Die vier edlen Wahrheiten als Gegenmittel fehlerhafter Sichtweisen

Unser eigener Beschützer sein 

Einer der grundsätzlichen Punkte, die Seine Heiligkeit heute Morgen in der Belehrung gemacht hat, war, dass wir unsere eigenen Schutzherren, unsere eigenen Beschützer sein sollten, wenn wir unseren Geist in der Praxis des Buddha-Dharma transformieren wollen. Das hat er gesagt, nicht wahr? Wenn wir uns selbst nicht beschützen und stattdessen nach jemandem suchen, der uns beschützt, kann uns nicht einmal Buddha Schutz gewähren. Daher müssen wir ganz klar unsere eigenen Beschützer werden. Seine Heiligkeit hat bereits recht tiefgründig über diese Thematik gesprochen und daher gibt es hier nichts hinzuzufügen.

Buddhas Geschenk der vier edlen Wahrheiten   

Heute ist ein Tag, an dem wir neben den zahlreichen erleuchtenden Taten des Buddhas drei der größten davon gedenken, wie seine Geburt. Diese drei Wichtigsten fallen alle auf diesen Tag. Buddhas Geburt ist besonders kostbar, weil er durch das Beehren dieser Welt mit seiner Gegenwart eine weitere seiner erleuchtenden Taten ausgeführt hat, indem er das Dharma-Rad drehte. Daher ist die Geburt des Buddhas als Tat so kostbar.

Wenn wir den Geburtstag von jemandem feiern, sogar den des Buddhas, bringen wir normalerweise einen Kuchen oder ein Geschenk mit und übermitteln unsere Glückwünsche. Denken wir jedoch einmal tiefer darüber nach, so hat Buddha uns ein unschätzbares Geschenk gemacht. Es gibt nichts, was wir vergleichsweise darbringen könnten. Das kostbare und seltene Geschenk, das der Buddha uns gemacht hat, sind die vier edlen Wahrheiten. All die Lehren der mittleren und der fortgeschrittenen Ebene passen in den Rahmen der vier edlen Wahrheiten. Auch die Tantra-Praktiken passen dort hinein.

Buddha hat uns also dieses kostbare Geschenk gemacht. Wie Seine Heiligkeit heute Morgen sagte, ist es notwendig, dass wir über die von Buddha überlieferten Lehren nachdenken, um die Güte des Buddhas zu erwidern. Heute werden wir also, um die Güte des Buddhas und Seiner Heiligkeit zu erwidern, über die vier edlen Wahrheiten nachdenken. Es ist der geeignete Tag dafür, dies zu tun.

Allgemeines Verständnis der vier edlen Wahrheiten 

Die meisten von uns sind in der Lage, die vier edlen Wahrheiten aufzuzählen und wir alle haben schon ein wenig über sie nachgedacht. Welcher Punkt ist hierbei der wichtigste? Wenn ich über sie, beispielsweise über die erste edle Wahrheit des Leidens, nachdenke, betrachte ich sie einfach als das Leiden in Bezug auf etwas, das wir nicht haben wollen. Wir wollen es loswerden und auslöschen. Abgesehen davon denken wir für gewöhnlich nicht an die Wahrheit des Leidens als Gegenmittel eines verkehrten, fehlerhaften Gedankens.

Ungewöhnliche Erklärung der vier edlen Wahrheiten 

Als ich die Lehren von einem meiner Lehrer bekommen habe, wurden sie mir in einer der Darstellungen der vier edlen Wahrheiten präsentiert, die normalerweise nicht beschrieben wird. Er erklärte mir, warum es genau vier gibt und was die Bedeutung dahinter ist. Um es nicht zu kompliziert zu machen, können wir ganz allgemein die ersten zwei Wahrheiten, die Wahrheit des Leidens und den Ursprung des Leidens, als eine Beschreibung darüber betrachten, wie wir uns mit weltlichen oder irdischen Angelegenheiten befassen. Um dann über die irdischen Angelegenheiten hinauszugehen und uns mit überirdischen zu befassen, sprechen wir über die Beendigung und die Wahrheit des Pfades. Das ist die geläufigere Erklärung dazu, warum die Wahrheiten als diese vier festgelegt werden.

