Das Uttaratantra: Die ersten beiden Ursachen, welche die Buddha-Natur bereinigen

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Wiedergeburt, Befreiung und das Konzept eines Schöpfergottes in den indischen Lehrsystemen

In Indien gab es sowohl vor als auch nach der Zeit des Buddha viele Lehrsysteme. Die Charvaka-Schule zum Beispiel akzeptiert vergangene und zukünftige Leben nicht. Sie behauptet, dass der Geist bzw. das Gewahrsein etwas ist, das ausschließlich auf Grundlage des Körpers existiert und daher mit ihm aufhört zu existieren. 

In anderen Systemen wiederum werden vergangene und zukünftige Leben durchaus vertreten. Dazu gehört die Vaisheshika-Schule, in der es eine Abteilung gibt, welche den Standpunkt vertritt, dass die Makel des Geistes in seiner Natur liegen und daher nicht entfernt werden können. Aus diesem Grund geht man hier nicht davon aus, dass eine Befreiung davon möglich ist. Im Gegensatz dazu gibt es innerhalb der Schulen der indischen Lehrsysteme, die die Möglichkeit der Befreiung annehmen, solche, die behaupten, dass Befreiung bzw. Moksha ein räumlicher Ort, eine Umgebung oder ein Himmel ist. In der Philosophie der Jain-Schule zum Beispiel heißt es, dass man mit dem Erreichen des Zustandes der Befreiung in ein reines Land kommt, das die Form eines umgedrehten weißen Regenschirmes hat. 

In der Samkhya-Schule der indischen Philosophie gibt es die Darstellung der fünfundzwanzig Klassen erkennbarer Phänomene. Eine von diesen ist zum Beispiel die Urmaterie – prakṛti im Sanskrit. Wenn all die verschiedenen Aspekte oder Manifestationen dieser Urmaterie zurück in die Sphäre der Urmaterie aufgelöst werden, erreicht man in diesem Zustand die Befreiung. 

Ein Unterscheidungsmerkmal der indischen Lehrsysteme ist auch, ob die Existenz eines Schöpfers angenommen wird oder nicht. Die Jains und ein Teil der Samkhya-Schule weisen das Konzept eines Schöpfergottes zurück, wohingegen manch andere eine solche Existenz durchaus vertreten. Alle diese Denkschulen haben jedoch gemeinsam, ein unabhängig existierendes Selbst zu postulieren. 

Die vier Kennzeichen als Grundlage der buddhistischen Lehrsysteme

Der Buddhismus selbst ist ein Lehrsystem, das sich durch seine Auffassung der Realität definiert. Buddhistische Schulen sind somit jene, die vier Kennzeichen vertreten, um eine auf den erleuchtenden Worten des Buddhas basierende Auffassung zu kennzeichnen – die sogenannten „vier Siegel“ oder „Kennzeichen des Dharma“ (tib. chos-kyi sdom-pa bzhi). Dies gilt für alle buddhistischen Schulen mit Ausnahme der Vastiputriyas, einer Unterschule der Vaibhashikas. Mit Ausnahme dieser Schule akzeptieren alle buddhistischen Traditionen diese vier Kennzeichen. 

Dies vier Kennzeichen sind:

  • alle beeinflussten oder bedingten Phänomene sind nichtstatisch (unbeständig),
  • alle befleckten Phänomene, d.h. alles mit Verwirrung Assoziierte, sind mit Problemen verbunden, da Leiden in deren Natur liegt,
  • alle Phänomene sind leer und ohne unmögliches Selbst, und
  • Nirvana, die Loslösung aller Probleme, ist ein Zustand von Stille und Frieden.

Die vier Ursachen für die Beseitigung der flüchtigen Makel von unserer Buddha-Natur, dem essenziellen Faktor

Die eigentliche Quelle – der Gegenstand unseres Textes –, der essenzielle Faktor, der Buddhaschaft ermöglicht, kann durch folgende Dinge von seinen flüchtigen Makeln bzw. Befleckungen bereinigt werden:

  • inbrünstige Achtung,
  • unterscheidendes Gewahrsein,
  • vertiefte Konzentration, und
  • Mitgefühl und intensive liebevolle Güte.

