Der Dalai Lama über die vier edlen Wahrheiten

Einführung

Als der große universelle Lehrer Shakyamuni Buddha erstmals über den Dharma im edlen Land Indien sprach, lehrte er die Vier Edlen Wahrheiten: das wahre Leiden, den wahren Ursprung oder die Ursachen der Leiden, wahres Beenden oder Aufhören der Leiden und den wahren Pfadgeist, der zum Aufhören der Leiden führt. Da es viele Bücher gibt, die im Englischen Erklärungen zu den Vier Edlen Wahrheiten enthalten, sind diese wohlbekannt. Diese vier sind allumfassend und schließen viele Aspekte mit ein.

Betrachten wir die Vier Edlen Wahrheiten allgemein sowie die Tatsache, dass niemand von uns Leiden will und wir alle Glück wollen, dann können wir bei den Vier Edlen Wahrheiten jeweils von einer Wirkung und ihrer Ursache sowohl auf der störenden als auch der befreienden Seite sprechen. Wahre Leiden und wahre Ursachen sind die Wirkung und ihre Ursache auf der störenden Seite der Dinge, die wir nicht wollen. Wahres Beenden und wahrer Pfadgeist ist die Wirkung und ihre Ursache auf der befreienden Seite der Dinge, die wir uns wünschen.

Wahre Leiden

Wir erfahren viele verschiedene Arten von Leiden. Sie sind alle in drei Kategorien enthalten: Das Leiden am Leiden, das Leiden an der Veränderung und das alles umfassende beeinflussende Leiden. Das Leiden am Leiden bezieht sich auf das Gefühl des Unglücklichseins und daher auf Dinge wie Kopfschmerzen und so weiter. Auch Tiere erfahren diese Art des Leidens und wollen wie wir davon befreit sein. Da die Lebewesen sich vor dieser Art des Leidesn fürchten und Unwohlsein und Unglücklichsein dadurch erfahren, unternehmen sie verschiedene Aktivitäten um eszu beseitigen.

Das Leiden an der Veränderung bezieht sich auf das Gefühl „befleckten“ Glücks – Glück, das von störenden Emotionen und Geisteshaltungen herrührt und daher bezieht es sich auf Situationen, in denen wir zum Beispiel sehr bequem entspannt sitzen und zunächst alles in Ordnung zu sein scheint. Nach einer Weile aber verliert sich das Gefühl von Glück. Es verändert sich und wir werden unruhig und fühlen uns unbehaglich.

In bestimmten Ländern sehen wir sehr viel Armut und Krankheit. Das sind Leiden der ersten Kategorie. Jeder erkennt, dass dies leidvolle Bedingungen sind die beseitigt und verbessert werden sollten. Dagegen ist in vielen westlichen Ländern Armut vielleicht nicht ein so großes Problem. Aber wo es einen hohen Anteil an materieller Entwicklung gibt, gibt es andere Arten von Problemen. Zunächst könnten wir glücklich darüber sein, die Probleme überwunden zu haben, denen unsere Vorfahren gegenüberstanden. Sobald wir aber bestimmte Probleme gelöst haben, entstehen neue. Wir haben ausreichend Geld, Essen und eine schöne Unterkunft, indem wir aber den Wert dieser Dinge übertreiben, stellen wir sie als letztendlich wertlos dar. Diese Art der Erfahrung ist das Leiden an der Veränderung.

Ein sehr armer unterprivilegierter Mensch könnte denken, dass es wunderbar wäre, ein Auto oder einen Fernseher zu besitzen und sollte er diese Dinge erhalten, würde er zunächst sehr glücklich und zufrieden sein. Wäre nun dieses Glück von Dauer, würde er glücklich bleiben solang er das Auto und den Fernseher hätte. Er bleibt es jedoch nicht, sein Glücklichsein schwindet. Nach ein paar Monaten möchte er ein anderes Automodell und wenn er das Geld hat, wird er sich einen besseren Fernseher kaufen. Die alten Dinge, dieselben Gegenstände, die ihm einmal so viel Befriedigung gebracht haben, sind nun der Grund für Unzufriedenheit. Das ist die Natur der Veränderung. Das ist das Problem des Leidens an der Veränderung.