Doch wie mein Lehrer erklärte, gibt es im Tengyur eine weniger gängige Erklärung. Dort werden die vier edlen Wahrheiten hinsichtlich der vier verkehrten Sichtweisen erklärt und es heißt dort, dass jede Wahrheit ein Gegenmittel der entsprechenden verkehrten Sichtweise ist. Aus diesem Grund sind die edlen Wahrheiten vier an der Zahl.

Die vier verkehrten Sichtweisen, denen die vier edlen Wahrheiten entgegenwirken, sind fehlerhafte Sichtweisen:

  • einer verblendeten Auffassung in Bezug auf ein vergängliches Netzwerk;
  • des Nihilismus;
  • des Ewigkeitsglaubens; sowie
  • des Glaubens, man müsste nichts tun.  

Als ich davon hörte, freute ich mich, weil ich mich schon lange gefragt hatte, warum wir immer, wenn wir über Leiden und die Ursachen des Leidens reden, „die Wahrheit dessen“ hinzufügen müssen. Als ich die Erklärung von meinem Lehrer hörte, hatte ich das Gefühl, all meine Zweifel beseitigt zu haben, was mich befriedigte und freute. Ich könnte allerdings falsch liegen und daher solltet ihr es auch überprüfen.

Wie die erste edle Wahrheit als ein Gegenmittel dient

In Bezug auf diese ungewöhnliche Erklärung und wie jede Wahrheit als ein Gegenmittel dient, sehen wir uns die erste edle Wahrheit an. Wie funktioniert sie als ein Gegenmittel, um der verblendeten Auffassung in Bezug auf ein vergängliches Netzwerk entgegenzuwirken. Normalerweise sagen wir, dass dieser fälschlichen Sicht durch die Meditation über die Selbstlosigkeit der Person oder zumindest durch die Meditation über die Vergänglichkeit entgegengewirkt wird. Für gewöhnlich beziehen wir uns mit der Meditation über die Wahrheit des Leidens nicht auf ein Gegenmittel dieser fälschlichen Sichtweise. Wie sollen wir dies verstehen?

Wenn wir davon ausgehen, dass die Aggregate nicht-statisch sind und uns dann fragen, ob die Aggregate selbst die Person sind, wissen wir, dass sie es nicht sind. Schließlich gibt es die Aussage, dass die fünf Aggregate die Wahrheit des Leidens sind, jedoch nicht, dass die Person selbst die Wahrheit des Leidens ist. Nehmen wir jedoch an, wir würden denken, es gäbe eine Person, die nichts mit den fünf Aggregaten zu tun hat. Die gegenteilige Meinung, die dieser fälschlichen Sicht entgegenwirkt, ist, dass die Person ebenfalls die Wahrheit des Leidens ist.

Warum? Weil das, was wir als „eine Person“ bezeichnen, etwas ist, das basierend auf den Aggregaten postuliert wird. Gibt es denn etwas außer den so genannten „fünf Aggregaten“ als die Grundlage für eine Person, die man als definierende Eigenschaften einer Person festlegen kann? Nein. Haben wir also festgelegt, dass die fünf Aggregate durch Leiden gekennzeichnet sind, steht fest, dass die Person ebenfalls durch Leiden gekennzeichnet ist.

Reden wir nun von einer verblendeten Auffassung in Bezug auf ein vergängliches Netzwerk, handelt es sich dabei um den Gedanken, dass es ein „Ich“ gibt, welches nicht von den fünf Aggregaten abhängig ist. Erkennen wir also, dass die Person, das Selbst, durch Leiden gekennzeichnet ist, können wir auf diese besondere Weise dieser verkehrten Sicht entgegenwirken und sie beseitigen.

Wie wird ihr entgegengewirkt? Die Aggregate sind nicht-statisch und durch Leiden gekennzeichnet, was in den vier Aspekten der Wahrheit des Leidens enthalten ist. Die Aggregate haben die Eigenschaften, nicht-statisch, leidvoll und frei (leer) von einem Selbst zu sein, das statisch und monolithisch ist, sowie unabhängig existieren und erkannt werden kann. Haben wir also gut darüber nachgedacht, dass die fünf Aggregate die Wahrheit des Leidens sind, und auch verstanden, dass es nichts gibt, was man als „eine Person“ bezeichnen kann, die nichts mit den fünf Aggregaten zu tun hat, werden wir auch verstehen, dass eine Person ebenfalls die Wahrheit des Leidens ist. Dieses Verständnis kann der Glaubensvorstellung entgegenwirken, es gäbe da ein „Ich“, das außerhalb der fünf Aggregate existiert.

