Geistesfaktoren und andere buddhistische Theorien der Wahrnehmung

Geistesfaktoren 

Es gibt das Primärbewusstsein und Geistesfaktoren.

In jeder Wahrnehmung gibt es immer diese zwei Arten von bewussten Phänomenen, die fünf kongruente Merkmale (tib. mtshungs-ldan lnga) miteinander teilen. Sie teilen ein gemeinsames (1) Objekt (tib. yul), (2) eine Stütze (tib. rten), (3) einen geistigen Aspekt (tib. rnam-pa), (4) Zeit (tib. dus) und (5) eine Ursprungsquelle (tib. rdzas).

In einer bloßen visuellen Wahrnehmung eines blauen Tonkruges hat man sowohl ein primäres visuelles Bewusstsein, als auch Geistesfaktoren, wie auseinanderhaltendes Gewahrsein, Empfinden eines Grades von Glück und so weiter. [1] Sie alle erfassen den blauen Tonkrug als ihr gemeinsames Objekt. Sie entstehen aus der gleichen fokalen Bedingung. [2] Sie teilen auch eine gemeinsame vorherrschende Bedingung, denn sie alle stützen sich auf die kognitiven Sensoren der lichtempfindlichen Zellen der Augen.

[3] Sie nehmen den gleichen Aspekt des Objektes an, das in etwa wie ein geistiges Hologramm erscheint. Legt man zum Beispiel ein Stück farbloses Glas auf ein blaues Tuch, nimmt das Glas den gleichen blauen Aspekt wie das Tuch an. Legt man es auf ein gelbes Tuch würde es einen gelben Aspekt annehmen, obwohl das Glas selbst weder blau noch gelb ist. Ein bewusstes Phänomen ist wie ein farbloses Stück Glas. Obwohl es selbst keine physischen Eigenschaften hat, nimmt es den Aspekt eines Objektes an, das ihm erscheint und tut dies, indem es etwas wie ein geistiges Hologramm des Objektes hervorbringt. In jedem spezifischen Moment der Wahrnehmung nehmen somit das Primärbewusstsein und alle begleitenden Geistesfaktoren den gleichen Aspekt des Objektes an, der als ein geistiges Hologramm erscheint.

[4] Sie treten gleichzeitig auf, obwohl sie, genauer gesagt, nicht wirklich zeitgleich sind. Und [5] sie alle entstehen aus Tendenzen, die Zuschreibungen des Geisteskontinuums als dessen Ursprungsquelle sind, jedoch nicht alle aus der gleichen karmischen Tendenz, wie im Chittamatra behauptet wird, sondern aus ihren individuellen Tendenzen. Laut der Chittamatra-Erklärung teilt das Objekt der Wahrnehmung als ein geistiges Hologramm auch die gleiche Ursprungsquelle, wie die Weisen, sich dessen gewahr zu sein, in der Wahrnehmung.

Primärbewusstsein, der Geist und das Bewusstsein sind Begriffe, die sich auf dasselbe beziehen. Wird es unterteilt, gibt es sechs Arten, vom visuellen Bewusstsein bis zum geistigen Bewusstsein.

Mit dem Primärbewusstseins (tib. sems), was ein Synonym für den Geist (tib. yid) und das Bewusstsein (tib. rnam-shes) ist, sind wir uns einfach der Wesensnatur (tib. ngo-bo) von allem bewusst, was gültig wahrgenommen werden kann. Die Wesensnatur bezieht sich hier darauf, ob etwas ein Anblick, ein Klang, ein Geruch, ein Geschmack, eine Tastempfindung oder ein geistiges Objekt ist. Die sechs Arten, die von den Sautrantikas vertreten werden, sind das visuelle Bewusstsein, das akustische Bewusstsein, das Geruchsbewusstsein, das Geschmacksbewusstsein, das taktile Bewusstsein und das geistige Bewusstsein.

Zusätzlich dazu gibt es die Arten des Hauptgewahrseins (tib. gtso-sems), die Gruppen eines Primärbewusstseins und bestimmten Geistesfaktoren sind. Bodhichitta ist beispielsweise ein Primärbewusstsein, das aus dem geistigen Bewusstsein besteht, welches auf die eigene, noch nicht stattfindende Erleuchtung gerichtet ist, zusammen mit der Absicht, allen Wesen zu nutzen und diese Erleuchtung zu erlangen, um dies bestmöglich tun zu können.

