Das Verständnis der fünf Aggregate,damit wir unsere Erfahrung verstehen lernen
Die erste Frage, die man sich zu Beginn dieser Thematik stellen könnte, ist: warum sollten wir etwas über die fünf Aggregate – die Formen physischer Phänomene, das Empfinden eines gewissen Grades an Glücklichsein, das auseinanderhaltende Gewahrsein, andere beeinflussende Faktoren, sowie Bewusstseinsarten – lernen wollen? Der Buddhismus ist doch voll von allen möglichen Auflistungen. Sollten wir wirklich noch eine weitere lernen wollen?
Etwas über die fünf Aggregate zu lernen ist jedoch nicht nur eine Sache des Auswendiglernens einer Aufzählung, um dann eine Prüfung zu bestehen. Vielmehr lernen wir etwas über diese fünf Aggregate, weil sie uns ein systematisches Verständnis unserer Erfahrungen im Leben bieten. Außerdem streben wir an, unsere Erfahrungen zu verstehen, weil es in ihnen etwas gibt, was nicht zufriedenstellend ist, denn sonst würden wir uns nicht auf die Suche nach einem spirituellen Pfad begeben. Wir wollen verstehen, was sich in unserem Leben und in den Leben der anderen abspielt. Ohne eine Art System oder Richtlinie ist dies jedoch nicht möglich oder ausgesprochen schwierig.
Natürlich haben sich im Laufe der Jahre viele Systeme entwickelt. Wir sind uns alle der Tatsache bewusst, dass es verschiedene psychologische Schemen gibt, um sich selbst zu verstehen. Sie bieten uns hilfreiche Anleitungen, wie man das Beste aus einer schwierigen Situation machen kann, die wir in unserem Leben erfahren. Sie können uns zweifellos helfen, manche Arten von Problemen zu analysieren und zu bewältigen. Ich denke man kann sagen, dass diese Systeme westlicher Psychologie uns helfen können, mit dem Leben auf gesunde Art und Weise zurechtzukommen; das kann niemand bestreiten. In der Regel bieten sie uns jedoch nicht die tiefgreifendsten Lösungen für unsere Probleme. Die Schwierigkeiten kommen auf die ein oder andere Weise immer wieder zu uns zurück.
Die buddhistischen Lehren hinterfragen
Der Buddhismus geht auf der anderen Seite etwas tiefer. Er lehrt uns nicht, das Beste aus einer schwierigen Situation zu machen oder das Leben auf gesunde Weise zu meistern. Stattdessen bietet uns der Buddhismus eine Möglichkeit, unsere Probleme auf eine Weise zu beseitigen, sodass sie niemals wiederkehren.
Das ist eine ziemliche Behauptung, nicht wahr? Diese Aussage könnten wir natürlich anzweifeln und mutmaßen, dass es sich nur um eine Werbekampagne handelt, die uns den Buddhismus schmackhaft machen soll. Wir fragen uns vielleicht, ob es möglich ist und sind zunächst misstrauisch. Buddha selbst würde es gut finden, wenn wir misstrauisch sind, denn er sagte: „Glaubt mir nicht einfach, weil ihr Vertrauen in mich habt, sondern testet alles, was ich sage, als würdet ihr Gold kaufen.“ Wenn wir Gold kaufen, wollen wir natürlich überprüfen, ob es echt ist und nicht nur äußerlich glänzt. In ähnlicher Weise gilt es Buddhas Lehren zu prüfen und im Grunde ist es wichtig, diese prüfende Methode auf alles anzuwenden, was uns gelehrt wird.
