Überblick über den Buddhismus als Grundlage für die sechs Vollkommenheiten

Die zwei Wahrheiten und die vier edlen Wahrheiten

Die religiösen Traditionen Indiens unterscheiden sich in Bezug darauf, ob sie (1) die Lehre von Ursache und Wirkung bezogen auf vergangene Leben beinhalten, (2) ob deren Ziel die Befreiung ist, und (3) ob sie auf innere oder äußere Mittel zum Erlangen der Befreiung setzen oder nicht. Eine weitere Unterscheidung, die man vornehmen könnte, ist, ob das Selbst auf nihilistische oder eternalistische Weise interpretiert wird. Im Buddhismus gehen wir stattdessen von einem Selbst als Zuschreibungsphänomen auf Grundlage der Aggregate aus, mit dem wir die Befreiung anstreben. 

Es gibt zwei Arten von verzerrten Ansichten (tib. log-lta) bezüglich des Selbst und aller Phänomene, die es aufzugeben gilt: die Zurückweisung (tib. skur-’debs), d.h. zu leugnen, was eigentlich existiert, und die verfälschende Hinzufügung (tib. sgro-’dogs), bei der man etwas Existierendem etwas nicht Existierendes hinzufügt. Um Ersteres zu widerlegen, lehrte der Buddha die konventionelle, oberflächliche Wahrheit, und für Letzteres sprach er von der tiefsten Wahrheit, die leere Natur der konventionellen Wahrheit. Wir benötigen beide Wahrheiten – die konventionelle und die tiefste –, und beide erfordern gültige Wahrnehmung. 

Es gibt vier edle Wahrheiten, die während dem ersten Drehen des Dharma-Rades gelehrt wurden und durch die wir zunächst die tatsächliche Situation dessen, was existiert, feststellen, nämlich den Zustand des wahren Leidens, in dem sich begrenzte Wesen befinden. Wir sehen, dass die wahre Ursache dieses Leidens darin liegt, dass wir diese beiden verzerrten Ansichten haben. Um deren wahre Beendigung zu erreichen, brauchen wir den wahren Pfadgeist (der wahre Pfad) der gültigen Erkenntnis der zwei Wahrheiten auf der Grundlage aller Phänomene. Während dem zweiten Drehen des Rades verkündete der Buddha die dritte und vierte edle Wahrheit, was das erste Drehen ergänzt, in welcher er die erste und zweite Wahrheit lehrte. In diesem zweiten Drehen lehrte der Buddha darüber hinaus auch die zwei Wahrheiten in Bezug auf Grundlage, Pfad und Ergebnis. 

Die vier Kennzeichen des Dharma

Die vier Kennzeichen des Dharma sind ein weiteres Element, welches den Buddhismus von anderen Philosophierichtungen unterscheidet. Diese sind:

[1] Unbeständigkeit – Alle beeinflussten (bedingten) Phänomene sind unbeständig. Beeinflusste Phänomene sind jene Phänomene, die von Ursachen, Bedingungen, Teilen usw. beeinflusst sind. Daher lehrt das Vaibhashika-System das Entstehen, Verweilen, Altern und Vergehen aller beeinflussten Phänomene. Das Vergehen beginnt dabei bereits direkt im zweiten Moment nach dem Entstehen; deswegen geht es hier vor allem um subtile Unbeständigkeit, sprich, dass sich Phänomene jeden Moment verändern.

[2] Leiden – Alle befleckten Phänomene sind Leiden. Sie sind von störenden Emotionen befleckt, insbesondere von den drei giftigen, deren Wurzel Naivität bzw. Ignoranz ist. Diese Ignoranz (oder Unwissenheit) verursacht unser Leiden nicht nur dadurch, dass wir „nicht wissen”, wie alles existiert, sondern vielmehr dadurch, dass wir es aufgrund der oben erwähnten verzerrten Ansichten auf eine verkehrte Weise sehen.