In manchen Chittamatra-Erklärungen lehrte Buddha acht Bewusstseinsarten, und fügte diesen sechs das grundlegende Bewusstsein (tib. kun-gzhi rnam-shes, Skt. ālayavijñāna) und das verblendete Gewahrsein (tib. nyon-yid) hinzu. Mit Ersterem werden alle Objekte unklar und mit unentschiedener Wahrnehmung wahrgenommen, und als Grundlage der Zuschreibung für alle Tendenzen ist es die Grundlage für alle Tendenzen, sowie deren Begleiter. Laut Buddha ist es unspezifisch, also entweder konstruktiv oder destruktiv, und nimmt den ethischen Status der Wahrnehmung an, die es begleitet. Das grundlegende Gewahrsein ist auch die Grundlage der Zuschreibung für das konventionelle „Ich“, eine Person. Als solche ist es die Grundlage für die definierenden Eigenschaften eines Bewusstseins und des konventionellen „Ichs“. Verblendetes Gewahrsein richtet sich auf das grundlegende Gewahrsein und greift nach ihm in Bezug darauf, als Selbst begründet zu werden, was durch die grobe oder subtile Selbstlosigkeit der Person widerlegt wird.  

Es gibt 51 Geistesfaktoren, nämlich die fünf immer arbeitenden, die fünf Objekt-bestimmenden, die elf konstruktiven, die sechs grundlegenden störenden Emotionen und Geisteshaltungen, die zwanzig zweitrangigen störenden Emotionen und die fünf veränderlichen.

Mit einem Geistesfaktor ist man sich der Unterschiede und Eigenschaften in einem Objekt bewusst, dessen Wesensnatur man gleichzeitig mit einem Primärbewusstsein wahrnimmt. Es gibt eine große Anzahl solcher Faktoren, die in verschiedenen Listen zusammengefasst werden. Diese spezifische Aufzählung von 51 stammt aus „Eine Anthologie spezieller Themen des Wissens“ (tib. mNgon-pa kun-btus, Skt. Abhidharmasamuccaya), einem Chittamatra-Text von Asanga. Zu den zahlreichen Elementen, die hier nicht aufgezählt werden, gehören Liebe und Mitgefühl, die natürlich auch Geistesfaktoren sind.

Empfinden eines Grades von Glück, auseinanderhaltendes Gewahrsein, Drang, Aufmerksamkeit oder geistiges Aufnehmen und Kontaktbewusstsein sind fünf. Weil diese (immer) zusammen mit jeder (Instanz des) Primärbewusstseins auftreten, werden sie die fünf immer arbeitenden (Geistesfaktoren) genannt.

[1] Empfinden eines Grades von Glück (tib. tshor-ba) ist das Erfahren von Glücklichsein, Unglücklichsein, keinem dieser beiden oder der beiden (neutrales Gefühl) in Erwiderung auf die Weise, wie das Kontaktbewusstsein ein Objekt, wie nachfolgend beschrieben, unterscheidet. Das Empfinden eines Grades an Glück bezieht sich darauf, wie man das Reifen der Hinterlassenschaft des Karmas erlebt und kann entweder aufwühlend (tib. zang-zing) oder nicht aufwühlend (tib. zang-zing med-pa) sein, abhängig davon, ob man nach seinen befleckten Aggregaten greift (tib. sred-pa) oder völlig in einen Zustand yogischer bloßer Wahrnehmung vertieft ist.

[2] Auseinanderhaltendes Gewahrsein (tib. ’du-shes) nimmt eine außergewöhnliche charakteristische Eigenschaft des erscheinenden Objektes einer konzeptuellen oder nicht-konzeptuellen Wahrnehmung an und schreibt ihr eine konventionelle Bedeutung zu. Indem es dies tut, unterscheidet es das Objekt von allem anderen, was es nicht ist, insbesondere vom Hintergrund und von anderen Objekten im gleichen kognitiven Feld der Wahrnehmung, wie dem Blickfeld.

[3] Ein Drang (tib. sems-pa) ist das, was das Primärbewusstsein dazu bringt, ein potenzielles Objekt der Wahrnehmung anzusehen oder sich darauf zuzubewegen. Im Sautrantika-Lehrsystem ist dies gleichbedeutend mit Karma (tib. las, karmischer Impuls). [4] Geistiges Aufnehmen (tib. yid-la byed-pa) oder Aufmerksamkeit schenken bezieht sich darauf, dass das Primärbewusstsein sich auf bestimmte Weise mit einem Objekt befasst  – mit einem gewissen Grad an Achtsamkeit und einer gewissen Weise der Berücksichtigung. [5] Kontaktbewusstsein (tib. reg-pa) differenziert ein Objekt als angenehm, unangenehm oder neutral und dient somit als Grundlage dafür, es mit einem passendem Gefühl eines gewissen Grades an Glücklichsein zu erfahren.