Alles umfassendes beeinflussendes Leiden ist die dritte Art des Leidens. Von den drei Arten der befleckten Gefühle bezieht sich das auf ein beflecktes neutrales Gefühl. Auf einer allgemeineren Ebene bezieht es sich auf die befleckten Aggregatfaktoren der Erfahrung – (das Aggregat der) Formen physischer Phänomene, (das Aggregat des) Empfindens eines Grades von Glücklichsein, (das Aggregat des) Unterscheidens (das Aggregat der) anderen beeinflussenden Variablen und das Aggregat der Arten des Bewusstseins, welche von störenden Emotionen und Geisteshaltungen herrühren. Es wird „alles umfassend“ genannt, weil es als Basis der ersten beiden Arten von Leiden dient.

Es könnte einige Menschen geben, die auch in entwickelten Ländern von der zweiten Art des Leidens, dem Leiden an der Veränderung, befreit werden wollen. Weil sie der befleckten Gefühle von Glück überdrüssig sind, streben sie nach einem völlig neutralen Gefühl. Wegen der Anhaftung an dieses Gefühl führt dies aber zu einer Wiedergeburt auf der Ebene der formlosen Lebewesen. Wesen auf dieser Ebene der Existenz besitzen nur dieses befleckte neutrale Gefühl als Ergebnis der Anhaftung von der es herrührt.

Befreiung von den beiden ersten Arten des Leidens ist aber nicht die vordringliche Motivation um Befreiung von Samsara, von unkontrolliert wiederkehrender Wiedergeburt, zu suchen. Buddha lehrte, dass von den drei Leiden die dritte Art des Leidens die Wurzel aller Leiden ist. Daher erfordert die Befreiung von Samsara die Loslösung vom wahren Leiden, nämlich dem alles betreffenden, durchdringenden Leiden. Das ist das Ziel der Entsagung.

Einige Menschen begehen Selbstmord weil sie denken, dass es ihr Leiden nur wegen ihres derzeitigen menschlichen Lebens gibt und dass, wenn sie dieses Leben beenden, nachher nichts mehr da ist. Dies ist aber nicht der Fall, es gibt künftige Wiedergeburten. Dieses alles umfassende, beeinflussende Leiden die befleckten Aggregate der künftigen Wiedergeburten kommt von der Kraft des Karma und der störenden Emotionen und Geisteshaltungen. Wir können – ohne sehr tiefschürfend nachzudenken – sehen, dass unsere derzeitigen befleckten Aggregate durch die Kraft des Karma und der störenden Emotionen unserer früheren Leben entstanden sind. Und jetzt in der Gegenwart entsteht weitere Wut und Anhaftung was befleckte Aggregate eines künftigen Lebens hervorbringt einfach weil wir diese derzeitigen Aggregate haben.

Unsere befleckten Aggregate sind wie jemand, der uns etwas ermöglicht: Sie ermöglichen uns den sogenannten „furchterregenden Zustand“ – den schrecklichen Zustand weiteren Karmas und störender Emotionen und Geisteshaltungen. Mit anderen Worten: Da unsere befleckten Aggregate wegen störender Emotionen entstanden sind, sind sie derzeit noch immer mit dem furchterregenden Zustand der störenden Emotionen verbunden oder vermischt. Tatsächlich ist es so: Ist man unter der Kontrolle dieser störenden Emotionen und Geisteshaltungen, unterstützen diese befleckten Aggregate das Entstehen weiterer störender Emotionen und halten uns vom Erzeugen positiver Geisteszustände ab. All unser Leiden sowohl das Leiden am Leiden als auch das Leiden an der Veränderung kann auf diese Aggregate, die durch Anhaftung und Anklammern befleckt sind, zurückgeführt werden.

Wenn wir erkennen, dass unsere befleckten Aggregate die Ursache all unserer Leiden sind könnten wir vielleicht denken, dass Selbstmord ein Ausweg wäre. Gut, wenn es keine Kontinuität des Geistes, keine künftigen Leben gäbe, dann wäre das in richtig. Hätten wir dazu den Mut, könnten wir uns das Leben nehmen. Aber entsprechend dem buddhistischen Standpunkt ist es nicht anders: Unser Bewusstsein wird fortdauern. Auch wenn wir uns das Leben nehmen, werden wir einen anderen befleckten Körper annehmen müssen, der wiederum die Basis für die Erfahrung des Leidens am Leiden und dem Leiden an der Veränderung sein wird. Wollen wir wirklich all unsere Leiden, all die Schwierigkeiten die wir in unseren Leben erfahren, loswerden, müssen wir uns von der grundlegenden Ursache befreien, die die befleckten Aggregate als Basis aller Leiden entstehen lässt. Uns selbst umzubringen löst unsere Probleme nicht.