Inbrünstige Achtung vor Nirvana und Widerwillen gegen Samsara

Man fragt sich vielleicht, was mit dem ersten Punkt, inbrünstige Achtung oder Bewunderung für Nirvana, gemeint ist. Wenn im Buddhismus von Dharma oder vorbeugenden Maßnahmen die Rede ist, geht es in erster Linie um den Zustand des Nirvana, der Befreiung von allen Problemen. Die vorbeugende Maßnahme, die man anstrebt, ist das Erreichen des Nirvana, dem Zustand der Freiheit, in dem alles Problematische, alles Leid, zur Ruhe gekommen ist.

Wie Aryadeva in seiner „Abhandlung in 400 Versen“ sagt:

(VIII.12) Wie kann jemand ohne Widerwillen gegen diese [samsarische Existenz] Respekt für [den Zustand] des Friedens empfinden?

Wenn man keine Abscheu gegenüber der zwanghaften Existenz in Samsara empfindet, wird man nicht dazu in der Lage sein, Nirvana wirklich zu erreichen. Man wird dem Nirvana gegenüber keine inbrünstige Achtung oder Respekt empfinden. In gewissem Sinne ist ein religiöser Praktizierender jemand, der unzufrieden ist, der spürt, dass etwas nicht stimmt und sich verloren fühlt. Daraus entwickelt sich der Wunsch, Anstrengungen zu unternehmen und etwas dagegen zu tun. 

Das ist die Grundlage des Fortschritts, ohne die eine Entwicklung nicht möglich ist. In Afrika oder an einigen abgelegenen Orten in Indien ist die Tagesroutine der Menschen immer noch so wie vor eintausend Jahren. Dort hat keine Entwicklung stattgefunden; aber bei euch im Westen wollen die Leute immer noch mehr. Ist es nicht so? Fortschritt findet dort jedoch nur auf materielle Weise statt. Wenn man sich entwickeln will, ist eine gewisse Unzufriedenheit sehr wichtig, um wachsen zu können; dabei spielt auch die Erkenntnis der Tatsache des Leidens eine Rolle. 

Die vier edlen Wahrheiten

Die erste der vier edlen Wahrheiten ist die Tatsache des wahren Leidens, der Natur von Samsara. Es gibt drei Kategorien von Leiden. Die erste Kategorie können wir alle akzeptieren: Leid aufgrund von Schmerzen und Unglücklichsein. Nicht nur Menschen, sondern auch Tiere möchten dies vermeiden, nicht wahr?

Die zweite Art ist das Leid der Veränderung. Dies bezieht sich üblicherweise auf angenehme Dinge, die wir erreichen wollen, und auf unsere gewöhnlichen Glücksgefühle oder Vergnügen. In ihrer tiefsten Natur sind sie ebenfalls von Leid behaftet. Sind wir zu sehr in ihnen gefangen, werden sie zur Ursache für Frustration. Wenn wir uns zum Beispiel einen Fernseher zulegen möchten, falls wir keinen haben, und wir ihn dann bekommen, fühlen wir uns glücklich. Wir opfern manchmal sogar unseren Schlaf, um die ganze Nacht davor zu sitzen. Dann vergeht ein Tag, zwei Tage, eine Woche, dann ein paar Monate, und schon haben wir das Gefühl, dass der gleiche Fernseher nicht mehr so gut ist. Diese Art von Frustration entwickelt sich dann zu einer Art Abneigung. Es ist immer noch derselbe Gegenstand – oder dieselbe Person –, aber dann mögen wir sie nicht mehr. Das ist das Anzeichen für das Leid der Veränderung, die zweite Kategorie des Leidens. Dazu gehören die meisten weltlichen Freuden. Es ist wichtig, sich dem bewusst zu sein. Auf dieser Erkenntnis aufbauend können wir uns darum bemühen, in eine andere Richtung zu gehen. 

Die dritte Kategorie des Leidens wird durch unseren Körper beispielhaft aufgezeigt. Da die Aggregat-Faktoren unserer Erfahrung, die wir angenommen haben, unter dem Einfluss von anderen Dingen, nämlich unserem zwanghaften, karmischen Verhalten und unseren störenden Emotionen, stehen, sind diese Aggregate selbst in ihrer Natur leidbehaftet, wie es auch im „Pramanavarttika“ („Kommentar über gültige Wahrnehmung“) steht. 