Wie die fünf immer arbeitenden Geistesfaktoren (tib. kun-’gro lnga) sind sie Teil eines jeden Moments der Wahrnehmung. Somit hat, wenn man etwas erkennt, das auseinanderhaltende Gewahrsein es von allen anderem in dessen Umgebung herausgehoben, ein Drang hat eine der Bewusstseinsarten zu ihm geführt und das geistige Aufnehmen hat sich auf einer Ebene der Aufmerksamkeit mit ihm beschäftigt und es in gewisser Weise beispielsweise als unbeständig betrachtet. Das Kontaktbewusstsein hat dieses Objekt als angenehm, unangenehm oder neutral differenziert und das Gefühl hat es dementsprechend mit Glück, Leid oder einem neutralen Gefühl erfahren. Darüber hinaus hat das reflexive Gewahrsein all diese Faktoren erkannt und ermöglicht, sich danach an diesen Moment der Wahrnehmung zu erinnern.

Absicht, feste Überzeugung, Vergegenwärtigung, geistiges Fixieren und unterscheidendes Gewahrsein sind fünf. Es wird erklärt, dass sie die fünf Objekt-bestimmenden (Geistesfaktoren) genannt werden, weil sie die Beteiligung (des Geistes) mit spezifischen kognitiven Objekten festlegen.

[1] Absicht (tib. ’dun-pa) ist die Motivation, das Objekt zu bekommen oder etwas mit dem Objekt zu tun, sobald es erlangt wurde. [2] Feste Überzeugung (tib. mos-pa) richtet sich auf ein Objekt, das als dieses und nicht jenes ermittelt wurde und hält daran auf solche Weise fest, dass man nicht davon abgebracht werden kann. [3] Vergegenwärtigung (tib. dran-pa) hält uns davon ab, es zu vergessen und somit unser geistiges Festhalten an ein bestimmtes Objekt, mit dem man vertraut ist, zu verlieren. Sie bezieht sich auf die bewusste Aktivität sich ständig an etwas zu erinnern oder zu vergegenwärtigen und nicht auf das passive Abspeichern von Eindrücken.

[4] Geistiges Fixieren (tib. ting-nge-’dzin) ist die Platzierung des Geistes auf ein bestimmtes Objekt der Wahrnehmung für eine bestimmte Zeitdauer. Im vollendeten Zustand wird es zur vertieften Konzentration. [5] Unterscheidendes Gewahrsein (tib. shes-rab) analysiert ein bestimmtes Objekt, unterscheidet zwischen dem, was angenommen oder abgelehnt wird und welche Handlungen ausgeführt oder vermieden werden. Im vollendeten Zustand wird es zum unterscheidenden Gewahrsein der Selbstlosigkeit der Person und akzeptiert somit die tatsächliche Weise, wie alle Personen existieren und lehnt falsche, verzerrte Ansichten ab, dass Personen als ein „Atman“ existieren.

Diese fünf sind die fünf Objekt-bestimmenden Geistesfaktoren (tib. yul-nges lnga). Sie helfen, Gewissheit über ein Objekt zu erlangen.

Glauben, dass eine Tatsache wahr ist, moralische Selbstachtung, Rücksicht darauf, welches Licht unser Verhalten auf andere wirft, die drei Wurzeln dessen, was konstruktiv ist – Loslösung, Unerschütterlichkeit, fehlende Naivität – Ausdauer, Gefühl der Leistungsfähigkeit, anteilnehmende Geisteshaltung, Ausgeglichenheit oder Gelassenheit und nicht grausam sein (sind die elf konstruktiven Geistesfaktoren. Jeder ist) von dem Gesichtspunkt aus konstruktiv, entweder ein Gegenteil oder von essenzieller Natur, Übereinstimmung usw. zu sein.

[1] Glauben, dass eine Tatsache wahr ist (tib. dad-pa) richtet sich auf ein Objekt, das wahr oder existent ist und betrachtet es als wahr oder existent. Man kann sich mit diesem Glauben entweder auf der Grundlage der Vernunft darauf richten, mit einer Absicht, das Objekt, wie eine gute Eigenschaft, zu erlangen oder man kann auf solche Weise daran glauben, dass störende Emotionen ihm gegenüber beseitigt werden. [2] Moralische Selbstachtung (tib. ngo-tsha) ist das Unterlassen von schädlichem Verhalten, weil wir darauf achten, welche Auswirkungen es auf uns selbst hat. Es ist ein Gefühl der Selbstwürde. [3] Rücksicht darauf, welches Licht unsere Handlungen auf andere werfen (tib. khrel-yod) ist das Unterlassen von schädlichem Verhalten weil man sich sorgt, welches Licht es auf unsere Familie, unsere Gemeinschaft, unseren Lehrer oder eine Gruppe wirft, zu der wir gehören.