Unsere Aggregate sind Phänomene, die von diesem falschen Wissen betroffen sind und daher aus Ursachen stammen, die aus Ignoranz und verzerrten Ansichten entstanden sind – nämlich aus weiteren störenden Emotionen und zwanghaften karmischen Impulsen. In diesem Sinne haben wir sowohl grobe als auch subtile störende Emotionen, so wie unsere Unwissenheit grobe und subtile Ebenen hat. Daher sind unsere Aggregate ein Beispiel für das alles umfassende Leiden. Dies ist die am tiefsten gehende Bedeutung dieses Punktes über Leiden, und es ist das alles durchdringende Leiden, dem es zu entsagen gilt.

Selbst Tiere wollen sich vom Leiden des Leidens befreien. Nichtbuddhistische Praktizierende wollen Freiheit vom Leiden der Veränderung und betonen daher in der Meditation das Erreichen vertiefter Konzentration (Skt. samādhi) und der vier Ebenen geistiger Beständigkeit (Skt. dhyāna), um einen Zustand jenseits gewöhnlichen Glücks zu erreichen, einen Zustand von Gleichmut. Aus diesem Grund zielt die buddhistische Entsagung speziell auf die Überwindung der dritten Art des Leidens, des alles umfassenden Leidens, ab. Entsagung ist die Entschlossenheit, frei von den gewöhnlichen Aggregaten zu sein, die aufgrund der Beeinflussung durch Unwissenheit entstehen, die diese Unwissenheit aufrechterhalten und die dann aufgrund der Unbeständigkeit vergehen. 

[3] Leerheit – Alle Phänomene sind leer und ohne ein Selbst. In Bezug auf das Madhyamaka-Verständnis dieses Punktes lehrte Chandrakirti, dass das konzeptuell implizierte Objekt (tib. zhen-yul) unseres Greifens nach wahrer Existenz – ein Objekt, das wahrhaft begründete Existenz repräsentiert – eine geistige Repräsentation einer Existenzweise ist, die es gar nicht gibt. Deshalb gibt es nichts, was das, was wir uns vorstellen, stützt bzw. trägt. Aus diesem Grund kann der Geist, der diesem Greifen nicht mehr unterliegt und sich stattdessen auf logische Beweisführung stützt, unser mangelndes Gewahrsein bezüglich unserer verzerrten Sichtweise überwinden. So kann das Leiden, welches auf unserer verzerrten Sichtweise beruht, beseitigt werden. Wenn wir das konzeptuell implizierte Objekt unseres Greifens – ein Beispiel für wahrhaft begründete Existenz – untersuchen, stellen wir fest, dass es weder letztendlich noch konventionell mit irgendetwas übereinstimmen kann. Dann verstehen wir, dass wahre Existenz eine verfälschende Hinzufügung ist, die nicht in der eigentlichen Existenzweise der Phänomene begründet ist.

[4] Nirvana – Nirvana ist Frieden, und zwar im Sinne einer Befriedung, die wahre Beendigung des Leidens und dessen Ursachen. Der wahre Pfadgeist, der zu seiner Erlangung führt, ist das unterscheidende Gewahrsein (oder Weisheit, tib. shes-rab) der Aryas (hoch verwirklichte Wesen bzw. die „Edlen”), welches auf den drei höheren Schulungen – ethische Selbstdisziplin, höhere Konzentration und höheres unterscheidendes Gewahrsein – beruht. Daher ist das Nirvana erreichbar. Wenn man also im Sinne dieser vier Merkmale denkt, sollte man sich entweder mit der Motivation der Entsagung bemühen, seine eigene Befreiung zu verwirklichen, oder mit der Bodhichitta-Motivation für die Befreiung und Erleuchtung aller Wesen arbeiten. 