Viele von uns sind vielleicht eher zurückhaltend, wenn es darum geht, den Buddhismus infrage zu stellen, besonders wenn wir das erste Mal in ein buddhistisches Zentrum kommen. Alle scheinen so überzeugt zu sein und wir sitzen da und glauben nicht wirklich an die Wiedergeburt oder viele andere Dinge. All diese Rituale, die dort ausgeführt werden, mögen uns wie eine Form der Magie erscheinen. Sollen wir irgendwelchen tibetischen Magiern und Hexen folgen, oder läuft hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen? Wir haben Angst etwas zu sagen und unsere Fragen oder Zweifel anzubringen, weil alle anderen so überzeugt zu sein scheinen. Wir wollen „gute Buddhisten“ sein, aber wenn wir alles, was uns gesagt wird, einfach nur akzeptieren ohne es zu hinterfragen, wäre Buddha selbst damit nicht wirklich zufrieden.
Aus diesem Grund ist es wirklich gut, Dinge zu hinterfragen und Zweifel hervorzubringen. Wir können sagen: „Es gibt eine Liste von fünf Aggregaten; aber was damit? Oder: „Wie kann man tatsächlich an die Wiedergeburt glauben?“ Bringen wir diese Zweifel ins Bewusstsein, sprechen sie aus und reden darüber, können wir an diesen Dingen arbeiten. Stellen wir sie infrage, nutzen wir unseren Geist. Wir versuchen, uns über etwas klarzuwerden. Wir sind nur in der Lage etwas zu verstehen, wenn wir es infrage stellen und es untersuchen.
Beim Zweifeln geht es darum zu hinterfragen, ob etwas wahr ist oder nicht. Dabei handelt es sich tatsächlich um einen hilfreichen Geisteszustand, um zu einer gut durchdachten Schlussfolgerung zu kommen. Zweifeln wir jedoch auf eine Weise, in der wir etwas nicht glauben und deshalb für dumm halten, sind wir nicht offen dafür, es zu hinterfragen. Da gibt es einen klaren Unterschied zwischen diesen beiden Geisteszuständen. Versuchen wir uns also der Thematik, dem Lehrstoff dieser Sitzungen und hoffentlich auch unserem spirituellen Pfad mit einer offenen und hinterfragenden Haltung zu nähern.
Buddha sagte: „Hier ist eine Methode, die ich entdeckt habe, und die uns helfen kann, unsere Probleme zu bewältigen, sodass sie nie wiederkehren.“ Er sagte: „Probiert sie aus, untersucht sie und findet selbst heraus, ob sie funktioniert oder nicht.“ Aber er warnte auch davor, keine Wunder zu erwarten, denn es erfordert einiges an harter Arbeit; es ist nicht so einfach. Er war wirklich ehrlich und versuchte nicht, uns etwas einzureden, indem er auf übertriebene Weise davon schwärmte. Suchen wir nach magischen Heilmitteln, werden wir sie im Buddhismus nicht finden. Vielleicht werden sich Wunder ereignen, aber auch Wunder haben ihre Ursachen. Und was ist denn an uns so besonders, dass wir denken, uns würden Wunder widerfahren?
Um Leiden zu beseitigen, wie es von Buddha erklärt wurde, ist es notwendig zu verstehen, was Buddha unter Leiden verstand. Es gibt viele verschiedene Arten von Leiden, wie das Leiden durch Krankheit und andere physische Ursachen, oder soziales, ökologisches und psychologisches Leiden. Worum ging es dem Buddha eigentlich?
Viele Systeme bieten ihre Lösungen für die eine oder andere Art von Problemen an. Es gibt Theorien und Methoden, um soziale, ökonomische oder politische Situationen zu verbessern. Buddha sprach jedoch von etwas viel Tieferem; ihm ging es um etwas, das all diesen verschiedenen Arten des Leidens zugrunde liegt.