[4] Loslösung (tib. ma-chags-pa) ist zu einem gewissen Grad das Nichtvorhandensein von sehnsüchtigem Verlangen gegenüber einem weltlichen Objekt. [5] Unerschütterlichkeit (tib. zhe-sdang med-pa) ist, anderen keinen Schaden zufügen zu wollen, weil wir selbst oder andere leiden. [6] Fehlende Naivität (tib. gti-mug med-pa) ist ein Gewahrsein der Details verhaltensbedingter Ursache und Wirkung oder wie Personen existieren und dient als ein Gegenmittel zur Naivität ihnen gegenüber. Diese letzten drei sind, als die Grundlage dafür, kein destruktives Verhalten auszuüben, die drei Wurzeln dessen, was konstruktiv ist.

[7] Ausdauer (tib. brtson-’grus) ist Elan dafür, konstruktiv zu sein. Mit ihm unternimmt man große Bemühungen in konstruktivem Verhalten. [8] Ein Gefühl der Leistungsfähigkeit (tib. shin-sbyangs) ist eine Art Flexibilität und Tauglichkeit von Körper und Geist, während man sich auf ein Objekt ausrichtet. Mit ihr hat man das Gefühl, sich so lange fokussieren zu können, wie man will. Mit dem Vervollkommnen des Erlangens eines still gewordenen und zur Ruhe gekommenen Geisteszustandes von Shamatha (tib. zhi-gnas) wird es zu einem Hochgefühl.

[9] Eine anteilnehmende Geisteshaltung (tib. bag-yod) führt dazu, sich auf konstruktive Objekte, Handlungen und Ziele auszurichten und nicht zu negativen zu neigen. Mit ihr achtet man auf seinen Geisteszustand und sein Verhalten. [10] Ausgeglichenheit (tib. btang-snyoms) ist ein Geisteszustand, der vorübergehend frei von geistiger Dumpfheit und Flatterhaftigkeit des Geistes ist und sich somit in einem natürlichen Zustand der Offenheit befindet. [11] Nicht grausam zu sein (tib. rnam-par mi-’tshe-ba) bezieht sich nicht nur auf den Wunsch, anderen Leidenden keinen Schaden zuzufügen, sondern sich auch um ihr Wohl zu sorgen und ihnen voller Mitgefühl (tib. snying-rje) zu wünschen, sie mögen frei von ihren Leiden sein.

Diese elf sind allesamt Gegenmittel für bestimmte destruktive Geisteszustände. Der Glaube daran, dass eine Tatsache wahr ist, ist das Gegenmittel dafür, nicht daran zu glauben, Loslösung ist das Gegenmittel für sehnsüchtiges Verlangen, Unerschütterlichkeit für Feindseligkeit und so weiter. Ein Gefühl der Leistungsfähigkeit, eine fürsorgliche Geisteshaltung und Gleichmut werden jedoch konstruktiv, wenn sie kongruent mit anderen konstruktiven Geisteszuständen sind und somit fünf Dinge mit ihnen teilen. Eine fürsorgliche Geisteshaltung wird zum Beispiel konstruktiv, indem man mit Loslösung, Ausdauer usw. gegenwärtig ist. Außer dem Gefühl der Leistungsfähigkeit und der Ausgeglichenheit sind die anderen neun von Natur aus konstruktiv. Diese zwei Ausnahmen sind nicht unbedingt immer konstruktiv, da sie auch destruktive oder verblendete Geisteszustände, wie das Gefühl der Anhaftung an tiefe Ebenen der Konzentration, begleiten können.

Sehnsüchtiges Verlangen, Wut, Arroganz, Unwissenheit, (verblendetes) unentschlossenes Schwanken und (verblendete) Auffassungen sind die sechs grundlegenden störenden Emotionen und Geisteshaltungen. Sie sind die grundsätzlichen (Faktoren), die das Geisteskontinuum in (einen Zustand der) Störung bringen.

[1] Sehnsüchtiges Verlangen (tib. ’dod-chags) ist der Wunsch, sich etwas Unreines und Beflecktes anzueignen, was man als erstrebenswert und anziehend betrachtet. [2] Wut (tib. khong-khro) ist das Erzeugen einer streitsüchtigen Geisteshaltung gegenüber einem belebten oder unbelebten Objekt der Wahrnehmung mit dem Wunsch es loszuwerden, indem man ihm Schaden zufügt. Wird solch eine Wut auf ein anderes menschliches Wesen gerichtet, nennt man sie Feindseligkeit (tib. zhe-sdang). [3] Arroganz (tib. nga-rgyal, Stolz) ist ein Gefühl, einzigartig, besonders und besser als jemand anders zu sein.