Der Erleuchtung erlangende Geist

Das zweite Drehen des Dharma-Rades betont die tiefste Wahrheit, während das dritte Drehen die konventionelle Wahrheit im Sinne des auf Leerheit fokussierten Geistes in den Vordergrund stellt. Die konventionelle Natur des Geistes, der auf die Leerheit konzentriert ist, ist Klarheit (tib. gsal) und Gewahrsein (tib. rig). Klarheit bedeutet die Erzeugung von Erscheinungen; der Aspekt der Natur des Geistes, der die Erscheinungen der konventionellen Wahrheit entstehen lässt. Das Gewahrsein, der andere Aspekt der Natur des Geistes, bezieht sich auf eben diese Erscheinungen. Dies wird in Texten wie dem „Das weitestgehende, immerwährende Kontinuum“ (tib. rGyud bla-ma, Skt. Uttaratantra) basierend auf dem „Sutra der Gebärmutter, die den So-Gegangenen enthält“ (tib. De-bzhin gshegs-pa’i snying-po’i mdo, Skt. Tathāgatagarbhasūtra) aus dem dritten Drehen diskutiert. Auch Nagarjuna spricht es in seinen beiden Lobpreisungstexten an. 

Der Fokus in diesen Texten, dass der Geist die Natur des klaren Lichts (tib. ’od-gsal) hat, ist die Grundlage des Tantra. Das „Vajra-Zelt-Tantra” (tib. rDo-rje gur, Skt. Vajrapañjaratantra) ist der Ursprung der vier Tantra-Klassen, und die Praktiken der ersten drei Tantra-Klassen dienen als Grundlage für Praktiken mit dem klaren Licht der vierten Klasse, des Anuttarayoga-Tantra.

Die Wurzel des Geistes, der das Potenzial hat, den allwissenden Zustand der Erleuchtung zu erreichen, ist das Bodhichitta. Alle anderen Mahayana-Aspekte sind Vorstufen, Schulungen und Unterteilungen des Bodhichitta. Maitreyas „Filigranschmuck der Verwirklichungen“ (tib. mNgon-rtogs rgyan, Skt. Abhisamayālaṃkāra) und Haribhadras Kommentar dazu („Kommentar, der die Bedeutung erklärt”, tib. ’Grel-ba don-gsal, Skt. Spuṭhārtha) erklären, dass das Bodhichitta zwei Bestrebungen enthält: (1) den Wunsch, allen begrenzten Wesen zu helfen und (2) den Wunsch, Erleuchtung zu erlangen, um dazu in der Lage zu sein. Bodhichitta konzentriert sich also auf diese beiden Ziele: auf andere (ihnen zu helfen, Befreiung und Erleuchtung zu erlangen) und auf uns selbst (Erleuchtung zu erlangen, um anderen dazu zu verhelfen).

Um Mitgefühl zu entwickeln, benötigen wir die Wurzel des Mitgefühls: herzerwärmende Liebe (tib. yid-du ’ong ba’i byams-pa). Das bedeutet, sich denjenigen nahe zu fühlen, die leiden; also in der Lage zu sein, ihr Leid zu schätzen, und sich schrecklich zu fühlen, wenn sie noch mehr leiden müssten. Um diese Liebe zu entwickeln, können wir entweder die siebenteilige Methode von Ursache und Wirkung oder die Methode des Gleichsetzens und Austauschens von uns selbst und anderen anwenden. Die siebenteilige Methode des weitreichenden Verhaltens stammt von Maitreya, wohingegen das Gleichsetzen und Austauschen von uns selbst und anderen aus Nagarjunas „Kostbarer Girlande“ (tib. Rin-chen ’phreng-ba, Skt. Ratnāvalī) und Shantidevas „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ (tib. sPyod-’jug, Skt. Bodhisattvacaryāvatāra) stammt. Um das Leiden zu erkennen, untersuchen wir die vier edlen Wahrheiten und versuchen, das Leiden in uns selbst und in allen anderen Wesen wahrzunehmen. Auf diese Weise werden wir über das bloße Streben nach unserer eigenen Befreiung und dem Zustand eines Arhats hinausgehen können.