Die vier edlen Wahrheiten
Buddha sprach von den vier edlen Wahrheiten. Was verstehen wir eigentlich unter einer „edlen Wahrheit“? Dieser Ausdruck bezieht sich auf eine bestimmte Gruppe von Menschen, den „Aryas“ auf Sankrit, was für gewöhnlich als „die Edlen“ übersetzt wird. Diese Übersetzung ist vielleicht umstritten, aber die „Aryas“ haben die wahre Situation des Lebens unbegrifflich erkannt und dabei handelt es sich um die vier Wahrheiten oder Tatsachen, die sie als wahr erachten, auch wenn gewöhnliche Menschen dies vielleicht nicht tun. Sie verstehen, was Leiden und seine Ursachen wirklich sind und dass es möglich ist, sie für immer zu beenden, sodass sie nie wieder auftreten. Die „Aryas“ haben den Geisteszustand, den wir entwickeln müssen, um uns von allen Leiden zu befreien, erkannt und in gewissem Grade verwirklicht und wissen, wie dieser Geisteszustand sein könnte, wenn alles Leiden beseitigt ist. Aus diesem Grund ist es notwendig, sich mit diesen vier edlen Wahrheiten zu befassen, um Buddhas Erklärungen zu verstehen, sowie was wahres Leiden ist und wie man es für immer loswerden kann. In diesem Zusammenhang gab Buddha Belehrungen zu den fünf Aggregaten.
Die erste edle Wahrheit: wahres Leiden
Was meinte Buddha denn wirklich, als er von Leiden sprach? Zunächst gilt es zu verstehen, dass Leiden auf Erfahrungen beruhen. Es ist die Erfahrung eines Gefühls, dass man, wenn man es einmal erfahren hat, loswerden will. Wir wollen es nicht immer wieder erfahren. Sehen wir uns diese Definition einmal an. Es ist eine weitreichende Definition, die viel beinhalten kann.
Menschen sind verschieden; manche finden bestimmte Dinge annehmbar, andere nicht. Jedoch hat jeder in seinem Leben schon etwas erlebt, das er als nicht hinnehmbar betrachtet. Es ist wichtig zu verstehen, dass es hier um die Art des Erfahrens von Dingen geht, die wir nicht mögen. Der Schwerpunkt liegt nicht so sehr darauf, was wir erfahren, sondern auf der Art und Weise, wie wir etwas erfahren, das nicht zufriedenstellend ist. Es ist nicht angenehm und daher wollen wir uns davon befreien.
Ist es zum Beispiel ein Problem, bestimmte Bakterien in unserem Verdauungssystem zu haben? Die Bakterien in unserem Magen sind vielleicht nicht wirklich das Problem und manche helfen uns sogar, etwas zu verdauen. Mit diesen Bakterien in unserem Magen fühlen wir uns richtig gut und gesund. In anderen Situationen kann es jedoch so sein, dass wir uns mit den gleichen oder etwas unterschiedlichen Bakterien krank fühlen. Das Problem liegt also darin, wie wir uns fühlen und nicht so sehr an den Bakterien selbst. Anders ausgedrückt ist das Problem unsere Erfahrung der Bakterien.
Darum geht es, wenn wir von Leiden reden. Es geht um unsere Art des Erfahrens von Dingen und welches Gefühl sie uns geben. Erfahren wir Leiden, fühlen wir uns nicht gut, sondern schrecklich und das ist eine Art des Gefühls, dem wir gern ein Ende setzen wollen. Auf diese Weise könnten wir fast all unsere Erfahrungen beschreiben, die wir nicht mögen und das meinen wir mit dem Leiden im Allgemeinen. Nehmen wir uns einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken.
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Das Leid des Leidens
Genauer gesagt sprach Buddha von den drei verschiedenen Arten des Leidens. Zunächst gibt es das „Leid des Leidens“, also das Problem des Leidens. Das ist die offensichtliche Art von Leiden und Unglück, mit der wir alle vertraut sind: wir sind verletzt, krank, oder ein geliebter Mensch verlässt uns oder stirbt. Es umfasst Schmerzen, Depression und all diese Dinge. Es ist ziemlich offensichtlich, dass es sich hierbei um etwas handelt, das wir nicht immer wieder erleben wollen.
Das Leiden der Veränderung
Die zweite Art von Problemen oder Leiden ist das so genannte „Leiden der Veränderung“ und das ist viel subtiler und nicht so einfach zu erkennen oder anzunehmen. Es handelt sich um unsere Erfahrung von gewöhnlichem Glücklichsein.