Unbeständigkeit

Aus dem Verständnis von Unbeständigkeit, dem Nichtstatischsein der Phänomene, wächst die Erkenntnis des Leidens, woraus wiederum die Erkenntnis der Freiheit von einem Selbst, die Abwesenheit wahrer Identität, entsteht. Unbeständigkeit hat zwei Ebenen: grobe Unbeständigkeit – die einfache Tatsache, dass manche Dinge zu einem Ende kommen – und subtile Unbeständigkeit. Subtil bedeutet, dass die Dinge in jedem Moment vergehen bzw. zerfallen. Wird etwas beeinflusst, bedingt oder zusammengesetzt, ist es vergänglich. Mit anderen Worten: wenn eine Sache, sowie auch dessen Bedingungen erschaffen werden, ist es ihnen bestimmt zu vergehen. 

Es heißt, dass alles Erschaffene unbeständig ist. Was bedeutet das nun? Erschaffenes bezieht sich auf das, was durch Ursachen und Bedingungen in Erscheinung tritt. Solche Dinge scheinen zu existieren und wirklich da zu sein, ohne sich zu verändern; sie scheinen nicht zu vergehen oder sich auf ihren Zerfall zuzubewegen. Tritt etwas jedoch durch Ursachen und Bedingungen in Erscheinung, sind es diese Ursachen und Bedingungen, die dieses Phänomen dann auch zu seinem Zerfall führen werden. Das Entstehen selbst bedeutet dessen späteren Zerfall. 

Die Unbeständigkeit der Phänomene ist nichts Erfundenes oder etwas, das außerhalb der Natur der Phänomene liegt. Sie ist nicht von irgendeinem weiteren Faktor verursacht, sondern ist inhärent in bedingten Phänomenen vorhanden. Würde die Ursache für Zerfall den Phänomenen nicht innewohnen, sondern von außen kommen, könnten einige vergängliche Phänomene ihrem Zerfall entgehen, wenn ihnen irgendein positiver Impuls gegeben würde. Dies ist allerdings nicht der Fall – alle Dinge sind unbeständig. 

Die Tatsache, dass sich Dinge in jedem Moment verändern bzw. nur für den Moment existieren, ist auch den Kernphysikern wohlbekannt. Was Materie betrifft, sind Buddhisten und moderne Physiker einer Meinung. Alle zusammengesetzten bzw. bedingten Phänomene unterliegen ihren Ursachen. 

Bei den Aggregat-Faktoren unserer Erfahrung, wie unserem Körper etc., heißt es, dass diese unter der Macht ihrer Ursachen stehen, was sich darauf bezieht, dass sie unter dem Einfluss von zwanghaftem, karmischen Verhalten und störenden Emotionen und Geisteshaltungen stehen. 

Störende Emotionen beseitigen

Störende Emotionen und Geisteshaltungen sind geistige Faktoren, die, sobald sie aufkommen, unseren Geist unruhig machen und aufwühlen. Dies ist besonders deutlich bei Ärger, Eifersucht und negativen Gedanken im Allgemeinen. Kommen diese in unserem Geist auf, werden wir sofort unglücklich und haben ein unangenehmes Gefühl. 

Es ist ziemlich armselig, wenn wir zulassen, dass die Faktoren unserer Erfahrung, unsere Aggregate, unter den Einfluss dieser unreinen Ursachen – die störenden Emotionen und Geisteshaltungen – kommen. Wenn es heißt, dass alle bedingten Phänomene Leiden sind, bezieht sich bedingte Phänomene auf alles, was unter dem Einfluss von Ursachen steht. Die Ursachen wiederum sind das, was unter dem Einfluss von zwanghaftem, karmischen Verhalten und störenden Emotionen steht, die uns Probleme und Leid bringen. Deshalb heißt es, dass Unbeständigkeit zu Leiden führt.

Die Erkenntnis dieser Natur des Leidens ist der entscheidende Punkt. Sind wir zu dieser Erkenntnis gelangt, ist es klar, dass die einzige Alternative darin besteht, Befreiung davon zu erlangen und einen Zustand des Friedens zu erreichen. Solange wir unter dem Einfluss negativer Gedanken stehen, werden wir Leid erfahren. Die Beseitigung negativer Gedanken ist deshalb die einzige Möglichkeit, Leiden loszuwerden; und das ist dann Nirvana – ein Zustand des Friedens. 

Dies ist der Weg, um Unzufriedenheit gegenüber unserer aktuellen Situation zu entwickeln; ein Weg, den Geist zu trainieren und auf etwas anderes auszurichten. Unsere übliche Lebenseinstellung ist kurzsichtig. Besonders in der modernen Gesellschaft, denke ich, ist dies besonders ausgeprägt. Man braucht ständig irgendwas, hier und auf der Stelle. Niemand kann bis zum nächsten Jahr oder der nächsten Generation warten. Die Leute sind ziemlich ungeduldig, nicht wahr? Unsere gewöhnliche Einstellung und Lebensweise basieren ganz auf dieser Kurzsichtigkeit. Bei religiös Praktizierenden, in diesem Fall Buddhisten, ist die Einstellung weitsichtiger und langfristiger. 