[4] Mangelndes Gewahrsein (tib. ma-rig-pa, Unwissenheit) ist die Verwirrung, mit der man sich nicht bewusst über verhaltensbedingte Ursache und Wirkung oder die Realität ist, wie Personen existieren. Es ist die Wurzel unkontrollierbar sich wiederholender Wiedergeburt, Samsara. Zu dieser störenden Emotion gehört auch Naivität (tib. gti-mug), bei der es sich um mangelndes Gewahrsein handelt, das insbesondere destruktive Geisteszustände begleitet. [5] Mit verblendetem unentschlossenen Schwanken bewegen wir uns zwischen zwei Schlussfolgerungen in Bezug auf das Objekt der Wahrnehmung hin und her, neigen jedoch zur falschen oder liegen mitten zwischen der richtigen und falschen, was uns unschlüssig macht.

Eine störende Emotion oder Geisteshaltung (tib. nyon-rmongs) wird als ein Geistesfaktor definiert, durch den wir unseren inneren Frieden und unsere Selbstbeherrschung verlieren, wenn wir ihn entwickeln. Diese ersten fünf grundlegenden störenden Emotionen sind bekannt als die fünf ohne eine Einstellung zum Leben (tib. lta-min nyon-rmongs). Die sechste störende Emotion oder Geisteshaltung ist die folgende Gruppe von fünf störenden Geisteshaltungen mit einer Einstellung zum Leben (tib. lta-ba nyon-rmongs-can):

[1] Mit einer verblendeten Auffassung in Bezug auf ein vergängliches Netzwerk (tib. ’jig-tshogs-la lta-ba, ’jig-lta) klinken wir uns an ein unbeständiges Netzwerk der fünf Aggregate und fügen ihm entweder „ich“ oder „mein“ hinzu oder projizieren diese. Mit anderen Worten handelt es sich dabei um unsere fälschliche Sicht, wer wir zu sein meinen, um unsere Sicht einer konkreten Ego-Identität. Unsere fünf Aggregate ändern sich ständig; mit dieser verblendeten Auffassung greifen wir jedoch bestimmte Aspekte unserer Aggregate heraus und identifizieren sie mit unserem falschen „Ich“ oder dem Besitzen des falschen „Ichs“, mit anderen Worten als „mein“. [2] Mit einer extremen Auffassung (tib. mthar-’dzin-par lta-ba, mthar-lta) greifen wir nach dem Netzwerk von Aggregaten, die unsere vermeintlich konkrete Ego-Identität ausmacht und klammern an ihm entweder als etwas Beständiges oder als etwas, was sich nach dem Tod nicht fortsetzt.

[3] Eine verblendete Auffassung für unübertroffen zu halten (tib. lta-ba mchog-tu ’dzin-pa) bezieht sich darauf, nach einer der zwei oben genannten verblendeten Auffassungen und dem Netzwerk der Aggregate zu greifen, auf die sie gerichtet ist und sie als höchste Sicht zu betrachten. Wenn wir nach dem greifen, was sich verändert, als wäre es unsere konkrete Ego-Identität und meinen, das wäre die Art von Person, die wir immer sein werden, glauben wir, dass wir Befreiung erlangen werden, wenn wir entsprechend dieser Persönlichkeit handeln. Mit der ersten verblendeten Auffassung identifizieren wir uns zum Beispiel als jung und stark, und mit der zweiten haben wir das Gefühl, dass wir immer so sein werden. Mit der dritten meinen wir dann, alle Probleme zu lösen und niemals unglücklich zu sein, wenn wir uns selbst körperlich fit halten und stets jung und attraktiv aussehen.

[4] Mit einer Auffassung, die verblendete Moral oder Verhaltensweise als erhaben zu betrachten (tib. tshul-khrims-dang brtul-zhigs mchog-tu ’dzin-pa), greifen wir nach unangemessenem Verhalten oder einer Disziplin und meinen, sie würde uns von Leiden befreien. Mit solch einer Verblendung würden wir den ganzen Tag auf einem Fuß stehen oder auf einem Bett aus Nägeln schlafen und dies als wahren Pfad zur Befreiung betrachten.

[5] Mit einer verzerrten Auffassung (tib. log-lta) greifen wir nach etwas, das immer wahr und zutreffend ist, und wenn wir etwas ablehnen, meinen wir es wäre niemals wahr und zutreffend. Solch eine verzerrte Auffassung wäre beispielsweise, das Gesetz von Ursache und Wirkung zu leugnen, zu glauben, es gebe so etwas, wie Befreiung von Leiden nicht und so weiter.