Lesen oder hören wir im Buddhismus davon, dass es sich bei Glück im Grunde um Leid handelt, ist das wirklich schwer zu verstehen. Heißt das, wir sollten ständig trübselig sein, oder dass es falsch ist glücklich zu sein und wir uns schuldig fühlen sollten, wenn wir glücklich sind? Geht es im Buddhismus darum, dass wir nichts mehr genießen sollten und alle schönen Dinge Sünde sind? Das ist keineswegs der Punkt im Buddhismus und aus diesem Grund sollten wir etwas genauer untersuchen, was Buddha tatsächlich lehrte.
Glücklichsein wird als eine Erfahrung definiert, von der wir uns wünschen, dass sie andauert und nicht aufhört. Daran ist nicht falsch, wenn wir uns wünschen, dass etwas, was wir mögen, weiter andauert. Das Problem ist, dass es nicht andauert und sich in der Tat ändert. Jeder Genuss, den wir erfahren, ändert sich und kommt zu einem Ende, meist schon eher als uns lieb ist. Das ist das Problem und es führt zu Leiden. Auch ist es so, dass wir nicht wissen, was als Nächstes kommt und es gibt diesbezüglich keine Gewissheit. Wird es eine weitere kurze Zeit des Glücklichseins geben? Werden wir uns jemals über etwas anderes freuen können oder werden wir nun in Depression verfallen? Mit dem Gefühl des Glücklichseins ist immer auch Unsicherheit verbunden.
Außerdem ist das Glück, das wir für gewöhnlich erfahren, nie ausreichend. Wir sind nie zufrieden und es ist nicht genug, einmal im Leben eine gute Mahlzeit zu bekommen. Wir würden es gern immer wieder erleben. Es ist nicht genug nur einmal Sex zu haben. Es ist nicht genug, die Worte: „ich liebe dich“ nur einmal zu hören. Wir wollen stets mehr und mehr; es ist nie genug. Beispielsweise bekommen wir nie genug Liebe. Gibt es jemanden, der genug Liebe bekommen hat?
Wenn das Glück, das wir erfahren, endet, was es leider tut, leiden wir immer, weil wir mehr davon haben wollen. Wir können jedoch nicht immer mehr davon haben, besonders nicht auf Abruf oder genau dann, wann wir es wollen. Auf diese Weise ist die Erfahrung des Glücks durch die verschiedenen angenehmen Dinge, die uns im Leben widerfahren, ebenfalls problematisch. Das ist es, was gemeint ist, wenn Buddha vom Leiden der Veränderung spricht.
Diese zwei Arten des Leidens – das Unglücklichsein und das gewöhnliche Glücklichsein – sind vergleichsweise einfach zu verstehen. Das zweite Leiden ist vielleicht nicht ganz so offensichtlich, aber wenn wir darüber nachdenken, ergibt es einen Sinn. Nehmen wir uns ein paar Minuten Zeit, um über all das nachzudenken und für uns selbst zu prüfen, ob es einen Sinn ergibt. Wenn wir solche Dinge analysieren, tun wir das nicht nur auf einer theoretischen oder abstrakten Ebene, sondern auf der Ebene der persönlichen Erfahrung.
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Alles umfassendes Leiden
Mit diesen ersten zwei Arten des Leidens, dem Leid des Leidens und dem Leid der Veränderung, haben wir über unsere normale Erfahrung des Unglücklichseins und des gewöhnlichen Glücklichseins gesprochen, die beide nicht anhalten, nie zufriedenstellend sind und uns keine Sicherheit geben. Die dritte, von Buddha erwähnte Art des Leidens ist das so genannte „alles umfassende Leiden“. Dies bezieht sich auf die Wirkungsweise, mit der wir diese ersten zwei Arten problematischer Gefühle aufrechterhalten.