Gründliche Untersuchung, um negative Gedanken zu beseitigen

Als nächstes ist es wichtig, gründlich zu untersuchen, ob wir negative Gedanken loswerden können oder nicht. Das ist die große Frage. Worüber wir bisher gesprochen haben, bezieht sich auf die erste und zweite edle Wahrheit, das wahre Leiden und dessen wahre Ursachen. Ob es möglich ist, negative Gedanken zu beseitigen oder nicht, damit beschäftigt sich die dritte edle Wahrheit, die wahre Beendigung. 

Wenn wir unser Innenleben, unsere negativen Gedanken, gründlich betrachten, können wir feststellen, dass, wenn solche Gedanken auftauchen, ihnen immer eine Einstellung zugrunde liegt. Wenn wir beispielsweise in eine ungünstige Situation kommen, werden wir manchmal ärgerlich. Grundlage dieses Ärgers ist ein starkes „Ich“-Gefühl: „Ich“ bin mit diesem Problem konfrontiert. Negative Gedanken und Ärger sind dann vermeintliche Verteidiger oder Beschützer, untermauert von diesem starken Gefühl des „Ichs“. In solchen Momenten ist das „Ich”, wie in „ich“ möchte Befreiung erlangen, „ich“ möchte dies und das, besonders präsent. Es scheint etwas Solides, Festes zu sein. Dies ist eine falsche Vorstellung – der eigentliche Unruhestifter. 

Gültige und ungültige Arten der Wahrnehmung

Wenn wir von Geist sprechen, gibt es gültige und ungültige Arten der Erkenntnis von Phänomenen. Zu den ungültigen Arten der Erkenntnis gehört die Vermutung (tib. yid-dpyod), bei der wir uns über das, was in unserer Wahrnehmung erscheint, unsicher sind. Bei verzerrter Wahrnehmung (tib. log-shes) wird etwas auf falsche, verzerrte Weise kognitiv wahrgenommen. Sich das „Ich“ als etwas so Solides, Starkes vorzustellen, auf das man mit dem Finger zeigen und das für sich allein auf eigenen Füßen stehen könnte, ist eine verzerrte Auffassung des Selbst, eine verzerrte Wahrnehmung. 

Woher wissen wir nun, dass es sich um eine verzerrte, konzeptuelle Wahrnehmung handelt oder nicht? Die Antwort ist: mithilfe des angedeuteten Objekts, dem wahrgenommenen Objekt. Würde das Objekt, zu dem unser Geist ein Konzept formt, das angedeutete Objekt, tatsächlich existieren, würde es immer klarer und deutlicher werden, je mehr wir danach suchen. Wenn wir jedoch nach dem angedeuteten Objekt des konzeptuellen Gedankens, mit dem wir das solide „Ich“ wahrnehmen, suchen, werden wir da nichts finden.  

Sagen wir, dass man da nichts findet, ist das nicht in nihilistischem Sinne gemeint. Bei konzeptuellen Gedanken ist es jedoch immer so, dass das angedeutete Objekt nicht zu finden ist und daher keinem existierenden Phänomen entspricht. Da dem so ist, ist unsere Wahrnehmung offensichtlich verzerrt. 

Verzerrte Wahrnehmung, die sich bzgl. ihres Wahrnehmungsobjekts, ihres angedeuteten Objekts, irrt, wird generell von ihrem Gegenteil außer Kraft gesetzt. Sie wird von einer konzeptuellen Erkenntnis entkräftet, die auf völlig entgegengesetzte Weise etwas als Objekt aufnimmt. 

Eine solche konzeptuelle Erkenntnis basiert auf einer Argumentationskette, auf deren Grundlage Überzeugung entsteht. Dieser überzeugte Geisteszustand entkräftet dann die vorherige verzerrte Fehlwahrnehmung. Dies ist nicht nur in Bezug auf unser eigenes Selbst der Fall, sondern auch in Bezug auf äußere Phänomene. Was immer uns an Gegenständen erscheint, scheint wahrhaft, in sich selbst begründete Existenz zu besitzen, als ob es aus sich aus heraus existieren würde. 