Mit dieser Denkweise betrachten wir dann nicht nur die Aggregate als etwas, das durch Leiden gekennzeichnet ist. Haben wir dann ein tiefgreifenderes Verständnis davon, dass die Aggregate durch Leiden gekennzeichnet sind, verstehen wir, wie gesagt, sofort, dass die Person ebenfalls durch Leiden gekennzeichnet ist. Was verstehen wir, wenn wir erkennen, dass die Person durch Leiden gekennzeichnet ist? Wir verstehen, dass eine Person, die durch alle vier Aspekte der Wahrheit des Leidens gekennzeichnet ist, nicht statisch, monolithisch und unabhängig existierend sein kann. Weil wir das verstanden haben, können wir auf die Frage, was der Wahrheit des Leidens grundlegend entgegensteht, antworten, dass es das Gegenmittel ist, das der verblendeten Auffassung in Bezug auf ein vergängliches Netzwerk entgegenwirkt. 

Der eigentliche Punkt ist somit, dass wir den Unterschied zwischen der Meditation über das Leiden und der Meditation über die Wahrheit des Leidens, die vier Aspekte hat, erkennen müssen.

Wie die zweite edle Wahrheit als Gegenmittel dient

Gehen wir weiter zur zweiten Wahrheit. Wie dient die zweite edle Wahrheit, die Wahrheit des Ursprungs des Leidens, als ein Gegenmittel zum Nihilismus? Denkt einmal darüber nach, wie wir die Dinge normalerweise ständig betrachten. Wir meinen, die Aggregate wären nicht-statisch und vorübergehend, doch die Person wäre statisch und ewig; die Aggregate werden jedoch aufhören zu existieren, aber die Person nicht. Würden wir allerdings behaupten, die Person wäre die Aggregate, würde sie ebenfalls aufhören zu existieren, wenn es die Aggregate nicht mehr gibt. Darauf muss man jedoch sagen, dass es keine Unterbrechung in der Kontinuität der Person gibt. Was die Aggregate betrifft, so wird es andere Aggregate in zukünftigen Leben geben und die Aggregate dieses Lebens werden ausgetauscht werden. Wir fragen uns, was die Ursachen dafür sind. Es sind karmische Impulse und störende Emotionen – diese zwei. Karmische Impulse und störende Emotionen sind die Ursprünge des Leidens.

Wenn die Kraft karmischer Impulse und störender Emotionen da ist, was entsteht dann daraus? Automatisch wird auch die Kontinuität eines Geisteskontinuums entstehen, das mit ihnen im Einklang steht. Wenn wir gut darüber nachdenken, werden wir verstehen, dass die Wahrheit des Ursprungs der Leiden laut Buddha das Gegenmittel ist, das der nihilistischen Sicht entgegenwirkt, mit der man meint, die Person würde beim Tod sterben.  

Wie die dritte edle Wahrheit als Gegenmittel dient

Nach der zweiten Wahrheit kommen wir zur Wahrheit der Beendigung, dem Beenden des Leidens. Welcher Punkt ist hier wichtig? Die Aggregate entstehen weiter in einem Kontinuum und fragen wir uns, warum sie weiter entstehen, so lautet die Antwort, dass sie durch die Kraft karmischer Impulse und störender Emotionen hervorgerufen werden. Wenn die Aggregate weiter durch die Kraft karmischer Impulse und störender Emotionen entstehen, diese Kontinuität immer weiter geht und es keine Möglichkeit gäbe, sie zu beenden, würde es keine Beendigung der Aggregate geben. Sie wären in dem Sinne beständig, dass sie dauerhaft und ewig wären.

Es gibt eine Art der Beständigkeit, von der wir für gewöhnlich reden und die auf einem anfangs- und endlosen Kontinuum beruht. Dieser Gedanke der Beständigkeit oder Ewigkeit beruhend auf solch einem Kontinuum bringt hier große Zweifel auf. Wenn es etwas gibt, das fortwährend weitergeht und nicht beendet werden kann, mag der Gedanke aufkommen, dass die Aggregate beständig und ewig sind. Um dem entgegenzuwirken, gilt es zu verstehen, dass sie sich nicht ständig fortsetzen.