Das sind somit die grundlegenden störenden Emotionen und Geisteshaltungen, die wesentlichen Dinge, die unseren Geist verblenden und Leiden bewirken.

Hass, Missgunst, Vertuschung falschen Verhaltens, Empörung, Neid, Geiz, Vortäuschung, Vertuschung von Unzulänglichkeiten oder Heuchelei, Selbstgefälligkeit oder Überheblichkeit, Grausamkeit, Mangel an moralischer Selbstachtung, Mangel an Rücksicht darauf, welches Licht unser Verhalten auf andere wirft, geistige Umnebelung, Flatterhaftigkeit des Geistes, Unglaube gegenüber Tatsachen, Faulheit, Achtlosigkeit, Vergessen, nicht wachsam sein, geistiges Abschweifen sind zwanzig. Da diese die grundlegenden störenden Emotionen und Geisteshaltungen fördern, sich aus ihnen entwickeln und ihnen folgen, werden sie zusätzliche störende Emotionen (genannt).

[1] Hass (tib. khro-ba) ist die herbe Absicht, einem anderen Wesen Schaden zuzufügen. Es handelt sich dabei um starke Feindseligkeit und bevorstehender Gewalt. [2] Missgunst (tib. khon-’dzin) bezieht sich darauf, hartnäckig einen Groll zu hegen, wenn uns oder unseren Freunden Leid zugefügt wurde, und nach Rache zu trachten. [3] Vertuschung falschen Verhaltens (tib. ’chab-pa) ist die unaufrichtige Geisteshaltung, die Tatsache des Begehens bestimmter destruktiver Handlungen vor anderen verstecken zu wollen. [4] Empörung (tib. ’tshigs-pa) ist der Überrest eines starken Gefühls der Feindseligkeit, das sich in unserer Absicht ausdrückt, harte und ausfallende Worte zu benutzen.

[5] Neid (tib. phrag-dog) bezieht sich darauf, es nicht ertragen zu können, die guten Eigenschaften oder den Erfolg anderer zu sehen oder davon zu hören. [6] Mit Geiz (tib. ser-sna) hängen wir an unserem Besitz, und da wir uns wünschen, dass er bleibt und sich vergrößert, wollen wir ihn nicht mit anderen teilen oder nicht einmal selbst benutzen. [7] Mit Vortäuschung (tib. sgyu) geben wir vor, Qualitäten und Fähigkeiten zu besitzen, die wir nicht haben. [8] Vertuschung von Unzulänglichkeiten (tib. g.yo, Heuchelei) ist die ehrgeizige und unehrliche Geisteshaltung, sich Vorteile verschaffen zu wollen, indem man seine Fehler vor anderen versteckt.

[9] Selbstgefälligkeit (tib. rgyags-pa, Überheblichkeit) ist eine aufgeblasene Geisteshaltung der Überheblichkeit und Vornehmtuerei in Bezug auf die eigene Gesundheit, den Reichtum und andere weltliche gute Eigenschaften. [10] Grausamkeit (tib. rnam-par ’tshe-ba) ist ein völliges Fehlen von Gefühlen oder Rücksicht gegenüber anderen. Es führt dazu, andere, oft mit Böswilligkeit, zu behandeln, als wären sie unbelebte Objekte. [11] Mangel an moralischer Selbstachtung (tib. ngo-tsha med-pa) ist ein Fehlen jeglichen Verzichts auf destruktives Verhalten, weil man nicht darauf achtet, welche Auswirkungen es auf einen selbst hat. [12] Mangel an Rücksicht darauf, welches Licht unser Verhalten auf andere wirft (tib. khrel-med) ist ein ähnliches Fehlen jeglichen Verzichts, weil es einem egal ist, welches Licht das eigene Verhalten auf andere wirft, mit denen man verbunden ist, wie die Familie oder der Lehrer.

[13] Geistige Umnebelung (tib. rmugs-pa) ist ein Geisteszustand, mit dem sich unser Körper schwach anfühlt und der Geist langsam arbeitet. Wir sind voller Trägheit und haben keine Lust, irgendetwas zu tun. [14] Flatterhaftigkeit des Geistes (tib. rgod-pa) führt dazu, dass unsere Aufmerksamkeit das Objekt der Wahrnehmung loslässt und unkontrollierbar, gezwungen durch Anhaftung oder Wünsche, zu einem anderen Objekt hingezogen wird. [15] Unglaube gegenüber Tatsachen (tib. ma-dad-pa) ist unsere Abneigung zu akzeptieren, was wahr und zutreffend ist. [16] Faulheit (tib. le-lo) ist die Abneigung, etwas Konstruktives zu tun, weil man an etwas hängt, was man für angenehmer hält.