Wahrer Ursprung

Da dies der Fall ist, sollten wir nun die Ursache des Leidens untersuchen. Gibt es hierfür eine Ursache oder nicht? Gibt es eine Ursache, welche Art von Ursache ist es dann – eine natürliche Ursache, die nicht beseitigt werden kann oder eine Ursache, die von ihren eigenen Ursachen abhängt und daher beseitigt werden kann? Wenn es eine Ursache ist, die beseitigt werden kann: ist es uns dann möglich uns davon zu befreien? Daher kommen wir zur Zweiten Edlen Wahrheit: Wahrer Ursprung oder wahre Ursachen des Leidens.

Diesbezüglich lehrt der Buddhismus, dass es keinen externen Schöpfer gibt und dass nicht einmal ein Buddha, obwohl er das höchste Lebewesen ist, die Macht hat neues Leben zu erschaffen. Mit anderen Worten: Ein Buddha kann kein alles umfassendes beeinflussendes Leiden der befleckten Aggregate eines künftigen Lebens erzeugen. Was ist nun die Ursache des Leidens?

Allgemein gesagt ist der letztendliche Ursprung der Geist. Im Besonderen ist es der Geist, der durch störende Emotionen wie Wut, Anhaftung, Eifersucht, Naivität und so weiter beeinflusst ist, der die Hauptursache für eine Wiedergeburt und alle mit ihr verbundenen Probleme ist. Es gibt aber keine Möglichkeit den Geist zu beenden, das geistige Kontinuum selbst zu unterbrechen. Außerdem ist an sich nichts falsch mit der tiefsten, subtilsten Ebene des Geistes der Geist des Klaren Lichts. Von Natur aus ist er vollkommen klar. Der tiefste Geist kann allerdings durch störende Emotionen und negative Gedanken beeinflusst werden. Daher ist die Frage, ob wir Wut, Anhaftung und die anderen störenden Emotionen bekämpfen und kontrollieren können oder nicht. Können wir in der Lage sein, sie beseitigen, dann sollten wir nur noch einen reinen Geist haben, der für immer frei von den Ursachen des Leidens ist.

Das führt uns zu den störenden Emotionen und Geisteshaltungen selbst, die Arten des Nebengewahrseins oder geistige Faktoren sind. Es gibt viele verschiedene Wege, um die Erörterung des Geistes darzustellen, aber im Allgemeinen bezieht sich „Geist“ auf die geistige Aktivität und sein definierendes Merkmal ist „bloße Klarheit und Gewahrsein“. Das bedeutet die Aktivität des Entstehens geistiger Erscheinungen oder mentaler Hologramme von Gegenständen und ihrem gleichzeitigen Wahrnehmen und nicht mehr als das. Sprechen wir von störenden Emotionen wie Wut und Anhaftung, müssen wir sehen, wie sie diese geistige Aktivität, den Geist, beeinflussen und verunreinigen. Was ist tatsächlich ihre Natur? Das ist dann der Hauptfokus der Erörterung des wahren Ursprungs des Leidens.

Fragen wir, wie Anhaftung und Wut entsteht, ist die Antwort zweifelsfrei, dass ihr Entstehen vom Greifen unseres Geistes gefördert wird; nämlich dem Greifen danach, dass die Existenz der Dinge von ihrer eigenen Seite her wahrhaft und auffindbar begründet sei – unser sogenanntes „Greifen nach wahrer Existenz“. Sind wird zum Beispiel über etwas ärgerlich, spüren wir, dass der Gegenstand da draußen ist, kompakt, wahrhaft und nicht zugeschrieben und dass wir selbst ebenso etwas Kompakt und Auffindbares sind. Bevor wir ärgerlich werden, erscheint der Gegenstand gewöhnlich. Wird unser Geist jedoch von Wut beeinflusst, sieht der Gegenstand hässlich aus, vollständig abstoßend, Übelkeit erregend, etwas, das wir sofort loswerden wollen. Seine Existenz als abstoßend scheint durch seine eigenen Seite begründet zu sein, durch seine eigene Selbst-Natur. Der Gegenstand scheint wirklich auf diese Weise zu existieren: Kompakt, unabhängig und sehr unattraktiv. Diese Erscheinung als „wahrhaft hässlich“ facht unsere Wut an. Wenn wir aber denselben Gegenstand am nächsten Tag sehen, wenn sich unsere Wut beruhigt hat, dann scheint er schöner als am Vortag zu sein. Es ist derselbe Gegenstand aber er scheint nicht so schlecht zu sein. Das zeigt, wie Wut und Anhaftung von dem Greifen unseres Geistes danach, dass die Existenz der Dinge von ihrer eigenen Seite her wahrhaft und auffindbar begründet sei, beeinflusst wird.