Warum erfahren wir fortwährend die Höhen und Tiefen der ersten zwei Arten des Leidens? Ständig geht es auf und ab, und das wiederholt sich immer wieder. Buddha erklärte, dass es da etwas in jedem Augenblick unserer Erfahrung gibt, das diese Art von Problemen aufrechterhält. Das grundlegende, alles umfassende Problem ist, dass wir die ersten zwei Arten des Leidens jeden Augenblick kontinuierlich fortsetzen.
Und genau an diesem Punkt ist es wichtig, sich mit den fünf Aggregaten zu beschäftigen, denn durch die fünf Aggregate wird auf systematische Weise erklärt, was wir in jedem Moment erfahren. Mit dieser systematischen Methode des Analysierens und Verstehens eines jeden Augenblicks unserer Erfahrung, können wir die wahren Unruhestifter aufspüren und herausfinden, wodurch gewöhnliches Leid und unbefriedigendes Glück endlos fortgesetzt wird. Dies kann man in den fünf Aggregaten finden.
Zweite edle Wahrheit: die wahre Ursache des Leidens
Damit kommen wir zur zweiten edlen Wahrheit, nämlich dass es eine wahre Ursache für unser Leiden gibt. Es gibt eine wahre Ursache dafür, warum sich all diese Leiden ständig wiederholen. Das können wir in den fünf Aggregaten, oder anders ausgedrückt, innerhalb eines jeden Augenblicks unserer eigenen persönlichen Erfahrung finden.
Wo liegt das Problem innerhalb eines jeden Augenblicks unserer Erfahrung? Es ist unser mangelndes Gewahrsein bezüglich der Realität. Wir sind uns einfach nicht bewusst darüber. Normalerweise wird es mit „Unwissenheit“ (engl. ignorance) übersetzt, aber dieses Wort hat, zumindest im Englischen (und auch im Deutschen), einen etwas herablassenden Beigeschmack, als würde man auf jemanden herabschauen und sagen: „du bist dumm“. Wir sind jedoch nicht dumm, sondern wissen es einfach nicht. Es ist nicht so, als würde irgendetwas mit uns nicht stimmen, als wäre es unser Fehler und als wären wir schuldig. Vielmehr ist es so, dass es nicht wirklich offensichtlich ist, wie Dinge existieren und was die Realität ist, und daher sind wir uns dessen nicht bewusst.
Das Leben ist ziemlich verwirrend und es ist nicht so einfach zu verstehen, was in unserem eigenen, persönlichen Leben geschieht, ganz zu schweigen davon, was sich in der Welt abspielt. So sind die Dinge nun einmal. Da gibt es eine bestimmte Sachlage und es ist schwer zu erkennen, dass wir uns der Realität des Geschehens nicht gewahr oder bewusst sind. Dieses mangelnde Gewahrsein und die Verwirrung sind Bestandteile jedes einzelnen Augenblicks unserer Erfahrung und damit Teil des Schemas der fünf Aggregate.
Das ist recht interessant, nicht wahr? Es bedeutet, die Ursache unserer Probleme ist nichts Äußeres, sondern Teil unserer Weise, Dinge zu erleben. Denken wir für einen Augenblick darüber nach.
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Dritte edle Wahrheit: wahre Beendigung des Leidens
Die dritte edle Wahrheit ist, dass es möglich ist, eine wahre Beendigung dieser Probleme durch eine wahre Beendigung ihrer Ursachen zu erlangen. „Etwas zu beenden“ heißt hier, sich von etwas zu befreien, damit es nie wieder auftritt. Könnten wir Leiden für immer beseitigen, sodass sie nie wieder auftauchen, wäre das eine wahre Beendigung.
Haben wir beispielsweise in unserer Familie ein Problem, scheint es während wir schlafen für kurze Zeit verschwunden zu sein, wenn wir nicht gerade davon träumen. Während des Schlafes denken wir vielleicht nicht daran, aber sobald wir aufwachen, ist es wieder da. Auf diese Weise verschwindet das Problem der Verwirrung hinsichtlich der Realität nicht für immer, wenn wir schlafen gehen. Damit es jedoch nie wieder auftritt, müssen wir es auf aktive Weise entwurzeln.