In unseren Lehrbüchern der Logik finden wir dazu einen äußerst wichtigen Syllogismus: Was das Subjekt betrifft, die herbeiführenden Aggregate – Aggregate, welche die Ursachen zum Herbeiführen weiterer Aggregate enthalten – ist es nicht so, dass es keine Gegenkraft gibt, die ihre Kontinuität in der gleichen Klasse beenden kann, denn es gibt ein mächtiges obliterierendes Gegenmittel, das ihre Kontinuität in der gleichen Klasse beenden kann.  

Denken wir über diese Argumentation nach, kommt uns kurz durch den Sinn, dass das Verhältnis zwischen karmischen Impulsen und störenden Emotionen so ist, dass karmische Impulse wegen störenden Emotionen entstehen. Was die störenden Emotionen selbst betrifft, so liegt ihre Wurzel im Greifen nach einem unmöglichen Selbst. Der Geist, der das Gegenmittel ist, das dem Greifen nach einem unmöglichen Selbst direkt entgegenwirkt, ist das unterscheidende Gewahrsein, das Selbstlosigkeit begreift. Dieses unterscheidende Gewahrsein, das Selbstlosigkeit begreift, verhindert direkt die Weise, auf die das Greifen nach einem unmöglichen Selbst ihr Objekt erfasst und zerstört es somit. Sie zerstört nicht nur dieses Greifen, sondern ist auch ein kraftvolles obliterierendes Gegenmittel dafür. Es ist kraftvoll, weil es etwas ist, das dazu führt, dass das Greifen niemals wiederkommt. Denken wir darüber nach, kommen wir zur Wahrheit der Beendigung und dies ist das Gegenmittel, das der Sicht des Ewigkeitsglaubens entgegenwirkt.

Wie die vierte edle Wahrheit als ein Gegenmittel dient                                            

Die Wahrheit des Pfades ist das Gegenmittel, das der verkehrten Sicht, es gäbe nichts zu tun, entgegenwirkt. Dieser Sicht, es gäbe nichts zu tun, entgegenzuwirken, kann man am besten beim Studieren anwenden. Gemäß meinem Lehrer hat das einen wirklich großen Nutzen für unseren Geist. Welchen Nutzen hat es? Denken wir an eine Möglichkeit, den Dharma zu praktizieren, sucht unser Geist sofort nach einer Methode, die unsere störenden Emotionen unverzüglich beseitigt und uns direkt zum Erlangen der Erleuchtung bringt. Es kommt uns jedoch nie in den Sinn, dass die störenden Emotionen, die drei Gifte, uns schon seit anfangslosen früheren Leben begleiten und daher ist es schwer, einen einfachen Weg zu finden, sie sofort loszuwerden. Wir können uns jedoch nicht vorstellen, dass es keine einfachen Möglichkeiten gibt.

Stehen wir also unter dem Einfluss dieser störenden Emotionen, denken wir bis hin zum jetzigen Zeitpunkt nur daran, eine einfache Methode zu nutzen, um sie abzuwenden. Befinden wir uns in so einer Situation, angesichts einer störenden Emotion eine einfache Methode zu nutzen, denken wir dann nicht daran, auf diese Weise schnellstens Erleuchtung zu erlangen? Gibt es aber ein Erlangen der Befreiung ohne harte Arbeit? Gehen wir in einen Mantra-Retreat zu einer tantrischen Gottheit, stellen wir uns einfach viele Figuren über unserem Kopf vor, von denen Lichter ausstrahlen, die in uns einströmen, was nicht so schwierig ist. Halten wir das dann nicht für eine Methode zum Bereinigen unserer störenden Emotionen? Die verkehrte Sicht, mit der wir so denken, ist die Sicht, es gäbe nichts zu tun. Als Gegenmittel dafür erklärte Buddha die Wahrheit des Pfades.

In Erwiderung darauf, dass Menschen meinen, sie müssten angesichts störender Emotionen, der drei Gifte, nur einfache Methoden anwenden, sagte Buddha: „Meine Verwirklichung der Leerheit kann euch nicht helfen.“ Wie in einem Sutra gesagt wird: „Buddhas können nicht die negativen Potenziale anderer wegwaschen, noch ihre Leiden beseitigen, als würde man einen Dorn aus dem Fuß ziehen. Sie können ihre Erkenntnisse nicht auf andere übertragen. Sie können nur den Weg zeigen, indem sie die Wirklichkeit lehren.“ Das bezieht sich genau auf diesen Punkt. 