Die Texte der Madhyamaka-Philosophie legen daher dar, dass die Wurzel aller störenden Emotionen und Anhaftung das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz in dem Sinn ist, dass dieses Greifen diese geistigen Störungen mit sich bringt und sie unterstützt und aufrecht erhält. Daher ist die ursächliche Quelle all unserer Leiden die naive Unwissenheit, die danach greift, dass die Existenz der Dinge von ihrer Selbst-Natur her wahrhaft und auffindbar begründet sei. . Auf dieses Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz basierend, entwickeln wir alle Arten störender Emotionen und Geisteshaltungen wodurch wir destruktiv handeln und eine Menge negativer karmischer Kraft aufbauen.

In seiner „Ergänzung zu (Nagarjunas‚ Wurzelversen zum) Mittleren Weg’, Madhyamakavatara“, schrieb der große indische Pandit Chandrakirti, dass zuerst das Greifen nach der wahrhaftig begründeten Existenz des Selbst da ist, nach dem „Ich“ und an diesem „Ich“ angehaftet wird. Dem folgt dann das Greifen nach der wahrhaft begründeten Existenz von Dingen und dem Anhaften an sie als „mein“ und als „Ich als ihr Besitzer“.

Mit anderen Worten: Zuerst scheint es so, als wäre da ein sehr kompaktes, unabhängig existierendes „Ich“ das sehr groß ist – größer als alles andere – und dessen Existenz durch seine eigene Kraft begründet ist. Das ist die Basis. Davon kommt die falsche Erscheinung von anderen Gegenständen und Personen als ob deren Existenz ebenso von ihren eigenen Seiten begründet sei. Auf dem basierend tritt die Erscheinung der Existenz als ein „Ich“ auf, wahrhaftig begründet als ihr Besitzer als „mein“. Dann kommt weil wir die Seite dieses „Ichs“ einnehmen, die Erscheinung „des Anderen“ auf, wahrhaftig begründet als von seiner oder ihrer eigenen Seite her existierend, zum Beispiel als „mein“ Feind. In Hinblick auf das „Ich“, auf „Ich, der Besitzer von Dingen“ und „Dinge als ‚meine’“ entsteht Anhaftung. Gegen ihn oder sie spüren wir Abstand und Wut. Sodann entstehen Eifersucht und all diese wetteifernden Gefühle. Daher ist letztendlich das Problem dieses Gefühl des „Ich“ – nicht das bloße „Ich“ sondern das falsche „Ich“ von dem wir besessen werden. Das lässt ein Denken mit Wut und Verärgerung entstehen und ebenso das Aussprechen grober Worte und verschiedene körperlichen Handlungen, die auf Ablehnung und Hass basieren. All diese destruktiven Handlungen des Körpers, der Rede und des Geistes bauen negative karmische Kraft auf.

Töten, lügen und alle ähnlich destruktiven Handlungen kommen auch von der negativen Motivation störender Emotionen und Geisteshaltungen. Die erste Stufe ist bloß geistig: Das Denken destruktiver Gedanken, die auf störenden Emotionen und Geisteshaltungen basieren. Auf der zweiten Stufe führt dieses destruktive Denken zu destruktiven körperlichen und sprachlichen Handlungen. Sofort ist die Atmosphäre gestört. Zum Beispiel wird bei Wut die Atmosphäre angespannt und die Menschen fühlen sich unwohl. Wird jemand wütend, so versuchen sanftmütige Menschen diesen Menschen zu meiden. Später fühlt sich derjenige, der wütend wurde peinlich berührt und schämt sich, dass er alle möglichen absurden Dinge, was auch immer ihm oder in den Sinn kam, gesagt hat.

Wenn wir wütend werden, dann ist da kein Raum für Logik oder Vernunft, wir werden im wahrsten Sinne des Wortes „verrückt“. Wenn unser Geist später zum Normalzustand zurückkehrt, fühlen wir uns beschämt. An Wut und an Anhaftung ist nichts Gutes zu finden, daraus kann nichts Gutes entstehen. Sie sind vielleicht schwierig zu kontrollieren aber jeder kann erkennen, dass nichts Gutes dran ist. Das ist die Zweite Edle Wahrheit.

Wahres Beenden

Nun kommt die Frage auf, ob diese Arten des destruktiven Geistes beseitigt werden können oder nicht. Dies bringt uns zu der Erörterung der Dritten Edlen Wahrheit, dem wahren Beenden oder Aufhören der Leiden.