Wenn davon die Rede ist, etwas für immer loszuwerden, wovon wollen wir es dann lösen? Wir lösen es von den fünf Aggregaten unserer Erfahrung. Es ist wichtig zu versuchen, sich klar darüber zu werden und zu verstehen, ob es möglich ist, fünf Aggregate der Erfahrung frei von Verwirrung zu haben. Man darf nicht vergessen, die fünf Aggregate sind lediglich ein Schema, um unsere Erfahrung verstehen zu können. Könnten wir, anders ausgedrückt, Dinge ohne Verwirrung erfahren? Es ist tatsächlich nicht einfach, sich das vorzustellen und erfordert Überlegung und Verständnis, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass es wirklich möglich ist.
Diese Frage können wir uns für später aufheben. Wichtig ist hier zu erkennen, dass die wahre Beendigung der Leiden und dessen Ursachen innerhalb des Rahmens der fünf Aggregate stattfindet. Vielleicht erinnert ihr euch daran: zu Beginn dieser Darlegung haben wir uns zunächst die Frage gestellt, warum es wichtig ist, etwas über die fünf Aggregate zu lernen.
Vierte edle Wahrheit: wahrer Pfadgeist
Die vierte edle Wahrheit bezeichnet man normalerweise als „wahren Pfad“, einen Pfad, der diese wahre Beendigung herbeiführt. Hier gilt es jedoch, die Terminologie, die wir benutzen, etwas sorgfältiger zu betrachten. Was ist die Bedeutung des Wortes „Pfad“? In unserer gewöhnlichen Sprache ist ein Pfad etwas, das wir beschreiten, um an einen Ort zu gelangen. Das klingt, als ginge es um etwas Äußeres, wie die einzelnen Schritte in einem Studienkurs oder in der Meditation, denen wir folgen müssen. Darum geht es jedoch nicht, sondern um einen Geisteszustand, einen „Pfadgeist“, der uns als Pfad zu unserem spirituellen Ziel bringt. Das Wesentliche ist, dass es sich um einen Geisteszustand handelt. Es ist ein Verständnis, das eine wahre Beendigung der Verwirrung und Unwissenheit bewirkt, wenn wir es entwickeln.
Es ist ein Geisteszustand, der ein klares, korrektes Verständnis der Wirklichkeit ist. Je mehr wir mit ihm vertraut werden, desto mehr können wir uns von der Verwirrung befreien, sodass sie nie wieder auftritt. Und das geschieht, indem wir unserem fehlerhaften Verständnis entgegenwirken und es so beseitigen. Das korrekte Verständnis ist dann anstelle der Verwirrung in jedem Augenblick unserer Erfahrung gegenwärtig. Anstatt sich nicht bewusst darüber zu sein, was in jedem Augenblick unseres Lebens geschieht, sind wir uns bewusst darüber.
Das ist es, was wir anstreben. Entweder wir sind uns bewusst darüber oder nicht; wir können nicht beides gleichzeitig haben. Je mehr wir die Realität korrekt verstehen, desto weniger werden wir verwirrt sein. Wir ersetzen die Verwirrung mit dem sich gegenseitig ausschließenden Gegenteil, dem korrekten Verständnis; und das ist ein Geisteszustand, der als ein Pfad wirkt. Früher oder später führt er dazu, diese Verwirrung vollständig zu ersetzen, sodass sie niemals wieder auftreten kann. Dieses Verständnis, dieser Geisteszustand, ist nicht nur die Ursache dafür, all die Verwirrung zu beseitigen, sondern wird auch das Ergebnis dessen sein, was wir am Ende erfahren werden.
Darum geht es, wenn wir vom so genannten wahren Pfad, dem wahren Pfadgeist, reden. Wo tritt dieser wahre Pfadgeist auf? Er tritt in unseren fünf Aggregaten auf. Jeder Augenblick unserer Erfahrung soll bewusst und klar sein, und nicht voller Verwirrung und anderer Dinge. Alles klar?
Lassen wir das einen Moment einwirken.