Zusätzliche Weisen, in denen die vier edlen Wahrheiten als Gegenmittel dienen 

Aufzuzeigen, wie die vier edlen Wahrheiten als Gegenmittel der vier verkehrten Sichtweisen dienen, ist eine Weise, sie darzustellen. Doch eine andere Weise, den Grund zu erklären, warum es sich genau um vier edle Wahrheiten handelt, besteht darin, zu zeigen, wem sie entgegenwirken:

  • dem Gegenteil des Resultates;
  • dem Gegenteil der Ursache;
  • dem Gegenteil der Befreiung; und
  • bezüglich dem Erlangen der Befreiung, dem Gegenteil der Methode oder des Pfades.

Buddha lehrte die vier edlen Wahrheiten, um diesen Vier entgegenzuwirken.

Die erste edle Wahrheit                                    

Was nun das Gegenteil des Resultats betrifft, ist es so, dass wir befleckte, herbeiführende Aggregate haben, weil wir unter der Kontrolle karmischer Impulse und störender Emotionen stehen. Was ist denn die essentielle Natur der Aggregate? Ihre essentielle Natur ist, dass sie unsauber, nicht-statisch, leidvoll und selbstlos sind. Halten wir etwas Unsauberes für sauber, etwas Nicht-Statisches für statisch, etwas Leidvolles für Glück und etwas Selbstloses dafür, ein Selbst zu besitzen, greifen wir damit nach einem verkehrten Resultat.

Was ist das Resultat karmischer Impulse und störender Emotionen? Es sind die befleckten, herbeiführenden Aggregate. Da ihre essentielle Natur hier auf verkehrte Weise als sauber usw. begründet wird, lehrte Buddha die Wahrheit des Leidens als etwas, das es identifizieren und dem es entgegenwirken kann. Das ist die gewöhnliche Darstellung dieser ersten edlen Wahrheit.

Die zweite edle Wahrheit                                

Anstatt zu sagen, dass die Ursachen der befleckten, herbeiführenden Aggregate karmische Impulse und störende Emotionen sind, geht es hier darum, dass sie von Indra, Brahman oder aus der Urmaterie stammen. Damit wird behauptet, dass ein Resultat aus einer widersprüchlichen Ursache kommen kann, doch das ist eine Denkweise, die wir nicht haben sollten. Um also das Greifen nach diesem Gegenteil der Ursache entgegenzuwirken, lehrte Buddha die Wahrheit des Ursprungs der Leiden.

Die dritte edle Wahrheit                    

Nun kommen wir zum Gegenteil der Befreiung. Was ist das Gegenteil von Befreiung? Abgesehen von dem Zusammenspiel karmischer Impulse und störender Emotionen, besteht das Gegenteil darin zu meinen, es wäre genug, sich lediglich von karmischen Impulsen zu lösen. Wir denken nicht einmal daran, die störenden Emotionen abzubauen, sondern beherrschen einfach die karmischen Impulse.

Gelehrte Meister verschiedener nicht-buddhistischer Lehrsysteme Indiens, besonders des Samkhya, lehren Methoden zum Erlangen der Befreiung, indem sie sich auf bestimmte Quintessenz-Lehren stützen. Doch sie lehren Methoden, die das Gegenteil der Befreiung bewirken. Warum bewirken sie das Gegenteil der Befreiung? Weil sie nicht die störenden Emotionen beseitigen, welche die Ursache des Leidens sind. Das Beispiel, das dafür angeführt wird, ist, die Äste eines giftigen Baumes abzuschneiden, damit jedoch den Baum nicht auszurotten.

Wollen wir also Leiden ausrotten, gilt es zunächst herauszufinden, wo sich die Wurzel befindet. Die Wurzel, aus der sie stammen, ist das Greifen nach einem unmöglichen Selbst. Bis wir uns vom Greifen nach einem unmöglichen Selbst befreit haben, wird dieses Greifen als ein Umstand dafür dienen, dass störende Emotionen entstehen.