Schließlich können Arhats sogar zerstörerische Handlungen des Körpers und der Sprache manifestieren. Diese entstehen jedoch nicht durch irgendwelche störenden Emotionen, da sie sich von diesen gelöst haben, sondern durch ihre Gewohnheiten und durch die Verdunklungen, welche Allwissenheit verhindern. Die Ursache dafür, dass sie destruktives Verhalten zeigen, ist deren Klammern an den Frieden des Nirvana. Das Gegenmittel dazu ist das Streben nach dem nichtverweilenden Nirvana, in dem wir weder in den Extremen des apathischen Friedens noch in zwanghafter samsarischer Existenz verweilen. Aus diesem Grund ist es wichtig, sich um das Erlangen der vollständigen Erleuchtung zu bemühen. 

Bodhichitta entwickeln

Um Bodhichitta zu entwickeln und zum Wohle aller wirken zu können, müssen wir zunächst Gleichmut gegenüber allen Wesen kultivieren. Gleichmut als Grundlage der siebenteiligen Methode von Ursache und Wirkung zu entwickeln, ist wie den Boden zu ebnen und ihn dann zu düngen. Liebe ist das Wasser, Mitgefühl die Saat, und Bodhichitta ist der Baum – ein wunscherfüllender Baum, der daraus erwächst. Im Prajnaparamita Sutra in 25.000 Versen heißt es, dass wir nicht nur das Leiden unserer Mutter erkennen sollen, sondern auch das unseres Vaters, unserer Verwandten und Freunde, und darüber hinaus die Intention in unserem Geist zu entwickeln, all deren Güte zurückzuzahlen. Wir können wir dies nun tun? Indem wir sie glücklich machen und sie von ihrem Leiden befreien, sprich, indem wir Liebe und Mitgefühl kultivieren. 

In den Kapiteln über Geduld und Konzentration in seinem „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas” erklärt Shantideva die Methode des Gleichsetzens und Austauschens von uns selbst und anderen. Die Entwicklung von herzerwärmender Liebe, bei der wir uns anderen nahe fühlen und uns schrecklich fühlen würden, wenn ihnen etwas zustoßen würde, wird durch diese Methode stärker hervorgebracht als bei der siebenteiligen Methode von Ursache und Wirkung. Je stärker diese Liebe ist, desto stärker wird auch das Mitgefühl sein, das daraus entsteht. Je größer wiederum dieses Mitgefühl, desto fester wird auch der außergewöhnliche Entschluss, die Erleuchtung zu erlangen, um allen Wesen zu helfen, Freiheit von Leid zu erlangen. Je fester diese Entschlossenheit ist, desto stärker wird auch unser Bodhichitta sein, und je stärker dieses ist, desto größer wird die positive Kraft sein, die uns hilft, das richtige Verständnis der Leerheit zu erlangen. 

Diese herzerwärmende Liebe, die uns unsere Verbindung zu anderen spüren lässt, verstärkt sich, wenn wir sehen, dass wir alle im Wunsch nach Glück und dem Vermeiden von Leid gleich sind. Aus diesem Grund nehmen wir das Leid der anderen an und spüren es, indem wir die Praxis des Austauschens von uns und anderen anwenden. Dadurch fühlen wir uns anderen auf natürliche Weise näher und können ihrem Leid gegenüber nicht länger gleichgültig sein. Shantideva bezeichnet diese Praxis des Austauschens als „geheim“ oder „verborgen“.