Ein Verständnis der Abwesenheit von einem Selbst entwickeln

Die Abwesenheit eines Selbst und dem Fehlen von wahrer Identität kann man auf zwei Ebenen betrachten. Zunächst ist da die Ebene unseres Selbst, das heißt die Abwesenheit eines unmöglichen „Ichs“ – die Tatsache, dass das Selbst bzw. die Person nicht eigenständig erkennbar sind und nicht wie ein Herrscher mit Autorität über die Aggregate auf eigenen Füßen stehen können. Das „Ich” hat diese eigenständig erkennbare Existenz nicht; es ist frei davon. 

Auf der subtileren Ebene können wir dann alle Phänomene einschließlich des Selbst einbeziehen. Obwohl alle Phänomene den Anschein erwecken, wahrhaft begründete Existenz zu besitzen, ist dies nicht der Fall – sie existieren nicht aus ihrer eigenen Kraft heraus. Dies ist die subtilere Ebene der Abwesenheit eines Selbst aller Phänomene: allen Dingen fehlt wahre Identität. 

Darum geht es auch, wenn wir eine schöne Blume, eine filigrane Armbanduhr oder einen attraktiven Menschen sehen. 

Betrachten wir eine Blume oder nehmen andere Gegenstände mit unseren Sinnen wahr, ist das Greifen nach ihrer wahrhaft begründeten Existenz zu dem Zeitpunkt nicht unbedingt hilfreich. Die Dinge scheinen jedoch in der Tat wahrhaft zu existieren. Wenn entweder Anhaftung oder Abneigung in Bezug auf ein wahrgenommenes Objekt in uns aufkommen, bestätigt die störende Emotion zu dem Zeitpunkt, dass das Objekt wahrhaft begründete Existenz zu besitzen scheint; sie stimmt diesem Anschein zu. Dies geschieht, wenn man nach wahrhaft begründeter Existenz greift: durch das Greifen wird bestätigt bzw. akzeptiert, dass die Erscheinung der wahrhaft begründeten Existenz des Gegenstands tatsächlich der Realität entspricht. 

Verzerrte und gültige Wahrnehmung

Das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz ist der subtilste und letztendliche Unruhestifter. Üblicherweise nennen wir das die letztendliche Unwissenheit. Es die Grundlage für Samsara, Grundlage für sich unkontrolliert wiederholende Existenz, Grundlage für das Gegenteil von Befreiung. Gleichzeitig ist dieses Greifen eine verzerrte Art der Wahrnehmung. Analysieren wir alle Phänomene mit grobem Feststellen (tib. rtog-pa) und subtilem, klarem Unterscheidungsvermögen (tib. dpyod-pa) auf ihre Existenzweise hin unter Verwendung von Logik, ist es im Allgemeinen so, dass wir beweisen, verstehen und erkennen können, dass die Dinge nicht auf unabhängige Weise existieren. 

Wir können es uns selbst klar machen, dass unser Geist, welcher nach der wahrhaften und unabhängigen Existenz der Phänomene greift, die Realität verzerrt. Durch die konzeptuelle Wahrnehmung wird etwas als Objekt erfasst, ein Objekt, das ihr erscheint – das sogenannte angedeutete Objekt (mit anderen Worten, das Objekt, über das man konzeptuelle Gedanken entwickelt). Ein solches Objekt, mit dem der Geist sich beschäftigt, kann beispielsweise etwas sein, das mit gültiger Sinneswahrnehmung wahrgenommen wird. Bei konzeptueller Wahrnehmung, zum Beispiel von einer Blume, gibt es zwei Aspekte. Im ersten Moment sind beide Aspekte dieser Wahrnehmung auf ein und dasselbe Objekt, nämlich die Blume, gerichtet. Der eine Aspekt der konzeptuellen Wahrnehmung nimmt die wahrhaft existierende Blume als angedeutetes Objekt; für den anderen ist es die nicht wahrhaft bzw. inhärent existierende Blume. 

Das angedeutete Objekt der wahrhaft existierenden Blume besitzt keinerlei Grundlage; es wird durch nichts gestützt und ist demnach keine richtige Wahrnehmung – es ist eine verzerrte Wahrnehmung. Wenn wir untersuchen, ob es etwas gibt, das die Vorstellung von einer nicht wahrhaft existierenden Blume als angedeutetes Objekt unterstützt, werden wir feststellen, dass dies von Logik und Argumenten gestützt ist – es ist eine gültige Erkenntnis. Diese beiden Arten der Wahrnehmung sind ziemlich unterschiedlich in Bezug darauf, ob das angedeutete Objekt der konzeptuellen Wahrnehmung durch logische Argumente bestärkt wird oder nicht. Ist dies der Fall, handelt es sich um eine gültige Wahrnehmung; ist dies nicht der Fall, dann ist es eine verzerrte Wahrnehmung.