Kurzum: Wie viel Bemühung wir auch in eine Methode oder einen Pfad stecken, wenn sie nicht als ein Gegenmittel gegen das Greifen nach einem unmöglichen Selbst dienen, sind sie das Gegenteil einer Methode oder eines Pfades und führen zum Gegenteil von Befreiung. Das ist der wichtige Punkt der Lehren Buddhas über die Wahrheit der Beendigung.

Die vierte edle Wahrheit

Als nächstes kommt das Gegenteil des Pfades oder der Methode. Das Gegenmittel bezüglich des Gegenteils des Pfades ist die Wahrheit des Pfades. Das Gegenteil eines Pfades oder einer Methode ist, dass man falsch liegt. Es ist eine fehlerhafte Methode zum Erlangen der Befreiung. Wo liegt der Fehler in solch einer Methode zum Erlangen der Befreiung? Wirkt sie nicht als ein Gegenmittel gegen das Greifen nach einem unmöglichen Selbst und nimmt das Greifen nach einem unmöglichen Selbst als ihr Ziel, um es zu vernichten, handelt es sich um eine fehlerhafte Methode, egal wie viel Bemühung wir in sie investieren. Buddha hat es so formuliert. Auch wenn wir uns noch so bemühen, hunderttausende Niederwerfungen machen, hunderttausende Mantras rezitieren und für viele Jahre meditieren, sind viele von ihnen das Gegenteil des Pfades, wenn sie unser Greifen nach einem unmöglichen Selbst nicht einmal ein wenig minimieren.

Für den Beginn der Dharma-Praxis gibt es verschiedene Lehren der anfänglichen Ebene, doch die wesentlichen Quintessenz-Lehren des Buddhismus beginnen im Grunde mit jenen der mittleren Ebene, jenseits der anfänglichen Ebene. Wo beginnen die besten Lehren der mittleren Ebene? Sie beginnen mit den Methoden zum Erschöpfen der störenden Emotionen, weil dort die so genannte „ungewöhnliche buddhistische Sichtweise“ angeführt wird. Aus diesem Grund ist jede Methode und jeder Pfad, die wir nutzen, um Befreiung zu erlangen, das Gegenteil des Pfades, wenn sie nicht als Gegenmittel gegen das Greifen nach einem unmöglichen Selbst dienen. Die Wahrheit des Pfades wurde erklärt, damit wir verstehen, was das Gegenteil des Pfades ist. Auf diese Weise sind die vier edlen Wahrheiten die Gegenmittel gegen diese vier verkehrten Sichtweisen.

Die Reihenfolge und die Aspekte von Ursache und Wirkung der vier edlen Wahrheiten in unserer Praxis 

Sobald wir uns immer wieder mit diesen zwei Weisen vertraut machen, in denen die edlen Wahrheiten als vier angeordnet werden, ist es keine Frage, ob wir diese zwei Gruppen verkehrter Sichtweisen haben oder nicht. Vielmehr gilt es immer wieder darüber nachzudenken, auf welche Weise wir sie haben. Wenn wir merken, dass wir eine dieser verkehrten Sichtweisen haben, ist es notwendig, sich die spezifische Wahrheit zu vergegenwärtigen, die Buddha als Gegenmittel dagegen angeführt hat. Nur dann wird diese Lehre von Nutzen sein und nur dann wird der Dharma unserem Geist nützen. Ansonsten werden wir einfach nur viel studieren und praktizieren, doch wenn von etwas wie „Leiden“ und „Befreiung“ die Rede ist, werden wir denken, es ginge um irgendetwas dort draußen oder etwas nur in den Texten. Abgesehen davon ist es schwierig für uns zu erkennen, wie unsere eigenen störenden Emotionen entstehen und wie wir sie davon abhalten können. Tatsächlich heißt es, dass wir nicht einmal darüber nachdenken. Ich bitte also alle, sich auf jeden Fall damit vertraut zu machen.

Schließlich hat Buddha die Wahrheiten als vier auf diese Weise und in dieser Reihenfolge angeordnet, in der wir sie praktizieren sollten. Dafür gibt es die Analogie, sich selbst als kranke Patienten zu betrachten, den Buddha, der die vier Wahrheiten lehrt, als den Arzt, den Dharma als Medizin und den Sangha als Krankenpfleger. Zusätzlich dazu sollten wir darüber nachdenken, was unsere eigenen individuellen Leiden sind. Es ist notwendig, darüber nachzudenken, was die Ursache unserer Leiden sind, ob es eine Beendigung dieser Leiden gibt und welche Methode unseren Leiden ein Ende setzen könnte.