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Die Beziehung zwischen den fünf Aggregaten und den fünf Arten tiefen Gewahrseins
Ersetzen wir unsere Verwirrung vollends mit korrektem Verständnis und ist dieses korrekte Verständnis in jedem einzelnen Moment unserer Erfahrung präsent, wird die Natur, wie wir Dinge erleben, eine ganz andere sein. Es wird auf die Weise erklärt, dass wir nicht länger unsere so genannten „gewöhnlichen“ fünf Aggregate haben, sondern Dinge vielmehr in Bezug auf die fünf Arten des tiefen Gewahrseins, die „fünf Buddhaweisheiten“, erleben. Anders ausgedrückt: Jeder Augenblick unserer Erfahrung besteht also nicht mehr aus dieser ersten Gruppe, den fünf Aggregaten, sondern aus den fünf Arten tiefen Gewahrseins.
In gewissem Sinne ist also jede dieser fünf Arten tiefen Gewahrseins eine Umwandlung eines entsprechenden Aggregates. Die fünf Arten tiefen Gewahrseins sind:
- das spiegelgleiche tiefe Gewahrsein – das Aufnehmen aller Informationen, wie ein Aggregat der Formen,
- das gleichsetzende tiefe Gewahrsein – sich über die üblichen Eigenschaften von Dingen bewusst zu sein, wie ein Aggregat eines gewissen Grades an Glücksgefühlen gegenüber allem,
- das individualisierende tiefe Gewahrsein – sich über die spezifischen Unterschiede von Dingen bewusst zu sein, wie ein Aggregat des auseinanderhaltenden Gewahrseins,
- das vollbringende tiefe Gewahrsein – zu wissen, was getan werden muss, wie ein Aggregat anderer beeinflussender Faktoren,
- das tiefe Gewahrsein der Wirklichkeitssphäre oder des Dharmadhatu – zu wissen wie die Dinge sind, sowohl konventionell als auch auf der tiefsten Ebene, wie ein Aggregat von Bewusstseinsarten.
Auf dieses Thema werden wir jetzt nicht weiter eingehen. Es geht nur darum darauf hinzuweisen, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der Thematik der fünf Arten tiefen Gewahrseins und der Thematik der fünf Aggregate gibt. Die fünf Aggregate sind eine Art des Verstehens unserer so genannten „ungereinigten“ Erfahrung von Dingen, die sich auf unsere Erfahrung von Dingen bezieht, die noch nicht von Verwirrung gereinigt wurden. Die fünf Arten tiefen Gewahrseins sind eine Weise, jeden Augenblick unserer gereinigten Erfahrung zu beschreiben.
Zusammenfassung
All unsere Probleme und Leiden im Leben kann man in Bezug auf die fünf Aggregate verstehen, die unsere Erfahrung ausmachen. Diese fünf Aggregate sind ein analytisches Organisationsschema zum Verstehen unserer Erfahrungen. Die wahren Ursachen unserer Probleme kann man innerhalb der fünf Aggregate finden. Umso genauer wir verstehen, was unsere Erfahrung ausmacht, desto besser werden wir diese Unruhestifter identifizieren können. Ohne dieses Verständnis ist unsere Erfahrung nur eine undifferenzierte Verworrenheit.
Wir können nicht aufhören, Dinge zu erfahren, aber wir wollen der problematischen Komponente ein Ende setzen, die Teil dessen ist, wie wir Dinge erleben. Der Zustand, sich von diesem Unruhestifter zu lösen, erfolgt im Rahmen der fünf Aggregate und auch der Geisteszustand, mit dem man sich von dem Unruhestifter löst, befindet sich innerhalb der fünf Aggregate. Der Zustand der Erkenntnis ist jederzeit Teil der fünf Aggregate, aber anstelle der fünf Aggregate, die unsere Erfahrung ausmachen, werden die fünf Arten tiefen Gewahrseins da sein, um unser Leben, frei von allen Leiden, besser zu verstehen und in den Griff zu bekommen.