Wie wir bereits gesehen haben, ist die Wurzel aller störenden Emotionen und Geisteshaltungen und der karmischen Impulse ihnen entsprechend zu denken, sprechen und handeln unser Greifen danach, dass die Dinge durch ihre eigene Selbst-Natur begründet wahrhaftig und auffindbar existieren würden. Daher müssen wir untersuchen, ob der Geist, der nach der auf diese Weise begründeten Existenz von Dingen greift, korrekt ist oder ob er verzerrt ist und Phänomene unkorrekt wahrnimmt.

Wir können dies machen indem wir untersuchen, wie die Existenz von Objekten die ein Geist wahrnimmt, wirklich begründet werden kann. Da aber dieser greifende Geist selbst unfähig ist zu bestimmen ob er Objekte korrekt wahrnimmt oder nicht, müssen wir uns auf eine andere Art von Geist verlassen. Wenn wir durch gründliche Untersuchung viele andere gültige Wege des Wahrnehmens von Phänomenen entdeckt haben, die der Art und Weise, wie der Geist nach wahrhaftig begründeter Existenz greifend seine Objekte wahrnimmt, widersprechen oder sie widerlegen, können wir daraus schließen, dass dieser greifende Geist die Realität nicht korrekt wahrnimmt. Daher müssen wir mit dem Geist, der die tiefste Wahrheit über die Dinge analysieren kann, versuchen zu bestimmen, ob der Geist korrekt oder nicht korrekt ist, wenn er nach der Existenz von Dingen als wahrhaft durch ihre eigene Selbst-Natur begründet greift. Wenn er korrekt ist, dann sollte der analysierende Geist letztendlich fähig sein, diese Selbst-Natur auf Seiten der Objekte zu finden in der Art wie nach ihnen gegriffen wird. Die großen klassischen Schriften des Chittamatra und besonders der Madhyamaka-Schulen enthalten viele Argumentationsketten um solche Untersuchungen vorzunehmen. Indem wir sie anwenden, dann entdecken wir, wenn wir untersuchen, ob ein nach wahrhaft und auffindbar begründeter Existenz greifender Geist, korrekt ist oder nicht, dass er nicht korrekt ist. Er ist verzerrt, da wir die Objekte, nach denen er greift, nicht wirklich finden können. Da dieser Geist in Bezug auf sein Objekt in die Irre geführt wird, muss er beseitigt werden.

Durch Untersuchung entdecken wir dann keinen gültigen Anhalt bzw. keine Unterstützung für den greifenden Geist. Für eine logische Beweisführung für den Geist, der realisiert, dass der greifende Geist ungültig ist, lässt sich allerdings ein Anhalt bzw. eine Unterstützung finden. Im inneren geistigen Kampf ist der durch Logik unterstützte Geist immer siegreich über den Geist der so nicht unterstützt wird. Das Verständnis, dass es so etwas wie eine wahrhaft und auffindbar begründete Existenz nicht gibt, ist im Einklang damit, wie die subtilste Ebene des Geistes des klaren Lichts die Dinge wahrnimmt. Auf der anderen Seite geht der Geist, der danach greift, dass die Existenz der Dinge wahrhaft und auffindbar begründet ist, konform damit, wie die oberflächlichen flüchtigen Ebenen des Geistes ihre Objekte wahrnehmen. Da die subtilste Ebene des Geistes die tiefste Ebene ist, die ununterbrochen ohne Anfang und ohne Ende fortdauert, während diese flüchtigen Ebenen oberflächlich sind, können letztere entfernt werden und es bleibt nur die ewige Kontinuität von ersterer übrig.

Beseitigen wir die störenden Emotionen und Geisteshaltungen, die Ursache allen Leidens, dann löschen wir auch die Leiden aus. Das ist Befreiung oder das wahre Beenden der Leiden: Die Dritte Edle Wahrheit.

Wahrer Pfadgeist

Da es möglich ist dieses wahre Beenden, das für immer andauert, zu erreichen, müssen wir uns nun die Methode ansehen, dazu führt, es zu erreichen. Das führt uns zu der Vierten Edlen Wahrheit: Wahrer Pfadgeist oder „wahre Pfade“, die zu den wahren Beendigungen der Leiden führen. Wenn wir vom wahren Pfadgeist sprechen, der in allen drei buddhistischen Fahrzeugen des Geistes – dem Hinayana und innerhalb des Mahayana dem Paramitayana und dem Vajrayana vorkommt – beziehen wir uns auf die 37 Faktoren, die zu einem gereinigten Zustand führen. Wenn wir spezifischer vom wahren Pfadgeist des Bodhisattva-Fahrzeugs des Geistes, dem Mahayana, sprechen, dann beziehen wir uns auf die zehn Bhumi-Ebenen und die sechs weiterreichenden Geisteshaltungen, den sogenannten „sechs Vollkommenheiten“.