[17] Achtlosigkeit (tib.bag-med) bezieht sich darauf, nicht darauf zu achten, sich in konstruktivem Verhalten zu üben oder destruktive Handlungen zu unterlassen, weil man verhaltensbedingte Ursache und Wirkung nicht ernst nimmt. Sie ist das Gegenteil einer fürsorglichen Geisteshaltung. [18] Vergessen (tib. brjed-nges) ist das Verlieren eines Objektes der Ausrichtung, weil man mit einer störenden Emotion oder Geisteshaltung an etwas denkt. [19] Nicht wachsam zu sein (tib. shes-bzhin ma-yin-pa) führt dazu, sich in unangemessenem Verhalten zu üben, weil man nicht richtig zwischen dem unterscheidet, was richtig und was falsch ist. [20] Geistiges Abschweifen (tib. rnam-par g.yeng-ba) ist eine Geisteshaltung der Rastlosigkeit, die von den drei Giften des sehnsüchtigen Verlangens, der Feindseligkeit oder der Unwissenheit angeregt wird. Aufgrund dessen ist unser Geist nie stetig, sondern springt ständig von einem Objekt zum nächsten.

All diese störenden Emotionen haben ihren Ursprung in den sechs grundlegenden und sind bekannt als die zusätzlichen störenden Emotionen (tib. nye-nyon).

Schläfrigkeit oder Schlaf, Reue, grobes Feststellen und subtiles Unterscheidungsvermögen sind die vier veränderlichen Geistesfaktoren. Sie verändern sich immer wieder und werden entsprechend der Motivation, mit der sie einhergehen, entweder konstruktiv, destruktiv oder unspezifisch.

[1] Schläfrigkeit oder Schlaf (tib. gnyid) ist ein Zustand vollkommener sensorischer Dunkelheit, in dem die fünf Arten des Sinnesbewusstseins vorübergehend aufhören zu wirken und lediglich die geistige Wahrnehmung stattfindet. Abhängig von unserem Geisteszustand, in dem wir einschlafen, wird diese Wahrnehmungen konstruktiv, destruktiv oder unspezifisch, also keins von beidem sein.

[2] Reue (’gyod-pa) ist der Wunsch, etwas nicht zu wiederholen, was man selbst getan oder wozu man andere gebracht hat. Destruktive Handlungen, die man in der Vergangenheit ausgeführt hat, zu bereuen und sie nicht wiederholen zu wollen, ist konstruktiv. Denken wir jedoch so über unsere konstruktiven Handlungen, ist das destruktiv, da es uns davon abhält, ihre Früchte zu genießen.

[3] Mit grobem Feststellen (tib. rtog-pa) prüfen wir etwas auf grobe Weise, um ein allgemeines Verständnis über ein Objekt der Wahrnehmung zu bekommen. [4] Mit subtilem Unterscheidungsvermögen (tib. dpyod-pa) untersuchen wir ein Objekt genauer, um ein präzises Verständnis darüber zu bekommen. Wie diese zwei letzten Geistesfaktoren eingestuft werden, hängt davon ab, ob das Objekt, das wir verstehen wollen, konstruktiv, destruktiv oder unspezifisch ist.  

Somit ist jede Wahrnehmung, die wir haben, mit Geistesfaktoren verbunden. Manche sind stets präsent, weder vorteilhaft noch nachteilig. Manche sind konstruktiv und andere nicht. Indem wir lernen zu erkennen, welche Faktoren unsere bloßen Wahrnehmungen, unsere schlussfolgernden Wahrnehmungen und so weiter begleiten, können wir all unsere Wahrnehmungen konstruktiv und auch gültig machen.

Andere buddhistische Theorien 

Die Sautrantika-Abteilung des (Svatantrika) Madhyamaka, Prasangika und Vaibhashika vertreten (nur) drei Arten der bloßen Wahrnehmung: (1) sensorische, (2) geistige und (3) yogische bloße Wahrnehmung. Sie akzeptieren keine bloße Wahrnehmung reflexiven Gewahrseins. Die Sautrantika-, Chittamatra- und Yogachara-Abteilungen des (Svatantrika) Madhyamaka bestehen jedoch auf vier (Arten): (1) bloße Sinneswahrnehmung, (2) geistige bloße Wahrnehmung, (3) bloße Wahrnehmung oder reflexives Gewahrsein und (4) yogische bloße Wahrnehmung.  