Das Entwickeln von Bodhichitta und das Erlangen des korrekten Verständnisses der Leerheit verstärken sich gegenseitig. Diejenigen mit einem scharfen Verstand arbeiten daran, zuerst das richtige Verständnis zu erlangen und dann Bodhichitta zu entwickeln. Ihr Entwickeln von Zuflucht und Entsagung wird durch das richtige Verständnis der Leerheit gestärkt und unterstützt. Das liegt daran, dass sie mit dieser richtigen Sichtweise der Leerheit die dritte und vierte edle Wahrheit verstehen und deshalb der ersten und zweiten edlen Wahrheit entsagen wollen. Ihr Verständnis der Leerheit wiederum stärkt ihre Entwicklung von Bodhichitta, da es dazu beiträgt, ihre Selbstbezogenheit und ihr Greifen nach einem Selbst zu zerstören. Diejenigen, deren Verstand weniger scharfsinnig ist, arbeiten zunächst an der Entwicklung von Bodhichitta. Die positive Kraft, die durch die Entwicklung von Bodhichitta und dadurch entstanden ist, dass sie anderen geholfen haben, unterstützt sie dabei, ein tiefes Verständnis der Leerheit zu erlangen. 

Die vier Arten, wie man andere um sich versammelt

Es gibt vier Arten, wie wir andere um uns versammeln können (tib. bsdu-ba rnam-pa bzhi), um ihnen zu helfen. Zunächst können wir großzügig sein, was die Voraussetzungen dafür schafft, dass sich andere von uns angezogen fühlen und wir sie um uns versammeln können. Zweitens können wir freundliche und hilfreiche Worte zu ihnen sprechen. Drittens können wir bedeutungsvolle Dinge zu ihnen sagen und sie ermutigen, Methoden zu praktizieren, um die bedeutsamen Ziele der Befreiung und Erleuchtung zu erreichen. Als letztes können wir selbst in Übereinstimmung mit diesen Methoden handeln, um ihnen dazu verhelfen, Vertrauen in diese Methoden zu gewinnen. 

Damit eine positive Qualität des Geistes ein Paramita wird – eine weitreichende Geisteshaltung bzw. Vollkommenheit, die uns den ganzen Weg bis zur Erlangung der drei erleuchtenden Körper eines Buddhas führen kann –, muss sie von einem richtigen Verständnis der Leerheit und der Motivation bzw. dem Ziel des Bodhichitta begleitet sein. Ist sie das nicht, ist die Qualität kein Paramita – sie ist dann nicht weitreichend. Es ist dann keine Geisteshaltung, die über die Begrenzungen eines fühlenden Wesens hinausgeht bzw. hinausgegangen ist (die Paramitas haben sowohl eine Ebene des Pfades als auch eine des Ergebnisses). Die Entwicklung der sechs weitreichenden Geisteshaltungen lässt unseren eigenen Geist reifen und das Praktizieren dieser vier Arten, andere zu versammeln, lässt den Geist anderer reifen. Zu bemerken ist, dass diese vier Arten in den sechs Vollkommenheiten enthalten sind. 

Großzügig zu sein, indem man anderen materielle Hilfe zukommen lässt, macht andere empfänglich für uns und hilft, ihren Geist auf den Dharma zu richten. Auf angenehme Weise zu ihnen zu sprechen bedeutet, sie den Dharma in Übereinstimmung mit ihren individuellen Neigungen zu lehren. Bedeutsames zu sprechen heißt, sie zu ermutigen, ihr Leben dem Dharma zu widmen; und selbst ein dem Dharma gewidmetes Leben zu führen, inspiriert sie dazu, das Gleiche zu tun. 

Unterschiedliche Bedeutungen der Leerheit als etwas Beständiges

Das Entwickeln der weitreichenden Geisteshaltungen erfordert also ein richtiges Verständnis der Leerheit. Aber worin besteht dieses Verständnis und wie kann man es beschreiben?

Nagarjuna schrieb in seinen „Wurzelversen zum Madhyamaka, genannt Unterscheidendes Gewahrsein“ (tib. dBu-ma rtsa-ba shes-rab, Skt. Prajñānāmamūlamadhyamakakārikā):

(XXIV.19) Es existiert nichts, was nicht in Abhängigkeit entsteht. Deshalb existiert nichts, was nicht leer ist.