Im Allgemeinen hat der Buddha die vier Wahrheiten bezüglich ihrer Ursache und Wirkung angeordnet. Der Buddha lehrte also diese zwei Erklärungen, wie sie in Bezug auf die Reihenfolge unserer Praxis angeordnet sind. Er hat sie für unsere Praxis so angeordnet und das sollten wir im Geist behalten.

Jetzt ist unsere Zeit um und wir sind fast fertig. Es gibt noch einiges mehr zu sagen, doch die Zeit ist überaus wichtig, denn die Wissenschaftler sagen hinsichtlich der Funktionsweise des Gehirns, dass alles über eine Stunde nichts bringt [Lachen]. Das ist eine gute Rechtfertigung dafür hier aufzuhören.

Ich danke euch allen für diese Gelegenheit. Ich weiß nicht, wie nützlich diese Beschreibung der vier edlen Wahrheiten für euch heute war, aber was mich betrifft – und das mag etwas selbstisch klingen – hatte ich durch eure Güte die Gelegenheit, die Erklärungen meines Lehrers zu diesem Thema zu hören und schätze mich überaus glücklich. Da gibt es also einen Nutzen.

Einige Schwerpunkte der Belehrungen Seiner Heiligkeit 

Das Wichtigste, was Seine Heiligkeit heute gesagt hat, bezieht sich darauf, wie er studiert, wie er praktiziert und welches Gefühl der Überzeugung er in Bezug auf seine Praxis hat. Er hat versucht, es auf recht demütige und einfache Weise zu erklären, damit wir es mit unserer Kapazität, die wir haben, nachvollziehen können. Bitte nehmt die Worte Seiner Heiligkeit ernst, um zu erkennen, welch enorme Anstrengungen und Bemühungen er unternommen hat und dass wir dasselbe tun können. Wenn wir die positiven Zeichen sehen, die durch Seine Praxis entstehen, können wir sicher sein, dass auch wir in der Lage sind, dasselbe zu erreichen. Wir sollten fest davon überzeugt sein.

Wenn wir über die Leerheit nachdenken, wird unser Geist ein bisschen nervös. Ich weiß nicht, wie es bei anderen ist, aber ich erlebe es so, dass mein Geist etwas unruhig wird. Und wenn wir in unserer Bodhichitta-Meditation den Wunsch haben, alle fühlenden Wesen mögen glücklich sein, empfinden wir selbst keine Freude dabei. Doch heute sagte Seine Heiligkeit, dass er ein echtes Gefühl der Freude im Geist entwickelt, wenn er darüber nachdenkt, dass die Grundlage, aus der Anziehung, Abneigung und Verwirrung entstehen, letztendlich auf nichts beruht. Das hat Seine Heiligkeit gesagt, nicht wahr?

Und auch wenn wir aus der Perspektive des Dharma nicht an das Wohlergehen aller fühlenden Wesen denken, fasst Seine Heiligkeit, wenn er aus der Perspektive des Dharma an die Arbeit zum Nutzen aller fühlenden Wesen denkt, den Mut, niemanden auszulassen. Davon spricht er immer wieder.

Das sind die Schwerpunkte dessen, was Seine Heiligkeit gesagt hat. Seine Heiligkeit sagt nicht direkt, dass er bereits vollständiges Bodhichitta entwickelt hat, sondern, dass er es gerade entwickelt. Er sagt nicht, dass er bereits Leerheit verwirklicht hat, sondern dass er gerade dabei ist, sie zu verwirklichen. Warum wählt er diese Worte? Würde er behaupten, dass er sie bereits verwirklicht hat, wäre das keine große Hilfe für uns, wenn wir einmal ehrlich sind. Stattdessen sagt er, dass er nun den Punkt erreicht hat, an dem er ein Gefühl für Leerheit hat – das ist etwas, wozu auch wir in der Lage sind. Das sind einige Ratschläge Seiner Heiligkeit, mit denen ihr euch immer wieder vertraut machen solltet. Vielen Dank.

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