Buddha lehrte all diese verschiedenen Theorien, wie jene, die den Geist betreffen und wie man Dinge erkennt, um den begrenzten Wesen zu helfen und sie zur Befreiung und Erleuchtung zu führen. Obwohl solche Erklärungen zunächst widersprüchlich zu sein scheinen, wird nach tieferer Kontemplation klar, dass sie es nicht sind. Buddha lehrt zuerst eine ganz grobe, allgemeine Darstellung der Funktionsweise des Geistes. Hat man sie verstanden, ist man bereit, eingehendere und präzisere Beschreibungen nachzuvollziehen.

Möchte man etwas genau definieren, nutzt man ein konzeptuelles Isolat, ein „Nichts-anderes-als“, was sich auf das bezieht, was übrig bleibt, wenn man alles ausgeschlossen hat, was es nicht ist. Je präziser der Geist beschrieben wird, desto mehr weiß man, was er nicht ist. Um so mehr man sich bewusst darüber ist, was der Geist nicht ist, desto feiner wird das Verständnis darüber, was er ist. Daher ist es wichtig, sich durch die stufenweisen Erklärungen in Buddhas verschiedenen Lehrsystemen zu schulen, von jenen des Hinayana der Vaibhashikas und Sautrantikas, bis hin zu jenen des Mahayana, die in den Madhyamaka-Prasangikas gipfeln, um Erleuchtung zum Wohle aller begrenzten Wesen zu erlangen.

Einer der Hauptpunkte, auf die weiter eingegangen wird, ist reflexives Gewahrsein – wie es ist, dass man seine Handlungen erlebt und sich später an sie erinnert. Ein genaueres Verständnis über die tatsächliche Weise, wie alle Dinge existieren, führt dazu, eine größere Wertschätzung hinsichtlich der Bedeutung dessen zu haben, dass etwas ein äußeres Objekt ist oder etwas, das nicht mehr stattfindet. Daher gibt es weitere Diskussionen über die fokalen Bedingungen für bloße Wahrnehmung, darüber, was nachfolgende Wahrnehmung, was die Natur objektiver und metaphysischer Entitäten, was Erscheinungen, die Wirklichkeit, trügerische Wahrnehmung, tiefste und oberflächliche Wahrheit, explizites und implizites Begreifen usw. ist.

Des Weiteren wird über das Thema gesprochen, wie karmische Tendenzen für zukünftige Wahrnehmung von einem Leben zum nächsten übertragen werden. In diesem Zusammenhang werden das grundlegende Bewusstsein, das Geisteskontinuum und die Zuschreibung weiter untersucht. Ein genaueres Verständnis der Selbstlosigkeit führt zu eingehenderen Betrachtungen über yogische bloße Wahrnehmung und auf was sie gerichtet ist.

Wenn man einem Pfad folgt, auf dem man lernt, wie der Geist gültig funktioniert, kann man zu dem Verständnis gelangen, wie der allwissende Geist eines Buddhas sich über alles bewusst ist. Indem man darüber hört, nachdenkt und meditiert, kann man selbst solch einen allwissenden Geist entwickeln. So eine Schulung ist dann Teil des Pfades zur Erleuchtung.

Aus Sorge, dieses Werk könnte zu lang werden, habe ich faktisch nur ein paar grundlegende Auflistungen angeführt. Für spezifische Beispiele dessen, was definiert wurde und um die Bedeutungen zu verstehen, sollte man die grundlegenden Werke (Dharmakirtis „Kommentar zu [Dignagas Kompendium des] gültig wahrnehmenden Geistes“) sowie „Ein Filigranschmuck von (gültigen) Argumentationsketten; (Eine erklärende Abhandlung von Dharmakirtis Kommentar zu [Dignagas Kompendium des] gültig wahrnehmenden Geistes“) usw. konsultieren.
Um die spitzfindigen Unterschiede bezüglich der Arten der Wahrnehmung (aufzuzeigen), die damit verbunden sind, was von jenen mit subtiler und anstrebender Intelligenz angenommen und was abgelehnt werden sollte, wurde dieses kurze Kompendium von Sprüchen zu den Arten der Wahrnehmung von jemandem namens Losang verfasst. Mögen sich aufgrund der Bemühung, die in diesem (Werk) vollbracht wurde, die Augen aller wandernden Wesen öffnen, damit sie erkennen, was korrekt oder fehlerhaft ist. Mögen alle, indem sie die Schlussfolgerung dieses vortrefflichen und unmissverständlichen Pfades folgen, schnell die höchste Errungenschaft, allwissende (Erleuchtung) erlangen.
Top