Begierde (der Bereich des Begehrens) unterdrückt. Und mit unterscheidendem Gewahrsein sind wir dann in der Lage, uns für immer von den störenden Emotionen und ihren Tendenzen zu befreien. Daher ist die Anzahl der weitreichenden Geisteshaltungen genau sechs, um sie als geschickte Mittel für unsere Praxis einzusetzen.
Es ist ebenso genau festgelegt, dass es sechs weitreichende Geisteshaltungen an der Zahl gibt, nämlich um uns zu helfen, die drei höheren Schulungen zu entwickeln. Sind wir großzügig, hängen wir nicht an unserem Besitz, wodurch wir die höhere Schulung in ethischer Selbstdisziplin perfektionieren. Praktizieren wir Geduld, lassen wir uns von Schwierigkeiten nichts anhaben, und auch das hilft uns, unsere höhere Schulung in ethischer Selbstdisziplin aufrechtzuerhalten. Geistige Stabilität ist für die höhere Schulung in Konzentration und unterscheidendes Gewahrsein für die höhere Schulung in eben diesem unterscheidenden Gewahrsein. Ausdauer hilft uns schließlich bei der Erlangung aller drei.
Laut Haribhadras „Kommentar, der die Bedeutung erklärt” (tib.’Grel-ba don-gsal, Skt. Spuṭhārtha) zu Maitreyas „Filigranschmuck der Verwirklichungen“ ist die Anhaftung an Haus und Besitz, ohne großzügig zu sein, ein Hindernis, das uns an Samsara bindet. Ohne ethische Selbstdisziplin begehen wir destruktive Handlungen, oft aufgrund dieser Anhaftung. Ohne Geduld werden wir wütend, wenn andere uns Schaden zufügen, und untergraben so unsere Praxis. Ohne Ausdauer sind wir faul, zögern und verlieren schnell den Mut. Ohne geistige Stabilität bzw. Konzentration lassen wir uns ablenken und werden in unserem konstruktiven Verhalten behindert. Wenn unser unterscheidendes Gewahrsein fehlerhaft oder beeinflusst ist, ist unser Studium ineffektiv und wir praktizieren nicht, was wir sollten. Um Hindernisse für unsere Praxis auf dem Pfad zu überwinden, benötigen wir deshalb alle sechs weitreichenden Geisteshaltungen.
Des Weiteren heißt es in Maitreyas „Filigranschmuck für die Mahayana-Sutras“:
(XVI.14) Bei der Darstellung [der sechs weitreichenden Geisteshaltungen] bauen die späteren auf den vorhergehenden auf und gehen aus ihnen hervor, und in Bezug auf ihren Status gehen sie vom Niederen zum Erhabenen und vom Groben zum Subtilen.
Mit anderen Worten: Die nachfolgenden weitreichenden Geisteshaltungen sind den vorherigen überlegen, und die vorherigen fördern die folgenden. Die Reihenfolge spielt also eine wichtige Rolle. Die früheren Geisteshaltungen sind in dem Sinne niedriger, dass die späteren schwieriger zu entwickeln sind. Außerdem werden die sechs Praktiken zunehmend subtiler. Wenn wir uns mit subtilen Praktiken beschäftigen, brauchen wir ebenso einen subtilen Geisteszustand. Deshalb ist die Reihenfolge der sechs entscheidend und genau festgelegt.
Abschließend erklärt Maitreya in seiner Darstellung der sechs weitreichenden Geisteshaltungen im Rahmen der Präsentation des Bodhichitta und der Bodhisattva-Praxis in seinem „Filigranschmuck der Verwirklichungen“:
(V.22ab) In jeder der [weitreichenden Geisteshaltungen], dem Geben und so weiter, sind diese [anderen weitreichenden Geisteshaltungen] enthalten.
Auf diese Weise ist jede der sechs weitreichenden Geisteshaltungen in jeder der anderen vollständig.