Wir finden die Praxis des Hinayana-Pfades am häufigsten in Thailand, Burma, Sri Lanka, Laos und Kambodscha. Hier werden die Praktizierenden vom Wunsch motiviert, Befreiung von ihrem eigenen Leiden zu erlangen. Mit ihrer eigenen Befreiung allein beschäftigt, praktizieren sie, um die siebenunddreißig Faktoren, die zu einem gereinigten Zustand führen, zu entwickeln. Diese 37 sind Arten von Pfadgeist, die mit den fünf allgemeineren Arten von Pfadgeiste verbunden sind.

  • Die vier festen Ausrichtungen der Vergegenwärtigung, die vier Faktoren, um korrekte Befreiungen zu erlangen und die vier Etappen, um außerphysische Kräfte zu erreichen, sind mit dem aufbauenden Pfadgeist, dem sogenannten „Pfad der Ansammlung“ verbunden.
  • Die fünf Kräfte und die fünf Stärken sind mit dem Pfadgeist der Anwendung, dem sogenannten „Pfad der Vorbereitung“ verbunden.
  • Die sieben ursächlichen Faktoren, um einen gereinigten Zustand zu erreichen, sind mit dem Pfadgeist des Sehens, dem sogenannten „Pfad des Sehens“ verbunden.
  • Die acht Faktoren eines Arya-Pfadgeistes sind mit dem Pfad des sich Gewöhnens, dem sogenannten „Pfad der Meditation“ verbunden.

Indem Praktizierende diesen wahren Pfadgeist nacheinander entwickeln, werden sie fähig, sich von störenden Emotionen und Geisteshaltungen zu befreien und das wahre Beenden des wahren Ursprung ihrer Leiden und das Erreichen ihrer individuellen Befreiung hervorzubringen. Dies ist der Pfadgeist und das Ergebnis im Hinayana.

Die vordringliche Sorge von Mahayana-Praktizierenden ist nicht nur ihre eigene Befreiung sondern die Erleuchtung aller begrenzten Wesen. Mit dieser Motivation des Bodhichitta – ihre Herzen sind auf das Erreichen von Erleuchtung als bestes Mittel, um anderen zu helfen, gerichtet – entwickeln diese Praktizierenden die sechs weitreichenden Geisteshaltungen Großzügigkeit, ethische Selbstdisziplin, Geduld, freudige Ausdauer, geistige Stabilität und unterscheidendes Gewahrsein oder „Weisheit“. Sie schreiten fort, indem sie der Reihe nach die zehn Bhumi-Ebenen des Geistes eines Arya-Bodhisattva entwickeln, bis sie sich für immer vollkommen von den beiden Schleiern emotional und kognitiv befreit und die höchste Erleuchtung der Buddhaschaft erlangt haben. Diese sind allgemein die Pfade des Geistes und ihre Ergebnisse im Mahayana.

Die Essenz der Praxis der sechs weitreichenden Geisteshaltungen ist die Vereinigung von Methode und unterscheidendem Gewahrsein, sodass die zwei erleuchtenden Körper ‐ Rupakaya, ein Körper der Formen und Dharmakaya, ein alles umfassender Körper ‐ erreicht werden kann. Da diese beiden Körper nur gleichzeitig erreicht werden können, müssen ihre Ursachen gleichzeitig kultiviert werden. Daher müssen wir gleichzeitig ein Netzwerk positiver Kraft, einer sogenannten „Ansammlung von Verdienst“ als Ursache, um einen Rupakaya zu erlangen aufbauen und ein Netzwerk tiefen Gewahrseins, einer sogenannten „Ansammlung von Weisheit“ als Ursache, um einen Dharmakaya zu erlangen. Im Paramitayana praktizieren wir Methode, die durch die Kraft des unterscheidenden Gewahrseins gestützt wird und unterscheidendes Gewahrsein das durch die Kraft der Methode gestützt wird. Im Vajrayana aber praktizieren wir Methode und unterscheidendes Gewahrsein als dieselbe essentielle Natur teilend.

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