Diese beiden Arten der Wahrnehmung stehen in einer Beziehung, in der eine Seite die andere entkräftet. Die Wahrnehmung, die durch Logik und ein gültiges Erkenntnismittel untermauert wird, hat eine viel größere Kraft als jene ohne eine solche Grundlage. In der Anfangsphase fühlt es sich für den Praktizierenden jedoch so an, als wäre die andere Wahrnehmung stärker, obwohl sie keine stichhaltige Grundlage besitzt. 

Aufgrund des Zeitaspekts ist sie so stark. In diesem Leben und, aus buddhistischer Perspektive, in unendlich vielen vergangenen Leben, war diese falsche Vorstellung schon immer da. Aufgrund dieses langen Zeitraums ist sie besonders tief in unserem Geist verankert. Die andere Art der Wahrnehmung, die gültige Wahrnehmung, ist, obwohl sie eine stichhaltige Grundlage hat, so etwas wie ein neuer Freund; die andere Wahrnehmung ist ein sehr alter Freund, der einen viel stärkeren Einfluss auf uns hat als unser neuer Freund. Es ist alles eine Frage des Zeitraums. Das Potenzial ist da und das richtige Verständnis hat alle Macht, das falsche zu zerstören. Da es jedoch sehr neu und noch nicht so lange da ist, ist es für den Moment noch sehr schwach. Es ist jedoch am Wachsen, nicht wahr?

Geistiges und körperliches Training

Die Qualitäten bzw. Fähigkeiten, die wir durch körperliches Training auf Grundlage unseres Körpers erlangen können, beispielsweise beim Athletiktraining, sind von sehr oberflächlicher Natur. Außerdem sind körperlichen Eigenschaften nicht grenzenlos bzw. unendlich. Warum ist das so? Weil sie auf einem menschlichen Körper beruhen. Die Qualitäten, die durch das Training des Geistes entstehen, sind viel subtiler. 

Wenn wir über die Qualitäten des Geistes sprechen, ist deren Grundlage etwas, das nicht vergeht wie der Körper: Deren Grundlage ist unser Geist, ein Kontinuum von Gewahrsein bzw. Bewusstsein, das ewig andauert. Diese Basis ist viel stabiler und beständiger. Die Qualitäten des Geistes, deren Grundlage etwas sehr Stabiles und Dauerhaftes ist, sind etwas, das grenzenlos wachsen kann. 

Die Qualität des Geistes, um die es an dieser Stelle geht, ist das Verständnis der Abwesenheit einer wahren Identität unserer Person und aller Phänomene. Hat eine Qualität eine stabile Grundlage, wie unseren Geist, und ist dazu noch von gültiger Argumentation und Logik gestützt, kann sie sich grenzenlos entwickeln. Mit dieser Grundlage können wir uns dann langsam von diesem schlechten Freund verabschieden, unserem nach wahrhafter Existenz und nach wahrhaft existierender Identität greifenden Geist. 

Die dritte edle Wahrheit

Dies ist die Erklärung der wahren Beendigung. Von diesem Standpunkt aus betrachtet werden wir, wenn wir auch nur ein Jahr lang versuchen, unsere negativen Gedanken wie Ärger oder Anhaftung zu minimieren, eine Veränderung sehen können. Auf diese Weise erklärt man die Beendigung, indem man die tatsächliche Möglichkeit dieser Beendigung erfährt. Niemand möchte leiden, und wenn ein solches Ziel tatsächlich möglich ist, bei dem es zu einer vollkommenen Beendigung des Leidens kommt, ist das etwas, das zu erreichen sich lohnt. 

Die vierte edle Wahrheit

Dann gibt es noch die vierte edle Wahrheit, der wahre Pfad bzw. Pfad des Geistes. Wenn man etwas nicht nur mit bloßem Glauben oder blinder Akzeptanz, sondern mit Begründung als gültig erkennt, ist dies der Weg, um inbrünstige Achtung bzw. Bewunderung für die vorbeugenden Maßnahmen, den Dharma, zu entwickeln; dies ist der Weg des unterscheidenden Gewahrseins, der Weisheit. 

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