Der Jonangpa-Meister Dölpopa hingegen schrieb, dass alle beeinflussten Phänomene im Sinne des Chittamatra abhängig entstehen, d.h. in dem Sinn, dass sie von anderem beeinflusst (tib. gzhan-dbang) sind; und im Gegensatz dazu gehen laut Dölpopa vollkommen begründete Phänomene (tib. yongs-grub) darüber hinaus und besitzen somit wahrhaft begründete Existenz.

In seinem „Filigranschmuck der Verwirklichungen“ definiert Maitreya die Leerheit als die Eigenschaft der Buddha-Natur, welche unser natürlich andauernder Zustand (tib. rang-bzhin gnas-rigs) ist:

(VIII.1) Der Körper der wesentlichen Nature eines Fähigen ist ein unbeflecktes Phänomen. Die Reinheit all der [anderen] erlangten Aspekte [des Buddhas] ist die natürlich [andauernde] Eigenschaft.

Darüber hinaus beschreiben „Das weitestgehende, immerwährende Kontinuum“ und das Anuttarayoga-Tantra unseren natürlich andauernden Zustand als einen des klaren Lichts (tib. ’od-gsal-ba) und beziehen sich dabei auf die Natur des Geistes, welche klares Licht ist. Maitreya schrieb dazu im „Weitestgehenden, immerwährenden Kontinuum“:

(I.62) Die Selbstnatur von Gewahrsein, nämlich klares Licht, ist etwas, das sich, ähnlich wie die Abwesenheit eines Hindernisses für räumliche Existenz, niemals verändert.

Nagarjana, der dem zustimmt, dass sich die andauernde Buddha-Natur auf die Leerheit des Geistes bezieht, und davor warnte, diese Leerheit als wahrhaft existent zu betrachten [wie Dölpopa behauptete], sagt in den „Wurzelversen zum Madhyamaka“:

(XIII.7) Wenn etwas nicht Leeres [wahrhaft] existierte, würde auch etwas Leeres [wahrhaft] existieren; aber da etwas nicht Leeres nicht [wahrhaft] existiert, wie könnte etwas Leeres [wahrhaftig] existieren?
(XIII.8) Der Siegreiche hat verkündet, dass Leerheit das Absehen von allen Sichtweisen ist. Es heißt, dass jene, die die Leerheit zu einer Sichtweise machen, unverwirklicht sein werden. 

Aryadeva stimmt dem in seiner „Abhandlung in 400 Versen“ (tib. bZhi brgya-pa, Skt. Catuḥśataka) zu:

(XVI.8) Wenn der Standpunkt [der Leerheit wahrhaft] existent wäre, würde [auch] der Standpunkt, der dies nicht ist, die Natur eines [wahrhaft existierenden] Standpunktes annehmen. Da aber eine [wahrhaft] existierende Position, die das nicht ist, nicht [wahrhaft] existiert, wie könnte das, was dem entgegengesetzt ist, ein [wahrhaft existierender] Standpunkt sein?

Es hat viele Nachteile, Leerheit nicht richtig zu verstehen. Wir können in das Extrem des Nihilismus verfallen und behaupten, dass nichts existiert, oder auch in den Absolutismus und sagen, dass die Leerheit wahrhaft existiert. 

Im Tantra hat die Kontinuität unseres Geistes des klaren Lichts weder Anfang noch Ende. Als Kontinuum ist er immerwährend, und vom Standpunkt aus gesehen, dass dieses ewig währt, ist es daher beständig. Wenn wir davon sprechen, dass die Leerheit des Geistes beständig ist, bedeutet dies jedoch, dass seine Leerheit nicht von Ursachen und Bedingungen beeinflusst wird. Sagen wir, das klare Licht ist unbeeinflusst, bezieht sich das auf seine reine Natur, wo es nicht von Makeln beeinflusst ist, die lediglich vorübergehend und flüchtig (tib. glo-bur) sind. Es ist wichtig, sich über all diese Unterschiede im Klaren zu sein.

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